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Nati Rasch, norddeutsches Mädel mit Schilddrüsenunterfunktion und ausgeprägtem Hang zum Müßiggang, pilgert zusammen mit ihren aufgeweckten Freundinnen Tanya und Inga auf dem norddeutschen Jakobsweg „Via Baltica“. Herzerfrischende Begegnungen, aber auch Irrwege und „podologische Strapazen“ prägen die Reise der drei ungleichen Frauen auf ihrem 500 Kilometer langen Fußmarsch vom polnischen Swinemünde bis nach Bremen. Aus dem Inhalt: Eine am Rucksack befestigte Jakobsmuschel, ein ausgelatschtes Paar Schuhe, Schlafsack, Isomatte, diverse Glanzstücke aus dem Bereich der Funktionalmode, Hirschtalg und ein Stück Seife sind (fast) alles, was die Autorin fünf Wochen lang auf ihrem Rücken durch den Ostseeraum schleppt. Ausreichend für Nati Rasch, die Pilgerreisen bisher nur lesend vom Sofa aus unternommen hat und der sportliche Aktivitäten gänzlich fernliegen. Die ersten Etappen absolvieren die Frauen zu dritt, bis Inga und Tanya wieder ins Arbeitsleben zurückkehren müssen und Nati allein weiter wandert. Die unbändige Sehnsucht nach blasenfreien Füßen, einem weichen Bett und fast triebhafte kulinarische Gelüste sind Motor dieser traumhaften Wallfahrt durch das Baltische. Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an Norddeutschland mit seinen kauzigen Bewohnern, die Wanderlust, vor allem aber ein Loblied auf die Freundschaft.
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Seitenzahl: 388
Veröffentlichungsjahr: 2018
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„Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen.“
Friederike Varnhagen von Ense
Für Tanya und Inga
Bildnachweis:
Die Bilder des Textteils: Nati Rasch, Tanya Radeva, Inga Osterland
Coverfoto: Nati Rasch
Autorenfoto: Kerstin Dobslaff
Karte: © Inga Osterland
Kartenicon: © Stepmap GmbH, Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2018 traveldiary Verlag
www.reiseliteratur-verlag.de
www.traveldiary.de
Der Inhalt wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Bei Interesse an Zusatzinformationen, Lesungen o.ä. nehmen Sie gerne Kontakt zu uns auf.
traveldiary Verlag, Mady Host und Cornelia Reinhold GbR
Brauereistraße 4, 39104 Magdeburg
Umschlagentwurf und Layout: Jürgen Bold, Jens Freyler
Hintergrundfoto: © Carola Vahldiek / Fotolia
Satz: traveldiary Verlag, Mady Host und Cornelia Reinhold GbR
Druck: „Standartu Spaustuve“ www.standart.lt, Tel. 37052167527
ISBN 978-3-942617-45-1
eISBN 978-3-942617-50-5
Nati Rasch
Zweieinhalb Fischköppe auf der Via Baltica
Auf dem Jakobsweg von Usedom nach Bremen
PrologSommer 2007: „Der erste Kontakt“
Erster Teil - Pilgern zu drittIch werde offizielles Mitglied der Kelly Family
Verloren in Polen (ca. 5 km)
Steffi Peters pilgert (Swinemünde - Zirchow, 12 km)
Heim für schwer erziehbare Kinder (Zirchow - Usedom, 18 km)
Menschliche Abgründe (Usedom - Pinnow, 18 km)
Der Pilger im Roggen (Pinnow - Hohendorf, ca. 30 km)
Sakrale Versuchung (Hohendorf - Kemnitz, 22 km)
Der Rollstuhl des Grauens (Kemnitz - Greifswald, 11 km)
Des Pilgers neue Schuhe (Greifswald - Gerdeswalde, 13 km)
Unwägbarkeiten(Gerdeswalde - Kibado, 14 km zu Fuß, 7 km per Bus)
Trebel-Tristesse (Kibado - Kölzow, 13 km, 18 km per Bus)
Das Dorf (0 km)
Zweiter Teil - Pilgern zu zweitTanyas Abschied (Kölzow - Sanitz, 17 km)
Auf Station (Sanitz - Rostock, 22 km)
Dreck und Schwielen (0 km)
Auf Abwegen (Rostock - Börgerende, ca. 12 km)
Havanna, Cuba (Börgerende - Kühlungsborn, 12 km)
Soziologische Studien (Kühlungsborn – Neubukow, 12 km)
Der Laden (Neubukow - Neuburg, 14 km)
Meditation für Anfänger (Neuburg - Wismar, 15 km)
Pilgerburnout (Wismar/Marnitz, 0 km)
Auftanken - Insel Poel (0 km)
Dritter Teil - Pilgern alleinGrabenkämpfe (Alt Jassewitz - Grevesmühlen, 15 km)
Die Gespräche der Anderen(Grevesmühlen - Schönberg, 24 km)
Grabenkämpfe II (Schönberg - Lübeck, 25 km)
Podologische Finessen (Lübeck - Klein Wesenberg, 3 km)Kicker um halb zehn
(Klein Wesenberg - Kloster Nütschau, 22 km)
Heiliges Bettle (Kloster Nütschau - Nahe, 18 km)
Hausmeister Krause (Nahe - Hamburg, 11 km)Das Wunder von Harsefeld
(Hamburg/Harsefeld - Oersdorf, 11 km)Der Pilger in der Tonne
(Oersdorf - Zeven, 19 km bei Starkregen, das zählt doppelt!)
Der Philosoph im Morgenmantel (Zeven - Otterstedt, 24 km)
Träume jagen (Otterstedt - Bremen, 23 km)
Abschied (Bremen/Stralsund - Wüstenfelde, 12 km)
Epilog
Karte
Über die Reisende ... Nati Rasch
Packliste
Übernachtungen
Sommer 2007: „Der erste Kontakt“
„Pilgern? Was ist das?“, fragte ich meine Freundin Regina, die mir ein Buch mit dem Titel „Ich bin dann mal weg“ zum Geburtstag schenkte.
„Lies doch selbst“, antwortete sie schmunzelnd.
Wenige Tage später stand ich in einer gut sortierten Filiale eines landläufig bekannten Sportartikelfachgeschäftes, stakste unbeholfen über ein Laufband und kaufte ein Paar mausgraue Wanderboots, die weder meinen Knöcheln noch meiner Geldbörse schmeichelten. Dann ließ ich sechs einzelne Jahre vergehen. Körperliche Betätigungen wie das Pilgern brauchten schließlich eine profunde Vorbereitung. Also bloß keine vorschnellen Handlungen, welche meine Bandscheiben später bereuen könnten, dachte ich mir, als ich grinsend die Treter in die hinterste Ecke meines Schuhregals schob ...
Sechs Jahre später...
Seit meine Schwester Biggi begonnen hatte, in unserer bezaubernden Heimatstadt Stralsund als Gästeführerin zu arbeiten, war ich derart mit Informationen über die pommersche Landesgeschichte vollgestopft, dass ich schon anfing, von Störtebekers Enthauptung und Wallensteins Seeschlachten zu träumen.
Als sie von einem mittelalterlichen Pilgerweg berichtete, der angeblich direkt an unserer Haustür vorbei führen sollte, wunderte ich mich nicht einmal darüber. „Ich als Gästeführer muss wenigstens einige Abschnitte des Weges gegangen sein“, hörte ich sie sagen, schaltete mental auf Durchzug und erwartete den nächsten historisch wertvollen Monolog.
„Komm doch mit! Du hast ja jetzt Zeit“, weckte sie mich aus meinem Tagtraum. „Ähm ja“, räusperte ich mich, um Zeit zu gewinnen.
„Du bist mitten im Sabbatjahr Schwesterchen, also keine Ausreden“, nagelte sie mich fest. Und kaum dass die gelbe Farbe der frisch gemalten Jakobsweg-Markierungen in Ruhe trocknen konnte, stand Biggis Plan.
„Wir pilgern auf Norddeutsch und starten auf heimischem Acker direkt vor unserer Haustür.“
Bepackt mit Vaters olivgrünem NVA-Rucksack und Mutters Bouletten wurden die rüstigen Pensionäre unseres Dorfes, von ihren Gemahlinnen in den Krieg gegen das Unkraut geschickt, auf uns aufmerksam.
