Zwischen tausend Gefühlen: Riskanter Auftrag - Debra Webb - E-Book
SONDERANGEBOT

Zwischen tausend Gefühlen: Riskanter Auftrag E-Book

Debra Webb

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neue Auftrag ist die Karrierechance für die junge Agentin Erin - müsste sie nur nicht so eng mit ihrem attraktiv Kollegen John zusammenarbeiten. Ob sie die Mission überlebt ohne ihr Herz zu verlieren?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 308

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Debra Webb

Riskanter Auftrag

Aus dem Amerikanischen von Rainer Nolden

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

Undercover Wife

Copyright © 2002 by Debra Webb

erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Thinkstock / Corbis

ISBN eBook 978-3-95649-432-1

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. KAPITEL

„Was gibt’s denn so Wichtiges, dass es nicht bis übermorgen warten kann? Da hätte ich doch sowieso meinen Bericht abgeliefert.“ John Logan ließ sich in einen der gepolsterten Sessel fallen, die neben dem Schreibtisch des Direktors standen. Er und seine Partnerin hatten seit über acht Monaten keinen Urlaub mehr gehabt. Sie hatten eine Auszeit dringend nötig – mehr als nötig. Und jetzt hatte dieser unvorhergesehene Trip nach Washington, D. C., Logans Terminplan für den heutigen Tag ziemlich durcheinandergebracht.

Er bemühte sich, locker zu wirken. Der Jetlag machte ihm ziemlich zu schaffen. Vielleicht sind es aber auch die Margaritas vom vergangenen Abend, überlegte er schmunzelnd. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er an die Party dachte, deren einzige Teilnehmer er und diese niedliche Señorita gewesen waren. Zu dumm, dass der Anruf in der Morgendämmerung ihn aus dem zerwühlten Bett getrieben und ihnen die Gelegenheit zu einem prickelnden Abschluss vermasselt hatte.

„Wir haben ein Problem.“ Lucas Camp, der stellvertretende Direktor von Mission Recovery, dem Ressort für riskante Spezialaufträge, lehnte an der Schreibtischkante seines Vorgesetzten, Direktor Casey und fixierte Logan mit ernstem Blick.

Der Unterton in Lucas’ Stimme riss Logan aus seinen lustvollen Gedanken und holte ihn in die Gegenwart zurück. Plötzlich hatte er ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Er kannte diesen Ton und diesen Gesichtsausdruck. Lucas war dabei, ihm auf möglichst schonende Weise etwas Unaufschiebbares mitzuteilen. Und was immer es sein mochte – es war auf jeden Fall nichts Gutes.

Logan richtete sich in seinem Sessel auf, während er fieberhaft überlegte, was alles passiert sein konnte. „Was ist das denn für ein Problem?“

Direktor Thomas Casey trat in den dämmerigen Lichtkreis, den die Messinglampe auf seinem Schreibtisch verbreitete. Der Mann hielt sich fast immer im Schatten auf. Er arbeitete zwar noch nicht lange für die Organisation, aber sein Ruf als jemand, der stets aus dem Hintergrund heraus agierte, war in der kurzen Zeit geradezu legendär geworden.

Logans Sinne schalteten auf höchste Alarmstufe. Forschend betrachtete er Casey. Etwas war im Busch – und zwar keine Kleinigkeit, so wie es aussah.

„Möglicherweise müssen wir den Südamerika-Auftrag abbrechen.“ Casey durchbohrte Logan mit einem Blick seiner blauen Augen, dessen Intensität ihn an Laserstrahlen erinnerte. „Taylor ist nämlich tot.“

Tot?

Logan schoss aus seinem Sessel hoch. Die Nachricht schockierte ihn so sehr, dass ihm gar nicht bewusst war, was er tat. Jess Taylor war seine Partnerin. Vor zwei Tagen hatten sie sich getrennt, um eine kurze Verschnaufpause einzulegen, ehe sie sich an den Auftrag machten, der sie nach Südamerika führen sollte. Wieso war sie jetzt tot? Benommen schüttelte Logan den Kopf. Das musste ein Irrtum sein.

„Wir hatten doch gerade … sie wollte …“ Logan verstummte, als er die Blicke sah, die auf ihn gerichtet waren. Unmöglich, dass die beiden Männer, seine Vorgesetzten, ihn anlogen. „Wie ist es passiert?“ Er klang so rau, dass er seine eigene Stimme kaum wieder erkannte.

„Sanchez hat sie erschossen. In Los Angeles vor dem Flughafengebäude“, antwortete Lucas ruhig. „Wir wissen, dass er es war, denn es gab drei Augenzeugen. Aufgrund ihrer Personenbeschreibung ist jeder Zweifel ausgeschlossen.“

Logan wurde wütend. Sanchez, dieser widerwärtige Dreckskerl! Er hätte ihn besser getötet, als er damals die Gelegenheit dazu hatte. Aber Sanchez hatte um Gnade gewinselt und geschworen, alles über die Kuriere auszuplaudern, die im mexikanischen Drogenhandel arbeiteten. Dessen Boss, Pablo Esteban, versuchten die Männer von Mission Recovery seit fast einem Jahr das Handwerk zu legen. Und Jess war voll auf Sanchez’ Nummer hereingefallen. Logan hatte ihm zwar kein Wort geglaubt, aber er hatte wieder einmal auf Jess’ normalerweise untrügliche Instinkte vertraut. Jetzt bedauerte er es – aber nicht halb so sehr, wie Sanchez es bedauern würde.

„Wo steckt er?“

Lucas zog die Augenbrauen hoch, als er Logans zornbebende Stimme hörte. „Wir kümmern uns schon um Sanchez.“

„Ich werde mich um ihn kümmern“, betonte Logan. Vor lauter Wut waren seine Muskeln total verkrampft.

