In tiefster Dunkelheit - Debra Webb - E-Book
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In tiefster Dunkelheit E-Book

Debra Webb

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Beschreibung

Im Dunkel der Vergangenheit lauert dein schlimmster Feind!

Seit über einem Jahrzehnt studiert Special Agent Jess Harris die Gesichter des Bösen. Um einem Serienkiller das Handwerk zu legen, bricht sie die Regeln - und verliert alles. Ihre Karriere hängt am seidenen Faden, ihre Ehe ist am Ende. Nur zu gern hilft sie bei einem neuen Fall aus: Vier junge Frauen sind verschwunden — in Birmingham, Alabama, ihrer Heimatstadt.

Jess ist entschlossen, die Leben der Frauen zu retten — selbst wenn das Hilfegesuch von Polizeichef Dan Burnett kommt. Er war ihre erste große Liebe und steht für alles, was sie hinter sich lassen wollte ... Da passiert das Undenkbare: Der Serienmörder, der ihretwegen freigelassen wurde, hat nun Jess im Visier — und alle, die ihr nahestehen!

"Atemlos und aufregend ... Webb liefert eine packende Handlung, eine starke Protagonistin und einen Helden mit einem Geheimnis so dunkel wie Wasser bei Nacht." Romantic Times

Der Auftakt der Reihe um FBI-Agentin Jess Harris von US-Bestseller-Autorin Debra Webb!

Weitere Thriller mit Jess Harris:

Die Spur des Blutes (Band 2)

Berührung des Bösen (Band 3)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 390

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Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

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Weitere Titel der Autorin

Die Spur des Blutes

Berührung des Bösen

Über dieses Buch

Special Agent Jess Harris arbeitet als Profilerin für das FBI – und ist mit Abstand die Beste ihres Fachs. Doch in einem wichtigen Fall unterläuft ihr ein gravierender Fehler. Durch ihre Schuld kommt ein gefährlicher Serienkiller, der seine weiblichen Opfer gnadenlos foltert, vergewaltigt und schließlich ermordet, wieder auf freien Fuß. Jess’ Job steht auf dem Spiel, und da kommt es ihr gerade recht, dass sie von Polizeichef Dan Burnett zu Hilfe gerufen wird. In der Heimatstadt der FBI-Agentin, Birmingham in Alabama, sind vier Mädchen unter eigenartigen Umständen verschwunden, und Jess soll ihre Fähigkeiten als Profilerin einsetzen, um die Vermissten zu finden. Noch fehlt jede Spur, aber Jess schafft es, bisher unentdeckte Hinweise auszugraben, die zu einem Durchbruch in dem Fall führen könnten. Da wird die FBI-Agentin von ihrer Vergangenheit eingeholt: Der Serienmörder, der ihretwegen freigelassen wurde, hat nun Jess im Visier und bedroht sie und alle, die ihr nahestehen …

Über die Autorin

Debra Webb wuchs auf einer Farm in Alabama auf, wo sie auch heute wieder mit ihrer Familie lebt. Nach einer Reihe von Tätigkeiten, unter anderem für die US-Armee in Berlin und das Raumfahrtprogramm der NASA, veröffentlichte sie 1999 ihren ersten Roman. Seither hat sie zahlreiche Thriller in vielen Sprachen veröffentlicht, insgesamt über vier Millionen Bücher verkauft und wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet.

Debra Webb

In tiefster Dunkelheit

Aus dem amerikanischen Englischvon Stefanie Zeller

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Pink House Press, Webbworks, LLC.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Obsession«

Originalverlag: Pink House Press, Huntsville, USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: René Satzer

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: Javietc | Rutik Vilasrao Bobade

eBook-Erstellung:Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-8522-9

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Das Angesicht des »Bösen« ist immer

das des totalen Verlangens.

William S. Burroughs II

Naked Lunch, Nagel Kimche Verlag, 2009,

Übersetzung Michael Kellner

1

Birmingham, Alabama,

Mittwoch, 14. Juli, 13:03 Uhr

Special Agent Jess Harris’ Karriere war durchs Klo gerauscht, zusammen mit dem hastig heruntergeschlungenen Frühstück, das sie auf einer Rasthoftoilette auf der anderen Seite von Nashville wieder von sich gegeben hatte.

Gott, so war das alles nicht geplant gewesen.

Jess bekam keine Luft. Sie sagte sich, dass sie aus dem Wagen aussteigen oder ein Fenster herunterlassen musste, doch ihr Körper wollte keinem einzigen einfachen Befehl gehorchen.

Die glühend heißen fünfunddreißig Grad, die den Asphalt und Beton der Stadt aufheizten, herrschten knapp zwei Sekunden, nachdem sie geparkt und den Motor ausgestellt hatte, auch im Inneren des Wagens. Was allerdings für das bisschen an Vernunft, das ihr noch geblieben war, wenig Bedeutung zu haben schien, denn zehn Minuten später umklammerten ihre Finger immer noch das Steuer, als hätten die letzten Stunden ihrer zweitägigen Fahrt die Totenstarre ausgelöst.

Sie war zu Hause. Zwei Wochen längst überfälligen Urlaubs standen zu ihrer freien Verfügung. Ihre Post wurde im Postamt in Stafford, Virginia, gelagert, wo absolut niemand sie vermissen würde.

Trotzdem zögerte sie, den nächsten Schritt zu tun. Doch einfach wieder wegzufahren kam nicht infrage, auch wenn sie genau das jetzt am liebsten getan hätte.

Ihr Wort war alles, was ihr noch geblieben war. Eigentlich hätte sie ob der Ungeheuerlichkeit ihrer Lage in hysterisches Gelächter ausbrechen sollen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, vor Fassungslosigkeit und Entsetzen gleichermaßen.

Wenn du das in den Sand setzt, bleibt dir nichts mehr.

Sie atmete einmal tief durch, löste die Finger vom Lenkrad, nahm ihre Tasche und stieg aus. Eine Hupe dröhnte, und sie drückte sich an den staubigen Kotflügel ihres zehn Jahre alten Audi. Pkws und Lastwagen zischten vorbei, die es noch über die Kreuzung Eighteenth Street und First Avenue schaffen wollten, bevor die Ampel umsprang. Abgase lagen in der feuchten Luft und mischten sich mit der Hitze und dem Lärm der Stadt.

Fast hätte sie das Zentrum von Birmingham nicht wiedererkannt. Restaurierte Läden aus einer längst vergangenen Ära standen neben neueren, glänzenden Gebäuden, deren Nüchternheit durch geschickt platzierte Bäume und Büsche gemildert wurde. Ein eleganter Park mit einem imposanten Brunnen lud die Kauflustigen zum Flanieren und Picknicker zum Entspannen ein. Man hatte sich große Mühe gegeben, die heruntergekommenen Straßen, einst das Zentrum der berüchtigten Bürgerrechtsbewegung, in eine möglichst elegante Ausgabe einer stolzen Südstaatenstadt zu verwandeln.

Was zur Hölle tat sie hier?

Zweiundzwanzig Jahre lang hatte sie härter an ihrem Akzent gearbeitet als Professor Henry Higgins’ Blumenmädchen, um jede Spur von Südstaatengenuschel aus ihrer Sprechweise zu tilgen. Ein Psychologiediplom vom Boston College schmückte ihren Lebenslauf, dazu siebzehn Jahre unermüdlicher Schufterei, um sich eine Karriere aufzubauen, für die man sie bewunderte.