„Wat macht ihr?“, brüllte einer über den Zaun. „Pilgern? Seid ihr bescheuert oder wat?“, formulierte er seine völlig berechtigte Frage. Denn nur zwölf Kilometer weiter hatte Biggi „ganz schlimm Hüfte“, und ich hatte „Knie“.
„Papa hol` uns ab! Wir können nicht mehr“, jammerte ich in die Hörmuschel meines Mobiltelefons.
Nur mit letzter Kraft schleppten wir uns wie zwei Kriegsheimkehrer zum Edeka der nächstgelegenen Ortschaft, um diese posttraumatische Belastungsstörung mit Streuselschnecken und Filterkaffee zu verarbeiten.
„Na dat war ja wohl nix“, konstatierte Vater als er schmunzelnd unsere Rucksäcke in seinen Kombi verlud.
Weitere zwei Jahre später, in einer anderen Filiale des landläufig bekannten Sportartikelfachgeschäftes...
Ich hatte mal wieder über das Pilgern gelesen und die Knieschmerzen längst vergessen. Übrig blieben die Bilder meiner norddeutschen Heimat, gepaart mit der Idealvorstellung einer federnd am Meer entlang wandelnden Nati. Als ich das Buch zuklappte, entschied ich einen weiteren Versuch zu starten. Meine Wanderschuhe waren inzwischen eingelaufen und meine beiden Freundinnen Tanya und Inga wollten mich unbedingt begleiten - beste Voraussetzungen also, das Wagnis „Via Baltica“ endlich praktisch anzugehen; fehlte nur noch die passende Ausrüstung für das Wanderabenteuer. Während die Rucksack-Frage mit einem preisreduzierten Fünfunddreißig-Liter-Kompakt-Modell blitzschnell erledigt war, gestaltete sich die Sache mit der Wandermode schon schwieriger.
„Oh Gott, wenn ich dieses Teil hier trage wächst mir über Nacht noch ein Penis“, entrüstete ich mich und gab dem dackeläugigen Verkäufer kopfschüttelnd die Verpackung mit den atmungsaktiven Boxershorts zurück.
„Aber da steht doch für Damen“, antwortete der Einzelhandelskaufmann verstört. „Abgelehnt“, bellte ich entschieden - ebenso wie das Bündel an sackförmig geschnittenen, grauenvoll gemusterten atmungsaktiven Damenblusen und den Outdoor-Hosen, deren Seitentaschen meine Beine so fett machten wie die einer Eisschnelllauf-Olympiasiegerin.
Dies ist nicht nur ein Reisebericht, nein, es ist auch ein Appell an die gesamte Textil-Industrie mit der Bitte: „Produziert doch endlich mal eine Wanderbekleidung, welche Frauen nicht in aschgraue Mannsweiber verwandelt oder schlimmer noch: in die rotweiß karierte Tischdecke meines Lieblingsitalieners!“
Aber wie auch immer: Nach drei Anläufen (der dackeläugige Verkäufer kannte mich inzwischen schon ganz gut) war mit einer Beute von zwei blauen Goretex-Oberteilen, einer farblich schwer definierbaren Hose, einer hellgrauen Softshell-Jacke, dem Rucksack, einem sechshundert Gramm leichten Schlafsack und einer 3,5 Zentimeter dünnen, selbst aufblasenden Iso-Matte nach ziemlich genau acht Jahren die Vorbereitung auf meine Pilgerreise schon beendet.
Erster Teil - Pilgern zu dritt
Es herrscht das absolute Chaos. Wäscheberge, Versicherungspolicen, vermutlich nutzlose Belege der viel zu spät abgegebenen Steuererklärung und diverse Drogerie-Produkte verteilen sich gleichmäßig auf den Dielen meiner Dreiundvierzig-Quadratmeter-Wohnung. Ich summe die Flötenmelodie einer YouTube-Playlist namens „Carribean Sounds“ mit, tänzele fröhlich auf einer der freien Flächen umher, schiebe einen der textilen Haufen beiseite und eröffne einen neuen Wäschestapel. Dieser Stoß wird mich in den nächsten fünf Wochen begleiten, mich wärmen und versorgen. Dass ich schon seit Wochen meinen Pilgerpass vermisse, tut der Vorfreude keinen Abbruch. Statt weiter nach ihm zu suchen, arbeite ich lieber die Packliste des gelben Via-Baltica-Führers ab, öffne den Rucksack, presse Schlafsack, Isomatte und Kulturbeutel hinein und stelle fest, er ist voll. Argwöhnisch schiele ich auf den noch zu verstauenden Stapel am Boden, kippe die Waschtasche kopfüber aus, ersetze Shampoo, Duschbad, Sonnencreme, Sheabutter und Fön radikal durch ein Stück Kernseife, was meine Chancen auf eine Ehrenmitgliedschaft bei den Kelly` s drastisch erhöht. Der Situation völlig angemessen, fluche ich lautstark aktuelle Ausdrücke der Jugendsprache in die karibische Melodie hinein, presse Kraft meines Bizeps den Oberdeckel des mc-kinleyschen Ungetüms zu, zerre die Wuchtbrumme vor die letzten unvertrockneten Blätter meiner Yukka-Palme, platziere die Wanderschuhe davor und schieße ein Selfie. Noch ein allerletzter Facebook-Post mit dem brandheißen Titel: „Ich bin dann mal weg“, und ich bin dann endlich mal offline.
Ich sitze im Zug in Richtung Heimat. Mein Dorf liegt nur acht Kilometer von Stralsund entfernt. Und von dort aus kann man mit der Usedomer Bäderbahn, kurz UBB, ohne Umsteigen nach Swinemünde, dem Ausgangspunkt der Via Baltica, fahren.
Am elterlichen Kaffeetisch warten neben den üblichen guten Ratschlägen (nein Mama, ich pilgere nicht allein im Dunkeln) die nötigen zweitausend leeren Kalorien für den Weg. Vater zeigt seine Liebe, indem er die Löcher meiner Raichle-Treter mit Zweikomponentenkleber auffüllt und dabei den Satz: „Einen Sommer schaffen sie noch“ in seinen Vollbart nuschelt.
Mutter wirbelt durch die Küche und pfeift Operettenmelodien. Zur blauen Stunde liege ich auf meinem alten Kinderzimmerbett, das Fenster weit offen und lausche der Stille des Dorfes. Ein Windhauch zwirbelt durch den Birnenbaum. Die Straßenlaternen erlöschen Punkt zehn. Hin und wieder blökt ein Schaf. Ist das die Ruhe vor dem Sturm?
Unser hyperaktiver Hahn weckt mich. Regentropfen perlen vom Fenster herab. Der Blick hinaus ist vertraut. Wie in Loriots Cartoon sehe ich Mutter durch die Küche flitzen - Eier kochend, pfeifend. Vater studiert die Ostseezeitung. Wie alle Ehemänner dieses Planetens möchte auch er „einfach nur so sitzen“.
„Die Hühner legen gut“, flötet Mutti. „Und die Katze hat schon wieder gejungt, aber sie versteckt die Kleinen noch im Heu.“
Würde die UBB nicht Punkt 12.17 Uhr von Wüstenfelde (ja, so heißt unser Bahnhof, und er macht seinem Namen auch alle Ehre) abfahren, würde ich genau hier sitzen bleiben und mich einfach nur zu Hause fühlen. So aber stehe ich leicht verloren am Gleis des gottverlassenen heimischen Bahnhofs und warte auf den Zug. Es hat längst aufgehört zu regnen, der Himmel will trotzdem nicht recht aufreißen, und der Wind zerrt an der sündhaft teuren Outdoor-Garderobe. Aber genau das liebe ich an Nordvorpommern (von uns Einheimischen auch liebevoll NVP - „Noch-Vor-Polen“ genannt) - dieses frische Meereslüftchen, welches einem das Gefühl gibt, auch wirklich draußen zu sein. Nicht nur deswegen bin ich wieder zurück in meine Heimat gezogen, habe beruflich noch einmal komplett neu angefangen und nach zwei Jahren harter Arbeit eine Auszeit bitter nötig. Blass und leicht übergewichtig lächle ich zufrieden als die weißblaue Bahn in Wüstenfelde einrollt, steige nach nur acht Minuten Fahrt am Stralsunder Hauptbahnhof wieder aus und umarme meine beiden dick bepackten Mitpilgerinnen am Gleis Vier. Wir kaufen ein Sparticket und besteigen die nächste UBB nach Swinemünde.
