Zwingli - Franz Rueb - E-Book

Zwingli E-Book

Franz Rueb

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Beschreibung

Vielen Zürchern gilt er als Hohepriester der Lustfeindlichkeit. Dabei hat er eine Prostituierte besucht, Musik geliebt und für soziale Gerechtigkeit gekämpft. Die Rede ist von Ulrich Zwingli (1484-1531), ab 1519 Leutpriester im Grossmünster in Zürich und Wegbereiter des reformierten Protestantismus. Die leicht lesbare, moderne Zwingli-Biografie von Franz Rueb rückt den Reformator in ein neues Licht. Es entsteht das Bild eines widerständigen Geistes, der aber über grosses politisches Gespür verfügte und dem Leben durchaus zugewandt war. Im Gegensatz zu den meisten bisherigen Zwingli-Darstellungen liegt der Fokus auf der Reformationspolitik und auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen, welche die Reformation in der Schweiz begleiteten und überhaupt erst ermöglichten. Ulrich Zwingli wird als Persönlichkeit greifbar, im Kontext seiner Zeit, als Reformer, Politiker und Diplomat.

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2016

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INHALT

Vorwort

Zwinglis Tod

Der Säntis-Galöri

Wildhaus

Zürichs geringe Wirtschaftskraft

Schmerzhafter Aderlass

Ausbildung

Bern

Wien

Universität Basel

Neuer und alter Weg

Europäische Perspektiven

Pfarrei in Glarus

Der Patriot

Marignano

Die Wende 1516

Erasmus von Rotterdam

Abschied von Glarus

Einsiedeln

Grossmünster in Zürich

Begegnung mit Luthers Schriften

Die Pest 1519

Das Pestlied

Beginn in Zürich

Allgemeines Drunter und Drüber

Der moralische Zerfall

Wurstessen

Kampf mit dem Mönchswesen

Die erste Disputation

Der Prediger

Zustimmung und Feindschaft

Umgestaltung des Kults

Die zweite Disputation

Die kleine Disputation

«Zwingli wybet»

Pfingsten 1524

Aufhebung der Klöster

Abschaffung der Messe

Die Prophezei

Der Ittingersturm

Die reformierte Theologie

Das Ehe- und Sittengericht

Ausbau und Frucht der Prophezei

Oppositionen

Die Badener Disputation

Die Täufer

Die Räte

Zwinglis Persönlichkeit

Die Bauern

Gaismair und Zwingli

Über Zürich erhebe ich meine Stimme

Zwinglis Stellung zur Kunst

Vom Sinn der Arbeit

Wirtschaft, Geld und Reichtum

Zwingli und die Freudenhäuser

Vier «Kampfplätze» für Zwingli

Durchbruch in Bern

Bildersturm in Basel

Trennung von Erasmus

Vor dem Waffengang

Landgraf Philipp von Hessen

Marburger Gespräche

Was unterscheidet Zwingli von Luther?

Die Synode

Uneinig mit Bern

Ringen um Bündnisse

Verlorene Schlacht in Kappel

Langer Frieden

Das Zwingli-Porträt

Das Denkmal

Zeittafel

Literatur

VORWORT

Dreissig Jahre habe ich meinen Wunsch mit mir herumgetragen, eine Zwingli-Biografie zu schreiben. Mein Arbeitszimmer hatte eine Archivecke mit mehreren Ordnern und 64 Schubladen, fein säuberlich nach Themen beschriftet. Im Sommer 2014 begann ich die Zwingli-Biografie zu schreiben, machte mich systematisch an die Materialien. Eine Schublade nach der anderen wurde verlebendigt.

Über Zwingli zu schreiben, entspringt meinem Anliegen, das seit 30 Jahren in der breiteren Öffentlichkeit immer wieder heraufbeschworene sogenannte Zwinglianismus-Syndrom zu korrigieren. Ich beabsichtige mit dem vorliegenden Buch, die Ungerechtigkeiten, mit der diese grosse geschichtliche Figur in der breiteren Öffentlichkeit abgetan wurde, als eine im damaligen Zeitgeist verankerte Modeerscheinung zu entlarven.

Ursprung meiner Geschichte mit dem Reformator Zwingli war das Zwingli-Porträt von Hans Asper und das Zwingli-Denkmal von Heinrich Natter. Gegen beide hatte sich mein Geist, meine Fantasie und meine Ästhetik immer und von Anfang an gewehrt. Was haben diese Herrschaften mit dem Reformator angestellt? Da beide – Porträt sowie Denkmal – meine Beschäftigung mit Zwingli stets befördert haben, konnte ich auch 30 Jahre auf meine Stunde warten.

An Zwingli interessiert mich vor allem das politische Individuum: der Humanist, seine bäuerliche Herkunft, seine Bildung, seine gewaltige Leistung, seine Philosophie, seine soziale Theologie, seine Bedeutung in der Zeit, seine Visionen, seine grundsätzliche Fortschrittlichkeit. Das religiöse Argumentarium bleibt mir eher fremd.

Bei Zwingli sind, wie bei keinem anderen Religionsführer, Politik und Religion, Humanismus und Christentum eng verbunden. Darin liegt meine Faszination für diesen Mann, der meine Stadt in etwa zwölf Jahren umgepflügt und verändert hat, der einen Geist geschaffen hat, der weit über seine eigene Zeit hinausreicht und der unser Leben bis heute prägt.

Ich lege das Schwergewicht des Buches auf seine Reformpolitik. Ich erzähle die äusseren Vorgänge und gebe einen Einblick in seine Sozialpolitik. Ich will die geschichtlichen Prozesse so plastisch wie möglich, so nachvollziehbar und so präzise wie es geht, schildern.

Über Zwingli gibt es fast ausschliesslich Bücher von Theologen und meist religiös ausgerichteten Historikern. Es sind jeweils mit ungezählten Fussnoten und grossen Textfeldern in Latein und in alter deutscher Sprache besetzte Bücher. Die vierbändige Biografie von Oskar Farner zum Beispiel (1943, 1946, 1954 und 1960 erschienen) ist über weite Strecken mühsam zu lesen, aber fruchtbar, wenn man sich darauf einlässt. Ich schreibe keine wissenschaftliche Publikation, vielmehr ein modernes Lesebuch, für alle verständlich. Zwingli und die Reformation verdienen, von der Allgemeinheit neu wahrgenommen zu werden.

Meiner Meinung nach ist Zwingli einer der bedeutendsten Schweizer unserer Geschichte. Ein überragender Kopf und ein grosser Theologe. Ein grosser Praktiker und ein ebenso grosser Theoretiker. Ein Kenner der griechischen und lateinischen, klassischen Literatur. Er war der erste gründliche Bibelkenner, während Geistliche der damaligen Zeit das Alte und das Neue Testament teilweise kaum kannten. Es ist lohnend, einen überragenden Menschen in seinem Wirken darzustellen, in seinem Reifeprozess im 16. Jahrhundert, im damaligen Gesellschaftsgefüge einer mit Hochspannung geladenen Zeit, die Verflechtung von subjektivem Wollen und objektivem Wirken klar verständlich zu machen.

Seit 30 Jahren ist kein Buch mehr erschienen, das Ulrich Zwinglis Leben in den Mittelpunkt stellt. Ich bin der Überzeugung, dass es dringend an der Zeit ist, Zwingli aus dem Kontext von Kulturfeindlichkeit und asketischer Rigorosität zu befreien.