Und wozu das alles? Um dann mit eingezogenem Schwanz hierher zurückgerannt zu kommen, den stolzen Kopf so tief gesenkt, dass sie die hässliche Wahrheit riechen konnte.

Nichts hatte sich geändert.

All die sprudelnden Brunnen und hübsch dekorierten Schaufenster konnten die Tatsache nicht verbergen, dass dies immer noch Birmingham war – der Ort, den sie zum letzten Mal im Rückspiegel gesehen hatte, als sie achtzehn war –, und auch das rote Vierhundert-Dollar-Kostüm, das sie trug, samt der dazu passenden High Heels, konnte nicht kaschieren, dass sie schmählich in Ungnade gefallen war.

Er hatte angerufen, und sie hatte versprochen, sie würde kommen und sich seinen Fall ansehen. Es war das erste Mal, dass er sie um etwas bat, seit sie sich nach dem College getrennt hatten. Dass er sie überhaupt um Hilfe bat, erstaunte sie und tat ihrem gebeutelten Selbstvertrauen gut. Niemand in ihrer Heimatstadt wusste von ihrem Karriere-Debakel oder gar dem Katastrophengebiet, das ihr Privatleben darstellte. Und wenn es nach ihr ging, würde das auch so bleiben. Die Eine-Million-Dollar-Frage allerdings lautete: Wie sollte es danach weitergehen?

Der Luftstrom eines vorbeifahrenden Autos schlug ihr den Rock um die Beine, was sie daran erinnerte, dass dieser Parkplatz am Straßenrand nicht der geeignete Ort für eine Bestandsaufnahme ihres Lebens war.

Also setzte sie ein Pokerface auf, straffte entschlossen die Schultern und marschierte zum Haupteingang des Birmingham Police Departments. Dort blieb sie noch einmal stehen, zögerte kurz, dann riss sie die Tür auf und präsentierte dem Security-Posten ein Lächeln. »Guten Morgen.«

»Ihnen auch einen guten Morgen, Ma’am«, erwiderte der Wachmann – Elroy Carter laut des Namensschildes, das an seinem Hemd steckte. »Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen? Ihre Tasche können Sie hier ablegen.« Er zeigte auf den Tisch neben sich.

Jess reichte ihm ihren Ausweis und stellte ihre Tasche wie angewiesen ab, damit er sie durchsuchen konnte. Da sie schon seit Jahren keine Ohrringe mehr trug und der schlichte Goldring, der aus irgendeinem ihr selbst schleierhaften Grund noch immer an ihrem Finger steckte, keinen Alarm auslöste außer dem in ihrem Kopf, passierte sie anstandslos den Metalldetektor und wartete auf der anderen Seite auf ihre Tasche.

»Genießen Sie Ihren Aufenthalt in der magischen Stadt, Agent Harris.« Ein breites Lächeln erhellte das Gesicht des großen Mannes.

Wahrscheinlich ein Expolizist im Ruhestand und unverkennbar Südstaatler durch und durch. Er war sichtlich stolz auf seine Arbeit, die jetzige wie die frühere, und seine Brieftasche steckte vermutlich voller Fotos seiner Enkel. Nur eines war ihm nicht sofort anzusehen: ob er Auburn- oder Alabama-Fan war. Im September allerdings würde das so offenkundig sein wie das tiefe Braun seiner Augen. Denn hier in Alabama machte die Footballsaison selbst aus engsten Freunden erbitterte Gegner.

»Danke, Mr Carter.«

Bitte, Danke und Willkommen – das gehörte im Süden zu den Traditionen, an denen nicht gerüttelt wurde. An einem Fremden vorbeizugehen, ohne ihn zumindest anzulächeln, kam, was Etikette anging, gleich hinter Blasphemie. Sich über die Angelegenheiten eines Nachbarn oder Kollegen auf dem Laufenden zu halten galt auch nicht als Neugier oder gar Einmischung. Ganz und gar nicht. Es wurde sogar erwartet. Denn es geschah selbstverständlich aus reiner Sorge.

In spätestens vierundzwanzig Stunden, vermutete Jess, würden Spekulationen über ihren Karriereverlauf das beherrschende Thema des Bürotratschs sein. Dann würde es nicht mehr lange dauern, und man warf ihr mitleidige Blicke zu, lächelte sie aufmunternd an und tat so, als wäre alles bestens.

Bestens. Bestens. Bestens.

So gern sie es auch vermieden hätte, ihre schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen – dass es ihr erspart blieb, war ungefähr so wahrscheinlich wie zweimal am selben Tag von Satellitentrümmern getroffen zu werden. Sobald die Nachricht bei der Associated Press eintraf, würde sich die gesamte Presse darauf stürzen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Ihr Leben war eine Katastrophe. Sie bezweifelte, dass irgendetwas je wieder bestens sein würde. Doch das war im Moment irrelevant. Sie war als Beraterin in einem Fall hier – einem Fall, der nicht darauf warten würde, dass sie die Scherben ihres Lebens aufsammelte oder ihre Wunden leckte.

Jess schob ihre Sorgen beiseite, wappnete sich und ging zu der Reihe von Aufzügen, die sie in den vierten Stock bringen würden. Zu ihm.

Keins der Gesichter, die sie sah, kam ihr bekannt vor. Weder der Wachmann, der sie abfertigte, noch einer seiner Kollegen, die die Eingangshalle überwachten, noch die Frau, die mit ihr zusammen im Aufzug nach oben zur Dienststelle des Birmingham Police Departments fuhr.

Sobald die Türen zuglitten, musterte die Frau verstohlen Jess’ Füße in den zehn Zentimeter hohen Mary Janes, inspizierte den Abstand zwischen dem Saum ihres Bleistiftrocks und ihren Knien sowie die Lederumhängetasche, die sie sich selbst zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Als der Augenkontakt unausweichlich wurde, setzte sie ein schwaches Lächeln auf, eine oberflächliche Nettigkeit, die überspielen sollte, dass sie gerade die Konkurrenz abgecheckt hatte. Wenn sie wüsste.

Der Aufzug hielt mit einem Ruck. Die Frau ging als Erste hinaus und schlenderte den langen Flur nach rechts hinunter. Jess’ Ziel lag geradeaus vor ihr. Das Büro des Polizeichefs. An der Tür überprüfte sie noch einmal ihr Erscheinungsbild in der Glasscheibe, zog die Jacke mit dem Gürtel gerade und zupfte sich ein blondes Haar vom Revers. Sie sah aus … wie immer. Oder nicht? Sie ließ die Hand sinken.

Sah sie wie eine Versagerin aus? Wie die Frau, die gerade einem abscheulichen Killer eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte verschafft hatte und der der Ehemann abhandengekommen war?

Tief durchatmen. Sie streckte die Hand nach der Tür mit der Aufschrift Daniel T. Burnett aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Guten Tag, Agent Harris.« Die junge Frau – Tara Morgan stand auf dem Namensschild auf ihrem Schreibtisch – lächelte. »Willkommen in Birmingham.«

Da Jess sich nicht vorgestellt hatte, musste der Chief wohl seine Angestellten auf ihren Besuch vorbereitet haben. »Danke. Ich möchte gerne zu Chief Burnett.«

»Ja, Ma’am. Wenn Sie bitte Platz nehmen würden, ich lasse den Chief wissen, dass Sie jetzt da sind.«

Endlich. Doch das sagte Tara höflicherweise nicht. Jess kam zu spät, zwölf Minuten, die sie gebraucht hatte, um den nötigen Mut aufzubringen, sich den letzten Turbulenzen des emotionalen Hurrikans zu stellen, der über ihr Leben hinweggefegt war. Die Sekretärin bot ihr Wasser oder Limonade an. Jess lehnte ab. Es war unwahrscheinlich, dass sie irgendetwas an dem dicken Kloß in ihrem Hals vorbeibekommen würde. Und vollkommen unmöglich, es unten zu behalten.