Die aus Bulgarien stammende Anästhesistin und passionierte Fleischesserin Tanya, die wir liebevoll „die Carnivore vom Balkan“ nennen, kuschelt sich embryoartig in ihren Doppelsitz und döst noch vor der Abfahrt ein. Ich halte ihr ein Stück Salami unter die Nase, nur um zu testen, ob sie auch wirklich schläft. Doch sie zeigt keine Regung - und das bei einer guten Ungarischen - der letzte Nachtdienst muss wirklich anstrengend gewesen sein. Inga und ich sind viel zu aufgeregt zum Schlafen, präsentieren stolz unsere neu erworbenen modischen Sahnestücke und verputzen den eigentlich für den Weg gedachten Proviant. Eine reichliche Stunde später erwacht Tanya und mit ihr das Interesse an der Wurstware.
„So kennen wir dich“, scherzt Inga und reicht ihr einen Happen hinüber.
Als der Zug zur Nachmittagsstunde endlich im westpommerschen Seebad einrollt, sind wir uns nicht sicher, ob der Lokführer nicht vielleicht falsch abgebogen und aus Versehen in Rostock Lichtenhagen herausgekommen ist. Aber nein, da steht es ja: Witamy w Swinoujscie - Herzlich Willkommen in Swinemünde.
„Gar nicht mal so schön hier“, höre ich Inga sagen als sie und ihr Rucksack walfischgleich auf dem Trottoir des Bahnsteiges anlanden. Irgendwo in dieser urbanen Hässlichkeit soll sich die Jugendherberge des Ortes befinden, genauer gesagt in der Gdynska 26. Mein Blick klebt an einem besonders schönen Block postsozialistischen Charmes fest, und wir zerfließen in der Nachmittagssonne, weil Betonklötze nicht einmal zum Schattenwerfen taugen.
„Das ist Stalins letzte Rache“, flucht Tanya als sie einigermaßen angeekelt an der steingrauen Fassade des vermeintlichen Ziel-Hochhauses empor blickt.
„Ist ja nur für eine Nacht“, ermuntere ich.
Selbstverständlich haben wir nicht reserviert. Wozu auch? In Polen ist doch immer alles verfügbar und für uns Deutsche super günstig, pflegte ich mein Vorurteil. Die beiden Damen schweigen, wir treten ein, und das Innere hält was das Äußere verspricht. Die Frau im haselnussbraun (und das ist noch das netteste Adjektiv, das mir dazu einfallen wollte) getäfelten Empfangsraum redet konsequent Polnisch. Doch ihr genervtes Abwinken und ein vehement ausgesprochenes „niez, niez“ bedeutet wohl frei übersetzt:
„Es ist kein Zimmer mehr frei.“
Wenn sie konsequent Polnisch reden kann, rede ich konsequent Russisch, und sie scheint mich zu verstehen. Oder will sie uns nur loswerden, als sie uns den Weg zum nächstgelegenen „Hotelarstwo“ beschreibt?
Kinderärztin Inga, die nichts mehr liebt als zu organisieren und zu planen, ist auf derartige Unwägbarkeiten bestens vorbereitet und bemüht süffisant grinsend ihre Pilger-App. Diese sagt, wir müssen in die Uliza Gdanska 20 zum Seminarhaus für Priester und Laien, welches als offizielle Pilgerherberge ausgewiesen ist.
Gdynska, Gdanska - eine komische Sprache dieses Polnisch. Aber egal. Von den Straßenlaternen prangende frisch geklebte gelbe Jakobsmuscheln geben frischen Mut, führen sie doch direkt auf einen Kirchturm zu.
„Hier muss es doch ein Bett für uns geben“, hoffe ich und betätige schwungvoll den altmodischen Türklopfer, welcher an der kitschigen Pforte der Herberge klebt. Eine reife Dame öffnet. Ich verliere mich im violetten Farbfasching ihrer zeltgroßen Bluse und bestelle drei Betten für die Nacht.
„Drrrrei Nacht Minimum“, bellt es in gebrochenem Deutsch. „Macht sechzig Eurrro prrrro Perrrrson.“
Beschwörerisch hebe ich meine tellergroße Jakobsmuschel in die Höhe, welche ich extra für derartige Anlässe am Rucksack befestigt hatte. Dazu zückt Inga den gelben Wanderführer, auf dessen Cover in fetten Lettern „Via Baltica“ geschrieben steht. Die Dicke tätigt einen kurzen Anruf, guckt grimmig, eine weitere Frau erscheint. Diese guckt noch freundlicher als ihre Kollegin und keift ein lebensbejahendes: „niez“ über den Flur.
Niez ist dann wohl das polnische Pendant zu „fuck off“, denke ich, als ein älterer Herr mit Sporttasche die Herberge betritt. Er hat für drei Nächte gebucht und dem polnischen Klerus somit sechzig Euro in die geldgeile Fratze geschoben. Immerhin bemüht die Buntgescheckte erneut ihr Telefon, um uns dann endgültig zum Teufel zu schicken.
„In Uliza Mazowiecka 21 werrrden sie finden eine Mann in schwarrrrze Kleid“, proklamiert sie, als erfüllten sich just in diesem Moment alle Prophezeiungen des Nostradamus.
„Dziekuje“, stottere ich, schlage die Tür hinter mir zu und krame meine Kruzifixkette aus der Bauchtasche hervor. Regina hat sie mir vor einer Italien-Reise geschenkt, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie unsere Chancen auf ein Bett im wilden Katholistan erhöhen könnte.
„Egal, dann bin ich eben Katholik“, fluche ich als Erwiderung auf Tanyas ironische Bemerkung und lege mir das Kreuz um den Hals. „Schließlich brauchen wir ein Bett, Herrgott.“
Dem hat niemand etwas hinzuzufügen. Die Mazowiecka ist eine endlose Straße, und wir zerfließen in der Abendsonne. Jetzt verstehe ich, warum Inga unbedingt vorbestellen wollte. Unfassbar, dass wir im Vorfeld sogar darüber stritten. Die kleine Kinderärztin wollte unbedingt alle Etappen exakt vorausplanen, während ich es vorzog, spontan aus dem Bauche heraus zu pilgern. Wie es aussieht hat sie recht, aber das würde ich natürlich nicht zugeben.
Die 21 ist ein mickriges, weiß gekalktes Einfamilienhaus, umringt von einem rostigen Metallzaun. Malvengewächse wuchern im Vorgarten, ein Hund kläfft, eine Schar Hühner gackert wild durcheinander. Zaghaft öffnet Tanya die abgeblätterte Pforte, und ich habe ein ungutes Gefühl im Magen.
„Wenn das hier eine Pilgerunterkunft ist, bin ich Mutter Teresa“, zische ich mit künstlichem Lächeln.
„Hallo“, ruft Tanya schüchtern über die Mützchen der Gartenzwerge hinweg.
„Wir sind die Pilger“, ergänze ich verwegen.
Nichts geschieht oder verformen sich die Larven bürgerlicher Spießigkeit justament zu einer hämischen Grimasse? Viele Atemzüge später humpelt ein Mütterchen mit Dutt und Schürze aus der Tür, das Hundegebell wird lauter.
„Prrrivat“, zischt die Alte.
Ein glatziger Mann mit reichlich wenig Zähnen auf der Kauleiste, vermutlich ihr Sohn, stapft grimmigen Blickes hinterdrein, und das diffuse Bauchgrummeln crescendiert zu nacktem Entsetzen. Immerhin trägt der Spießgeselle ein schwarzes Heavy-Metal-Shirt mit totenkopfähnlichen Elementen.
„Prrrrivat“, dröhnt es aus dem Bauche des Totenschädels. „Nummerrrr 11“, johlt es noch lauter. Doch wir haben längst schon unsere geschwollenen Beine in die Hand genommen und einen respektablen Mittelstreckensprint hingelegt.
