Die Spur des Blutes - Debra Webb - E-Book

Die Spur des Blutes E-Book

Debra Webb

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Beschreibung

Ein Alptraum, den du bis zum bitteren Ende durchstehen musst!

Eric Spears, genannt "Der Spieler", ist ein grausamer Serienmörder. Niemand wurde ihm je gefährlich — bis Special Agent Jess Harris ihn erbarmungslos verfolgte. Nun will er Rache: Sie soll sein neues Opfer werden, eine Marionette, deren Leben er zerstören will. Ihren Job beim FBI hat sie bereits verloren.

Polizeichef Dan Burnett bietet der Profilerin eine neue Stelle in ihrer alten Heimat an. Doch kann Jess riskieren, hier zu bleiben und alle in Gefahr zu bringen, die sie liebt? Besonders Dan, der sie womöglich einfach nur wieder in seinem Leben haben will? Denn der Killer legt eine Spur aus Blut und Tod, die die Ermittlerin zu ihm führen soll. Jess sieht nur einen Ausweg: Sie muss sich dem Mörder ausliefern, um die Gewalt zu beenden. Ein Spiel auf Leben und Tod beginnt ...

"Atemlos und aufregend ... Webb liefert eine packende Handlung, eine starke Protagonistin und einen Helden mit einem Geheimnis so dunkel wie Wasser bei Nacht." Romantic Times

Der zweite Band der Reihe um FBI-Agentin Jess Harris von US-Bestseller-Autorin Debra Webb!

Weitere Thriller mit Jess Harris:

In tiefster Dunkelheit (Band 1)

Berührung des Bösen (Band 3)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 398

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Inhalt

Weitere Titel der Autorin

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

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Weitere Titel der Autorin

In tiefster Dunkelheit

Berührung des Bösen

Über dieses Buch

Nachdem durch ihre Schuld der grausame Serienmörder Eric Spears freigelassen werden musste, hatte sich die FBI-Agentin Jess Harris in ihre Heimatstadt Birmingham in Alabama zurückgezogen. Doch noch während sie der örtlichen Polizei bei den Ermittlungen in einem Fall half, hatte sich Spears, der sich der »Spieler« nennt, an ihre Fersen geheftet und Jess bedrohliche Botschaften gesendet. Sie soll sein neues Opfer werden, seine neue Marionette, deren Leben er zerstören will. Und ehe es sich Jess versieht, steckt sie mitten in den perfiden Machenschaften, die der Spieler für sie ausgetüftelt hat: Nicht nur, dass der Killer Jess’ Kollegin entführt und foltert, er hinterlässt auch eine Spur aus Blut, Tod und Gewalt, die die FBI-Agentin zu ihm führen soll. Doch Spears ist ein Meister der Manipulation – er schafft es, die Beweise so zu verdrehen, dass Jess’ Glaubwürdigkeit infrage gestellt wird. Weder das FBI noch die Polizei sind davon überzeugt, dass der Spieler hinter all den Verbrechen steckt. Es liegt nun an der jungen Frau, dem Killer das Handwerk zu legen. Und dafür muss sie sich auf sein Spiel einlassen – ein Spiel auf Leben und Tod …

Über die Autorin

Debra Webb wuchs auf einer Farm in Alabama auf, wo sie auch heute wieder mit ihrer Familie lebt. Nach einer Reihe von Tätigkeiten, unter anderem für die US-Armee in Berlin und das Raumfahrtprogramm der NASA, veröffentlichte sie 1999 ihren ersten Roman. Seither hat sie zahlreiche Thriller in vielen Sprachen veröffentlicht, insgesamt über vier Millionen Bücher verkauft und wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet.

Debra Webb

Die Spur des Blutes

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Zeller

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Debra Webb

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Impulse«

Originalverlag: Forever, an imprint of Grand Central

Publishing, Hachette Book Group Inc., USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: René Satzer

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: Javietc | AnnaTamila

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-8523-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Die Menschen können sich nicht immer erklären,

warum sie etwas tun.