Jess nutzte die Wartezeit, um die Veränderungen zu betrachten, die der neue Chief von Birmingham seit seinem Amtsantritt vorgenommen hatte. Der Marmorboden, der Teppich und die Wände in klassischem Beige – der ruhige Empfangsraum wirkte kaum wie das Vorzimmer eines Polizeichefs, eher wie das Wartezimmer eines renommierten Chirurgen. Auch wenn sie seit dem Karrieretag in der Highschool nicht mehr hier gewesen war, die Möbel und die Deko muteten viel zu neu an, um mehr als ein paar Jahre auf dem Buckel zu haben.

Auf dem Tisch lag ein ordentlicher Stapel aus Polizeizeitschriften und politischen Magazinen. Der Bezug der beiden Polstersessel erinnerte an einen europäischen Wandteppich und verriet deutlich den gehobenen Geschmack seiner Mutter. Offenbar genügte es ihr nicht, auf die Inneneinrichtung der palastartigen Residenzen ausgesuchter Mitglieder von Birminghams Elite Einfluss zu nehmen, was sie durch Soireen vollbrachte, auf denen das gesamte Who-is-Who der Stadt zu Gast war. Katherine setzte den Goldstandard für alle, die auf ihre vornehmen Nachbarn schielten.

Ob die braven Bürger von Birmingham wohl mit dieser Verschwendung ihrer Steuergelder einverstanden waren? So wie sie Katherine Burnett kannte, hatte die Frau die Renovierung womöglich aus eigener Tasche bezahlt und sich dann auf der ersten Seite des Lifestyle-Teils der Birmingham News damit gebrüstet.

Nur ein weiteres Indiz dafür, dass sich hier nichts verändert hatte. Jess stellte ihre Umhängetasche auf einen Sessel und streckte die von der Reise verkrampften Muskeln. Acht strapaziöse Stunden auf der Straße am Dienstag und vier heute Morgen forderten ihren Tribut: Sie war erschöpft. Bequemer wäre es gewesen, den Flieger zu nehmen, aber sie wollte über ein eigenes Auto verfügen, solange sie hier war. Das machte es einfacher, notfalls schnell die Flucht zu ergreifen.

Aber eigentlich hatte sie vor allem Zeit gebraucht, um nachzudenken.

»Du hast es geschafft.«

Ob es der Klang seiner Stimme war oder die Tatsache, dass er trotz der aktuellen Umstände besser aussah als an Weihnachten vor zehn Jahren: Auf einmal fühlte sie sich sehr verletzlich und unzweifelhaft alt. Sein dunkles Haar war immer noch dicht und ohne jede Spur von Grau. Der elegante marineblaue Anzug brachte das Blau seiner Augen zum Leuchten. Aber es war sein Gesicht, schmaler als früher, aber nicht weniger attraktiv, das ihrer angeknacksten Psyche am härtesten zusetzte.

Auf einmal spürte sie das Gewicht der letzten zweiundsiebzig Stunden so heftig, dass ihr die Knie weich wurden. Der Boden unter ihren Füßen neigte sich, und sie verspürte den flüchtigen, aber heftigen Drang, sich in seine starken Arme zu flüchten oder einfach in Tränen auszubrechen. Aber sie war nicht mehr dieses kleine Mädchen. Und sie … sie waren beinahe Fremde füreinander.

Sie brachte ein steifes Nicken zustande. »Ja, da bin ich.«

Komisch, wie sie es beide vermieden, den anderen beim Namen zu nennen. Gar nicht komisch hingegen war die Tatsache, dass fünf Sekunden in seiner Gegenwart genügten, damit ihr Südstaatenakzent wieder durchkam.

Sie räusperte sich. »Ich kann mich gleich an die Arbeit machen. Als Erstes würde ich gern Einsicht in die Akten erhalten.«

»Natürlich.« Er bot ihr die Hand an, zog sie dann wieder zurück und vollführte eine linkische Geste, als wäre ihm zu spät eingefallen, dass Körperkontakt keine gute Idee war. »Sollen wir in mein Büro gehen?«

»Gern.« Sie schlang die Tasche über die Schulter und ging auf ihn zu, jeder Schritt eine harte Prüfung für ihre Selbstbeherrschung. Dinge, die nicht gesagt worden waren und doch hätten gesagt werden sollen, rangen in ihr mit ihren zahlreichen anderen Sorgen. Jetzt war nicht die Zeit.

»Dass du den weiten Weg auf dich genommen hast, um uns bei diesem Fall zu helfen, bedeutet mir viel.«

Er vermied es noch immer, ihren Namen auszusprechen. Jess überwand Verwirrung oder Enttäuschung – vielleicht auch beides – sowie Erschöpfung und holte zu ihm auf, als er voranging. »Ich kann nichts versprechen, aber ich tue, was ich kann.«

Am Telefon war er nicht ins Detail gegangen – dass er überhaupt angerufen hatte, war Beweis genug, dass die Lage ernst war.

Er machte sie mit seiner persönlichen Sekretärin bekannt, geleitete sie dann weiter in sein Büro und schloss die Tür. Wie schon im Empfangsraum war auch in seinem geräumigen Büro Katherines Einfluss nicht zu übersehen. Jess stellte ihre Tasche auf den Boden neben einen Stuhl an dem kleinen Besprechungstisch und musterte die vier Aktenordner, die in trostloser Formation auf sie warteten. An den Deckel eines jeden war ein Foto eines vermissten Mädchens geheftet.

Dies war der Grund, warum sie den weiten Weg gemacht hatte. Sosehr der Anruf auch ihrem Ego geschmeichelt hatte, ihre eigentliche Motivation war es, dieses Rätsel zu lösen. Sie beugte sich vor, um die hübschen Gesichter zu studieren. In einem Zeitraum von zweieinhalb Wochen waren vier junge Frauen verschwunden, die Letzte vor gerade mal drei Tagen. Keine Gemeinsamkeiten außer ihrem Alter, kein Hinweis auf ein Verbrechen, keinerlei Spuren. Macy York, Callie Fanning, Reanne Parsons und Andrea waren wie vom Erdboden verschluckt.

»Diese beiden wohnten im Jefferson County.« Er tippte auf das erste und das zweite Foto, Macy und Callie, beide blond. »Die hier ist aus Tuscaloosa.« Reanne, die Rothaarige. »Die Letzte ist aus Mountain Brook, meinem Bezirk.« An dem vierten Mädchen, Andrea, eine Brünette, blieb sein Blick ein wenig länger hängen.

Jess ließ sich auf einem Stuhl nieder. Sie öffnete die Akten, eine nach der anderen, und überflog den mageren Inhalt. Befragungen von Familien und Freunden. Fotos und Berichte von den Tatorten. Alle vermissten Mädchen bis auf eine, Reanne, waren College-Studentinnen.