ZWINGLIS TOD

Sein Tod war sinnlos. Er ist in der Schlacht gefallen, in einer der blödsinnigsten Schlachten aller blödsinnigen Schlachten. Aber wir wissen nicht, ob er gekämpft hat; es sind alles nur Vermutungen. Es ist nicht anzunehmen, dass er mit der Waffe in der Hand gekämpft hat. Doch er ist auf dem Schlachtfeld zu Tode gekommen, das ist unbestritten. Ihn heute deswegen als Kriegsgurgel zu diffamieren, wie das oft getan wird, ist demagogisch, und ihn im Denkmal als finsteren Mann mit Schwert darzustellen, wie das in Zürich im 19. Jahrhundert durch einen katholischen Tiroler Bildhauer geschah, abgesegnet und prämiert von den reformierten Stellen der Zürcher Kirche und ihres Staates, wird weder der Geschichte noch Zwingli als Menschen und seinen Leistungen sowie seiner Bedeutung gerecht. Er ist als teilnehmender Feldprediger in der Schlacht gefallen. Der Gipfel dieses Unsinns, nämlich gesund und stark, geistig leistungsfähig im Alter von 47 Jahren auf dem Schlachtfeld, und zwar nach dem Kampf, abgestochen oder erschlagen zu werden, wurde dadurch erreicht, dass er selbst wohl einiges dazu beigetragen hat, dass es überhaupt zu diesem überflüssigen Kampf mit Schwertern und Hellebarden gekommen ist. Dass er aufgerufen hat zum unausweichlichen Waffengang gegen die feindlichen und feindseligen und schlachtbereiten Katholiken der Innerschweiz. Das war wohl seine Untat schlechthin, das hat ihn sein bewundernswürdiges, fruchtbares Leben gekostet. Und es ist einer der Gründe für seinen unberechtigt fragwürdigen Ruf in der oberflächlichen populären Wahrnehmung.

Altgläubige Schlachtteilnehmer haben den Säntis-Galöri, wie er in der Innerschweiz seit Jahren genannt wurde, gefunden.

Sie haben ihn erkannt, sie werden sich mit triumphalem Geschrei auf ihn gestürzt haben: Er war damals der bekannteste Mann im Land, und in dem altgläubigen Teil der verhassteste. Er lag wahrscheinlich bereits verwundet auf der Erde, stöhnte und röchelte, vielleicht lag er sogar schon tot unter einem Baum, wir wissen es nicht. Sie schlugen, aufgehetzt vom Hass, auf seinen Schädel ein. Die Schlachtopfer lagen kreuz und quer und nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit gemischt auf dem Feld herum. Er war als evangelischer Prediger irgendwie gekennzeichnet. Mit Geheul haben sie ihn gevierteilt, verbrannten wahrscheinlich seinen Leib und verstreuten seine Asche in einem Wäldchen in Kappel. Vielleicht haben sie ihn auch einfach verscharrt, wie gesagt, es ist nicht belegt, was genau geschah. Aber es war am 11. Oktober 1531 und es war die zweite Schlacht bei Kappel.

Zwingli wurde als Toter noch einmal hingerichtet. Und seither wurde er noch ungezählte Male hingerichtet. Das Ende des Landesverräters und Ketzers wurde unheimlich laut gefeiert. Die Eidgenossenschaft war zu der Zeit in einem ungeahnten Mass gespalten, in städtische und ländliche Gebiete. Die zwei Lager standen einander in einer Art bisher nie gekannter Todfeindschaft gegenüber, dass es rückblickend sogar fast wie ein kleines Wunder wirkt, dass das Land, genauer das Bündnisgeflecht, damals an diesem Gegensatz und am Hass nicht auseinandergebrochen ist. Die Reformation hat in der Schweiz, wie in Europa, einen ungeheuren geistigen Aufbruch initiiert, aber gleichzeitig mit der religiösen Spaltung ganz neuartige explosive Gegensätze und Feindschaften hervorgebracht. In allen Ländern Europas gingen die Konfessionen in den kommenden Jahrzehnten aufeinander los, die Starken verfolgten die Schwachen, die Schwachen ergriffen die Flucht, um ihr nacktes Leben zu retten.

Zwinglis frühes Ende wurde von den Gegnern als Beweis für die Falschheit seiner Lehre genommen, als hätte Gott Regie geführt. Doch seine Lehre ist noch heute gültig. Verbreitet und geglaubt wurde die Behauptung mit Schadenfreude, Gott selbst habe ihn gerächt. Selbst Martin Luther triumphierte, da die beiden Reformatoren sich in einigen theologischen Anschauungen diametral und grundsätzlich gegenüberstanden, vor allem was den Abendmahlsstreit anbelangt. Zwinglis Lehre war in allen Teilen radikaler als diejenige Luthers. Darum: Zwinglis Fall sei Gottes Urteil, posaunte Luther.

Was ist an Dummheiten darüber geredet und geschrieben worden, vor allem über Zwinglis Tod. Fünfhundert Jahre wurde dieses die Geschichte entstellende Gerede durch die Zeiten gejagt. Es sind viele Geschichten erfunden worden.

Bleiben wir vorerst kurz beim Ende, welches später zusammen mit dem Kriegsverlauf noch genauer beschrieben werden soll. Darüber gab es langes und breites Spekulieren und Behaupten. Als sie sich auf ihn stürzten, müssen sie ihm zyklopenhaft, wie von den Bergen heruntergestürzt, mit Felsbrocken und gewaltigen Waffen in ihren Armen und Händen erschienen sein, da er bereits dem Ende entgegendämmerte. Sie werden ihm in die Augen geschaut haben, er schaute müde, schmerzverzerrt zurück, einer stiess ihm mit einer riesenhaften Gabel ins eine Auge, während ihm der andere mit einer Hellebarde auf den Kopf schlug und seinen Schädel zertrümmerte. Es ist nicht belegt, ob er Helm trug oder baren Hauptes war. Im Landesmuseum wird ein gespaltener Helm museal aufbewahrt und gezeigt. Aber es ist nicht gesichert, ob der Säntis-Galöri noch lebte oder bereits tot war und ob er überhaupt einen Helm getragen hat. Ein Mann, der wie Zwingli im Fadenkreuz der Feindschaften gestanden hat, der löste zu allen Zeiten ungeahnte widersprüchliche Geschichten aus.