Joseph Parker (1830–1902):

The Ark of God (Die Lade Gottes)

1

Montag, 19. Juli, 10:31 Uhr

»Haben Sie gewusst, dass ein Tropfen Blut in weniger als sechzig Sekunden vom Herz bis zu den Zehen und wieder zurück wandert?«

Lori Wells ballte die Fäuste, zerrte vergeblich an dem Klebeband, das sie an den Stuhl fesselte, und zwang sich, dem Mistkerl direkt in die Augen zu blicken. »Und haben Sie gewusst, dass jeder einzelne Blutstropfen in meinen Adern einzig und allein danach lechzt, Sie sterben zu sehen?«

Eric Spears lächelte und gab ein Schnauben von sich, das nicht ganz ein Lachen war. »Sie sind so ein tapferes Mädchen, Detective Wells. Ich frage mich, ob das daran liegt, dass Ihr Vater Selbstmord beging, als Sie noch so jung waren.« Er legte den Kopf schief und starrte sie an, als wolle er sich jedes Detail ihres Gesichts einprägen, wie ein Liebhaber, der diesen Augenblick nie vergessen wollte. »Mussten Sie Ihrer Mutter eigentlich helfen, danach das Blut aufzuwischen? Oder sind die Nachbarn gekommen, um Ihnen unter die Arme zu greifen? Das macht man doch bei euch hier unten im Süden so, richtig?«, fügte er mit breitem Südstaaten-Akzent hinzu.

Dreckskerl. Wie konnte er so viel über sie wissen? Vor fünf Tagen hatte er nicht einmal ihren Namen gekannt.

Ein schwerer Seufzer kam zischend über seine Lippen. »Sie sind ganz schön langweilig, Detective.« Er stand auf. »Was kann ich dagegen tun?«

Neue Angst sickerte durch ihre Eingeweide. Lori riss den Kopf hoch und starrte in diese durchdringenden blauen Augen. Nein. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun. Sie setzte eine ausdruckslose Miene auf, damit er nicht sah, wie der Riss des Entsetzens, der sie durchlief, breiter wurde.

»Was ist los, Eric? Kriegen Sie keinen hoch, wenn ich nicht weine wie ein verängstigtes kleines Mädchen?« Überlass ihm nicht die Kontrolle.

Wütend presste er die Lippen aufeinander. Er holte mit einer Hand aus.

Sie wappnete sich für den Schlag.

Er lachte über ihren instinktiven Reflex. Ließ die Hand seitlich herabsinken. »Sieh mal an, Sie sind ja doch ein verängstigtes kleines Mädchen. Ehrlich gesagt finde ich diese vorgetäuschte Tapferkeit ziemlich öde.«

»Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.«

Er gab ein zustimmendes Geräusch von sich. »In der Tat.« Fünf oder sechs Sekunden lang überlegte er, als wüsste er noch nicht recht, wie er weiter vorgehen sollte. »Sie wissen, warum Sie hier sind. Warum sollten wir uns unsere gemeinsame Zeit unangenehmer als nötig machen? Es wäre für uns beide sehr viel einfacher, wenn Sie kooperierten, Lori Doodle.«

Wie konnte er es wagen, sie so zu nennen! Den Kosenamen hatte ihr Vater ihr gegeben … dieser Abschaum hatte kein Recht dazu. Sie brauchte weder ihn noch ein Navi, um zu wissen, worauf das Ganze hier hinauslief. »Sie können mich mal.«

Sie hatte nicht vor, es ihm leicht zu machen. Umbringen würde er sie sowieso.

Spears kehrte ihr den Rücken und ging mit langen Schritten durch den Raum.

Jetzt, wo das Licht an war, sah sich Lori hastig um, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis darauf, wo zur Hölle sie war.

Er hatte ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt, gleich nachdem er sie mit vorgehaltener Waffe gezwungen hatte, in seinen SUV zu steigen. Dadurch war es ihr während der Fahrt unmöglich gewesen, die Entfernung zu schätzen oder sich anhand der Verkehrsgeräusche zu orientieren. Sie fühlte sich immer noch ein wenig benommen. Ihr Mund war trocken. Sie straffte die Schultern und konzentrierte sich darauf, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie musste wachsam sein, auf alles gefasst, was auch immer als Nächstes kommen mochte. Denk daran, was du gelernt hast, lass dich von deiner Intuition leiten.

Konzentrier dich, Lori.

Ein Lagerhaus, erkannte sie. Sicher schon älter. Es roch nach Verfall und ganz leicht nach Öl oder Fett. Backsteinwände ragten etwa sechs Meter hoch auf zu einem von Stahlträgern gestützten Dach. Anderthalb bis zwei Meter über ihr leuchteten nackte Neonröhren an Metallhalterungen. Ein abgestandener Geruch lag in der Luft. Sie versuchte einen Blick hinter sich zu werfen, doch es gelang ihr nicht. An der Wand zur ihrer Rechten reihten sich Holzkisten, was darauf schließen ließ, dass das Lagerhaus kürzlich zu irgendeinem Zweck genutzt worden war. Sie kniff die Augen zusammen, um den Stempel auf einigen der Kisten zu entziffern … GRIMES. Der Name sagte ihr gar nichts, obwohl sie schon ihr ganzes Leben hier verbrachte.