„Sie haben bereits Ihren Auftrag“, wies Casey ihn in seinem ruhigen, bestimmenden Tonfall zurecht, mit dem er schon zahlreiche Gesprächspartner über seine wahren Gefühle getäuscht hatte.

Thomas Casey war stets und in jeder Situation auf geradezu lebensgefährliche Weise zum Äußersten entschlossen. Der Auftrag stand für ihn immer an erster Stelle. Das war allerdings so üblich bei Mission Recovery, die so sehr im Geheimen arbeitete wie sonst keine Organisation der amerikanischen Regierung. Sie war gegründet worden, um alle anderen Dienststellen der USA zu unterstützen. Wann immer CIA, FBI, die Steuerbehörden oder die Drogenfahndung mit ihrem Latein am Ende waren, wurden die Kollegen von Mission Recovery gerufen, um die Sache zu Ende zu bringen. Die bestens trainierten Spezialisten dieser Elitetruppe waren mit sämtlichen Aspekten der Terrorbekämpfung und militärischer Unterwanderung vertraut. Wenn alle anderen Möglichkeiten versagt hatten, wurde ein Experte aus ihren Reihen mit der Lösung des Problems beauftragt. Hier handelte es sich auch um einen solchen Fall. Aber nun hatte der Tod von Jess alles verändert.

Logans Zorn richtete sich gegen Casey. „Jess ist tot. Es wird verdammt schwer sein, den Auftrag jetzt zu Ende zu bringen. Ohne Partnerin habe ich keinen Zugang zu Estebans innerstem Kreis. Haben Sie etwa vergessen, dass es ein Pauschalarrangement war? Es galt nur für Paare.“

„Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit.“ Lucas öffnete den Aktenordner, der in Reichweite auf Caseys Schreibtisch lag. „Erin Bailey.“ Er klopfte mit dem Finger auf eine achtzehn mal fünfundzwanzig Zentimeter große Fotografie, bei deren Anblick Logan erschrak.

Das üppige Haar war zu lang und blond anstatt schwarz, die Lippen vielleicht ein wenig voller. Doch ansonsten hätte die Frau auf dem Bild eine fast perfekte Doppelgängerin von Jess sein können.

„Wer zum Teufel ist das?“ Logan konnte seinen Blick nicht von dem Foto lösen. Die Rundung ihrer Wangen, die schmale Linie ihrer Nase und die ungewöhnlich blauen Augen sahen genauso aus wie bei Jess. Es war ebenso bedrückend wie unheimlich.

Lucas schien mit dieser Reaktion gerechnet zu haben. Jedenfalls bemühte er sich, verständnisvoll zu klingen. „Sie ist amerikanische Staatsbürgerin und eine erstklassige Hackerin. Allerdings nicht im herkömmlichen Sinne. Sie ist spezialisiert auf Computersicherheitssysteme. Sie hat sich das Hacken beigebracht, um ihre Fähigkeit als Sicherheitsexpertin zu vervollkommnen.“

Computer? Die waren die Spezialität von Jess gewesen. Auf ihr Talent konnten sie nicht verzichten, wenn der Südamerika-Auftrag erfolgreich abgeschlossen werden sollte. „Wie sind Sie auf sie gekommen?“

„Reiner Zufall“, erklärte Lucas. „Die Rekrutierungsgruppe hat sie ausfindig gemacht.“

Logan wusste, was es mit der Rekrutierungsgruppe auf sich hatte. Sie bestand aus einem Dutzend Männer und Frauen, die nichts anderes taten, als nach Personen Ausschau zu halten, die auf einem bestimmten Gebiet über einzigartige und herausragende Fähigkeiten verfügten. Vor drei Jahren hatte die Rekrutierungsgruppe auch Logan entdeckt. Inzwischen gehörte auch er zu den Spezialagenten, die sowohl physisch als auch psychisch extrem belastbar waren – was sie auch sein mussten, wenn sie mit Problemen konfrontiert wurden, die die nationale und internationale Sicherheit gefährdeten.

Plötzlich überwog Neugier seine Wut, und er fragte: „Haben Sie sie etwa schon angeworben?“

„Nein“, antwortete Casey. „Wir wollten zunächst einmal hören, ob Sie mit dieser Lösung ein Problem haben.“

Vor allen Dingen! Casey würde sich den Teufel darum scheren, ob Logan damit ein Problem hatte oder nicht. Wenn die Frau zu haben war, würde der Auftrag selbstverständlich zu Ende gebracht werden, ob ihm Erin Bailey passte oder nicht.

„Wir haben uns gedacht, dass es nicht in Ihrem Sinne sein kann, wenn die anstrengende Arbeit, die Sie und Jess in den letzten Monaten geleistet haben, für nichts und wieder nichts gewesen sein soll“, meinte Lucas diplomatisch. „Und Erin Bailey ist unsere einzige Hoffnung, um diesen Auftrag durchführen zu können.“

Logan hätte den Auftrag am liebsten zum Teufel gewünscht. Aber sein Instinkt hielt ihn davon ab. Er war eben ein Profi durch und durch. Jess war tot. Das war entsetzlich. Trotzdem hatte dieser Auftrag die allerhöchste Priorität. Hätte es ihn statt Jess getroffen – sie hätte genauso gehandelt.

„Wo ist sie?“, fragte Logan barsch.

„Im Staatsgefängnis von Atlanta.“

Logans Blick wanderte von Lucas zu dem irritierenden Foto und wieder zurück. „Was hat sie denn getan?“ Die harmlos wirkende Frau auf dem Bild sah ganz und gar nicht so aus, als sei sie zu kriminellen Handlungen fähig. Was die Angelegenheit nur komplizierter macht, überlegte Logan. Wie zum Teufel würde sie unter solchen Voraussetzungen in Estebans Umgebung überleben können?