Zwei Jahre zuvor, als die Schlacht vor Beginn gestoppt worden war, wie die Chronisten nachträglich schrieben, und die Parteien sich mit ihrem Kriegsgerät auf dem Feld operettenhaft in die Wiese hockten und die Milchsuppe der Innerschweizer, darin das Brot der Zürcher, ausgelöffelt hatten, war selbst das nicht so lustig, wie es von Genremalern über die Jahrhunderte dargestellt worden war. Historienmalerei nannte man das. Mit der Historie war diese Malerei geistig kaum in Berührung gekommen. Ihr Naturalismus ist lächerlich, ohne geschichtsphilosophischen Anspruch. Die Wahrscheinlichkeit des gepinselten Geschehens war astronomisch weit weg von den tatsächlichen Ereignissen. Die Künstler versuchten eine Art antiquarische Genauigkeit, sie malten museale Schlitz-Wämschen, Blech-Rüstungen, Helmchen, bunte Federbüsche auf den Köpfen, sie zeichneten grosse Bärte und auffallende Schnurrbärte und verwegene Blicke. Sie inszenierten ein folkloristisches Milch-Suppen-Picknick von fröhlich herausgeputzten, hübsch kostümierten Kriegsknechten, die zu den Löffeln greifen. Auf diesen Bildern sieht alles so adrett und unschuldig aus wie auf den Bühnen der Tellspiele in den innerschweizerischen Ortschaften. Der kriegerische Feldzug ist hier nicht spürbar, obwohl wir doch mitten in der Zeit der Söldnerei lebten und ungezählte Innerschweizer jahrelang Reisläuferei betrieben. Bedrohung, Hass zwischen den Konfessionen, verbreiteter Schrecken oder Angst, nichts von all dem lässt sich auf den Bildern ahnen. Hier befindet man sich auf einem Ausflug einiger theatralischer Waffenbrüder, die sich im Feld romantisch gestimmt bei der Vesper treffen. Damals gab es noch keinen Cervelat und keine Feuerstellen für die Schweizer Familie, sonst hätten die Mannen Würste gebraten.

DER SÄNTISGALÖRI

Dieser Säntis-Galöri, wie er von katholischen Innerschweizern genannt wurde, mit echtem Namen Ulrich Zwingli, war im Schatten des Säntis aufgewachsen. Auf der linken Schulter des imposanten Bergs, der damals von keinem Menschen jemals bestiegen worden war, den heute aber Millionen befliegen, ohne an den Säntis-Galöri zu denken, ja nicht einmal der lustige Übername ist ihnen bekannt. Doch das Kind gedieh ebenda in einem warmen Familiennest, in der Luft der Leidenschaft für die Freiheit, wie Zwingli es nannte, mit mehreren Brüdern und auch Schwestern, es waren also acht Söhne und drei Töchter, von den Mädchen sind nicht einmal die Namen bekannt. Fünf der Zwingli-Brüder wurden Bauern und blieben Bauern im Tal. Es wurde gerodet, um Weideland zu schaffen. In der Talsohle wurde Sumpfgebiet einer Urbanisierung unterzogen. Davon künden noch die Ortsnamen Moos, Riethalde und Lisighaus. Es war vor Ulrichs Zeit eine weltabgeschiedene Gegend gewesen.

Erst der Strassenbau hat das Tal über die Passhöhe mit der Rheintaler Seite verbunden. Nun konnten die Bergbauern mit ihren Produkten hinunter ins Tal ziehen und Handel treiben, denn bis weit ins 15. Jahrhundert hinein waren die Bauern hier Selbstversorger gewesen.

Drei der Zwingli-Brüder ergriffen ein akademisches Studium. Jakob studierte nach seinem Mönchsgelübde in Wien bei dem später berühmten St. Galler Humanisten Joachim von Watt, genannt Vadian, wie auch später Ulrich Zwingli. Vadian wurde dann einer der engsten Freunde des späteren Reformators. Jakob starb früh, schon 1517 in Wien, an der Pest. Auch der Jüngste, Andreas, begann seine Studien, fiel ebenfalls noch als Jüngling 1520 in Zürich der Pest zum Opfer, nachdem er an Ulrichs Griechisch-Kränzchen teilgenommen und seinem Bruder zu grossen Hoffnungen Anlass gegeben hatte. Der Verlust seiner zwei begabten Brüder muss für Ulrich Zwingli, der 1519 ebenfalls an der Pest erkrankte, sie aber überwand, schlimm gewesen sein.

Der Vater war angesehener Bauer und Ammann, also ein geachteter Mann der Talschaft und der Kommunalpolitik, eine Führungsfigur und ein bescheiden wohlhabender Bauer, für diese Berglandschaft eigentlich ein Grossbauer. Er war auch an den nicht zu unterschätzenden Einnahmen des Passverkehrs beteiligt. Mutter Margareta, geborene Bruggmann, liess kaum etwas über sich zurück, ebenso wenig wie ihre Töchter, was im historischen Kontext nicht verwunderlich ist. Zwei der Töchter gingen ins Kloster, was für die Zeit nicht untypisch war, dann aber wurden sie später von ihrem Bruder Ulrich ermuntert, schliesslich evangelisch zu heiraten.

Heinrich Zwingli, Ammann zum Wilden Huss, dem toggenburgischen Wildhaus, Vorsteher des Thurtales, Grossvater des späteren Reformators Ulrich Zwingli, prozessierte 1477 im Veltlin wegen einer bereits bezahlten Weinlieferung, wie einem alten Schriftstück im Staatsarchiv Mailand zu entnehmen ist. Es sei nun schon etwa das zehnte Jahr, dass er von einem Veltliner Weinhändler eine grosse Menge Wein gekauft habe, für 250 Rheingulden. Diesen Wein habe er voll und ganz bezahlt und ausser zurückgelassenen elf Fudern damals heimgeschafft. Nun wollte er die elf zurückgelassenen Fuder abholen. Doch der Verkäufer verweigerte ihm die Herausgabe seines Weins, weil Heinrich Zwingli nicht zum verabredeten Zeitpunkt erschienen sei, damit der Weinhändler die Fässer leeren konnte, wie dieser behauptete. Heinrich Zwingli hat sofort Einspruch erhoben, es sei überhaupt kein Termin vereinbart worden damals. Doch das Gericht im Veltlin hat für den ansässigen Händler entschieden. Ihm sei kein Tröpflein Wein herausgegeben worden. Die Reiter, die er für den Transport von Getreide nach dem Veltlin und für jenen des Weins zurück ins Toggenburg angeheuert habe, habe er mit dem Getreide entlöhnen müssen, und so habe er gewaltige Verluste von über 200 Rheintaler erlitten. So klagte er in der Beschwerde an die Herzoginwitwe Bona von Savoyen in Mailand, unter deren Oberhoheit das Veltlin stand. Die Herzogin entschied für Grossvater Zwingli und sprach ihm volle Genugtuung zu.

Solche Export-Import-Geschäfte verlangten eine gewisse Kühnheit, denn sie waren nicht ohne Risiko. Die oberitalienischen Behörden und Gerichte hatten sich mit vielen Beschwerden und Klagen herumzuschlagen. Beweise waren oft schwer beizubringen. So waren der Willkür Tür und Tor geöffnet. Die eidgenössischen Kaufleute brachten Käse, Ziger, Schlachtvieh und Pferde auf die oberitalienischen Märkte; sie verwendeten den Erlös mit Vorliebe zum Kauf von Tuch, Reis, Kastanien und Wein, auch Früchten. Für die 250 Rheinischen Gulden bekam Heinrich Zwingli gut 350 Hektoliter Wein, das reichte für das ganze Thurtal. Er hatte also eine Art Monopolstellung im Tal. Er musste ein besonders unternehmungslustiger, geschäftstüchtiger Mann gewesen sein, denn er war nicht in erster Linie Kaufmann, sondern Grossbauer, natürlich gross im Massstab des schweizerischen Bergtals. Tatsächlich waren die Zwinglis begüterte Bauern, die auch einen gewissen Ehrgeiz entwickelten. Schon ein Sohn Heinrichs hatte Theologie studiert, eben Ulrichs Onkel in Weesen, und der besass weit mehr als normalerweise ein Landpriester hatte.