»Keinerlei Kontakt zwischen den Familien? Keine Verdächtigen?« Sie sah auf, aus reiner Gewohnheit, weil sie sein Mienenspiel sehen wollte, wenn er antwortete. Sein Blick lag noch einen Moment länger auf den Ordnern, bevor er sich auf sie richtete. Die Last des Amtes im öffentlichen Dienst hatte Falten um seine Augen und seinen Mund gegraben. Falten, die vor zehn Jahren noch nicht dort gewesen waren. Komisch, wie die gleichen Falten sie nur alt aussehen ließen, ihm aber etwas Distinguiertes gaben.

Er schüttelte den Kopf als Antwort auf ihre Frage.

»Kein Kreditkartengebrauch, keine Anrufe?«, fuhr sie fort. »Keine Abschiedsbriefe? Keine Lösegeldforderungen?«

»Nichts.«

Mit einer Leichtigkeit, die seine Kraft und Fitness verriet, schwang er eine Hüfte auf die Tischkante und sah sie an. Die so vertrauten blauen Augen taxierten sie nun ebenso unverblümt, wie sie noch vor ein paar Sekunden ihn gemustert hatte. »Sheriff Roy Griggs – du erinnerst dich vielleicht an ihn – und Chief Bruce Patterson in Tuscaloosa tun alles, was sie können, aber es gibt einfach nichts, wo sie ansetzen können. Das FBI hält sich zurück, weil alle diese Mädchen volljährig sind, neunzehn oder älter, und da keine Hinweise auf ein Verbrechen vorliegen, gibt es ihrer Meinung nach auch nichts zu ermitteln. Sie legen eine Akte an, schicken die Fotos an die verschiedenen Datenbanken und warten. Mehr können die nicht.«

Laut Gesetz handelte das FBI damit völlig korrekt. Solange es keinen Hinweis auf faulen Zauber oder Gewaltanwendung gab, konnte weder das FBI noch irgendeine andere Ermittlungsbehörde etwas unternehmen. Er wusste das natürlich, doch sein Cop-Instinkt oder auch seine persönlichen Gefühle – was von beidem hatte sie noch nicht herausgefunden – gaben sich damit nicht zufrieden. Im Übrigen erinnerte sie sich durchaus an Griggs. Er war seit drei Jahrzehnten der Sheriff von Jefferson County.

»Aber du glaubst an eine Verbindung, was nahelegt, dass hier nicht nur ein Verbrechen vorliegt, sondern sogar eine Serientat.« Das war keine Frage. So viel hatte er ihr schon am Telefon erklärt, aber sie musste es noch einmal hören und dabei seine Augen, seinen Gesichtsausdruck sehen.

Sein Anruf, seine Stimme hatten Erinnerungen und Gefühle geweckt, die sie lange für tot und begraben gehalten hatte. Seit dem Sommer nach ihrem College-Abschluss hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, bis sie sich dann, vor zehn Jahren, zufällig im Publix in Hoover getroffen hatten. Es verblüffte sie noch immer, dass sie bei all den zahllosen Geschäften rund um Birmingham ausgerechnet im selben Lebensmittelladen gelandet waren, und das auch noch, als sie zum ersten Mal die Feiertage bei ihrer Familie verbrachte. Er war gerade frisch geschieden von seiner zweiten Frau. Jess hatte eine Beförderung zu feiern. Eine gefährliche Mischung, vor allem wenn noch der Rausch der Feiertage dazukam und die nostalgische Erinnerung an ihre explosive Beziehung. Das Dessert, das sie eigentlich noch in letzter Minute vor dem Dinner mit der Familie ihrer Schwester hatte kaufen wollen, hatte es nie bis auf den Tisch geschafft.

Seitdem hatte Jess nichts mehr von ihm gehört. Trotzdem konnte sie ihm kaum vorwerfen, nach spontanem, wildem Sex einfach abgetaucht zu sein – sie selber hatte schließlich auch keinen Versuch unternommen, mit ihm in Kontakt zu treten.

»Es muss eine Verbindung geben.« Sein Blick wanderte wieder über die fröhlichen, sorglosen Gesichter auf den Fotos. »Dieselbe Altersgruppe. Alle attraktiv. Intelligent. Keine Vorstrafen, nirgendwo aktenkundig. Die Zukunft – eine leuchtende Zukunft – lag vor ihnen. Und niemand in ihrem Familienkreis, keiner von ihren Freunden glaubt, sie könnten abgehauen sein.« Er tippte auf das Foto des vierten Mädchens. »Andrea Denton kannte ich persönlich. Es ist unmöglich, dass sie einfach so spurlos verschwunden ist. Unmöglich.«

Zwei Dinge fielen ihr auf, als er seine leidenschaftliche Erklärung abgab: Erstens, er trug keinen Ehering. Zweitens, er kannte Nummer vier nicht einfach nur persönlich. Er kannte sie gut. Wie gut, das war die Frage.

»Jemand hat sie entführt«, sagte er mit Nachdruck. »Sie alle.« Seine Miene wurde für den Bruchteil einer Sekunde weich. »Ich kenne deinen Ruf als Profiler. Wenn jemand uns helfen kann, diese Mädchen zu finden, dann du.«

Jess merkte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem echten Lächeln hoben, und das Stirnrunzeln, das schon seit Tagen auf ihrem Gesicht lag, verschwand. Sie hatte absolut nichts, worüber sie lächeln konnte, und doch löste sein Kompliment diese Reaktion bei ihr aus. »Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, Chief.« Hier mit ihm zusammenzusitzen, während er aufmerksam auf sie heruntersah, fühlte sich viel zu vertraut … zu persönlich an. Sie erhob sich, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. »Und leider können selbst die Besten nicht auf nichts aufbauen, und mehr scheinst du bisher nicht zu haben.«

»Ich will ja nur, dass du es versuchst, das ist alles. Diese Mädchen«, er zeigte auf die Akten, »haben ein Recht darauf, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht.«

Da würde sie ihm nicht widersprechen. »Du kennst die Statistiken.« Falls sie tatsächlich entführt worden waren, waren die Chancen, sie lebend zu finden, minimal – wenn es hoch kam. Das einzig Positive, das sie bisher sah, war, dass sie keine Leiche hatten. Noch nicht.

»Ja.« Er senkte den Kopf mit einer müden, traurigen Bewegung, die den ernsten Ton in seiner Stimme noch unterstrich.

Irgendwann würde sie erfahren, was er verschwieg. Sicher, niemand gestand gern ein, dass es nichts gab, was man tun konnte, wenn jemand vermisst wurde, zumal wenn es um Kinder oder junge Erwachsene ging. Aber diese Getriebenheit, dieses beharrliche Bestehen darauf, dass es sich um ein Verbrechen handelte, das ging über normales menschliches Mitgefühl und berufliches Pflichtbewusstsein weit hinaus. Sie spürte seine Unruhe und seine Sorge wie Vibrationen, die stetig stärker wurden.

»Und die Kollegen ziehen mit?« In ein Hornissennest zu stechen, weil sie jemandem in sein Revier pfuschte, würde ihre ohnehin komplizierte Lage nur verschlimmern. Darauf konnte sie gut verzichten. Sobald die Neuigkeit die Runde machte, würde sie schon genug Ärger haben.

»Sie ziehen mit. Du hast mein Wort.«

Jess kannte Daniel Burnett schon ihr ganzes Leben. Er glaubte, dass mehr hinter dem scheinbar zufälligen Verschwinden dieser Mädchen steckte, als auf den ersten Blick zu sehen war. Wenn seine Gefühle nicht sein Urteilsvermögen beeinträchtigten, lag er mit seinem Bauchgefühl nur selten daneben. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er gewusst, dass sie sich von ihm trennen würde, noch bevor sie es selbst und zu ihrer eigenen Überraschung erkannt hatte. Genauso wie er gewusst hatte, dass er sie an diesem kalten, stürmischen Abend in diesem verdammten Publix hatte haben können. Auf sein Bauchgefühl würde sie immer wieder setzen.