„Nichts, sagt sie.“ Lucas wirkte amüsiert. „Aber das sagt schließlich jeder, der im Gefängnis sitzt.“

„Sie hat sich Zugang zu den Sicherheitssystemen einiger großer Unternehmen im Südosten der Staaten verschafft, um an Aufträge für die kleine, aber aufstrebende Firma für Computersicherheit zu gelangen, bei der sie gearbeitet hat“, erklärte Casey. „Sie hat fünf Jahre gekriegt. Davon hat sie gerade vier Monate abgesessen, und nach jüngsten Berichten zu urteilen, bekommt ihr das Gefängnisleben nicht besonders gut.“

Lucas und Casey wechselten einen Blick. Logan hätte darauf gewettet, dass das Unbehagen dieser Bailey in ihrer neuen Umgebung mehr mit Mission Recovery als mit ihrer derzeitigen Situation zu tun hatte. Bei derlei Spielchen pflegten die Verantwortlichen die Karten nämlich stets so zu mischen, dass die Organisation ein gutes Blatt in der Hand hatte.

Na wenn schon! Logan nahm die Akte und betrachtete Erin Bailey genauer. Wie aus der beigefügten Personenbeschreibung hervorging, war sie ungefähr so groß wie Jess und wog auch etwa so viel wie sie. Rund eins fünfundsechzig, zweiundfünfzig Kilo. Er runzelte die Stirn. „Hat sie Familie? Oder einen Freund, der Schwierigkeiten machen könnte?“

Lucas schüttelte den Kopf. „Nicht einen Menschen. Sie war offenbar mit ihrem Boss verlobt, als man sie verhaftete. Er hat unter Eid ausgesagt, nichts von ihren kriminellen Aktivitäten gewusst zu haben. Er macht übrigens nicht den Eindruck, als ob er sie sonderlich vermisst, wenn man ihn in Gesellschaft der Brünetten sieht, mit der er im Moment zusammen ist.“

Irgendetwas an dieser Geschichte störte Logan, aber die persönlichen Probleme der Frau gingen ihn schließlich nichts an. „Warum glauben Sie, dass sie mitmachen wird?“ Er sah Casey durchdringend an. „Wir wissen doch alle, wie riskant die Sache ist.“

„Erin Bailey will in ihr altes Leben zurück.“ Casey griff über den Schreibtisch und nahm Logan die Akte aus der Hand. Er blätterte durch die Seiten, bis er gefunden hatte, was er suchte. Nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, schloss er die Akte und ließ sie auf die glänzende Platte seines Mahagonischreibtischs fallen. „Und ich möchte darauf wetten, dass sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, ein bisschen Rache zu üben. Wir wissen bereits, dass ihr Freund sie reingelegt hat. Aber für den Fall, dass sie an Vergeltung nicht interessiert sein sollte, haben wir für einen anderen Anreiz gesorgt. Es steht alles in der Akte.“ Casey lächelte, was ihn fast menschlich erscheinen ließ. „Ich habe ein Arrangement für Sie vorbereitet, damit Sie ihr ein Geschäft anbieten können.“

Logan verspannte sich innerlich. Er fragte sich, ob diese Bailey töricht genug wäre, sich auf einen Handel mit dem Teufel persönlich einzulassen. Aber Logan würde keine Zeit mit Überlegungen darüber verschwenden, wer die größere Bedrohung für Erin Bailey darstellte – Esteban oder Mission Recovery.

„Und wenn sie unser Angebot akzeptiert?“, wollte Logan wissen.

Das Lächeln verschwand und machte dem grimmigen Gesichtsausdruck Platz, der Logan beim neuen Leiter der Einheit schon vertraut war. „Dann haben Sie genau eine Woche Zeit, um aus Erin Bailey Jessica Taylor zu machen.“

Erin träumte. Sie stand mitten auf einer wunderschönen grünen Wiese, in der zahllose Kornblumen und Gänseblümchen wuchsen. Ein weiter Himmel, dessen strahlendes Blau nur hier und da von ein paar weißen Wolkentupfern unterbrochen wurde, erstreckte sich bis zum Horizont.

Im Traum schloss Erin die Augen und drehte sich langsam um die eigene Achse. Das hohe Gras kitzelte ihre Knöchel. Unter ihren nackten Füßen fühlte es sich weich an. Ein süßer Duft strömte von allen Seiten auf sie ein. Der Geruch von wild wachsenden Blumen … von üppig wucherndem Gras … das Aroma der Freiheit …

„Aufstehen!“

Erin war augenblicklich hellwach. Sie blinzelte in die Dunkelheit und erkannte die Silhouette einer Person, die vor ihrem Klappbett stand. Eine Welle von Furcht schwappte über ihr zusammen, als eine kräftige Hand ihre Schulter packte und sie heftig schüttelte. Um Himmels willen – sollte Roland, der Wärter, sich entschieden haben, seine Drohung wahr zu machen? Oder war es ihre Zellengenossin, die es auf sie abgesehen hatte? Panik legte sich wie eine Eisenklammer um ihre Brust. Erin wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.

„Was … was machen Sie da?“, brachte sie schließlich mühsam hervor. Es war bereits weit nach Mitternacht. Im gesamten Zellentrakt herrschte tödliche Stille.

„Ich habe gesagt, Sie sollen aufstehen“, wiederholte die barsche Stimme in einem heiseren Flüsterton.

Das war eine andere Stimme. Sie gehörte nicht dem Wärter, der sie bedroht hatte. Mit einem Seufzer der Erleichterung kroch sie unter der dünnen Bettdecke hervor und versuchte sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Sie tastete nach ihren Schuhen. Dann richtete sie sich auf und strich mit einer hastigen Bewegung ihren verknautschten Gefängnisoverall glatt.