In Birmingham gab es etliche verwahrloste und leer stehende Gebäude … in vielen war sie schon gewesen, aber in diesem hier nicht. Von ihrem Platz aus in der Mitte der großen offenen Halle konnte sie eine Tür sehen. Vielleicht ein Ausgang. Vielleicht auch nur ein Büro oder eine Toilette.

Alles, was sie brauchte, war eine Gelegenheit, zu dieser Tür zu gelangen … vorausgesetzt, es war keine Sackgasse.

Wie ein alter Filmstreifen spulten sich in ihrem Kopf Bilder davon ab, was dieses Monster seinen anderen Opfern, allesamt Frauen, angetan hatte. Hoffnungslosigkeit nagte an ihrem Mut.

Spears packte den einzigen anderen Stuhl in der Halle und zog ihn hinter sich her bis zu der Stelle, wo sie saß – an Handgelenken, Knöcheln und Taille mit reißfestem Klebeband an einen schweren Metallstuhl gefesselt. Er schob seinen Stuhl dicht an sie heran und setzte sich breitbeinig hin, sodass seine Knie neben ihren waren. Sie presste die Beine fester aneinander, wollte nicht, dass er irgendetwas von ihr berührte. Wollte nicht einmal seinen Geruch einatmen.

So wie sein dezentes Aftershave zeugte auch seine Kleidung von unaufdringlicher Eleganz. Die dunkelblaue Anzugjacke kam nicht von der Stange, so etwas gab es nicht in Läden, wo die Männer einkauften, die sie kannte. Das weiße Hemd war frisch und blütenrein, als hätte er es eben erst aus der Reinigung abgeholt. Die Jeans saßen wie maßgeschneidert. Die perfekte Verpackung für seine klassisch attraktive Gestalt mit dem blonden Haar und den blauen Augen.

Wenn du wissen willst, wie das Böse aussieht, schau in den Spiegel.

Jess Harris hatte absolut recht damit. Eric Spears alias der Spieler sah ganz und gar nicht aus wie der perverse Mörder, der er, wie Lori wusste, war. Warum machte er sich die Mühe, Frauen zu entführen, wo er sie doch mit diesem umwerfenden Lächeln, dieser tiefen, weichen Stimme ganz einfach in seine Höhle locken konnte?

Die Jagd. Das war es, was ihn reizte … was seine abscheulichen Begierden anfachte.

Lori wünschte, sie wüsste nur die Hälfte von dem, was Jess über ihn wusste. Dann könnte sie vielleicht mehr tun als nur ein verdammtes Opfer sein.

Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie sie, noch bevor sie Jess kennenlernte, in den Nachrichten gehört hatte, dass nicht ein einziges Opfer des Spielers ihm jemals lebend entkommen war.

Ihre Brust tat weh. Sie wollte nicht sterben. Ihre Schwester brauchte sie. Ihre Mutter brauchte sie. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie vermutlich in Sicherheit waren. Sobald Chief Burnett und Jess entdeckten, dass sie vermisst wurde, würden sie alle Hebel in Bewegung setzen, um ihre Familie zu schützen.

Und Chet Harper. Lori dachte an den Detective, den Mann, der so viel mehr von ihr wollte, als sie ihm bisher gegeben hatte. Hätte sie ihn wohl auch dann so hartnäckig abgewiesen, wenn sie gewusst hätte, was ihr bevorstand?

Spears gab ihr einen Stups unters Kinn, damit sie ihn ansah.

»Lassen Sie uns eines klarstellen, Detective. Egal, wie sehr Sie mich auch in Versuchung führen mögen, hier geht es nicht um Sie«, erklärte er ihr in dem ruhigen, abgeklärt wirkenden Ton, den jede seiner Taten Lügen strafte. »All Ihre harte Arbeit, um den angesehenen Rang des Detectives früher zu erreichen als die meisten Ihrer Generation, bedeutet mir nichts.« Er zupfte an einer Locke ihres Haars, drehte sie zwischen den Fingern. »Dass Sie äußerst attraktiv sind, bedeutet mir gar nichts.«

Mit klopfendem Herzen wartete Lori darauf, dass er aussprach, was er von ihr wollte – abgesehen von ihrem Leben.