Nur hatte sie nie darauf zählen können, dass er sich für sie entschied statt für seine persönlichen oder beruflichen Ziele. So alt ihrer beider Geschichte auch war, das Loch, das sie in ihrem Herzen hinterlassen hatte, war nie ganz verheilt. Doch obwohl sie diese bittere Wahrheit kannte, hielt sie unwillkürlich die Luft an, als sie darauf wartete, was als Nächstes kam.

»Ich brauche deine Hilfe, Jess.«

Jess. Die weichen, tiefen Nuancen seiner Stimme strichen über ihre Haut, und unversehens war alles wieder wie vor zehn Jahren.

Nur würde sie dieses Mal dafür sorgen, dass sie nicht zusammen im Bett landeten.

2

Andrea Denton kniff die Augen zusammen und versuchte gegen die Wirkung der Droge anzukämpfen. Was für eine weiße Tablette das war, die zu schlucken man sie gezwungen hatte, wusste sie nicht, wohl aber, dass sie schlecht für sie war. Die anderen Mädchen wirkten wie Zombies. So würde Andrea auch werden, wenn sie sich nicht mehr anstrengte. Das durfte sie nicht zulassen.

Also stolperte und torkelte sie in der Dunkelheit auf und ab wie eine Betrunkene.

Die anderen beiden Mädchen kauerten in der Ecke und wagten sich nicht zu rühren.

Andrea drehte sich der Magen um, doch sie kämpfte gegen den Würgereiz an. Eine Handvoll Erde nach der anderen hatte sie von dem nackten, festgetrampelten Boden gekratzt und sie sich in den Mund gesteckt. Wie viele wusste sie nicht mehr. Vielleicht war es dumm, und wahrscheinlich hatte sie Rattenkacke und was nicht sonst noch alles geschluckt, aber immer wenn ihre Freunde dermaßen breit waren, aßen sie alles, was ihnen unter die Augen kam, und tanzten und liefen und hüpften herum, um den Alkohol oder die Drogen, die sie zum Feiern eingeworfen hatten, wieder abzubauen.

Alles war besser, als nichts zu tun.

Sie schleppte sich weiter. Ein- oder zweimal stieß sie gegen die metallenen Etagenbetten, die an der Wand aufgereiht standen. Die Federn quietschten schrill, wenn sie gezwungen wurden, sich hinzulegen. Das und der Haferbrei waren ihre einzige Möglichkeit, die Zeit zu messen. Ins Bett mussten sie wohl abends. Und Haferbrei gab es morgens. Ihr Kopf schmerzte, wenn sie versuchte sich zu erinnern, wie lange sie schon hier war. Drei Plastikschalen mit klumpigem, ungesüßtem Haferbrei.

Auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit hatte sie sich einmal durch den ganzen Raum getastet. Als eine Ratte über ihre Hände lief, hatte sie fast einen Herzanfall bekommen. Sie schauderte. Aber sie hatte weitergesucht. Es gab eine Tür, doch die war aus Stahl und hatte auf dieser Seite weder eine Klinke noch ein Schloss. Ein Kasten mit Wasserflaschen, von denen sie so viele, wie sie konnte, heruntergestürzt hatte, stand in einer Ecke, in der anderen ein stinkender Topf mit einem Deckel als Toilette.

Nach dem ersten Tag hatte sie ihn benutzen müssen und sich von dem Gestank übergeben, der ihr entgegenschlug, als sie den Deckel hob. Nun war sie fest entschlossen, sich erst wieder darauf zu setzen, wenn sie absolut nicht mehr einhalten konnte. Die Wände waren aus Erde und Backstein, außer der, wo die Tür war, die fühlte sich anders an. Wie Holz oder so. Sie fand, es roch nach Keller. So wie der im Haus ihres Großonkels. Er hatte Andrea immer gesagt, es würde dort spuken, damit sie sich nicht heimlich hinunterschlich. Irgendwann hatte sie dann aber doch seine schmutzigen Magazine und seinen Vorrat an Gras entdeckt. Zwielichtiger alter Taugenichts.

Als diese bösen Leute sie hierher gebracht hatten, hatte sie nichts sehen können, weil ein Sack über ihrem Kopf gewesen war. Vielleicht waren sie in einer Höhle, doch das glaubte sie nicht. In einer Höhle wäre der Boden aus Stein. Wahrscheinlich jedenfalls. Dieser Raum hier roch wie ein Keller.

Doch auch der starke muffig-feuchte Geruch konnte den Gestank von menschlichen Exkrementen nicht überdecken, wo die anderen sich in die Hose gepinkelt hatten oder Schlimmeres. Wahrscheinlich, dachte Andrea, waren sie zu bedröhnt gewesen oder hatten zu viel Angst gehabt, um es bis zum Topf zu schaffen. So etwas passierte auch manchmal, wenn Menschen starben. Sie erschauerte. Wollte nicht ans Sterben denken.

Wo war sie bloß? Warum hatten diese Irren sie und die anderen entführt? Ging es um Geld? Das Zittern fing wieder an, erst in ihren Beinen, dann in ihren Armen.

Vielleicht planten sie etwas wirklich Schlimmes. Wie im Film, wenn sie ihre Opfer folterten oder sie in Stücke schnitten.

Sie musste hier raus.

Geh weiter. Geh einfach weiter. Dir fällt schon noch was ein. Ihre Mutter musste außer sich sein. Ihr Vater vielleicht auch. Und Dan. Tränen brannten in ihren Augen, als Andrea die Arme um ihren Oberkörper schlang. Er hatte sie vor so etwas immer gewarnt. Und sie hatte auf ihn gehört. Sie war clever. Immer vorsichtig. Sie trank nie zu viel, so wie einige ihrer Freunde.

Aber sie hatte nicht damit rechnen können, dass das Böse, vor dem Dan sie gewarnt hatte, in Gestalt einer freundlichen, Coupons sammelnden Dame kam. Andrea hatte sie schon oft im Walmart um die Ecke gesehen. Immer mit einem dieser übertrieben großen Ordner voller Plastikhüllen, in denen die ganzen Coupons steckten. Sie hatte Andrea erzählt, dass sie die Coupons aus den Zeitungen ausschnitt, die andere weggeworfen hatten. Und Andrea war so dumm gewesen, ihr vorzuschlagen, in Wohngegenden wie ihrer die Papiercontainer zu durchsuchen.

Von da an hatte Andrea der Frau alle Coupons gebracht, mit denen die Mittwochs- und die Sonntagszeitung vollgestopft waren, die dann im Papierabfall landeten. Sie hatten sich sogar noch gemeinsam amüsiert über diese verrückte Coupon-Parade. Ein bitterer Geschmack stieg ihr in den Mund. Niemals hätte sie einer Fremden vertrauen dürfen, auch nicht einer, die so mütterlich aussah.

Ein dumpfer Knall über ihrem Kopf ließ sie erstarren. Ihr Herz hämmerte. Kamen sie etwa zurück?

Andrea konnte nicht atmen … konnte nicht denken. Die Stille dröhnte in ihren Ohren, als sie angestrengter horchte als je in ihrem Leben. Ihr Herz schlug schneller und schneller, bis ihre Brust schmerzte.