Der Wärter riss ihre Arme nach vorne und legte ihr Handschellen an. „Und stellen Sie jetzt keine Fragen. Ich will nicht, dass Sie den ganzen verdammten Block aufwecken.“

Er leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. Erin kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden, und nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte. Mit einem vernehmlichen Klicken erlosch das Licht. Wohin brachte er sie jetzt mitten in der Nacht? Was hatte er vor? Sie runzelte die Stirn. Und warum hatte er ihr Handschellen angelegt? Ehe sie noch weiter darüber nachdenken konnte, schob der Wachmann sie unsanft durch die Tür, die er hinter ihr zuschlug und verschloss.

Nur das Geräusch von Gummisohlen auf dem Zementboden war zu hören, als sie an den endlosen Reihen von Zellen vorbeigingen. Hin und wieder wurde die beklemmende Stille von einem Husten oder Schnarchen unterbrochen, das aus den Zellen in den Flur drang. Aber keiner der Insassen wurde wach, um sich zu fragen oder auch nur mitzubekommen, was mit Häftling Nr. 541-22 passierte.

Erin brannte darauf zu wissen, wo sie hingingen, aber vor lauter Angst wagte sie nicht zu fragen. Zu oft hatte sie schon erlebt, welchen Preis Gefangene für die Missachtung von Anweisungen hatten zahlen müssen. Der Wachmann hatte ihr befohlen, den Mund zu halten; also gehorchte sie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das Blut dröhnte ihr in den Ohren. Wie hätte sie jemandem an diesem Ort vertrauen können? Das trübe Licht, das den endlos langen Korridor schwach erhellte, ließ sie ihre Gefangenschaft nur umso stärker empfinden. Wie sollte sie bloß die noch vor ihr liegenden vier Jahre und acht Monate überstehen? Ihr wurde allein schon von dem abgestandenen Schweißgeruch übel, der die Gänge durchzog.

Am Ende des Ganges öffnete eine Wärterin die Sicherheitsschleuse, die aus dem Trakt hinausführte. Im schwachen Licht einer Schreibtischlampe konnte man die mürrischen Gesichtszüge der Frau erkennen. Die Tür fiel hinter Erin und ihrem Begleiter ins Schloss, und sie verspürte eine Mischung aus Angst und Erleichterung. Zwar fühlte sie sich in ihrer Zelle einigermaßen sicher vor der Hinterhältigkeit, die um sie herum existierte, aber gleichzeitig kam es ihr so vor, als ob diese widerwärtige Umgebung sie in ihrem knapp sechs Quadratmeter großen grauen Raum zu ersticken drohte.

Statt Erin in den großen Besuchertrakt zu bringen, blieb der Wärter zögernd vor einer der Türen stehen, die zu den Besprechungszimmern führten. Es war derselbe Raum, in dem Erin zwei Mal mit ihrem Anwalt zusammengetroffen war – die einzigen Gelegenheiten, bei denen er so etwas wie Interesse an ihrem Fall bekundet hatte.

„Ich warte hier draußen, um Sie in Ihre Zelle zurückzubringen.“ Mit diesen Worten, die mehr nach einer Warnung als wie eine Feststellung klangen, öffnete er die Tür und wartete darauf, dass sie eintrat.

„Ich verstehe das alles nicht.“ Plötzlich verspürte Erin den unbändigen Drang wegzulaufen. „Warum bringen Sie mich hierher?“

„Gehen Sie schon.“ Der Mann deutete mit der Hand zur Tür. „Sie haben Besuch.“ Er klang ziemlich ungeduldig, geradezu verärgert.

Besuch? Für sie? War dieser Mistkerl Jeff gekommen, um sich zu entschuldigen? Wollte er ihr sagen, dass die ganze Sache nur ein gigantisches Missverständnis war? Dass sie nun wieder frei war? Fast wäre Erin bei diesem Gedanken in Gelächter ausgebrochen. Er hatte sie benutzt. Sie biss die Zähne zusammen, denn der Schmerz lauerte nach wie vor hinter der Fassade von Beherrschung, die sie nur mühsam aufrecht hielt. Er hatte ihr Leben und ihre Karriere ruiniert. Alles. Sie würde niemals wieder einen Job bekommen, für den sie ein polizeiliches Führungszeugnis vorweisen musste. Dafür war er mit heiler Haut aus der Angelegenheit herausgekommen. Sie hatte für ihn den Kopf hingehalten. Alle seine Versprechungen waren nichts als Lügen gewesen.

Und jetzt musste sie den Preis für ihre Dummheit zahlen.

Erin straffte die Schultern und holte tief Luft. Wer immer es war, der sie mitten in der Nacht sprechen wollte – Jeff war es bestimmt nicht. Ihr Anwalt war es mit Sicherheit ebenfalls nicht. Er hatte ihr von Anfang an gesagt, dass sie keine Chance hatte. Natürlich hatte Jeff ihn engagiert. Was war sie bloß für eine Närrin gewesen!

Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Erin zuckte zusammen, als sie hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Sie hasste nichts so sehr, wie eingesperrt zu werden. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, schienen die Wände auf sie zuzukommen und sie einzuengen. Wie sollte sie bloß den Rest ihrer Strafe überstehen? Ihr Atem ging schnell und flach. Das Schicksal und Jeff hatten ihr keine andere Wahl gelassen. Sie war eine Gefangene, und niemand würde kommen, um sie zu retten.

Bleib ruhig! befahl sie sich. Konzentrier dich auf etwas anderes. Auf dieses Zimmer zum Beispiel. Sie kannte es von früheren Besuchen. Diesmal war es nur schwach erleuchtet. Mitten in der Nacht fiel natürlich kein Licht durch das Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Eine nackte Glühbirne über dem leeren Tisch in der Mitte des Raumes verbreitete einen trüben Schein. Die beiden Stühle waren leer.