»Ich habe Sie hierhergebracht, damit Jess mir ihre Aufmerksamkeit schenkt«, flüsterte er und lehnte sich so weit vor, dass er Nase an Nase mit ihr war. »Glauben Sie, dass ich ihre Aufmerksamkeit nun bekomme?«

Angst strapazierte ihre Selbstbeherrschung, drohte übermächtig zu werden, doch Lori zeigte keinerlei Regung. Sie würde sich nicht von ihm benutzen lassen, um Jess zu treffen. Auf keinen Fall.

Ich bin vielleicht ein Opfer, aber ich werde mich nicht als Werkzeug hergeben, damit er an Jess herankommt.

»Sie hat mir alles über Sie erzählt.« Lori zwang sich zu lächeln, neigte den Kopf und musterte sein Gesicht, so, wie er ihres studiert hatte. »Was ist passiert? Hat Mommy Sie nicht beschützt, wenn Daddy Sie ihr vorgezogen hat? Ist das der Grund, warum Sie Frauen so sehr hassen?«

Seine Hand fuhr an ihre Kehle; starke Finger drückten zu, schnitten ihr die Luft ab. »Spielen Sie nicht mit mir, Detective. Es gibt Dinge, die werden Sie nie verstehen, also verschwenden Sie nicht Ihre Zeit und Ihre Energie mit dem Versuch, mich zu analysieren. Sie werden genauso wenig Erfolg haben wie die anderen vor Ihnen.«

Jetzt hatte sein Ton nichts Freundliches mehr. Die Angst, gegen die sie angekämpft hatte, schlug ihre Krallen tief in ihr Bewusstsein.

Er ließ sie los. Sie schnappte nach Luft. Ihre Gedanken rasten verzweifelt im Kreis. Alles, was Jess ihr erzählt hatte, kollidierte immer wieder mit dem, was ihr Bauchgefühl ihr sagte.

Sollte sie sein Spiel mitspielen oder sich verweigern? Was er am Ende mit ihr machte, daran würde sich ohnehin nichts ändern. Aber möglicherweise konnte sie Zeit gewinnen oder ihn verwirren, indem sie nicht wie erwartet reagierte.

»Glauben Sie, dass ich ihre Aufmerksamkeit bekomme?«, wiederholte er.

»Ja.« Lori räusperte sich und wünschte, sie hätte einen Schluck Wasser. »Ich bin mir sicher, Sie bekommen ihre Aufmerksamkeit.«

»Schon besser«, sagte er leise. »Und jetzt erzählen Sie mir etwas über diesen Chief Daniel Burnett.«

Sie tat einen tiefen, rauen Atemzug, entschlossen, sich nicht von der Angst beherrschen zu lassen. »Was ist mit ihm?«

»Was für ein Interesse hat er an Agent Harris?«

Lori konzentrierte sich. Pass auf, was du sagst. Liefere ihm keine Munition. »Sie ist eine top Fallanalytikerin und Ermittlerin. Wir brauchten ihre Hilfe bei einem Fall. Ihretwegen ist sie jetzt wahrscheinlich arbeitslos.« Die Wut darüber, was er Jess angetan hatte, trieb die Furcht ein wenig zurück. Er hatte Jess’ Karriere beim FBI ruiniert.

»Man tut, was man tun muss. Sie hat oben in Richmond ganz schön viel Wirbel verursacht, als sie freundlicherweise alle Chancen auf eine Anklage gegen mich zunichte machte.« Sein Achselzucken wirkte eher arrogant als gleichgültig. »Es war wichtig, die öffentliche Aufmerksamkeit abzulenken. Jetzt befasst sich alle Welt mit ihrer Inkompetenz statt mit der präzisen Arbeit eines meisterhaften Künstlers.« Ein leises selbstzufriedenes Lachen drang aus seiner Kehle. »Hübsche Ironie des Schicksals, was?«

»Meinen Sie? Tja, dann passen Sie mal gut auf, Sie Arschloch.« Jetzt stinksauer sah Lori ihm direkt in die Augen. Als sein Blick argwöhnisch wurde, genoss sie den kurzen Moment des Triumphes. »Jess Harris ist viel zu clever, viel zu intelligent und viel zu gefragt, als dass so ein Stück Scheiße wie Sie ihr etwas anhaben könnte. Wenn das FBI sie wirklich entlässt, wird Chief Burnett ihr hier eine erstklassige Position anbieten, Sie werden schon sehen.«

Das war reine Spekulation, aber Lori hatte den Verdacht, dass der Chief Jess unter keinen Umständen wieder gehen lassen würde, und zwar aus Gründen, die nichts mit ihren Fähigkeiten als Ermittlerin zu tun hatten. Ganz gleich, was Spears ihr antat, er durfte nicht erfahren, dass der Chief tiefere Gefühle für Jess hegte. Denn dann würde auch er zur Zielscheibe.