Ulrich Zwingli nannte sich im Laufe seines Lebens Huldrich. Das war eine humanistisch-volksethymologische Spielerei, die ihm gefiel. Der Name Zwingli leitete sich ab von Twing, was umfriedetes Bauerngut bedeutete. Luther nannte Zwingli fast immer Zwingel, da er die Heilige Schrift in seinem Sinne zwinge.

WILDHAUS

Seitwärts vom Berg Säntis, hoch oben, fast auf der Passhöhe, wo in uralten Zeiten mal ein «wildes Haus» gestanden haben soll, eine gewaltige quadratische Ritterburg über den einfachen Siedlungen, dort befindet sich der Ort Wildhaus. Hier hausten die Vögte, danach nicht bestimmte Edle und Grafen und zeitweilig Gesandte des Klosters von Einsiedeln und des Stifts von St. Gallen. Alles andere als Wilde also. Es gibt gar Theorien, die Burg sei im Hochmittelalter ein produktives Zentrum für die Pflege von Dichtung gewesen.

Am Neujahrstag 1484 kam in diesem Wildhaus Ueli auf die Welt. Und am 6. Januar, dem Dreikönigs- oder Epiphanias-Tag, am Tag der Erscheinung des Herrn, wurde er getauft, sechs Tage nach der Geburt deshalb, weil die Taufe in der Kirche in Gams unten im Rheintal durchgeführt wurde. Im Winter war der Weg dorthin ziemlich beschwerlich. Dieser Gang musste vorbereitet werden.

Wildhaus, auf 1100 Meter über Meer gelegen, war noch kaum ein Dorf, die Talschaft mit verstreuten Einzelhöfen besiedelt. Im 14. Jahrhundert wurde durch Rodungen Weideland gewonnen und im 15. Jahrhundert bauten die Väter die Strasse vom Rheintal über den Pass hinüber ins Toggenburg. Das war die entscheidende grosse Leistung, damit überwand das Tal seine Abgeschlossenheit und band sich auf den zwei Seiten ans Geschäftsleben an.

Jetzt fuhren und wanderten die Alpbauern auf die Märkte ins Rheintal und an die untere Thur und boten ihre Produkte an und brachten Obst und Früchte mit nach Hause. Das Tal florierte, natürlich in einem bescheidenen Masse. So blieben auch die Bewohner bescheiden. Unserem Zwingli war die genügsame Lebensweise in Fleisch und Blut übergegangen. Man hatte es hartnäckig sogar mit Ackerbau versucht, aber ausser Gerste wuchs hier kein Getreide. Es scheint aber jedenfalls gesichert, dass die Zwinglis nie Mangel hatten, alles Nötige war da, mochten die Lebensverhältnisse auch schlicht sein, die Kästen und Truhen waren meistens voll.

Uelis Weg innnerhalb dieser Bergbauernfamilie ist ein Unikum. Die drei Jüngsten gingen den Bildungsweg. Die fünf Älteren blieben Bauern. Ueli wurde schon als sechsjähriger Knabe an einen Onkel in die Schule nach Weesen am Walensee zur offensichtlich frühen systematischen Ausbildung gegeben. Bedenken wir, dass wir uns mitten in der Realität des alten Glaubens befinden, dass das kirchliche Oberhaupt der Toggenburger Landschaft der Bischof von Konstanz war, dass der kleine Ueli wahrscheinlich noch Messdiener war, mindestens in Weesen, vielleicht dort sogar in der Messe unter der Leitung seines Onkels Bartholomäus, der ihm zeigte, wer der Herr im Hause ist.

Man hatte etwas vor mit Ueli, er wird besonders aufgeweckt gewesen sein. Der Onkel Bartholomäus Zwingli war in Weesen Pfarrer und Dekan. Wie er da gelebt hat, wissen wir nicht. Mit zehn Jahren war der Junge jedenfalls so sattelfest im Lesen und Schreiben, dass er über die Weesener Schule hinausgewachsen war, sodass Onkel Barthli ihn an den aus Weesen stammenden Lehrer Gregorius Bünzli in Basel gab. Man profitierte auch zu der Zeit von Beziehungen und schöpfte sie aus.

Ulrich war also in der Familie der Auserkorene. Zwar gingen auch die zwei jüngeren Brüder den Weg des akademischen Studiums, denn man muss bedenken, dass nicht für alle jungen Männer Platz war im Bauernstand. Doch man entschied sich in Ulrichs Fall sehr früh und begann ihn bereits sechsjährig auf diesen Weg der Bildung zu schicken. Das sieht nach Planung für den Jungen aus, auch nach Familienehrgeiz. Und offenbar hatte der Toggenburger Bauernsohn Begabung und Spass am Lernen und wurde den familiären Ausrichtungen und Plänen ganz natürlich gerecht. Wie ein musikalisch Begabter im Biotop der Musikersippe früh die Grundlagen des musikalischen Handwerks erlernt und seine Begabung ganz natürlich im Familienverband gefördert wird, so lernte der kleine Ulrich als Kind den selbstverständlichen Umgang mit dem geistigen Rüstzeug von seinem Onkel, wenn auch nicht direkt in der Familie selbst, aber es führte dazu, dass er kaum über 20-jährig bereits ein frühreifer intellektueller Kopf war.

ZÜRICHS GERINGE WIRTSCHAFTSKRAFT

Die Jahrzehnte vor der Reformation im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert waren gekennzeichnet durch ein überwiegendes politisch-kriegerisches Interesse dieser urtümlich heldenhaften Eidgenossen. Die wirtschaftliche Kraft der einzelnen Orte des Bundes ging wegen der steten Kriege fast überall zurück. Die Dominanz der Kriegsmentalität, der Kriegsschrecken und die Kriegsopfer von mehreren Generationen vor der Reformation können nicht genug betont werden. In der publizistisch-populären Zwingli-Literatur liest sich die Schlacht bei Kappel im Jahre 1531 vielerorts so, als habe hier Zwingli in einer Zeit grosser und langanhaltender Ruhe im friedlichsten Land einen Krieg angezettelt, dem er dann selbst zum Opfer gefallen sei.

Während die St. Galler Leinwandindustrie ihre Stellung zu behaupten vermochte und in viele europäische Länder exportierte, hatte in der Limmatstadt Zürich das Gewerbe um 1500 nur noch lokale Bedeutung, das heisst, man exportierte kaum noch Güter. Die einst blühende Seidenindustrie war nun fast ganz verschwunden. Es blieb die gute Verkehrslage der Stadt zwischen den Alpenpässen zum Süden und den Städten im Reich. Die wirtschaftliche Situation war, trotz Vieh-, Getreide- und Salzhandel, so schlecht, dass fast alle gesellschaftlichen Gruppen Stagnation und sogar Rückgang wahrnahmen. Und das machte sie hellhörig und empfindlich.

Die Bauern klagten über die Abgaben und die Handelsbeschränkungen für ihre Produkte. Die Handwerker jammerten über steigende Lebenshaltungskosten, steigende Löhne der angestellten Gesellen und über höhere Materialpreise. Die reichen Pfründner bemerkten einen Vermögensrückgang und die Kaufleute wetterten über die Gebühren, Zölle und Steuern. Alle produktiv Tätigen waren unzufrieden. Nur die Soldherren, die «Pensionenritter», die dem Papst, dem Kaiser und den diversen Königen und Fürsten Schweizer Soldaten und Waffen verkauften, diese Pensionäre strichen fortwährend dicke Gewinne ein, liessen sich schmieren und bestechen, Hauptsache, der Gulden rollte.