„Setzen Sie sich.“

Als sie die Stimme hörte, fuhr Erin erschrocken herum. Sie kannte den hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann nicht, der in den Lichtkreis an den Tisch trat. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er dort gewartet hatte. An einen so gut aussehenden Typen wie diesen hätte sie sich bestimmt erinnert. Ein leichter Bartschatten verdunkelte sein Kinn und seine markanten Gesichtszüge. Sein weißes Baumwollhemd war leicht zerknittert. Seine Jeans wirkten ein wenig verwaschen und so abgetragen, dass sie inzwischen bequem sitzen mussten. Er sah übernächtigt aus, als sei er gerade von einer anstrengenden Reise zurückgekehrt oder vor wenigen Minuten aufgewacht und in dieselben Kleider geschlüpft, die er am Tag zuvor getragen hatte.

Er machte keine Anstalten, seinen Namen zu nennen, und Erin stellte keine Fragen. Sie durchquerte das Zimmer und setzte sich auf den Stuhl auf ihrer Seite des Tisches. Schließlich war sie eine Gefangene ohne Rechte. Wenn man ihr befahl zu springen, dann sprang sie. Erin hatte nicht vor, auch nur eine Minute länger als unbedingt nötig in diesem Zimmer zu bleiben.

Der Mann nahm ebenfalls Platz und begann, durch die Akte zu blättern, die vor ihm auf dem Tisch lag. „Mein Name ist John Logan, Miss Bailey. Ich bin hergekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen.“ Sein Blick war durchdringend, abschätzend.

Seine Augen verwirrten sie. Sie waren dunkelbraun, beinahe schwarz, und ihnen schien nicht die geringste Einzelheit zu entgehen. Erin kämpfte gegen die Erwartung an, die in ihr zu keimen begann. Sie wollte sich keine Hoffnungen machen, dass dieser Mann sie auf irgendeine Weise aus dieser Hölle retten würde, in die sie durch ihre falschen Entscheidungen geraten war.

„Es ist mitten in der Nacht“, entgegnete sie. „Ist das nicht eine etwas merkwürdige Zeit für geschäftliche Verhandlungen, Mr Logan?“

Erin hatte auf schmerzvolle Weise am eigenen Leib erfahren, dass Besprechungen außerhalb der üblichen Geschäftszeiten in der Regel eher dubios waren. Außerdem kannte sie diesen Mann überhaupt nicht. Was für eine Art Vorschlag konnte er ihr schon machen? Arbeitete er für den Bezirksstaatsanwalt? Vielleicht waren sie darauf gekommen, dass es sich doch lohnte, an Jeff dranzubleiben. Aber dagegen sprachen die nachlässige Kleidung ihres Besuchers und die Tatsache, dass die Zeit für geschäftliche Unterredungen längst vorbei war.

Er schloss die Akte, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fixierte sie durchdringend. Erin hielt seinem Blick stand. Sie würde ihm nicht den Triumph gönnen, dass sie zuerst die Augen niederschlug. Zum Teufel, sie war bereits im Gefängnis – was konnte er ihr da noch Schlimmeres antun? Doch dann erinnerte sie sich mit Schaudern an die Gefahren, die in diesen Mauern drohten. Davon gab es eine ganze Reihe – entsetzliche und entwürdigende Dinge, die man mit ihr anstellen konnte.

„Sie haben erst vier Monate von Ihrer Strafe verbüßt.“ Er rieb sich mit der Hand das Kinn, als ob er müde und seine Geduld erschöpft sei. „Fünf Jahre sind eine sehr lange Zeit, Miss Bailey.“

Erin drehte ihr rechtes Handgelenk in den Handschellen hin und her. Sie verstand immer noch nicht, warum der Wachmann sie ihr für diese Unterhaltung angelegt hatte. Schließlich gehörte sie nicht zu den gewalttätigen Insassen. Und zählen konnte sie auch alleine. „Ich bin mir durchaus im Klaren über die verbleibende Zeit, Mr Logan.“

Er beugte sich vor, und sein Blick wurde noch durchdringender. „Dann würde ich mich an Ihrer Stelle auch nicht darüber beklagen, zu welcher Tages- oder Nachtzeit Ihnen Ihre einzige Hoffnung auf Freiheit angeboten wird.“

Freiheit? Wer war dieser Mann? Wovon redete er? „Wer hat Sie hergeschickt?“, verlangte sie zu wissen. Sie fürchtete sich davor, seinen Äußerungen zu glauben – und gleichzeitig hatte sie Angst, ihnen keinen Glauben schenken zu können.

„Das darf ich Ihnen nicht sagen.“ Er verschränkte die Arme auf der Tischplatte und verdeckte die Akte. „Und selbst wenn ich es Ihnen sagen würde, dann wüssten Sie auch nicht mehr als jetzt.“

„Das verstehe ich nicht.“ Zum ersten Mal, seitdem sie das Zimmer betreten hatte, empfand Erin Angst um ihre Sicherheit. Stand der Wachmann noch vor der Tür, wie er ihr gesagt hatte? „Ich glaube, ich gehe jetzt besser zurück in meine Zelle.“

Sie wollte aufstehen, aber seine nächsten Worte ließen sie in ihrer Bewegung innehalten.

„Ich könnte dafür sorgen, dass dieser Albtraum für Sie schon bald zu Ende ist.“

Sie glaubte ihm kein Wort. „Wie wollen Sie das denn anstellen?“, fragte sie in der Gewissheit, dass es nicht wahr sein konnte. Trotzig reckte sie das Kinn vor und sah ihn herausfordernd an. Sie verlangte einen Beweis für seine Behauptung.