Bitte, lass sie nicht zurückkommen!

Das letzte Mal hatten sie ein Mädchen mitgenommen. Andrea versuchte sich an den Namen zu erinnern. Mason oder Macy.

Sie war lange weggeblieben, stundenlang, so war es ihr vorgekommen.

Obwohl Andrea die Hand vor Augen nicht sah, hob sie den Blick zur Decke. Sie hatte weder Schreie noch Weinen von dort oben gehört. Vielleicht taten sie dem anderen Mädchen ja gar nichts. Vielleicht war dies hier nur ein Irrtum … ein Scherz. Der verrückte Streich einer Studentinnenverbindung. Wenn diese idiotischen Zicken dahintersteckten, konnten sie aber was erleben.

Ein weiterer Schlag über ihr ließ sie zusammenzucken. Die dicht aneinandergedrängten Mädchen in der Ecke begannen zu stöhnen und zu schluchzen. Mit jedem bebenden Atemzug, der ihre Lungen füllte, wurde ihr Jammern lauter und lauter.

»Seid still!«, flüsterte Andrea. »Sonst hören sie euch!«

Doch die anderen hörten nicht auf. Sie presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte sie nicht hören. Sie wollte nicht hier sein. Einem Mädchen, das so intelligent und vorsichtig wie sie war, sollte so etwas nicht zustoßen.

Eine Tür knallte.

Das Stöhnen und Schluchzen brach ab, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Schwere Schritte hallten in der Dunkelheit.

Sie kamen!

Adrenalin raste durch Andreas Adern und lichtete den Nebel in ihrem Kopf. Doch die Starre blieb.

Lauf! Sie konnte nirgends hinlaufen.

Versteck dich! Sie konnte sich nirgends verstecken.

Wehr dich! Sie war zu schwach, um sich zu wehren.

Warmes Pipi rann an ihren Schenkeln hinab.

3

Das Büro des Sheriffs von Jefferson County,

17:00 Uhr

Dan sah zu, wie Jess die Fotos an der magnetischen Pinnwand anbrachte und dann eine Zeitleiste malte. Unter jedes Foto schrieb sie die relevanten Informationen. Name. Adresse. Die Namen der Familien und engen Freunde. Dann das Datum, die Zeit und den Ort des Verschwindens.

Er war so erschöpft, dass er Mühe hatte, sich zu konzentrieren. Die letzten drei Tage hatte er praktisch durchgearbeitet, und nichts war dabei herausgekommen.

Er starrte die Fotos an, und wieder stieg dieses Gefühl von Zerknirschung und Panik in ihm auf. Wie war es bloß möglich, dass sein und zwei weitere Departments das Leben dieser Mädchen bis ins kleinste Detail durchleuchtet und trotzdem keine Resultate vorzuweisen hatten?

Jess baute sich vor dem kleinen Grüppchen auf, das sich am Besprechungstisch versammelt hatte, und rückte ihre Brille zurecht.

Seit wann trug sie eigentlich eine Brille? Er kniff die Augen zu und kämpfte gegen einen Anflug von Melancholie an. Dass sie tatsächlich hier war, erstaunte ihn immer noch. Und machte ihm Angst. Im Grunde hatte er erwartet, dass sie seine Bitte ablehnen würde. Doch sie hatte alles stehen und liegen lassen und war hergekommen.

Nach dieser Nacht vor zehn Jahren – die Erinnerung daran hatte sich für immer in sein Hirn gebrannt – hätte er es ihr nicht übel genommen, wenn sie ihn abgewiesen hätte.

Zwanzig Jahre lang hatte er ihren beruflichen Werdegang aus der Ferne verfolgt. Jessie Harris war die Karriereleiter des FBI hochgesaust wie ein Feuer einen Berghang in der trockensten Periode im August. Laut seinem Kontaktmann in der hiesigen Zweigstelle gehörte sie zu den cleversten Profilern in ganz Quantico. Sie besaß die natürliche Fähigkeit, die Motive eines ihr gänzlich Fremden mit unheimlicher Genauigkeit zu durchschauen.

Vor ein paar Jahren hatte er dann aufgehört, sich nach ihr zu erkundigen. Er musste sich um sein eigenes Leben kümmern. Zwei gescheiterte Ehen, das waren zwei zu viel. Er hatte Annette getroffen und beschlossen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen und eine richtige Familie zu gründen.

Nur war es so nicht gekommen. Annette war zu ihrem Ex zurückgekehrt, und damit endete die Geschichte. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Dieser Fall war viel zu wichtig, er durfte jetzt nicht abgelenkt sein. Eine Pause war überfällig, wie ihm klar wurde. Sein Verstand brauchte dringend eine Pause. Doch so verlockend der Gedanke auch war, diesen Luxus konnte er sich nicht leisten.

»Meine Herren«, sagte Jess laut und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, dann hielt sie kurz inne. »Und Detective Wells«, ergänzte sie mit einem knappen Nicken zu dem einzigen anderen weiblichen Mitglied der Sonderkommission. »Ich habe für Sie ein vorläufiges Profil erarbeitet. Sie finden es dort auf dem Tisch.« Sie zeigte auf den säuberlichen Stapel gehefteter Blätter in der Mitte des Besprechungstisches.

Auf jedem Deckblatt prangte das Logo BPD, Birmingham Police Department, nicht das des FBI. Logisch. Jess war ja nicht in offizieller Eigenschaft hier. Dan fragte sich, wie ihr Mann es wohl fand, dass sie ihrem ehemaligen Liebhaber so bereitwillig zu Hilfe eilte. Der Ehering, den sie trug, war schlicht, kein auffälliges Schmuckstück. Trotzdem hatte er den zarten Goldreif sofort bemerkt, als er sie in seinem Vorzimmer stehen sah.

Konzentrier dich, Dan.

Der Stapel wurde herumgereicht. Die letzte Kopie des Profils landete in seinen Händen. Er schlug das Deckblatt auf und hielt inne. Blätterte eine Seite um, dann noch eine. Alle sahen gleich aus. »Die Seiten sind leer.« Was zum Teufel tat sie da?

Patterson, Griggs und die beiden Detectives starrten wie Dan erst auf die makellos weißen Seiten herab und dann die Frau an, die vor ihnen stand.

Sie wartete mit den Händen in den Hüften, bis das Gemurmel verstummte. Dann deutete sie auf die Blätter in ihren Händen und sagte: »Das ist das Profil, das ich aufgrund der Ermittlungsergebnisse erarbeiten konnte, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben.«

Dan öffnete den Mund, um eine Erklärung zu verlangen, doch sie brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. »Wenn Sie«, sagte sie mit einem anklagenden Seitenblick auf ihn, »mich hergerufen haben, damit ich Ihre Arbeit für Sie tue, dann haben Sie Ihren Charme und meine Geduld stark überschätzt.«

»Was soll das heißen, Donnerwetter noch mal?«, verlangte Griggs zu wissen.

Roy Griggs machte schon zu lange Polizeiarbeit, um sich von irgendwem herumkommandieren zu lassen, auch nicht von Quanticos Spitzenprofiler. Dan fiel es schwer zu glauben, dass Jess so eine Nummer abzog, ohne etwas damit erreichen zu wollen. Es musste einen Grund geben. Und besser einen guten.