Die Gesellenorganisationen in allen Berufen strebten danach, ihre Freizeit im Kreise ihrer Alters- und Berufsgenossen in eigenen Trinkstuben und Gesellenherbergen zu verbringen, sich von der Kontrolle ihrer Meister zu lösen und selbstständige Sicherungen für Krankheit, Tod und Begräbnis zu schaffen. Sie machten lediglich 10 bis 12 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Gesellen wurden aber immer stärker von Meister, Zunft und Stadt unter Kontrolle gestellt.

Die jungen Männer in der freien Schweiz waren so frei, das Interesse für eintönige Handels- und Gewerbetätigkeit oder die Feldarbeit zu verlieren und von sich zu weisen, sie fanden keinen Gefallen mehr an den bescheidenen, engen Verhältnissen in den Bergtälern der Innerschweiz, am langweiligen Handwerk oder an der Scholle hinter dem Wald. Unter diesen Bedingungen spross ein zynisches Verhältnis zum Vaterland, zur gebremsten und fehlgeleiteten Entwicklung des eigenen Landes, besonders bei denen, die gross mit dem Vaterland prahlten. Diese Entwicklung spürte der Student Zwingli und später noch verschärft der junge Priester auf dem Land schmerzlich. Man kam und ging, wie es gerade passte, man warf mit dem Geld um sich, das man mit dem Kriegshandwerk in fremden Diensten verdient hatte, man haute die geplünderte Beute auf den Kopf, egal, ob man ein körperlicher oder seelischer Krüppel war. So wurde der Reislauf (der Eintritt in fremden Dienst als Söldner) zum Hauptübel der Gesellschaft, und er beschleunigte die wirtschaftliche, soziale, politische wie moralischsittliche Verluderung. Dies ist nicht nur die Deutung Zwinglis und seiner Mitstreiter. Mehrmals, bereits einige Jahre vor Zwingli, wurden die sogenannten Blutsverkäufer bekämpft, die Reisläuferei wurde verboten und strengere Sittenmandate erlassen; die Verbote wurden nach kurzer Zeit wieder fallen gelassen. Das war überhaupt ein wichtiges Kennzeichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Vor-Zwingli-Zeit: Sittenmandate wurden immer und immer wieder erlassen, aber sie wurden kaum befolgt. Die Obrigkeit konnte sich nicht durchsetzen, was sich übel auswirkte auf das Gemeinwesen und somit auf die Gesellschaft der damaligen Zeit. Die sittliche Lage war katastrophal.

Ganze Stadt- und Staatshaushalte, vor allem in den inneren Orten, waren von den fremden Pensionen abhängig. Der französische König zahlte weitgehend die «Betriebskosten» dieser Gemeinwesen. Rom zahlte den Priestern bescheidene Unterstützungsgelder, um sie an das Papsttum zu binden. Von den unermesslichen Reichtümern, welche überall aus dem Volk herausgepresst und nach Rom abtransportiert wurden, verteilte man ein paar Gulden an die kirchlichen Statthalter, die dafür zu sorgen hatten, dass die römische Kirche im Dorf blieb.

Soldverträge und Reislaufen kamen der Allgemeinheit wirtschaftlich kurzfristig zugute, mochten die Schäden sonst noch so bedenklich ins Gewicht fallen. Die Gesellschaft war im gefährlichen Würgegriff «konformer Korruption» auf sämtlichen Gebieten. Die kirchlichen und behördlichen Missstände waren den ohnmächtigen Räten längst entglitten. Die Obrigkeit begann, kirchliche Befugnisse an sich zu reissen.

Man wollte zwar keinen Bruch mit dem Alten, man wollte behutsame Änderungen, unter eigener Regie. Die erwachte Zürcher Bürgerschaft wollte aus der Auslandsabhängigkeit herauskommen. Das ging nur, wenn es gelang, das eigene wirtschaftliche Potenzial zu entwickeln und zu stärken. Man wollte nicht mehr die eigene Haut oder das eigene Blut, dafür mehr eigene handwerkliche Artikel auf die internationalen Märkte tragen. Gegner dieses politökonomischen Willens der Handwerkermeister und Kaufleute in der Zünfterstadt Zürich waren die inländischen Kriegsdienstherren, und zwar, und das ist wichtig, lange vor der Reformation und vor Prediger Zwingli. Es fehlten Arbeitskräfte, weil die jungen Männer scharenweise auszogen auf die Schlachtfelder Europas. Die Lohnforderungen zu Hause stiegen, da die Männer im Waffendienst besser entlöhnt und zudem korrumpiert wurden durch die Möglichkeit, sich an brutalen Beutezügen zu beteiligen. Das Gemeinwesen zu Hause verrottete. Der Gegensatz zum Klerus und zum Adel wurde schärfer, zu gerne hätte man beide abgeschüttelt. Das Selbstbewusstsein der Gewerbetreibenden stieg. So wurden die Zürcher Zunftherren, die im Grossen Rat sassen, durch ihre wirtschaftspolitischen Interessen zu Gegnern des Solddienstes. Und ihr zentrales Bestreben war die Emanzipation von Papst, König und Kaiser, vor allem die Eindämmung der Macht und des Einflusses der römischen Kurie.

Das waren die Voraussetzungen dafür, dass dieser humanistisch gebildete Toggenburger Leutpriester, der in Einsiedeln durch seine evangelischen und antipapistischen Predigten von sich reden gemacht hatte, von den Zünftern und Räten nach Zürich geholt wurde. Er sollte die Emanzipationsbewegung der republikanischen Stadtgemeinschaft aus der bischöflichen Oberhoheit religiös und ideologisch untermauern und befördern. Der Mann ging mit einem solchen Schwung und mit solcher Radikalität zu Werke, dass die Bürger gezwungen waren, mitzuziehen.

SCHMERZHAFTER ADERLASS

Zwingli wird schon als Kind auch in seinem Tal die Beobachtung und die Erfahrung gemacht haben, dass junge Männer auf die Kriegsschauplätze zogen. Er wuchs damit auf, dass manche nie mehr nach Hause kamen. In seiner Familie wurde dieser für das Tal oft schlimme Aderlass wahrscheinlich besprochen. Seine Familie machte in diesem Geschäft mit eigenem Blut vorerst nicht mit. Aber die Landwirte unter seinen Brüdern liebäugelten immer wieder mit dieser Möglichkeit. Ulrich wuchs aber auch mit der sittlichen Verluderung in der Gesellschaft auf, er sah, wie die Mönche und Priester ganz selbstverständlich gegen alle sittlichen Regeln lebten, sich Mätressen hielten, in eheähnlichen Verhältnissen durch den Alltag gingen. Man kann natürlich sagen, dass dieser junge Mann von den gesellschaftlichen Zuständen geformt wurde. Und dieser Vorgang hielt an, radikalisierte sich, verfeinerte sich wiederum, aber blieb bei Zwingli eine Basis, die ihn nicht mehr losliess.