„Die Leute, für die ich arbeite, sind sehr einflussreich. Wenn Sie mit uns kooperieren, werden sie dafür sorgen, dass Ihnen Ihre Strafe erlassen wird. Sie werden wieder frei sein und können tun und lassen, was Sie wollen.“

Das klang zu schön, um wahr zu sein. Die Sache musste einen Haken haben. „Und was muss ich dafür machen?“ Sie betrachtete die gleichmäßigen Züge seines anziehenden Gesichts, die Linien und Fältchen, das Spiel von Licht und Schatten, das sich darin abzeichnete. Seine Miene war ausdruckslos, und auch seine tiefdunklen Augen verrieten nicht die geringste Kleinigkeit. Konnte sie ihm wirklich trauen? Egal, wie gut er aussah oder wie wichtig er zu sein schien. Sie kannte ihn nicht. Er war ein Fremder. Ein Fremder immerhin, der genug Einfluss hatte, mitten in der Nacht in ein Staatsgefängnis zu kommen und den Aufsichtsbeamten Befehle zu erteilen. Diese Erkenntnis verursachte ihr eine Gänsehaut.

Er beobachtete sie eine Weile, ehe er ihre Frage beantwortete. „Wir brauchen Sie für eine Aufgabe, die für die nationale Sicherheit von äußerster Bedeutung ist. Sie werden die Identität einer anderen Person annehmen, und Sie werden sehr eng mit mir zusammenarbeiten. Ohne Sie ist dieser Auftrag nicht durchzuführen.“

Nationale Sicherheit? Die Identität einer anderen Person? „Wessen Identität?“ Sie musste träumen. Das konnte unmöglich die Realität sein. Solche Situationen gab es doch nur im Film.

„Vor dem Einsatz werden Sie in alle Einzelheiten eingewiesen.“ Er nahm einen Aktenkoffer vom Boden und stellte ihn auf den Tisch. Nachdem er ihn geöffnet hatte, legte er die Akte hinein, schloss den Koffer und erhob sich. „Noch irgendwelche Fragen?“

„Warten Sie.“ Sie widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich existierte. Die ganze Situation war absolut unwirklich. Er konnte doch nicht im Ernst erwarten, dass sie zustimmte, ohne zu wissen, worauf sie sich einließ. Sie musste mehr darüber erfahren. „Ich kann mich nicht entscheiden, ohne genauere Einzelheiten zu wissen. Erzählen Sie mir mehr darüber. Außerdem brauche ich Zeit, um darüber nachzudenken.“

In seinen angespannten Gesichtszügen zuckte es ungeduldig. „Wir haben aber keine Zeit. Wenn Sie sich zur Mitarbeit entschließen, werden Sie genau das tun, was ich Ihnen sage, wenn ich es Ihnen sage. Und es gibt keinerlei Diskussionen.“ Er nahm den Aktenkoffer vom Tisch. „Also – machen Sie mit oder nicht?“

Erin schüttelte den Kopf. Das war absolut verrückt. „Was ist das denn für ein Auftrag? Und wo wird er ausgeführt?“

„Ich kann Ihnen weder die eine noch die andere Frage beantworten. Sie werden diese Informationen bekommen, wenn es nötig ist. Im Moment ist das alles, was Sie wissen müssen. Also – wie lautet Ihre Entscheidung?“

Erins Verärgerung war ebenso groß wie ihre Furcht. „Sie können nicht im Ernst von mir erwarten, dass ich einfach Ja sage. Da gibt es schließlich noch einiges zu bedenken.“

„Zum Beispiel?“ Er legte den Kopf schräg und sah sie durchdringend an. „Etwa ob Sie überleben werden, falls Ihre Mitgefangene Evans auf die Idee kommt, mit Ihnen das Gleiche zu tun wie mit diesem Richter in Savannah?“ Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen hoch. „Oder vielleicht wollen Sie mal sehen, was dem Wärter – wie heißt er doch gleich? Roland? – noch so alles einfällt, während Sie hier die Jahre, Monate und Tage Ihrer Strafe verbüßen.“

Wie hatte er davon erfahren? Niemand konnte etwas darüber wissen. Sie hatte es keinem erzählt. „Wer sind Sie?“

„Ich bin eine männliche Fee, Erin Bailey. Ich kann Ihre geheimsten Wünsche erfüllen. Ich kann Ihren guten Ruf wiederherstellen und dafür sorgen, dass Ihr Freund Jeff für seine Hinterhältigkeit zahlen muss.“ Zwei lange Sekunden sah Logan ihr unverwandt in die Augen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging zur Tür. Erst dort blieb er wieder stehen und warf ihr einen letzten, ebenso herausfordernden wie herablassenden Blick zu. „Drinnen – oder draußen?“

Erin schluckte die Angst hinunter, die ihr die Kehle zuschnürte. Und wenn er nun die Wahrheit sagte? Wenn das wirklich ihre einzige Chance war, die Freiheit zurückzugewinnen? Ich könnte dafür sorgen, dass dieser Albtraum für Sie schon bald zu Ende ist. Allein die Aussicht, dass Jeff seine gerechte Strafe bekommen würde, verursachte ihr ein Schwindelgefühl im Kopf.

Bei dieser Vorstellung empfand sie fast so etwas wie Vorfreude. Dennoch zögerte sie ihre Antwort noch ein wenig hinaus. „Eines müssen Sie mir aber sagen“, beharrte sie.

Sie konnte die Gereiztheit, die von dem gut aussehenden Fremden ausging, förmlich spüren. Dennoch wartete er auf ihre Frage.