Jess nickte dem dienstältesten Cop zu. »Haben Sie noch etwa zwei Minuten Geduld, dann erkläre ich es Ihnen mit Vergnügen.«

Dan entspannte sich. Seine Lippen zuckten, doch er verkniff sich das Lächeln. Der Fall hatte nichts Lustiges, verdammt. Es lag an ihr. Er hatte fast vergessen, wie gern sie sich mit den Autoritäten anlegte – mit jeder Art von Autorität. Mehr als zwei Jahrzehnte im Nordosten hatten sie nicht sehr verändert. Sie kleidete sich eleganter, aber hinter der schicken Fassade war sie immer noch die alte Jess, darauf würde er wetten. Wenn die Lady etwas zu sagen hatte, erwartete sie, dass jeder im Raum ihr genau zuhörte. Ganz gleich, wer sich gerade im Raum befand.

»Es gibt zwei mögliche Erklärungen für das Verschwinden dieser jungen Frauen.« Sie lenkte die Blicke aller auf die Fotos an der Pinnwand. »Die eine ist«, sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihr aufmerksames, wiewohl verärgertes Publikum reihum an, »dass sie aus freiem Willen fortgegangen sind und nicht gefunden werden wollen. Sie sind alle alt genug, um diese Entscheidung nach ihrem Gutdünken treffen zu dürfen. Der einzige Grund für die Annahme, sie könnten Opfer eines Verbrechens geworden sein, sind die Aussagen der Familien, die übereinstimmend lauten, dass so etwas untypisch für sie ist. Ehrlich gesagt sind diese Aussagen meiner Meinung nach zu vernachlässigen. Welche Eltern würden schon etwas anderes sagen?«

»Ausgeschlossen«, widersprach Chief Patterson. »Das Szenario haben wir bereits durchgekaut, Agent Harris, und es ist vom Tisch.« Er warf Dan einen wütenden Blick zu. »Ich weiß nicht, warum Sie nicht auf dem Laufenden sind, aber die Parsons kenne ich fast so gut wie meine eigene Familie.«

»Macy und Callie sind Einser-Studentinnen«, ergänzte Griggs. »Es sind brave, intelligente Mädchen. Das würden sie weder sich noch ihren Familien jemals antun.«

»Ich nehme an, auch Sie kennen diese Familien fast so gut wie Ihre eigene«, sagte Jess. »So wie Chief Patterson die Parsons kennt.«

Die Spannung nahm zu und verdrängte die Luft im Raum. Der kurze Anflug von Belustigung über ihre Vorgehensweise verflüchtigte sich, Schweiß trat auf Dans Stirn. Jess musste dringend auf den Punkt kommen. Wenn es ihre Absicht war, alle hier am Tisch Anwesenden gegen sich aufzubringen, war sie auf dem besten Weg dazu.

»Verdammt richtig, ja«, raunzte Griggs.

»Burnett?«, fragte Patterson. »Was soll dieser Zirkus hier?«

»Jess, vielleicht –«

Ein zweites Mal hob sie gebieterisch die Hand, um Dan zum Schweigen zu bringen. »Na schön«, sagte sie ruhig. »Dann sehen wir uns mal die andere Möglichkeit näher an.«

Dan biss die Zähne zusammen, um sich eine Erwiderung zu verkneifen. Nach ihrer unverblümten Zurechtweisung hatte er ziemliche Mühe, sich nicht in den Kreis aus gereizter Säuernis einzureihen, den seine Kollegen bereits bildeten. Jess war als Einzige immer noch kühl und gelassen, und zu ihrer aller Frustration war nicht abzusehen, worauf sie mit ihrer Vorstellung hinauswollte. Diese Leute hier brauchten – er brauchte – dringend Hilfe und keinen Nachhilfeunterricht darin, wie man eine Absicht aufdeckte oder ein Motiv feststellte.

»Es scheint, als wären wir uns alle einig, dass es nur eine plausible Erklärung gibt. Diese Mädchen«, sie deutete erneut auf die Fotos, »hat irgendjemand gegen ihren Willen in seine Gewalt gebracht, und zwar mit der Absicht, ihnen etwas anzutun, sonst hätte es eine Lösegeldforderung gegeben. Wir könnten es folglich hier mit einem Menschenhändlerring zu tun haben, mit einem Sexualverbrecher oder mit einem guten alten Psychopathen.«

Eine gequälte Stille gerann in der Luft und machte das Atmen schwer.

»Wenn das tatsächlich der Fall ist«, fuhr Jess fort, »dann haben Sie«, sie zeigte auf Griggs, »und Sie«, dann auf Patterson, »relevante Details in Ihren Ermittlungen übersehen. Und du auch.« Zum Schluss sah sie Dan an.

Verärgerte Blicke wurden getauscht, doch niemand widersprach. Sie hatte recht. Dagegen war schwerlich etwas zu sagen. Schuldbewusstsein gesellte sich zu der Last, die bereits auf Dans Schultern lag und ihm den Magen zuschnürte.

»Sie sind alle lange genug im Geschäft, um zu wissen, was in diesem Fall und in jedem anderen am wichtigsten ist.« Sie machte eine Pause und stellte Augenkontakt mit jedem einzelnen Mitglied der Sonderkommission her. »Wenn eine Person eine Tat gegen eine andere Person begeht, ob gewaltsam oder nicht, dann steht am Anfang dieser Tat immer ein Motiv. Immer. Ob die Tat nun spontan aus einem Impuls heraus oder mit Vorsatz begangen wurde, es gibt ein Motiv. Ohne Ausnahme. Wer immer diese Mädchen in seine Gewalt gebracht hat, hatte ein Motiv dafür – ganz gleich, ob es ein Täter war oder vier verschiedene.«

Jess ging zum Tisch und beugte sich vor, um sich mit den flachen Händen auf der polierten Holzplatte abzustützen. »Dieses Motiv müssen wir finden. Sonst suchen wir nicht nach vier jungen Frauen«, sie zeigte mit dem Finger auf die Fotos an der Tafel, »sondern nach vier Leichen.«

Die schwere Stille hielt an, einen, zwei, drei Herzschläge lang.

»Haben Sie die weite Reise nur auf sich genommen, um uns zu erklären, was wir nicht wissen, Special Agent Harris?«, meldete sich Griggs zu Wort und brach damit den Bann. »Sollten wir nicht darüber sprechen, was wir wissen?«

Jess richtete sich auf und musterte ihn mit unverhohlener Skepsis. »Ich habe die Befragungsprotokolle der Familien und Freunde gelesen. Ich habe mir die Fotos der Wohnungen und Häuser genau angesehen und die der Orte, an denen die Mädchen zuletzt gesehen wurden. Verzeihen Sie mir meine Offenheit, Sheriff Griggs, aber so weit ich sehen kann, ist das, was Sie wissen, für den Fall nicht weiter relevant. Das, was Sie nicht wissen, gibt den Ausschlag.«

Mit knallrotem Gesicht, die Backen empört gebläht, wollte Griggs schon zurückschlagen, doch Jess kam ihm zuvor. »Diese Mädchen sind nicht verschwunden, ohne dass irgendjemand etwas gesehen oder gehört hat. Möglicherweise ist es nur ein winziges Detail. So klein, dass es der Person, die davon weiß, unbedeutend vorkommt. So alltäglich, dass es nicht weiter auffällt. Aber es ist da, und wir müssen es finden. Wenn alle vier Mädchen von demselben unbekannten Täter entführt wurden, gibt es eine Verbindung, die wir übersehen haben. Diese scheinbar unbedeutende Kleinigkeit, die sie gemeinsam haben, könnte der Schlüssel zu diesem Fall sein.«

»Agent Harris«, sagte Detective Wells, »wir haben nicht mal eine einzige Person gefunden, die alle diese Mädchen kannte. Keinen Freund, Pfarrer oder Arbeitgeber. Niemanden.« Wells schüttelte den Kopf. »Keiner der Bekannten oder Freunde ist vorbestraft oder wegen Gewalttätigkeit aufgefallen oder sonst irgendwie aktenkundig. Wenn wir nach einem Serientäter suchen, müssten dann diese Details, von denen Sie sprechen, nicht in seiner Vergangenheit zu finden sein? Irgendein Hinweis auf auffälliges Verhalten?«

Wells war erst letztes Jahr zum Detective befördert worden und hatte schnell gezeigt, dass sie eine der besten im Birmingham PD war. Trotz seiner zwanzig Jahre Polizeierfahrung rutschte Dan jetzt gespannt an die Kante seines Stuhls. Was würde Jess auf die provokative Frage erwidern?