Es gibt von Ulrich Zwingli später eine Äusserung, dass seine Brüder nicht immer gefeit waren gegen die Verlockungen des fremden Solddienstes. Der Vater Zwingli wird in Wildhaus und im Thurtal den Kampf gegen den Solddienst geführt haben. Die Profiteure dieser Blutsverkäufe an die ausländischen Mächte argumentierten heuchlerisch mit dem europäischen Ruf nach den begehrten Schweizer Kämpfern durch die berühmten erfolgreichen Freiheitskriege des Bauernvolkes, übrigens auch jener des Toggenburgs gegen die Ansprüche des Abtes von St. Gallen. Aber diese Herleitung und Begründung eines miesen Geschäftes konnte man nicht gelten lassen. Der Solddienst war ja nicht allein moralisch verwerflich, er war auch wirtschaftlich schädlich, denn die jungen Männer verkauften sich an die fremden Herren und schlugen deren Schlachten, während sie zu Hause auf dem Arbeitsmarkt fehlten. Natürlich gab es auch Söldner, über deren Abwesenheit im Land viele froh waren. Denn nicht für alle gab es einen Platz und vor allem für viele keine Arbeit. Der Solddienst war also auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

Der kleine Junge Ueli wuchs in einer Gemeinschaft auf, in welcher die politische Aktivität fast naturgegeben war, in der Bischof, Kaiser, König weit weg waren, wo man keinem direkten Oberhaupt zu gehorchen hatte, in der es kaum ein Reichsbewusstsein gab, obwohl die eidgenössischen Orte nominell zum Heiligen Römischen Reich gehörten. Ueli hat als Jugendlicher aus der Entfernung den Schwabenkrieg erlebt. Aber vordergründig und bewusstseinsgestaltend war für ihn die Zugehörigkeit zur freien Eidgenossenschaft und zu einer freien Talschaft. Das war prägend für den jungen Zwingli, und das wurde tragend und bestimmend im republikanischen Politiker Zwingli. Politische Betätigung wurde quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Wer sich an den alltagspolitischen Prozessen nicht beteiligte, der wurde überfahren, die ehrenamtliche Verantwortung und Betätigung für das Gemeinwesen wurde früh geübt und führte ganz natürlich zu einem republikanischen Geist.

Der allererste Biograf, der Zeitgenosse und enge Mitarbeiter Zwinglis, der Humanist Myconius, der ihn überlebte, erwähnt übrigens den Einfluss der Bergwelt auf den späteren Reformator, ihre Schönheit und Gewalt und Kraft und «Erhabenheit». Dies habe ihn dem Himmel nähergebracht, vermutet Myconius idealisierend. Von Zwingli selbst gibt es nirgends eine Äusserung zur Bergnatur in seiner Jugend, wohl aber mehrere stolze Erwähnungen der Tatsache, dass er aus dem Bauernstand gewachsen ist. Noch ist im 16. Jahrhundert die freundlich-romantische Anschauung des Gebirges fremd, wohl wurde der Säntis weniger als Freund, schon gar nicht als zu eroberndes, zu besteigendes Massiv, sondern eher als Bedrohung und Gefahr erlebt. Die Äusserung von Myconius ist also erstaunlich erfinderisch.

Einige Male erwähnt Zwingli allerdings Naturkatastrophen, Verheerungen, meist als Metapher für politische Äusserungen und Verhaltensweisen in der Auseinandersetzung mit Gegnern. Er hat Wildwasserstürze erlebt, Berg- und Bachstürze, die auf den Alpweiden Verwüstungen anrichteten, Steine und Schutt mitführten und Weiden zerstörten. Oder er schilderte die gefürchtete Schneeblende oder Schneeblindheit, um die Verführung zu falschen Lehren symbolisch zu benennen und bildlich darzustellen. Der Junge hat grosses Getöse gehört, Steinklötze gesehen, wie sie mit den Bergrüfen mitgeschleppt wurden und Verwüstungen angerichtet haben, er hat mit angesehen, wie der sich stauende Strom die künstlichen Dämme durchbrach.

AUSBILDUNG

Schliesslich wurde der bald fünfjährige Knabe im Verlaufe des Jahres 1489 nach Weesen an den Walensee zum Onkel Bartholomäus Zwingli, einem Bruder des Vaters, gebracht. Ob es da tatsächlich eine Gemeindeschule gab oder ob der kleine Ulrich von seinem Onkel persönlich unterrichtet wurde, ist nicht bekannt. Ein Erlebnis wurde für den Jungen sicher der Walensee. Der Knabe wurde vor den Gefahren des Sees mehrmals ernsthaft gewarnt, offenbar ertranken immer wieder Kinder in dem nicht ganz zahmen See, was wir auch heute noch nachvollziehen können. Da wir so gar nichts wissen von Ulrichs Weesener Zeit, aber seinen weiteren Lebensweg kennen, darf man vermuten, dass es für den Jungen eine stille, sehr auf das Lernen konzentrierte Zeit gewesen sein muss.

Und 1494 wurde der zehnjährige Schüler nach Basel in die Rheinstadt gebracht, wo der mit der Familie Zwingli befreundete, noch sehr junge Gregor Bünzli, ein Sohn aus Weesen und mit Ulrichs Onkel gut bekannt, Lehrer war. Latein wurde gebüffelt, es wurde auf Teufel komm raus auswendig gelernt. Schüler durften oder mussten mit den Lehrern und untereinander ausschliesslich lateinisch reden. Hier wurde Ulrich in die lateinische klassische Literatur eingeführt, die ihm zeitlebens so wichtig und lieb war. In Basel lernte Ueli auch die Trivialfächer, also die Grundlagen des Triviums, die sogenannt unteren Fächer, nämlich Grammatik, Dialektik, Rhetorik.

Aber hier in Basel widmete sich der junge Zwingli ebenfalls intensiv und mit Leidenschaft dem musikalischen Handwerk. Basel war ein führender Platz in der humanistischen Harmonie- und Kompositionslehre. Die Dominikaner bemühten sich, den jungen Ulrich Zwingli ganz für die Musikpraktik im Kloster zu gewinnen. Sie unternahmen Anstrengungen, den musizierenden Scholaren zum Eintritt ins Kloster zu bewegen, wogegen Vater und Onkel Zwingli ihr Veto einlegten. Bei dieser Gelegenheit stellt sich die Frage, ob denn die Familie überhaupt klare Vorstellungen hatte, welchen Weg der Junge gehen sollte, ob sie einen Plan hatten, oder ob sie in erster Linie daran dachten, ihm die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. Wohl wollten sie einen so hoffnungsvollen Filius nicht an ein Kloster verlieren, obgleich sie sicher nicht klosterfeindlich gesinnt waren. Die Ausübung der Musik jedenfalls, die in der humanistischen Bildung einen wichtigen Platz einnahm, hat denn von da an im ganzen Leben des Theologen und Reformators Zwingli immer eine zentrale und aktive Rolle gespielt. Da er der Musik mit theologischer Begründung in der Kirche, genauer im Gottesdienst, keinen Platz einräumte, hat das unzählige Zeitgenossen fast aller Zeiten dazu verleitet, aus Zwingli einen Musik-, ja einen Kunsthasser zu machen. Wir werden immer wieder einen Blick auf den Musiker Zwingli werfen dürfen oder müssen, denn er beherrschte mehrere Instrumente. Es gibt Biografen, die behaupten, Zwingli habe bis zu zehn Instrumente gespielt. Myconius, der Zwingli gut kannte, wohl auch mit ihm musiziert hatte, schrieb: «In der Musik zeichnete er sich weit über sein Alter aus, wie dies bei Kunstfertigen die Regel ist.» Und Johannes Stumpf, ein ebenfalls früher Biograf, hält fest, Zwingli sei auf allen Instrumenten unterrichtet gewesen: auf der Harfe, der Laute, der Geige, der Flöte, dem Waldhorn, dem Zink, den Pfeifen und dem Hackbrett. Jedenfalls war er fähig zu komponieren. Er wäre wohl sogar in der Lage gewesen, einen Kantorenposten zu übernehmen und auszufüllen; Kantoren mussten ja zu einem Teil auch Theologen sein.