„Dieser Auftrag, bei dem ich Ihnen helfen soll – ist er gefährlich?“

Der Ausdruck in seinen Augen änderte sich. Alle Anzeichen von Großspurigkeit und Herablassung verschwanden aus seiner Miene. In der Stille, die folgte, bis er ihr antwortete, hämmerte Erin das Herz bis zum Hals.

„Sehr.“

Dieses einzelne Wort hallte in ihren Ohren nach und ließ in ihr erneut das Gefühl von Verzweiflung wach werden. Ohne sie aus den Augen zu lassen, klopfte er an die Tür, die sofort geöffnet wurde. Er ging hinaus, ohne sie hinter sich zu schließen. Jetzt war es an ihr, eine Entscheidung zu treffen.

Drinnen oder draußen.

2. KAPITEL

Drei knappe Worte. Ich mache mit.

Der Blick, mit dem Logan sie gemessen hatte, schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie glaubte, in den dunklen Augen eine Art Bedauern wahrzunehmen, ehe er sich an den Wachmann wandte und ihm sagte, dass er Erin mitnehmen würde. Der Wärter hatte ihr sofort die Handschellen abgenommen, als ob der Gefängnisdirektor persönlich ihm den Befehl dazu gegeben hätte. Das Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals, und ihre Handflächen waren schweißnass, als sie zwanzig Minuten später auf den Rücksitz des großen schwarzen Geländewagens sank, der vor dem Haupteingang des Gefängnisses geparkt war. Jede Sekunde in diesen zwanzig Minuten hatte vernehmlich durch Erins aufgewühlte Gedanken getickt. Es erschien ihr immer noch unmöglich, dass das, was sie gerade erlebte, tatsächlich passierte – aber genau das war der Fall. Sie war frei, um mit diesem Fremden zu gehen, der mitten in der Nacht bei ihr aufgetaucht war.

Logan schloss die Tür an ihrer Seite und nahm auf dem Sitz neben dem Fahrer Platz, der geduldig auf sie gewartet hatte.

„Flughafen?“, fragte der Mann hinter dem Steuer des Geländewagens.

„Ja.“

Mit einem kurzen, abschätzenden Blick musterte der Fahrer sie im Rückspiegel. Ein Schauer lief ihr bei dieser raschen Prüfung über den Rücken, aber sie zwang sich, das unbehagliche Gefühl zu verdrängen. Sie musste stark sein. Die Angelegenheit war zu wichtig, als dass ihr jetzt ihre Furcht in die Quere kommen durfte. Sie war draußen! Ein Schwindelgefühl erfasste sie und ließ sie erzittern. Noch ein paar Meter, und sie würde die letzten Barrieren überwunden haben, die zwischen ihr und der Freiheit lagen.

Der Wagen setzte sich in Bewegung und wurde schneller, während er über die lange Zufahrt rollte. Erin hielt den Atem an, als sich die schweren Gefängnistore öffneten und sie ungehindert hindurchfuhren. Ihre Erleichterung war so überwältigend, dass sie das Gefühl hatte, unter der berauschenden Wirkung einer Droge zu stehen.

Doch etwa zehn Sekunden später gewann die Realität wieder die Oberhand. Worauf hatte sie sich da bloß eingelassen? Die Angst kroch ihr den Rücken hinauf und verdrängte das süße Gefühl der Unbeschwertheit, als ihr bewusst wurde, dass sie mit zwei Fremden durch die Dunkelheit fuhr – mit unbekanntem Ziel. Sie drehte sich in ihrem Sitz um und schaute auf die grauen Gefängnismauern und den Sicherheitszaun, die hinter ihr zurückblieben und immer kleiner wurden. Eine winzige Hoffnung keimte in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass sie diesen entsetzlichen Ort tatsächlich verließ. Das war kein Traum, nicht einmal ein Tagtraum. Wozu immer sie sich bereit erklärt hatte – jetzt hatte es begonnen. Sie war draußen!

Als die grellen Lampen, die das Gelände erhellten, nur noch ein ferner, schwacher Schein waren, drehte sie sich wieder nach vorne. Jetzt musste sie mit den Konsequenzen ihres Entschlusses fertig werden.

Endlich war sie die verhasste Gefängniskleidung los. Stattdessen trug sie Jeans, ein T-Shirt und die Turnschuhe, mit denen sie vor vier Monaten hierhergekommen war. Der Rest ihres persönlichen Besitzes – Ausweis, Schmuck, Fotos und so weiter – steckte in einem großen wattierten Umschlag, den Logan an sich genommen hatte. Er hatte ihr gesagt, dass sie diese Dinge im Moment nicht benötigte. Ein neuer Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie nagte an ihrer Unterlippe, als die Angst ihr wieder zu schaffen machte. Hatte sie möglicherweise nur ein Gefängnis gegen das andere eingetauscht? Wohin fuhren sie? Was würde passieren, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten?

„Warum fahren wir zum Flughafen?“ Ihre Stimme klang dünn in der beklemmenden Stille.

„Wir müssen ein Flugzeug bekommen“, erwiderte Logan, ohne sich nach ihr umzudrehen. „Mehr brauchen Sie im Moment nicht zu wissen.“

Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, schloss ihn dann aber wieder. Es hatte keinen Zweck, auf Antworten zu bestehen, wenn sie genau wusste, dass er ihr keine geben würde. Das Letzte, was sie wollte, war, den Mann gegen sich aufzubringen, in dessen Händen nun ihr Schicksal lag. Das Gefängnis hatte die Verantwortung für sie auf ihn übertragen. Sie stand in seinen Diensten; sie war von seinem Wohlwollen abhängig.

Es war genau wie bei Jeff.