»Ganz recht, Eric«, fuhr sie fort. Sie musste sein offensichtliches Bedürfnis ausnutzen, etwaige strategische Schwächen zu analysieren. »Sie können sie gar nicht aufhalten. Und wenn Sie glauben, das FBI gibt die Jagd nach Ihnen auf, bloß weil Sie ihnen einen Sündenbock geliefert haben, dann wartet noch eine bittere Enttäuschung auf Sie, fürchte ich. Die werden Sie nämlich kriegen – mit oder ohne Jess in ihrem Team.«

Seine Augen wurden schmal, als wäre er besorgt, dass sie recht haben könnte. Und dann lachte er – ein tiefer, gutturaler Laut, der überall um sie herum widerhallte. »Sie sind ziemlich gut, Detective.« Er beugte sich näher, als wollte er ihr ein Geheimnis verraten. »Dann habe ich jetzt ganz heiße Neuigkeiten nur für Sie. Das Spiel ist nämlich gelaufen. Sie werden niemals ihr Ziel erreichen.« Er streckte eine Hand aus und fuhr mit der Fingerspitze über ihre Wange. Sie schauderte. »Jetzt beginnt ein ganz neues Spiel, und als Spielerin dafür brauche ich Jess.«

»Sie brauchen sie?«, stieß sie angewidert hervor.

Er zuckte die Achseln. »Ich will, dass sie mitspielt. Verzetteln wir uns nicht in Wortklaubereien. Werden Sie mir helfen, Lori Doodle?«

»Habe ich denn eine Wahl?« Das war eine rein rhetorische Frage, die Antwort war klar. Ganz gleich, was sie tat oder nicht tat, er würde immer eine Möglichkeit finden, es für sich zu nutzen. Tränen brannten in ihren Augen. Sie blinzelte. Nein, sie würde nicht weinen, damit dieser Drecksack sich daran ergötzen konnte.

»Man hat immer die Wahl, Detective.« Wieder hoben sich seine Mundwinkel zu diesem charismatischen Ausdruck, der das Grauen dahinter verbarg. »Sogar jetzt noch. Riskant leben oder schnell sterben. Es ist Ihre Entscheidung.«

Sie lachte trotz der Furcht, die sich in ihrer Kehle zusammenballte. »Erwarten Sie wirklich, dass ich glaube, Sie lassen mich leben, wenn ich kooperiere? Wow, der Weihnachtsmann ist schon da, dabei haben wir erst Juli. Verschonen Sie mich!«

»Oh ja, das werde ich. Sie haben mein Wort«, versprach er. »Ein Weilchen wenigstens.«

Das hatte sie sich gedacht.

»Bedenken Sie wohl Ihre Optionen, Detective Lori Wells.« Wieder hielt er sein Gesicht dicht vor ihres. »Je länger Sie am Leben bleiben, desto wahrscheinlicher ist es, dass Ihr Wunsch sich noch erfüllt. Wer weiß?« Er richtete sich auf und lehnte sich etwas zurück, um ihr in die Augen zu sehen. »Vielleicht erleben Sie ja wirklich noch meinen Tod. Schließlich lebt niemand ewig.«

Er stand auf und zog seinen Stuhl weg von ihr.

»Während Sie Ihre Optionen abwägen, suche ich jemanden, der Ihnen Gesellschaft leistet.« Er lachte. »Eigentlich bin wohl eher ich derjenige, der Gesellschaft braucht. Sie sind wirklich ausgesprochen langweilig.«

Loris Herz hämmerte ihr bis zum Hals.

Sie musste etwas tun … sonst würde er auf die Jagd gehen und …

»Warten Sie!«

Er blieb stehen.

»Ich kann nicht … Lassen Sie mich hier nicht allein. Bitte.«

Er drehte sich langsam um. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Aha … dann wollen Sie also spielen, ist das so?«

Sein einziges Motiv ist das Vergnügen, flüsterte Jess’ Stimme in ihr Ohr. Das kann er nur empfinden, indem er seine Opfer auf abnormste Weise foltert.

»Ja.« Lori leckte sich über die Lippen, kämpfte gegen die Panik an. »Ich will spielen.«

2

Five Points, 10:42 Uhr

Zwei uniformierte Beamte der Polizei von Birmingham warteten vor der Tür zu Lori Wells’ Einzimmerapartment im ersten Stock. Am Straßenrand parkten drei Streifenwagen mit stummen Sirenen und ausgeschaltetem Blaulicht.