Keuchend trotten wir die Mazowiecka entlang, die in der Sommerhitze anmutet wie eine dieser leergefegten Straßen des Wilden Westens. Nur, dass hier die geladenen Geschütze hinter Hängegeranien und Rüschengardinen lauern.
„Arscharschpimmelarsch“, flucht Inga.
Die von Mr.-Death-Metal so wärmstens empfohlene Hausnummer 11 sieht nämlich aus wie ein Diplomatendomizil. Herunter gezogene Rollläden und ein schwarz glänzendes Hochsicherheitstor versprühen nicht gerade Gastlichkeit. Wir klingeln, ein weiß gelockter Frauenkopf schaut zum Fenster heraus (gibt es denn in Polen nur alte Frauen oder was?) und schüttelt diesen entschieden.
„Herberge? Niez!“, sagt der Kopf.
Seufzend lassen wir uns auf das aufgeheizte Trottoir fallen.
„Wir sind am Arsch“, konstatiere ich.
„Nein, wir sind obdachlos“, korrigiert Tanya.
Game over
Inga, von allem unbeeindruckt, zückt erneut ihr Smartphone und wählt die bereits eingespeicherten Nummern der Jugendherbergen Heringsdorf und Golm auf deutscher Seite.
„Aber was denken Sie, wir sind mitten in der Hauptsaison“, heißt es am anderen Ende der Leitung. „Klick!“
„Nein, jetzt sind wir am Arsch“, stellt Inga sachlich fest, steckt ihr Handy in die Hosentasche, löst die Klickverschlüsse ihres überdimensionierten Rucksackes, und lässt die vierzehn Kilo-Wuchtbrumme langsam zu Boden gleiten.
„Und jetzt?“, frage ich resigniert.
„Schlafen wir am Strand?“, erkundigt sich Tanya, während sie vorsichtig ihre Sonnenbrille lupft.
„Aber nur auf deutscher Seite“, insistiert Inga.
„Darf man das denn?“, frage ich bange.
„Keine Ahnung“, raunzt es.
Fragen brausen durch die Hirnsuppe - Gedankenfetzen, Gigaschnell. Wo schlafen heute Nacht? Am Strand? - Lebensgefahr! Im Hotel? - Zu teuer! Im Zug zurück nach Stralsund? -Dann plötzlich Stille. Eine Stille, die immer nur dann entsteht, wenn das Hirn keine Pläne mehr macht. Gesichter verformen sich zu weinerlichen Larven. Haare werden gerauft. Knarzende Gartentore intonieren eine Ballade des Scheiterns. Schweißtropfen zerplatzen zeitlupenartig auf dem Zement. Der Himmel dimmt sein Licht, schaltet um auf „blaue Stund“. Und es ist Zeit, einzusehen: Aus die Maus. Schicht im Schacht. Tschö mit Ö. Saionara Che Guevara. Pogo in Togo. Tschüss, aus und Ende Allende. Game over. Diese Reise ist vorbei.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragt eine jugendliche Stimme aus dem Vorgarten gegenüber in fast aktzentfreiem Deutsch.
„Jaaaaa, wir suchen ein Zimmer“, fleht der dreistimmige Pilgerchor.
Wortlos lässt uns die Blonde zurück, wechselt ein paar Worte mit ihrer Nachbarin über den Zaun, die stützt sich auf ihrer Harke ab, schüttelt ihr welliges Haupt und brüllt etwas Polnisches hinüber in die nächste Rabatte. Auch dort schüttelt man den Kopf, fragt aber den Nachbarn von nebenan. Eine ganze Straße spielt „stille Post“, doch überall heißt es nur „niez niez“. Wie es scheint, will uns die Uliza Mazowiecka nicht.
„Kommen Sie doch zu uns“, sagt plötzlich das Mädchen.
„Wirklich?“, fragt Tanya unschlüssig.
„Ja wirklich“, antwortet der blonde Engel, der sich kurz zuvor als Jagoda vorgestellt hatte.
Wenige Augenblicke später stehen wir, frisch vom Bürgersteig gefischt, im Korridor des hübsch gepflegten Einfamilienhauses der Mazowiecka Nummer 12 und begrüßen staunend das Empfangskomitee der Swinemünder Großfamilie, bestehend aus Oma Baba, Opa Dedek, Jagodas kleinem Bruder Julek, Jagodas Mama, die einen unaussprechlichen Namen trägt, Mischlingshund Ada und einer glänzenden Perserkatze namens Filemon. Mit einem mulmigen Gefühl streife ich die klobigen Raichle-Treter ab, wohlwissend, dass meine Füße nicht gerade nach Rosen duften. Wir werden auf dem Ecksofa in der Wohnstube platziert und nippen achtsam am „Herbatka“, was auf Polnisch so viel bedeutet wie Kräutertee.
„Möchtet ihr Swinemünde sehen?“ fragt Jagoda plötzlich.
„Jaaaaa“, rufen wir, wohlwissend, dass wir wahre Glückskinder sind und besteigen umgehend den rostroten Honda der Familie Jaruszewska. Die attraktive Dame mit dem komischen Namen fährt einen heißen Reifen. Dass die hiesigen Straßen nicht gerade intakt sind, scheint sie dabei nicht sonderlich zu stören. Bange umklammere ich den Haltegriff, Inga unterdrückt ein Lachen, während Tanya ihr berüchtigtes balkanesisches Pokerface hinter ihrer Sonnenbrille versteckt. Vor einer Art Festung stoppt plötzlich der Wagen.
„Möchte jemand ins Museum?“, fragt Niki Laudas polnische Schwester.
Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Wir brausen weiter. Wieder quietschen die Reifen, bis wir ein paar Häuser weiter erneut ruckartig zum Stehen kommen.
„Das ist das Fort Zachodni“, jubelt Jagoda.
Sie scheint Mamas Fahrstil schon gewöhnt und hüpft unbekümmert aus dem Auto. An der Kasse entbrennt der übliche Kampf um die Rechnung, den ich gewinne. Fünfzig Zloty kostet der Spaziergang durch die polnische Kriegsgeschichte. Von den Preußen Mitte des neunzehnten Jahrhundert errichtet, in beiden Weltkriegen gut frequentiert und von den Sowjets im Kalten Krieg weiter bewirtschaftet, entpuppt sich die Festung als Eldorado für Waffennarren und Kriegsinteressierte. Über das gesamte Areal sind Kanonen verteilt, von denen Jagoda jede einzelne freudig in Beschlag nimmt.
„Da drüben ist unser Haus“, ruft sie und richtet das Rohr diabolisch grinsend in Richtung Uliza Mazowiecka aus.
Auch Tanya und Inga beklettern diverse Feldgeschütze. Ich hingegen klettere nicht. Ich habe mit dem dreizehnten Lebensjahr aufgehört, Dinge zu besteigen, die größer sind als ich selbst.
„Bist du sicher, dass du nicht zum Militär willst?“, necke ich Jagoda, als sie nächste Flak besteigen will.
„In Warschau gibt es eine Akademie für Militärmedizin. Dort bewerbe ich mich, aber ich brauche ein Einser-Abitur“, antwortet die Elftklässlerin spitzbübisch. Ich beobachte sie eine Weile wie sie fröhlich auf dem Geschütz herumturnt und traue ihr all das und noch viel mehr zu. Selten habe ich eine so blitzgescheite Sechzehnjährige erlebt. Weil sie einen deutschen Kindergarten besuchte, spricht sie unsere Sprache fließend. Sie spielt Gitarre und Klavier, interessiert sich für organische Chemie und möchte später einmal Anästhesistin werden. Aber es würde mich auch nicht wundern, wenn Polens zukünftige Präsidentin Jagoda Jaruszewska heißen würde. Zwischen den Kanonengängen plaudere ich mit ihrer Mama, die zurecht Stolz auf ihr Töchterchen ist. Ihr Mann arbeitet als Importeur in Venezuela und sie bei der städtischen Bußgeldstelle (also doch nicht bei Mc Laren), was ich für einen mirakulös cleveren Schachzug halte. So kann sie in Ruhe „The fast and the furious“ weiterspielen und nach Dienstschluss heimlich die Beweisfotos der Radarfallen liquidieren. Kaum dass ich diesen Gedanken fassen kann, rasen wir schon weiter Richtung Hafen, auf dessen Mole eine schneeweiße Windmühle stehen soll. Mir wird übel, doch wir erreichen das Ziel zu schnell, als dass ich mich exzessiv übergeben könnte. Noch bevor wir richtig stehen, knalle ich die Autotür hinter mir zu und atme tief durch. Hundertschaften Sonnenhungriger verdecken das stolze Wahrzeichen der Stadt, und mein Handy gleitet zurück in die Hosentasche - muss ich es eben ohne digitale Hilfe als hellweißen Leuchtturm mit Windmühlenflügeln in Erinnerung behalten. Wir spazieren barfuß am Strand entlang. Mama und Tochter plaudern aus ihrem Leben, wir von unseren Via-Baltica-Plänen und freuen uns, dass die rosarote Sonne so formschön in der Ostsee versinkt.