BERN

Nun kam der inzwischen zwölfjährige Scholar nach Bern, und zwar dort zu dem bereits bekannten, wenn nicht sogar berühmten Humanisten Heinrich Wölfflin, mit lateinischem Namen Lupulus. Ziel war die Reife für die Universität. Man las die Poesie der alten Klassiker, eine Lieblingsbeschäftigung des jungen Zwingli. Und wiederum warfen auch hier die Dominikaner und der bekannte Komponist und Münsterkantor Bartholomäus Frank einen begehrlichen Blick auf den Schüler mit den musikalischen Fähigkeiten und der auffallend schönen Singstimme. Und wieder mussten Vater und Onkel eingreifen, um ihn vor dem Eintritt in das Novizenzentum des Ordens zu bewahren.

Interessant ist, dass der junge Zwingli in Bern wahrscheinlich mit dem späteren Maler, Künstler und Ratsherrn Niklaus Manuel Deutsch die Schulbank drückte. Die beiden werden sich später ganz sicher im Rahmen des reformatorischen Prozesses öfters begegnet sein, kamen sich aber nie wirklich nahe. Niklaus Manuel wurde zwar ein Anhänger der Zwinglischen Reformation, ein bedeutender Künstler, er schuf gewichtige Werke, besonders den Berner Totentanz, jenes Riesenwerk von 80 Meter Länge, oder 24 Tafeln, jenen gewaltigen Zyklus, der einen bedeutenden Platz in der Kunstgeschichte einnimmt.

Von Bedeutung ist ausserdem, dass der Künstler Niklaus Manuel Deutsch in Bern fünf Jahre Landvogt und zwei Jahre Ratsherr war. Er war ein Führer der reformatorischen Partei, vertrat eine eidgenössische Friedenspolitik, am Ende aber als eigentlicher Gegenspieler Zwinglis, vor allem, da er ein Befürworter der Pensionen war. Darüber hinaus wissen wir über die Berner Zeit des jungen Zwingli fast nichts.

WIEN

Nach nur zwei Jahren in Bern erlangte der junge Zwingli erstaunlicherweise bereits die Reife für die Universität. Noch im Herbst 1498 hat er sich an der Universität Wien immatrikuliert; die Einschreibung liegt vor, sein gewollter Eintritt ins Studium ist belegt. Er war noch nicht ganz 15-jährig, ein Rätsel im Rahmen unserer heutigen Bildungsvorstellungen. Sicher ist er zu Fuss nach Wien marschiert oder gewandert, mindestens zwei bis drei Wochen wird er unterwegs gewesen sein, vermutlich in Begleitung von anderen jungen zukünftigen Akademikern, denn die Wiener Universität wurde von mehreren Schweizern aufgesucht. Was heute ein unvorstellbarer Gewaltsmarsch wäre, galt in jener Zeit als nicht aussergewöhnlich.

In Wien gab es anscheinend an der Universität Probleme, denn Zwinglis Eintragung «Udalricus Zwingly de Glaris» ist durchgestrichen, daneben steht mit fremder Handschrift «exclusus». Dieser Umstand hat in der Geschichtsschreibung grossen Rumor ausgelöst und einige Autoren zu feindseligen Spekulationen verleitet. Es ist nie bekannt geworden, was vorgefallen war, was der Grund war für den Ausschluss, ob wirklich ein solcher stattgefunden hat. Es gibt die Vermutung, diese Eintragung sei ein paar Jahrzehnte später, wohl am ehesten in der Zeit der Gegenreformation, von einem Fanatiker neben den Namen des Ketzers gesetzt worden. Auch Zwingli hat sich später nie dazu geäussert, konnte wohl gar nicht, sollte diese Eintragung neueren Datums gewesen sein. Oder war ihm die Episode zu unbedeutend, war sie ihm vielleicht unangenehm? Es wird vermutet, der junge Schweizer sei in eine studentische Rauferei verwickelt gewesen, denn es ist zu bedenken, dass es die Zeit des Schwabenkriegs war.

Vielleicht sind deutsche und schweizerische Studenten aufeinandergeprallt. Vermutlich ist er zu Fuss ebenso selbstverständlich wieder zurückgewandert in die Schweiz. Aber auch darüber wissen wir nichts Genaues. Anderthalb Jahre später, im Sommersemester 1500, findet sich die zweite Immatrikulation, diesmal folgendermassen: «Udalricus Zwingling de Lichtensteig im Toggenburg». Der Grund für den Ausschluss im Herbst 1498 konnte also nicht allzu gravierend gewesen sein. Seltsamerweise kommt kaum ein Kommentator auf diese Konklusion zu sprechen. Und zudem fällt auf, wie Oskar Farner sagt, dass der Vermerk und die in solchem Falle übliche Notiz «reincorporatus» oder «reinclusus» für wieder Aufgenommene in den Hochschulverband fehlt. Farner stellt auch fest, dass kein einziger Zeitgenosse von dem Vorfall Kenntnis hatte. Zwingli war hochprominent, als «Ketzer» einer der bestgehassten Existenzen der Zeit, es wäre doch höchst verwunderlich, wenn seine Feinde, wäre denn hier ein ernstzunehmendes Fehlverhalten Zwinglis nachzuweisen, davon niemals Gebrauch gemacht hätten. Der Erste, der diese «Exclusus»-Geschichte entdeckt und in Umlauf gebracht hatte, war der Abt von Einsiedeln in der Zeit der Gegenreformation ein halbes Jahrhundert nach Zwinglis Tod. Von da an wurde sie unermüdlich nacherzählt, aber nie nachgeprüft.

Aber eine andere Frage bleibt: Wo war der junge Zwingli in den anderthalb Jahren dazwischen? In den Vermutungen taucht Paris auf, dann auch Tübingen. Belege für beide Annahmen gibt es keine. Wir wissen es also nicht. Und er hat nie dazu Stellung genommen. Ob er nun in Paris an der Universität der Scholastik oder in Tübingen seine Studien fortgesetzt hat, man braucht sich heute für keine der beiden Varianten zu entscheiden, von Bedeutung ist, dass er die Zeit genutzt hat, und das dürfen wir wohl annehmen. Zwingli war inzwischen ein Kenner der Lehren des Thomas von Aquin, und er war in jungen Jahren ein ausgezeichneter Aristoteliker, er wurde von seinen Freunden sogar «der Aristoteliker» genannt, was dafür sprechen könnte, dass er in Paris gewesen ist.