Jess Harris stand neben Chief Dan Burnetts SUV und blickte sich um. Zwei Apartmenthäuser und sieben Einfamilienhäuser säumten die stille Straße. Five Points war ein buntes Viertel. Neben den kürzlich zugezogenen jungen Berufstätigen, die am Anfang ihrer Karriere standen, fanden sich sicher auch einige Ruheständler, die schon hier lebten, seit die Häuser in den Fünfzigern erbaut worden waren.

Hoffentlich waren ein paar von ihnen zu Hause gewesen und hatten etwas beobachtet, das ihnen weiterhalf. Die Nachbarn waren bereits befragt worden.

Als wollte sie diese schwache Hoffnung trüben, klebte ihre Bluse an ihrer schweißfeuchten Haut. Keine Kinder auf der Straße, keine bellenden Hunde. Bei der drückenden Hitze an diesem Morgen blieben die Kinder und Haustiere lieber drinnen – und wahrscheinlich auch jeder andere, der sich möglicherweise zu Hause aufgehalten hatte, als Lori Wells entführt worden war.

Hätte Jess nicht so tödliche Angst gehabt, sie wäre fuchsteufelswild geworden.

Dies war ihre Schuld. Ihr war der Spieler gefolgt, bis hierher – und Lori musste jetzt dafür büßen. Es juckte ihr dermaßen in den Fingern, ihm eine Kugel direkt zwischen die Augen zu verpassen.

Lass mich nur noch ein Mal in deine Nähe, Spears.

»Der Erkennungsdienst ist seit vier Minuten raus«, sagte Burnett, ging um die Kühlerhaube herum und trat zu ihr auf die Straße.

Er war genauso erschüttert wie Jess, sonst wäre er schon längst im Haus. Lori gehörte zu seinem Team. Und sie war Jess’ Freundin, wenn auch erst seit ein paar Tagen.

Wie zum Teufel hatte sie das nur zulassen können? Sie hatte einen Fehler gemacht … einen schrecklichen, schrecklichen Fehler. Sie musste einen Weg finden, es wiedergutzumachen … diesen Soziopathen aufzuhalten.

Jess folgte Burnett über die Straße, an den Einsatzwagen vorbei und den Gehweg hinauf zu dem, was nun ein Tatort war, vor Angst wie benommen. Es war Zeit, dass sie sich zusammenriss.

Sie musste jetzt alles richtig machen, für Lori.

Die beiden Officers grüßten ihren Chief of Police, als sie und Burnett sich der Tür näherten. Drinnen wartete Sergeant Chet Harper mit grimmiger Miene. Nein, nicht nur grimmig, elend und erschrocken.

Es tut mir leid!, hätte Jess am liebsten geschrien. Ich wollte nicht, dass das passiert.

Ruhig … bleib ruhig.

Was bereits geschehen war, konnte sie nicht ändern, aber das hier, das hatte sie in der Hand. Noch einmal würde der Spieler ihr nicht entkommen.

Nachdem sie Schuhschützer und Handschuhe übergezogen hatte, betrat sie die Wohnung und ließ ihre Gefühle vor der Tür zurück. Jeder Fall verdiente, dass sie ihr Bestes gab, doch dieser hier berührte sie persönlich. Ihre Gefühle außen vor zu lassen würde diesmal sehr viel mehr Disziplin erfordern als sonst.

Sie konnte es … sie musste es können.

Burnett blieb draußen, um einen Anruf entgegenzunehmen.

»Die Tür war angelehnt, als ich kam«, erklärte Chet in ruhigem, ernstem Ton. »Der Barhocker war umgekippt.« Mit der behandschuhten Hand wies er auf den kleinen Tresen mit den beiden Hockern, der die Kochecke vom Wohnbereich der Einzimmerwohnung trennte. »Ein Glas Orangensaft auf dem Couchtisch war ebenfalls umgefallen.«

Jess ging zu dem alten Schrankkoffer, der Lori als Couchtisch diente. Die trocknende Orangensaftlache hatte auf dem hellen Teppich einen Fleck hinterlassen. Ein halb gegessener Bagel lag auf einer Serviette. Als sie den Blick erneut durch den Raum wandern ließ, dieses Mal langsamer, bemerkte sie auf dem Boden neben dem Bett eine Wellnesshose und ein T-Shirt. Lori war aufgestanden und hatte sich für die Arbeit angezogen. Beide Türen, sowohl die des Schranks als auch die zum Badezimmer, waren geschlossen.