Die Rückfahrt in unsere erste „Pilgerherberge“ beschreibe ich besser nicht. Viel lieber erzähle ich von Dedeks und Babas warmherzigen Empfang mit süßen Brötchen und Kakao in der gemütlichen Stube. Kater Filemon schnurrt auf Tanyas Füßen, und Mischlingshund Ada jagt Juleks Spielzeuginsekten hinterher.
„Fünfhundert Kilometer zu Fuß? Fürchten Sie sich nicht?“, fragt Baba plötzlich ernst.
„Nicht solange es Menschen gibt wie Sie“, danke ich und schüttele ihre Hand.
Jagoda überlässt uns ihr Kinderzimmer. Ich darf auf die Couch, bastele mir ein textiles Kopfkissen, Inga breitet ihre Isomatte in einer Abseite aus, und Tanya schnarcht schon längst zufrieden auf dem Boden direkt unter mir. Milde lächelnd streichle ich das Kruzifix an meinem Hals. Es hat uns Glück gebracht, obgleich ich es nicht aus religiösen Gründen anlegte. Ich werde es weiter tragen. Man kann ja nie wissen ...
Es ist 7.30 Uhr. Durch das Dachfenster lugen fahle Sonnenstrahlen. Eine Möwe brüllt. Der Leib ist steif. Seichter Kaffeeduft weckt erste Lebensgeister, ich strecke die verkürzten Glieder. Ein Kopfkissen fehlt erst, wenn man keins hat. Ich deponiere meine restlichen einhundert Zloty auf Jagodas Schreibtisch, und es beginnt: Reißverschlüsse sirren, Plastiktüten rascheln, Isomatten zischen, Kulturbeutel, Schlafsäcke und Badetücher stöhnen, weil sie zu Miniaturen gefaltet und in Rucksäcke gepresst werden. Ein textiles Häuflein raunt die Weise minimalistischen Lebens. Das ist er also, der Soundtrack meines Sommers, denke ich und krächze ein heiseres „Moin“ in die Runde. Obwohl sie auf dem Boden geschlafen haben, wirken die Mädels erschreckend munter. Vor allem Tanya scheint unnatürlich wach für diese gottlose Tageszeit. Ärztinnen können scheinbar ohne Schlaf leben. Ich hingegen bin erst ab dem dritten Kaffee ansprechbar und meide morgendliche Konversationen wie der Veganer tierisches Fett.
Aus der Dusche kleckert es müde. In der Hauptsaison gebe es keinen Wasserdruck, warnte man uns bereits gestern vor. Schuld sei das kleine Wörtchen „Ferien“, welches Swinemünde um ein Vierfaches zu einem gefräßigen Betten-burgenmonster aufbläht. Die hiesigen Stadtwerke hätten bereits kollabiert. Was soll`s? Das Tröpfeln spiegelt mein Energielevel perfekt wider, finde ich und tupfe vorsichtig die kostbaren Spritzer mit dem extra für diese Unternehmung gekauften, ultraleichten Mikrofaserhandtuch vom Leib. Baba serviert pochierte Eier und Würstchen zum Frühstück.
„Sie brrrauchen Stärrrke für Wanderrrung“, sagt sie.
Die quicklebendige Inga und der pensionierte Mathelehrer Dedek plaudern über Medizin. Carnivore Tanya labt sich an den Fleischwaren.
„Bei welchem Bäcker haben sie denn das leckere Brot gekauft?“, wechselt Inga plötzlich das Thema.
Essen kaufen ist nämlich ihre Passion, und ich muss grinsen, als ich an ihren stets zum Bersten vollen Kühlschrank denke, welcher von schimmeligen Delikatessen überquillt. Ich ahne, dass wir bei eben diesem besonders tollen Bäcker mindestens drei Kilo Backwaren werden kaufen (und später auch schleppen) müssen.
„Ich hole es Ihnen“, ruft Baba und springt sofort auf.
„Sie ist wie ein Flugzeug“, erklärt Dedek, der die Fragezeichen über unseren Köpfen schon richtig deutet.
„Aber sie brauchen doch nicht extra ...“, stottere ich.
Doch die rüstige Rentnerin ist schon längst in Richtung Backstube unterwegs.
„Sie ist immer so“, lacht Jagoda.
Um die peinliche Situation zu überspielen, lobe ich die sonnengelben Eidotter, welche mich stark an die Produkte Vaters glücklicher Hühner erinnern.
„Die sind von meiner Tante, die ihr schon von gestern kennt“, erklärt Jagoda.
„Hausnummer 21?“, frage ich schmunzelnd.
„Genau“, grinst sie.
Die Uliza Mazowiecka hat ihren Schrecken verloren. Baba kehrt mit einem duftenden Brotlaib zurück, worauf sich Inga mit einer überschwänglichen Umarmung bedankt.
„Ich bringe euch noch zum Jakobsweg“, sagt Jagoda.
Wir schießen ein Abschiedsfoto, umarmen uns und versprechen, wiederzukommen.
„Bis zum nächsten Jahr in Swinemünde mit eurem Hippie-Bus“, scherzt sie.
Denn wir Mädels haben die Vision eines Bulli-Roadtrips entlang der Atlantikküste - wahrscheinlich weil wir ahnen, dass die Pilgerei zu anstrengend werden könnte, um es wieder zu tun.
Durch einen Kiefernwald führt ein Radweg Richtung Grenze. Tanya und Inga laufen federnden Schrittes voran, bewaffnet mit Giesela Johannßens gelbem Reiseführer. Ich lasse mich ein paar Bootslängen zurück fallen und betrachte verträumt ihre tänzelnden Rucksäcke, wobei Ingas so riesig ist, dass ihr Kopf gänzlich dahinter verschwindet und sie droht, jeden Moment nach hinten umzukippen. Tanyas Exemplar hingegen geht deutlich mehr in die Breite, so dass ihr schwarzer, halblanger Pferdeschwanz für mich gut sichtbar auf und nieder hüpft. Kurz hinter dem Kiefernwald endet Polen an einem schlichten Holzsteg, der über ein schmales Bächlein führt. Kein Grenzturm, keine Zaunanlage, kein Kolonnenweg, keine Tankstelle oder Duty-Free Shop in Sicht, nicht einmal ein braver Zollbeamter darf hier seine Brötchen verdienen. So schlendern wir, ohne dass jemand Notiz davon nimmt, unbekümmert in ein anderes Land. Das kommt mir, wie auch die Begegnung mit Jagoda, wie ein unfassbares Wunder vor. Auf deutscher Seite angekommen danke ich der Familie Jaruszewska, St. Jakobus - dem Schutzpatron der Pilger - und nicht zuletzt dem Schengener Abkommen.