In Wien, an der Hochburg des damaligen europäischen Humanismus, betrieb er zwei Jahre lang seine Studien. Wie er dort gelebt hat, wissen wir aber nicht. Er wird in einer der Bursen oder einer Coderie gewohnt haben, einer Art Studentenpension in der Umgebung des Hochschulgebäudes, unter mehr oder weniger strenger Aufsicht der Universitätsbehörden, mit vorgeschriebener Kopfbedeckung, einem bestimmten Gürtel, nur so waren die Studierenden berechtigt, an den Privilegien teilzunehmen. Da es immer wieder zu Schlägereien und kleinen Strassenschlachten zwischen Gruppen und Nationalgrüppchen gekommen war, hat die Universität das Tragen von Waffen, Säbeln und Degen verboten. Der junge Zwingli war dort in Gesellschaft von einigen Studenten aus dem Toggenburg, aus Glarus, aus Chur, aus Schaffhausen und aus Zürich. 1501 kam der St. Galler Joachim von Watt, latinisiert Vadian, ein Mediziner und später vom Kaiser gekrönten Dichter, nach Wien, wo er es bis zum Rektor brachte.

Er wurde ein enger Mitarbeiter und Freund des Reformators Zwingli und setzte in St. Gallen als Stadtarzt und Bürgermeister die Reformation durch. Zwingli belegte in Wien Kurse in der Kunst des Briefeschreibens. Kein Wunder, dass er später zu einem grossen und reichhaltig bewegenden Briefschreiber wurde, der mit Gelehrten ganz Europas Briefwechsel führte. Die Studenten übten mit Professoren Komödien und Tragödien des klassischen Altertums ein, auch das eine Disziplin, die der Reformator in den 1520er-Jahren mit seinen Studenten und Schülern in der Zürcher Prophezei immer wieder mit Genuss durchspielte.

Es gab im Studentenleben Zwinglis ein starkes literarisches Erlebnis des ganz jungen Ulrich. Er unterstrich und glossierte Sätze von Pico della Mirandola (1463–1494), dem Florentiner Philosophen, wonach es dem Menschen oft missrate, wenn er nicht die nötige Wortgewandtheit aufbringe, um seine Absicht durchzubringen. Daneben schrieb der junge Scholar, dies sei ihm auch passiert, als er eine Nachricht nach Hause geschickt habe, die dem Vater seinen Lebenswandel, sein Studium hätte empfehlen sollen. Er habe seine Musik, die Instrumente mitsamt den Geselligkeiten aufgezählt. Der Vater aber habe nur geantwortet, ihm wäre ein Philosoph lieber als ein sogenannter Komödient. Es ist die einzige und zudem gewichtige Äusserung des Vaters über seinen Sohn.

Die Beschäftigung mit dem jugendlichen Philosophen Pico della Mirandola hat sich dann über Jahre hinweg weitergezogen. Zwingli nennt ihn einen Mann von grossem Scharfsinn, aus welchem, wenn Gott ihn hätte zur Reife kommen lassen, etwas Göttliches geworden wäre. Mirandolas Rede über die Würde des Menschen ist berühmt geworden, ausserdem schrieb er über die Willensfreiheit, die er ein charakteristisches Merkmal des Menschen nannte. Er formulierte 900 Thesen zu theologischen und philosophischen Fragen. Der Papst verurteilte diese Thesen, der Autor geriet in Rom unter Häresie-Verdacht. Doch er stand unter dem Schutz des Fürsten von Florenz, Lorenzo der Prächtige. Mirandola starb an einem Fieber, er war erst 31-jährig.

Zwingli hat sich intensiv mit dem jugendlichen Philosophen beschäftigt. Er las seine Schriften, kommentierte sie, strich wichtige Sätze an. Er war geradezu ein Bewunderer dieses Pico della Mirandola.

UNIVERSITÄT BASEL

Von 1500 bis 1502 in Wien, von 1502 bis 1506 an der Universität Basel. Interessant ist, dass Zwingli seine Studien in Wien abgebrochen hat und in Basel sofort fortsetzte, wo er gleichzeitig neben dem Studium eine Lehrerstelle übernahm, er erbte den Posten von Gregor Bünzli, der seinerseits vor ein paar Jahren den zehnjährigen Ueli unterrichtet hatte. Zwingli war nun 18-jährig, bekleidete bereits ein Lehreramt, wohl um etwas zu den Studienkosten beitragen zu können. Ob Vater und Onkel ihn dazu berufen haben, ist anzunehmen, sicher ist es nicht.

1502 stieg er, 18-jährig, in Basel ein, 1506 schloss er dort mit dem Magister der Künste ab. Er war nun 22-jährig. Basel war seit einigen Jahren im Aufstieg zur Drucker- und Gelehrtenstadt. Johann Froben war dort der grosse Buchdrucker. Hier lebten die geistig Arbeitenden, mit denen Zwingli später regen Briefkontakt pflegte: Heinrich Loriti aus Glarus, Glarean genannt, Konrad Pellikan aus Rufach im Elsass, Wolfgang Capito aus Hagenau, und Leo Jud, der Elsässer, schliesslich mit dem Berner Nikolaus von Wattenwyl, der später im reformatorischen Prozess in Bern eine führende Rolle spielen sollte. Vor allem mit von Wattenwyl pflegte der junge Zwingli wohl lebhaften Austausch.

Offenbar hat Zwingli sich erst in den letzten zwei Jahren auf die Theologie konzentriert, obwohl er zunächst sowohl akademisch-theoretisch als auch didaktisch-praktisch tätig war. Er hat sich demnach tatsächlich als etwa 20-Jähriger für das Pfarramt entschieden. Umso überraschender ist, wie wichtig ihm stets die Philosophie und die Philologie geblieben sind. Das ganze aristotelisch-christliche Gebäude samt dessen scholastischen Kommentaren kannte Zwingli bis ins Detail. Berichte, Zeugnisse, Geschichten und Anekdoten gibt es über den Studenten Zwingli keine. Vermutungen über Konzerte, in denen Ulrich eine aktive, führende Rolle übernommen hatte, gab es einige, mehr aber nicht. Es wurde in der Biografik angestrengt lange Zeit nach Studienkollegen gesucht, die sich zu bedeutenden Zeitgenossen oder zu Freunden des Toggenburgers entwickelt hätten. Die Funde waren dürftig. Die wichtigsten Bekanntschaften waren jene mit dem Elsässer Leo Jud, der später in Zürich als Pfarrer am St. Peter ein bedeutender Mitstreiter wurde sowie mit dem Luzerner Myconius, seinem ersten Biografen.

Das geistige Klima in Basel war heiter, keineswegs nur lammfromm, was aus Myconius’ Berichten und Annahmen aufgrund des musikalischen Könnens des jungen Zwingli zu erfahren ist. Er hat sich im Münster eine grosse mahnende Synodalpredigt des Bischofs Christoph von Utenheim anhören müssen, der als Freund der Gelehrten ihnen ins Gewissen redete. Der junge Ulrich befasste sich vornehmlich mit den Schriften des Thomas von Aquin. Der Vertreter der Scholastik in Basel war Thomas Wyttenbach.

Die vier Fakultäten waren hierarchisch aufgebaut: zuunterst die philosophische, damals die artistische genannt, die zweite Etage bildeten die medizinische und auf gleicher Ebene die juristische Fakultät, und darüber thronte die theologische. Durch das ganze Mittelalter stand die