»Wenn Sie sich näher mit Serienstraftätern beschäftigen, Detective, werden Sie Folgendes feststellen: Egal ob es um Mörder, Vergewaltiger oder simple Spanner geht, die Experten sind sich oftmals nicht einig, ob sie so geboren wurden oder sich aufgrund von Umweltfaktoren dazu entwickelt haben. Aber dieselben Experten sind sich in einem Punkt völlig einig, nämlich dass diese Straftäter alle eines gemeinsam haben: Zum Serientäter wurden sie erst, nachdem sie diese eine erste Tat begangen hatten. Und was das Böse betrifft«, sie zuckte mit einer Schulter, »ich habe mich zwölf Jahre lang mit dem Thema beschäftigt, und eins weiß ich nun sicher.« Ihr Gesichtsausdruck wurde abwesend, irgendwie verletzlich. Sie blinzelte und schien dann wegzuschieben, was immer sie abgelenkt hatte. »Wenn Sie wissen wollen, wie das Böse aussieht, sehen Sie in den Spiegel.«

Sie beugte sich vor, legte die Hände wieder flach auf den Tisch und sah Wells direkt an. »Jeder von uns ist zum Bösen fähig, Detective. Wir haben alle eine Grenze. Dass wir sie nicht überschreiten, unterscheidet uns von den Ed Geins und Charles Mansons dieser Welt.«

»Mit allem gebotenen Respekt, Agent Harris«, meldete sich Patterson zu Wort.

Jess richtete sich zu voller Größe auf, straffte die Schultern und wandte sich zu ihm um.

»Ich bin sicher, wir alle wissen Ihren Vortrag über Motive und übersehene Details zu schätzen, aber ich für meinen Teil würde allmählich gern etwas mehr tun, als nur darüber zu reden, was wir nicht haben und nicht wissen.«

»Sie lesen meine Gedanken, Chief Patterson.« Jess ging langsam zurück zur Tafel und wies darauf. »Wir gehen zurück zur Quelle. Zu den Leuten, die diese Mädchen am besten kennen. Und wir finden das, was wir übersehen haben. Wir hören nicht eher auf, als bis wir es gefunden haben.«

»Was ist mit den Medien? Sollen wir die einschalten?«, wagte Griggs sich vor. »Die Fotos der Mädchen waren auf allen lokalen Kanälen und in den Zeitungen zu sehen. Es wird doch Zeit, dass wir dieses Mittel stärker ausreizen, finden Sie nicht?«

Dan verkniff sich die bissige Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Die flehenden Bitten der Familien um Hilfe, Tausende von verteilten Flyern, die Updates in den Nachrichten – das Thema war praktisch pausenlos in aller Munde gewesen. Dieser Täter fühlte sich von den Medien ganz bestimmt nicht vernachlässigt. »Was willst du da denn noch tun, Griggs? Belohnungen sind ausgesetzt. Die Bevölkerung wurde um Mithilfe gebeten. Dieser Typ beißt einfach nicht an.«

»Nehmen Sie’s nicht persönlich, Burnett«, gab Griggs scharf zurück, »aber ich würde gern hören, wie Agent Harris über diese Frage denkt.«

Ärger stieg in Dan auf und zerrte an den teuflischen Knoten, die ihm den Magen zuschnürten. Der Mann war alte Schule. Das durfte Dan nicht vergessen. Wenn sie diesen Fall lösen wollten, mussten sie alle zusammenarbeiten.

»Die Medien können unsere Verbündeten sein, das steht außer Frage.« Jess rieb sich die Stirn.

Sie war sicher erschöpft von der langen Fahrt. Trotzdem hatte sie seine Einladung zum Mittagessen ausgeschlagen. Sie war immer dünn gewesen, doch jetzt, fand er, war sie zu dünn. Zu blass. Nicht, dass es sie kümmern würde, was er dachte. Und er würde ihr seine Meinung nicht aufdrängen.

»Nach nun fast drei Wochen«, sagte Jess als Antwort auf Griggs’ Vorschlag, »würde ich schlussfolgern, dass Aufmerksamkeit nicht das ist, wonach der Täter sucht. Aus einem ganz einfachen Grund: Er hat sich bisher nicht gerührt. Wenn er mehr Aufmerksamkeit wollte, würden wir es sicher mittlerweile wissen.«

»Also fangen wir noch mal von vorne an«, stellte Patterson fest.

Jess nickte. »Bis wir etwas finden, anhand dessen wir ein Profil erstellen können. Oder bis der Täter uns etwas liefert.«

»Dieses Profil, das ist doch Schnickschnack«, konterte Griggs. »Was soll das bringen, wenn Sie wissen, wie er ist und was er für Motive hat? Man klopft auf den Busch, bringt Bewegung in die Dinge, bis er aktiv wird, das ist meine Erfahrung.«

Jess parierte geschmeidig. »Wir werden auf den Busch klopfen, Sheriff. Und wir werden Bewegung in die Dinge bringen. Und Sie haben mein Wort: Wenn ich ausreichend Daten habe, um mein Profil zu erstellen, dann finden wir ihn. Das ist ein Versprechen.«

»Ich organisiere Termine zur Befragung der Familien«, bot Wells an. »Vor morgen früh wird das allerdings nichts.«

»Warum können wir nicht jetzt gleich anfangen?« Geduld war noch nie Jess’ Stärke gewesen.

»Heute Abend findet ein Gottesdienst für die vermissten Mädchen statt. Dort werden auch die Familien und Freunde erwartet. Ich schätze mal«, fügte Wells mit einem Blick auf Dan hinzu, »das wäre nicht ganz der ideale Rahmen für Befragungen.«

Dan hatte vergessen, Jess von dem Gottesdienst zu erzählen. »Wir haben ein Dutzend verdeckte Ermittler vor Ort und dazu noch zehn in Uniform.«

Tatsächlich mussten auch er und alle am Tisch Anwesenden in einer Stunde dort sein. Verdammt. Nicht genug, dass er Gefahr lief, seine Objektivität zu verlieren, er machte auch Fehler.

»Das muss für heute Abend reichen.« Jess zögerte. »Wells, wir arbeiten zusammen. Stellen Sie mich den Familien und Freunden vor. Es bringt immer etwas, die Zeugen in einem Fall einfach nur zu beobachten.«

»Es wäre mir eine Ehre, Ma’am.«

Wells war offensichtlich beeindruckt von Jess. Patterson und Griggs dagegen tauschten erneut einen skeptischen Blick.