Der rettende Engel
Nutzlose Schönheit am Weg
Hinter dem Torfkanal liegt Kamminke, das erste Dorf auf deutscher Seite, das neben einem Hafen sogar eine Gaststätte zu bieten hätte. Doch Babas herzhaftem Frühstück sei Dank, passieren wir gleichmütig und landen in einer unerwartet hügeligen, sattgrünen Pampa, in der mannshohe Strohballen die einzige Attraktion darstellen. Ich schwitze, trinke viel zu hastig und schiebe den lästigen Rucksack auf der Schultermuskulatur von A nach B, während meine Füße beginnen, auf eine subtile Art zu brennen. Da ich als Hedonistin ein paar Kilo zu viel auf den Rippen trage, wundert mich das nicht - muss ich eben lernen, den Schmerz zu akzeptieren, meine Schritte achtsam zu setzen und mich auf die Schönheit des Weges zu konzentrieren. Kürzlich hat er die Gestalt einer Plattenstraße angenommen. Sommerblumen blühen am Feldrain, nutzlos schön. Es ist wolkenlos, der Duft eines Gerstenfeldes weckt die Lust auf ein kühles Bier. So fühlt sich also pilgern an, denke ich - durstig, verschwitzt und (noch) ein wenig unbequem ...
Das vom Tourismus verschonte Dörfchen Garz, das auf Haff-Seite der Insel Usedom liegt, wirkt fast wie ein natürliches Segment der Bodden-Landschaft und fällt kaum auf im weiten Grün. Selbst die Häuschen erscheinen wie steinerne Tupfer, geformt vom vorvorletzten Pleistozän. Erst kurz vor der Jugendherberge Golm, die uns gestern nicht beherbergen wollte, werden wir aus unserer mittäglichen Apathie gerissen, erblicken wir doch plötzlich einen frisch markierten, gelben Pfeil, der uns schräg auf eine Wiese weisend, dazu ermuntern möchte, den Plattenweg verlassen. Wir halten Kriegsrat und beschließen, ihm zu folgen -allein schon deswegen, weil es im Pilgerführer steht.
Grenzgang der unbeschwerten Art
„Gisela“, wie wir seine hochgeschätzte Autorin liebevoll nennen, „wird`s schon wissen“, findet Tanya.
Am Horizont liegt ein Dorf, von dem wir hoffen, dass es unser Etappenziel Zirchow sein könnte. Doch ob wir auf dem richtigen Weg sind, wissen wir nicht. Der letzte gelbe Pfeil liegt schon ein paar Kilometer zurück und es ist nicht leicht, sich in Gefilden zu orientieren, in denen Storchennest und Kirchturm die einzigen Landmarken sind. Auch damit werden wir lernen müssen, umzugehen, sinniere ich und laufe schweigend meinem zweiköpfigen Navigationssystem hinterher. Solange die beiden entspannt sind und wir uns die Wiese nicht mit einer Kuh Herde teilen müssen, brauche ich mich nicht zu sorgen. Die Endprodukte ihrer Darmausscheidung liegen nämlich als stummes Mahnmal und gut sichtbar auf dem Boden herum. Furchtsam blicke ich mich um, und da sind sie auch schon, die lieben Tierchen. Gleich schräg hinter uns schauen sie uns mit ihren hübschen Kuhaugen treudoof und einfältig wiederkäuend an. Aber sie können, Gott sei`s getrommelt und gepfiffen, keinen Schritt mehr weiter. Oh seliger Erfinder des elektrischen Weidezauns, wer immer du auch bist, ich danke dir! Da kann das kleine Hasenherz ja getrost wieder aus der Hose rutschen. Notiz an mich selbst: Nicht einfach so, ohne dezidierte Analyse der Ausgangslage, über Kuhweiden pilgern. Das kann böse enden.
Die beiden Damen scheinen die Präsenz der milchgebenden Säuger wesentlich lockerer zu nehmen und erwarten mich grashalmkauend am nächsten Feldweg kurz vor einer Brücke.
„Are you going to Santiago?“, fragt plötzlich eine Männerstimme.
Sie gehört einem Radfahrer in grellbunter Funktionsbekleidung, der gerade eine achtbare Vollbremsung hinlegt.
„Not really“, antworte ich verdutzt, als eine Frau, auf ebensolch rasante Weise hinzu schnellt.
Argwöhnisch blicke ich nach vorn. Tanya und Inga kauen noch immer seelenruhig auf ihren Grashalmen.
„Beeing a pilgrim is quite an experience, you know?“, beginnt Mr. Bike mein erstes Pilgerfachgespräch.
Das Ehepaar aus L.A. entdeckt die Welt am liebsten per Velo. Sogar in Santiago de Compostela waren sie schon, wobei mir schon beim Gedanken an diese Wegstrecke die Waden schmerzen. Neidvoll scanne ich ihre faltigen Leiber auf vorhandenes Körperfett ab - kein Gramm - nur Muskeln und goldbraune Haut, die, wohl aus aerodynamischen Gründen, von knallenger, atmungsaktiver Kleidung eingeschnürt wird.
„Buen camino“, rufen sie zum Abschied, und ich verspüre unnachahmlichen Stolz, ab heute zum Stamm der vitalen Pelegrinos zu gehören.
Die beiden Schnellläuferinnen vor mir haben indes ihre Wanderschaft wieder aufgenommen und furchtlos das Geheule aus „the lion sleeps tonight“ angestimmt.
„Ooooooiiiiidiiidiiidiiiiiiowimoweeee“, tönt es über Feld und Flur, und Mr. und Mrs. Bike treten noch ein wenig kräftiger in die Pedale als zuvor. Erst ein vom Flughafen Heringsdorf startendes Kleinflugzeug vermag dem Kunstgenuss ein glückliches Ende zu setzen. Durch erheblichen Kraftaufwand schließe ich zu den beiden Operndiven auf. Jetzt marschieren sie schnaufend einen Hügel empor -klein Inga mit ihrer Riesenkraxe vorneweg, Tanya hinterdrein, und ich bilde, fast schon wie gewohnt, das Schlusslicht des illustren Gänsemarsches.
Nach einem gefühlten Tagesmarsch durch die ostvorpommersche Steppe stoppt endlich der Tross und legt sich im Schatten einer Birke nieder. Ein Wurzelstrang durchbohrt mein linkes Schulterblatt, und das Surren der Schmeißfliegen bringt mich um den Verstand. Aber alles ist besser als Laufen im Moment.
„Na Speedy, kann`s denn weitergehen?“, fragt plötzlich Tanya, die auf magische Weise in den aufrechten Stand gekommen sein muss.
Auch Inga steht bereits wieder auf ihren kurzen Läufen, fertig zum Aufbruch.
„Ist ja schon gut ihr Sklaventreiber, ich komme ja schon“, maule ich.
„Ist auch gar nicht mehr weit“, besänftigt Tanya.
Nur weil ich in der Ferne die Umrisse einer Ortschaft erahne, hieve ich meinen Kadaver auf den Camino zurück und fantasiere von schäumenden Bierkrügen. Unmittelbar vor dem Einsetzen des klinischen Todes erreichen wir unsere erste Pilgerherberge in der Langen Straße 38. Schon vor Wochen hat Inga mit Frau S. vom evangelischen Pfarramt telefoniert und diesen Boxenstopp somit lange im Voraus klar gemacht. Völlig ausgemergelt von zwölf Kilometern, bin ich nicht mehr in der Verfassung, über ihren Mangel an Spontaneität zu lästern, sondern einfach nur froh, in das nächstbeste Bett zu fallen.
Frau S. ist eine sympathische, grauhaarige Dame, die uns gnädiger Weise ohne viel Gerede die Tür zu unserer Unterkunft aufsperrt. Müde halten wir ihr unsere Pilgerpässe und je zehn Euro entgegen. Laut meines Credencials heiße ich Steffi Peters, da meines weiterhin verschollen blieb und sich die echte Steffi kurzfristig für eine bequemere Art des Reisens entschied - eine weise Entscheidung, liebe Frau Peters und gut für mich. So bin ich trotz meiner Schusseligkeit im Besitz des lebensnotwendigen Dokuments und darf ganz nebenbei auch noch eine andere Identität annehmen. Und wer weiß, vielleicht gefällt mir das neue Leben so gut, dass Nati Rasch spurlos auf der Via Baltica verschwinden und gleich einer kehlmannschen Romanfigur, ein neues Leben in einem fernen Land beginnen wird. Diese frisch erschaffene Personalie lebt dann selbstverständlich schwielenfrei, reich und sorglos vor sich hin.