Bei der Erinnerung an ihn lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Aber nein. Das stimmte nicht ganz. Dieser Mann hatte nichts mit ihrem früheren Verlobten gemein. Die Informationen, die Logan ihr bisher gegeben hatte, so spärlich sie auch sein mochten, schienen wahr zu sein. Er arbeitete für die Regierung, dessen war sie sich inzwischen hundertprozentig sicher. Sie hatte seine Beglaubigungsschreiben und die Gerichtsformulare gesehen, als er ihre Entlassungspapiere unterschrieben hatte. Niemand im Gefängnis – genau genommen nicht einmal sie selbst – hatte irgendetwas infrage gestellt. Die Vorstellung, die Freiheit zurückzugewinnen, war viel zu verlockend gewesen, und schließlich waren ihre Bedenken in alle Winde zerstreut.

Doch jetzt meldeten sich diese Bedenken wieder zu Wort. Er hatte gesagt, dass er sie für eine Aufgabe brauchte, bei der es um die nationale Sicherheit ging. Sie würde in die Rolle einer anderen Person schlüpfen. Der Auftrag war äußerst gefährlich. Nur – welche Kenntnisse oder Erfahrungen konnte sie diesem Mann oder ihrem Land schon bieten?

Wieder griff die Angst wie mit eiskalten Fingern nach ihr. Fast wäre sie unter der Wucht dieses Gefühls zusammengebrochen. Verbissen kämpfte sie dagegen an. Sie schlang die Arme um ihren Körper und zwang sich, ruhig zu bleiben, wenigstens nach außen hin. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, würde man ihre Fragen schon beantworten. Das hatte er ihr versichert. Es bestand also kein Grund, die Nerven zu verlieren – vor allem nicht in diesem Moment.

Sie straffte die Schultern und hob trotzig den Kopf. Was immer nötig war, um die Freiheit zurückzugewinnen – sie würde es machen. Sie war nicht länger das kleine, vertrauensvolle Dummchen von vor zwei Jahren. Es war eine bittere Lektion für sie gewesen – aber jetzt wusste sie, dass sie nicht jedem trauen durfte. Vor allem keinem Mann, dem seine Arbeit über alles ging. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf John Logans dunklen Hinterkopf. Bei einem Mann wie ihm wusste sie instinktiv Bescheid. Nun ja, ihm brauchte sie ja auch nicht zu vertrauen – jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Und sie hatte bestimmt nicht vor, ihn persönlich kennenzulernen. Das hier war eine rein geschäftliche Angelegenheit. Sie musste nur seinen Anweisungen folgen, und sie würde ihr altes Leben zurückbekommen. Sie wünschte es sich mehr als sonst irgendetwas auf der Welt.

Was auch am nächsten Tag passieren würde, an einer Sache bestand kein Zweifel: Im Moment, in dieser Minute war sie in Freiheit.

Und das musste fürs Erste genügen.

Während der vergangenen vier Monate hatte sie jeden einzelnen Tag abgehakt. Die Zeit, die vor ihr lag, würde sie auf die gleiche Weise bewältigen.

Zu ihrer Überraschung fuhren sie nicht nach Hartfield, dem internationalen Flughafen von Atlanta. Stattdessen parkte der Fahrer den Wagen in der Nähe eines Flugzeughangars auf dem PDK Airport, dem bevorzugten Ausweichflugplatz für kleinere Maschinen. Das Flugzeug, ein kleiner Düsenjet, wie ihn Geschäftsleute gern benutzten, glänzte im Schein der Startbahnbeleuchtung. Sie folgte Logan und dem Fahrer zum Flugzeug, neben dem ein Mann auf sie wartete.

„Wir sind vollgetankt und abflugbereit“, sagte der Mann zu Logan. Er war fast genauso groß wie Logan, ein wenig älter vielleicht. Aber er sah genauso durchtrainiert aus.

Das musste der Pilot sein. Trotz seines zerfurchten Profils wirkte er sehr freundlich. Ihrer Meinung nach sah keiner der Männer wie ein Geheimagent aus. Nun ja, vielleicht mit Ausnahme von Logan. Ihn umgab diese Aura von Gefahr … ein Geheimnis, das auf seine Art sehr anziehend war. Andererseits konnte sie nur nach dem urteilen, was sie in Filmen gesehen hatte. Und das waren vermutlich nicht die besten Vergleichsmöglichkeiten.

Vor lauter Erschöpfung und Beklemmung stieß sie unwillkürlich einen tiefen Seufzer aus. Sofort bereute sie es, denn Logan und der Fahrer des Geländewagens drehten sich gleichzeitig nach ihr um und starrten sie an. Erin schluckte mühsam und versuchte, sich unter ihren durchdringenden Blicken nicht noch mehr verunsichern zu lassen, als sie es ohnehin schon war.

Nach einer Weile, die Erin unendlich lang erschien, wandte Logan sich wieder dem Piloten zu. „In fünf Minuten sind wir so weit.“

Der Pilot nickte und ging ins Flugzeug, gefolgt von dem Fahrer, der schmächtiger und nicht ganz so groß war wie die anderen. Erin vermutete, dass er Latino war, obwohl er perfekt und akzentfrei englisch sprach.

Erin spürte, dass Logan sie betrachtete, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihm in die Augen zu sehen. Als es sich nicht länger vermeiden ließ, hob sie den Kopf und wappnete sich für seinen Blick. Wieder sagte sie sich, dass sie alles machen würde, was er von ihr erwartete. Sie musste es tun.

„Das ist Ihre letzte Chance, Bailey. Wie sieht’s aus? Sind Sie noch dabei?“

Wie konnte er glauben, dass sie jetzt einen Rückzieher machte, wo sie schon so weit gegangen war? Auf keinen Fall würde sie in dieses schreckliche Gefängnis zurückgehen. „Natürlich bin ich noch dabei“, entgegnete sie scharf. Ihre Stimme zitterte ein wenig und klang selbst in ihren eigenen Ohren etwas hohl.