»Was ist mit ihrem Handy?«

»Das habe ich nicht gefunden.«

Chet war sichtlich erschüttert. Lori war nicht nur Burnetts Kollegin, sondern auch seine. Doch für Chet war sie noch mehr. Er wollte eine Beziehung mit Lori. Jess hatte den Verdacht, dass sie sich körperlich bereits nähergekommen waren. Sie wusste auch, dass sie fürs Erste emotionale Distanz brauchte, indem sie die Detectives mit Nachnamen und ihren Rängen ansprach, obwohl sie sich eigentlich mit ihnen duzte, nachdem sie die letzten beiden Tage so eng zusammengearbeitet hatten.

Dieses Ereignis änderte alles.

Sie musste das Opfer entpersonalisieren. Lori. Ihre neue Freundin.

»Was ist mit ihrer Handtasche? Schlüssel?«

Chet – nein, Harper schüttelte den Kopf.

»Ihr Wagen?«

»Der Mustang ist nicht auf ihrem Parkplatz oder woanders auf der Straße.«

Dass Spears Detective Wells’ Privatwagen genommen hatte, war unwahrscheinlich. Das entsprach nicht seinem Tatmuster. »Geben Sie mir ein paar Minuten, Sergeant.«

»Ja, Ma’am.«

Jess ging durch den Raum zum Kleiderschrank. Ordentlich, aufgeräumt. Falls irgendetwas verändert worden war, war es unmöglich, das festzustellen. Auch im Badezimmer fand sich nichts Unerwartetes außer dem Beweis, dass Wells fast zwanghaft pedantisch war. Jess lächelte mit leicht zittrigen, ein bisschen steifen Lippen. Kein normaler Mensch war dermaßen ordentlich.

Aber andererseits: Was war schon normal?

Jess strich mit den Fingern an dem Bademantel herunter, der neben der Dusche hing. »Sei stark, Lori«, murmelte sie. »Ich finde dich.«

Sie blinzelte, als ihr die Tränen in die Augen traten.

Zurück im Hauptraum ließ Jess den Blick ein letztes Mal langsam durch die Wohnung schweifen, bevor sie den Weg frei machte. Die Kriminaltechniker waren eingetroffen, und Harper wartete neben der Tür. Jess ging zu ihm, um mit ihm zusammen zu warten. Sie wünschte, sie könnte etwas sagen, um ihm Mut zu machen, doch es gab nichts.

Die Wahrheit war, dass die Chancen äußerst schlecht standen. Es war unwahrscheinlich, dass diese Sache ein gutes Ende nahm. Furcht und Wut schnürten ihr die Kehle zu. Der Spieler hatte seinen Zug gemacht. Es gab keinen Weg zurück. Nichts konnte ihn davon abhalten, den nächsten zu tun.

Das hätte ich sein sollen.

»Die Telefongesellschaft versucht Loris Handy zu orten«, sagte Burnett, als er zu ihnen an die Tür trat und damit Jess von ihren quälenden Gedanken ablenkte.

»Ich habe ein Update von den Kollegen bekommen, die die Nachbarn befragen. Bisher hat niemand Detective Wells das Haus verlassen sehen«, ergänzte Harper. In seiner Stimme schwang die gleiche Verzweiflung, die auch in seiner Miene lag. Er sah von Burnett zu Jess, dann auf den Boden, als ginge es über seine Kräfte, ihrem Blick standzuhalten.

Harper und all die anderen wussten es … wussten, dass dies Jess’ Schuld war.

Bleib bei der Sache. Um einen Tatort zu begutachten und Schlussfolgerungen zu ziehen, war Objektivität nötig. Du darfst das hier nicht vermasseln.

»Es spielt keine Rolle, ob wir einen Augenzeugen finden.« Jess schob Angst und Selbstmitleid beiseite und suchte nach Anomalien in der ansonsten makellosen Ordnung der Wohnung. »Detective Wells hat das Haus allein verlassen.«

»Wie kommst du darauf?« Burnett klang, als überraschte ihn ihre Folgerung.

»Aber es hat ein Kampf stattgefunden«, widersprach Harper. Über die starken Gefühle, die sein Gesicht zerfurchten, legte sich Erstaunen.