„Plock!“
Der dumpfe Aufprall eines Stempels auf gräuliches Papier beendet meinen Tagtraum und macht es hiermit offiziell: Steffi Peters pilgert. Gut, dann kann Nati ja jetzt Urlaub machen. Doch Scheiße war`s und kein Kompott. Während Tanya und Inga bereits häuslich eingerichtet sind, klebe ich noch am Handlauf des Treppengeländers fest und ringe um Luft. Endlich auf der Bettkante angekommen, löse ich die Schnürsenkel meiner Wanderboots, die sich eher wie die Hufe eines Flusspferdes anfühlen und befreie den ersten Fuß. Er ist angeschwollen, schmerzt dumpf und sondert einen seltsamen Geruch ab. Dem anderen geht es auch nicht besser und ich ahne, dass mein Körper sich gegen diese anormale Art der Fortbewegung wird wehren müssen. Seufzend öffne ich eine Tube Hirschtalg, reibe die tauben Stinker gründlich damit ein, krieche in meinen Schlafsack, murmele etwas von Powernapping und falle in ein zweistündiges Koma.
Unterdessen haben meine beiden fleißigen Arbeitsbienen den Konsum um einige Genussmittel erleichtert, drei Biere geköpft und einen Berg Chickenwings in die Pfanne gehauen. Glückselig erhebt Tanya ihre Flasche und verkündet froh: „Auf die Via Baltica! Nasdrave und Cin Cin!“
Inga läuft mit einer Matratze hinaus in den Garten, während Tanya einen Schaukelstuhl auf den Rasen hievt und ich leise rülpsend den Garungsprozess der Hühnerbeine überwache. Nach dem Essen verlassen wir die Wiese nicht mehr, liegen in einer Art Pilgerstarre regungslos herum. Inga erwacht als erste, ergreift ihr Handy, reserviert drei Betten für die morgige Nacht und schließt mit dem lebensklugen Satz: „Besser als man hätte, ist, man hat.“
Die Kurze hat schon eine geführte Pilgertour mit dem Pastor ihrer Gemeinde hinter sich und weiß, dass Wallfahrten hier im Nordosten wohl geplant sein wollen, wenn man nicht im Freien übernachten will.
„MV ist eben nicht Spanien“, seufzt sie.
Helles Glockengeläut zerbimmelt ihre Kritik. Es ist Schlag sechs.
„Ich muss dringend ein paar Apostel anbeten, damit ich das hier überstehe“, stöhne ich und mache mir einen ordentlichen Zopf.
Die Damen gucken entgeistert und wenden sich wieder ihrem Gespräch zu.
„Schon gut, schon gut, dann bete ich eben für euch mit“, empfehle ich mich und krauche mit letzter Kraft die Kirchentreppe hinauf.
So sehr mir volle Gotteshäuser auch ein Gräuel sind, so sehr liebe ich die Erhabenheit menschenleerer, christlicher Bauwerke. Eben weil ich, so wie mein Vater, über die göttliche Gabe verfüge, stundenlang auf die Gnubbel der Raufasertapete starren zu können, ohne dabei etwas zu vermissen, sind leere Kirchen einfach der perfekte Ort für mich. Da es hier aber an Raufasertapete mangelt, betrachte ich die blassen Fresken neben dem Altar und frage mich, warum in Zirchow kein Jesus am Kreuz, sondern ein riesiges Schiffsmodell von der Decke baumelt.
„In Kirchen findet man Ruhe, nicht wahr?“, fragt eine Stimme aus dem Off.
Ich reibe mir die Augen, schaue leicht verträumt in das Antlitz der Frau S. Dankbar, nicht eingeschlossen worden zu sein, folge ich dem feminen Redeschwall hinaus ins Freie.
„Hier beim Glockenturm regnet es rein“, klopft sie zur Demonstration des unhaltbaren Zustandes auf einen besonders dicken Holzbalken. „Die Kirche in Garz ist genauso alt wie unsere, anno 1820“, überbrückt sie die peinliche Stille. Gesprächspausen sind für manche so angenehm wie Stockschläge, denke ich.
„Unser Pastor hat so viel zu tun. Hoffentlich ist er nicht eines Tages überfordert und geht weg“, plappert die gebürtige Hallenserin im urigen Bördedeutsch. „Wir waren so lange ohne Pastor“, fährt sie fort.
Wieder sage ich nichts, denn mit älteren Damen ist es meist so wie mit Müttern und redseligen Chefs. Wenn ihr Wortvorrat erschöpft ist, hören sie von ganz alleine auf.
„Wir sind eben kein Seebad, uns hilft man nicht. Und wissen Sie, die Treppe zur Orgel und auch die Galerie sind ebenfalls morsch, aber die Fenster sind neu. Aber woher soll es auch kommen? Im Gottesdienst sitzen, wenn`s hoch kommt, zehn Mann, und der Pastor muss mit einem Kassettenrekorder singen, weil kein Kantor da ist, um ihn zu begleiten. Aber das klingt auch schön. Mein Sohn hat kürzlich den Fliederbusch vor der Kirche gerodet. Das gab Ärger, sage ich Ihnen, aber man hat die Kirche ja nicht mehr gesehen.“
Irgendwann hört sie auf zu reden, denke ich. Langsam laufen wir die Treppe hinunter, würdigen den vom Sohnemann liebevoll gestutzten Strauch und kommen vor der Herberge zum Stehen.
„Seit 2008 kommen die Pilger nach Zirchow, und ich habe mich damals breit schlagen lassen, mich um ihre Belange zu kümmern, weil wir auch damals keinen Pastor hatten. Die Gisela Johannßen aus Hamburg hat damals den Reiseführer geschrieben. Leider ist sie tot. Sie ist alles zu Fuß abgelaufen, hat alle Adressen und Telefonnummern selbst zusammen getragen. Den neuen komischen Gelben, den mir die Pilger immer zeigen, da haben sie doch nur abgeschrieben, und die Herrschaften sind alles mit dem Auto abgefahren. Aktuell ist der aber auch nicht mehr, und um Erlaubnis gefragt, ob sie meine Adresse veröffentlichen dürfen, haben sie auch nicht. Das ist doch nicht in Ordnung sowas, finden Sie nicht?“, redet sich die gute Frau langsam in Rage.
Hilflos zucke ich mit den Schultern. Mein Plan der passiven Gesprächsvermeidung geht leider nicht auf.
„Ach und sagen sie ihrer kleinen Freundin, beim Pilgern geht es um Verzicht. Da braucht man nicht solch einen großen Rucksack. Der ist doch viel zu schwer. Ich würde an ihrer Stelle zur Post gehen und die unnötigen Sachen nach Hause schicken. Mensch, man braucht doch nicht viel. Man kann doch auch Einlagen nehmen. Das spart Schlüpfer!“, referiert sie mit todernster Miene, und ich muss mir das Lachen arg verkneifen.
Obwohl sie unheimlich viel redet, fange ich an, sie zu mögen, steckt doch viel Wärme in ihren Worten.
„Und den Schlüssel werfen Sie morgen einfach in den Briefkasten, ja?“
„Geht klar. Haben Sie vielen Dank für alles und schlafen Sie gut“, verabschiede ich mich höflich.
„Wo warst du denn die ganze Zeit?“, ruft mir Tanya von der Gartenbank entgegen.
„Ich habe Erstaunliches über Körperhygiene erfahren“, flachse ich.
„Hier, trink` mal einen Schluck. Die Hitze scheint dir nicht zu bekommen“, bemerkt Inga frech und köpft eine Flasche Bier.
„Unsere Herbergsmutti meint, dein Rucksack ist zu groß“, kontere ich. „Du sollst deine Schlüpfer nach Hause schicken und Einlagen nehmen.“
„Ach, du hast ja `nen Knall“, empört sich diese und verpasst mir einen Klaps auf den Hinterkopf.
Ich erläutere den Vorschlag der Frau S., und die beiden biegen sich vor Lachen.
„Na, ganz Unrecht hat die Gute ja nicht“, findet Tanya als erste ihre Fassung wieder. „Sieh mal Inga, was wir beide alles mit uns herum schleppen, während Nati nur ein Stück Seife braucht, um glücklich zu sein“, stellt die Bulgarin nüchtern fest, bevor sie sich durch den nächsten Lachanfall schüttelt.
„Besser stinken als schleppen“, verteidige ich mich.
Doch für sachliche Argumente hat keiner mehr ein Ohr.
„So, ihr Lästermäuler, ich gehe jetzt Duschen, und nein danke, euer Duschbad benötige ich nicht“, lüge ich und verdrücke mich ins Bad.
Das Gelächter der Mädels kann ich trotz des Wasserstrahles hören. Als ich wiederkomme, liegen sie schon in ihren Kojen. Inga verliest eine Kurzgeschichte aus ihren extra für die Abendunterhaltung mit geschleppten „morddeutschen Krimis“, bis um Neun bereits das Licht ausgeht. Das eben aufgebaute Gesellschaftsspiel mit dem vielversprechenden Namen „Zickzacke Hühnerkacke“ möchte auch niemand mehr spielen. Die morgige Etappe von achtzehn Kilometern ist ein allzu dicker Brocken.
Stumm schlürfen wir unseren Kaffee. Hinter uns liegt eine furchtbare Nacht. Nur, weil Inga mitten in der REM-Phase aufspringen musste, um zu gucken, ob die Tür auch verschlossen sei - wegen der Einbrecher - versteht sich.
„Dann mach’ doch das Licht an“, stöhnte Tanya und weckte mich gleich mit.
Doch was sind schon Einbrecher im Vergleich zur Gemeinen Stechmücke?
Lächerlich zu glauben, eine Culex pipiens ließe sich verscheuchen. Eiskalt saugt sie dein Blut, während ihr Summen und das juckende Sekret ihres Speichels deine Seele martert. Das rettende Autan unauffindbar in den Untiefen des Rucksackes verschollen, musste ich die Kampfhandlungen abbrechen, um niemanden zu stören. Ich bin nämlich ein höflicher Mensch. Doch was habe ich davon? Immer stechen sie mich. Als um Sieben dann endlich der Wecker klingelte, hatte ich bereits abgewaschen, das Frühstück vorbereitet und meine Garderobe nach Farben sortiert, nur um jetzt übernächtigt in den Kaffeesatz zu starren. Aber das interessiert ja keinen, im Gegenteil, man wird noch belächelt. Mädels, ihr solltet mich nicht reizen, denn an Tagen wie diesen habe ich nur Hass übrig.
Beneidenswert einsam
Kaum halb neun werfe ich die Schlüssel in den Briefkasten der Frau S., winke ein letztes Mal zu ihrem Wohnzimmerfenster hinüber (wobei ich eingedenk meiner Gemütslage lieber einen Stinkefinger gezeigt hätte, aber was kann die arme Frau schon dafür) und folge meinen Scouts - bis diese kurz hinter dem bedeutungslosen Örtchen Kutzow in einen zu gewucherten Waldweg einbiegen möchten und damit meinem stumpfsinnigen Mitläufertum ein jähes Ende setzen.
„Lasst uns lieber auf dem Hauptweg bleiben. Mir ist nicht wohl dabei“, gebe ich zu bedenken.
„Keine Sorge, laut Karte stimmt die Richtung, und es ist ein Sandweg“, argumentiert Inga.
„Asphalt belastet nämlich die Füße“, kommt Tanya ihr zur Hilfe.
Ich bin überstimmt. Blöde Demokratie. Immerhin führt der Irrweg hübsch am Feldrand unter einem dichten Baum Dach entlang, dessen Blätter hin und wieder den Blick auf ein Stoppelfeld freigeben. Dort steht beneidenswert einsam, stolz auf einem Hügel ein wohlgeratener Baum, dessen Krone bis zum Boden reicht. So laufen wir zwar falsch, aber schön.
„Da vorne ist die B 110“, ruft Inga aus heiterem Himmel.
„Wir sind richtig“, jubelt Tanya.
„Und da ist die Nebenstraße nach Bossin. Genau wie es in der Karte steht“, bestätigt Inga.
„Toll“, applaudiere ich.
Fast schon niedlich wie sich die beiden an ihren topographischen Husarenstreichen freuen können. Aber es ist allemal besser, sie lesen die Karte und nicht ich.
„Wo sammer denn hier?“, stört ein Radler den Triumph.
Der attraktive Mann im unverschämt engen, zartrosa Dress bedenkt den pilgernden Pöbel mit einem gewinnenden Lächeln und steigt extra für uns ab. Ohne mit der Wimper zu zucken tippt Inga auf unseren Standort in der Wanderkarte, während ich noch nach einem gesellschaftsfähigen Gesichtsausdruck googlen muss. Sein Sozius, ebenfalls adrett, in optimistischem Froschgrün gekleidet, erstickt die unliebsame Nettigkeit im Keim: „Komm, wir ham doch koane Zeit“, mosert er auf Bayrisch, wodurch er mir wenigstens ein bisschen sympathischer wird.
Denn egal wie fesch die Herren auch sein mögen, ich habe schlecht geschlafen und einen mit Pestbeulen übersäten Leib. Kurz, mir ist nicht nach Plaudern zumute.
„Mir ham olle Zeit der Welt“, entgegnet sein Kompagnon charmant, während der Grüne unruhig mit den Pedalen scharrt.
„Hammer net, wir wollen heute noch nach Anklam“, tadelt der.
„Na dann, Reisende soll man nicht aufhalten“, balle ich mein Gesicht zur Faust.
„Ja mei“, seufzt der Schöne, schwingt seinen Adoniskörper zurück aufs Rad, und das bunte Duo saust davon.
„Was sind wir wieder charmant heute“, grinst Inga.
„Ja, du mich auch“, setze ich stieselig meine Wanderung als Ekel-Schlusslicht fort.
Es gibt so Tage, da hat man besser keinen menschlichen Umgang. Aber welchen Grund zur Freude sollte es auch geben? Bimmelnde Kohorten von Radfahrern drängen uns vom Weg. Die Via Baltica muss nämlich jetzt unbedingt Berlin-Usedom-Radweg heißen. Ab Prätenow kommen noch enervierende PKW hinzu, die in den Radlern ihren natürlichen Feind ausgemacht haben, der unbedingt, samt Pilgerungeziefer, in den Straßengraben geschoben werden muss. Grässlich. Wie abstoßend diese Handvoll Autos jählings wirkt. Dagegen sind meine zweirädrigen Freunde ein wahres Gottesgeschenk. Während mein Energie-Lämpchen rötlich blinkt, merke ich wie wichtig äußere Umstände für meine Pilgermoral sind. Untergrund, Streckenverlauf, Landschaft, Temperatur - all das sollte sich möglichst angenehm gestalten. Ein Buddhist würde fraglos darüber lächeln. Doch jeder einzelne Schritt scheint mich eher vom Paradies wegzuführen, als in die Erleuchtung hinein. Aber das ist ja auch nicht das Ziel, sondern weiter zu kommen als damals mit Biggi.
Zielformulierungen hin oder her, die Formkurve nähert sich asymptotisch der Zahl Null, bis plötzlich ein Backsteinhaus am Wegesrand auftaucht, an dessen Mauer gut sichtbar das vertraute Zeichen der Jakobspilger klebt. Beim Anblick der gelben Muschel auf blauem Grund, deren Zweige sternförmig gen Santiago de Compostela weisen, straffen sich die Glieder, bedeutet sie doch: Man hat uns nicht vergessen. Rechts und links der roten Tür kleben zwei kleine Täfelchen mit der Aufschrift „Heim für schwer erziehbare Kinder“. Verstohlen greife ich zur Kamera. Als ob ein Foto klären könnte, ob es sich um eine Pilgerherberge handelt, oder etwa um das, was die Schilder sagen.
Ein schwarzer Saab rauscht auf den Hof und beendet die Grübelei. Ein gepflegter Weißhaariger von schätzungsweise siebzig Jahren öffnet die Haustür. Vermutlich, er wird uns auffordern, die Bilder seines Privatbesitzes von unseren Apparaten zu löschen. Da winkt mich Tanya zu sich heran. Sie ist im Gespräch mit der aparten Dame, die justament so schwungvoll eingeparkt hatte.
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