»Es gibt keine Anzeichen für einen Kampf, meine Herren.« Jess zeigte auf das umgekippte Glas. »Wells hat gefrühstückt, als sie einen Anruf erhielt, der sie erschreckte.« Sie wies auf den Hocker am Boden. »Den hat sie umgeworfen, als sie sich ihre Tasche und die Schlüssel geschnappt hat.« Auch zwanghaft pedantische Menschen ließen ihre Schlüssel auf die Ablage fallen, die der Tür am nächsten war. »Wer immer der Anrufer war, er hat sie durcheinandergebracht. Ihr regelrecht Angst gemacht. Detective Wells hatte es eilig. Deswegen hat sie sich nicht vergewissert, ob die Tür auch wirklich zu war. Deswegen haben wir ihr Handy nicht gefunden. Sie hat es mitgenommen, als sie mit ihrem Mustang weggefahren ist.«

»Ich habe ihre Mutter und ihre Schwester angerufen«, wandte Harper ein, offensichtlich verwirrt. »Es ging niemand dran. Wahrscheinlich sind sie schon bei der Arbeit. Ihre Mutter ist –«

»Wohnen ihre Schwester und ihre Mutter zusammen?« Auf einmal glaubte Jess zu wissen, was sich abgespielt hatte.

»Ja, Ma’am.«

»Schicken Sie eine Einheit dorthin.« Eine neue Angst schnürte ihr die Luft ab. »Sofort.« Die Gefühle, die sie gehofft hatte, in Schach halten zu können, überrollten sie.

Lori Wells hatte ihre Wohnung Hals über Kopf verlassen, ohne sich zu vergewissern, ob die Haustür sicher verschlossen war. Etwas hatte sie zu Tode erschreckt. Das ursprünglichste aller menschlichen Gefühle war der Schutzinstinkt. Wenn ein geliebter Mensch in Gefahr schwebte, war alle Vernunft vergessen.

Burnett machte den Anruf.

Jess wandte sich an Harper. »Wir müssen auf dem schnellsten Wege dorthin.«

Wenn sie richtig lag, und Jess hatte das ungute Gefühl, dass es so war, dann hatten sie es mit drei Opfern zu tun statt mit einem.

Overton Heights, 11:38 Uhr

Wie Jess vorhergesehen hatte, stand Lori Wells’ roter Mustang in der Einfahrt neben dem grauen Impala, der ihrer Mutter gehörte. Vom Beifahrersitz von Burnetts SUV aus musterte Jess durch die getönte Scheibe Haus und Vorgarten. Das Halbgeschosshaus war aus den Siebzigern, teils brauner Backstein, teils beige Verkleidung. Es lag auf der Hangseite der Straße, die Einfahrt führte steil bergan und verschwand in der angebauten Garage. Nichts rührte sich. Alles wirkte ganz normal.

Doch drinnen sah es möglicherweise ganz anders aus. Sie wollte da rein. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, während sie hier saß und darauf wartete, dass das Zugriffsteam seine Arbeit erledigte.

Und wenn sie drin waren … und die Familie Wells ermordet worden war …

Erneut stieg Panik in ihr auf, und sie verzog gequält das Gesicht. Das Verlangen, auf der Stelle ihre Schwester anzurufen, um ihre Stimme zu hören, war so groß, dass ihr die Brust eng wurde. Lily und ihre Familie waren zu Hause und in Sicherheit, unter Polizeischutz. Wenn es Probleme gab, würde Jess es sofort erfahren. Denn man würde Burnett unverzüglich anrufen.

Das Schicksal hatte anscheinend ihre Gedanken gehört und wollte die Spannung noch etwas steigern, denn Burnett, der hinterm Steuer saß, verlagerte das Gewicht und griff nach seinem Handy. Das drückende Band um ihre Brust zog sich enger. Warum stellte er das verdammte Ding ständig auf Vibration? Eine kleine Vorwarnung wäre nett gewesen.

»Besitzt die Schwester ein Auto?«, fragte Jess Harper, während Burnett leise mit dem Anrufer sprach. Mit ihren achtzehn Jahren hatte Terri Wells, Loris jüngere Schwester, sicher entweder einen eigenen Wagen oder nutzte den ihrer Mutter mit.

»Das ist in der Werkstatt, Ma’am«, sagte Harper vom Rücksitz. »Terri fährt einen blauen Cobalt. Lori – Detective Wells hat mir gesagt, dass er in der Werkstatt ist.«

Lori verschwunden … ihre Familie möglicherweise tot – verdammt, Jess sollte da drinnen sein! Was zur Hölle dauerte bloß so lange?

Verfluchter Eric Spears und seine Spielchen!

Er war hier, in Birmingham. Daran gab es keinen Zweifel mehr. Nicht nur Helfershelfer, sondern das Monster selbst … der Spieler. Das Paket, das heute Morgen geliefert worden war, reichte ihr als Beweis.

Er hatte Lori entführt und Jess per Eilsendung ihre Polizeimarke geschickt – ins Büro des Polizeichefs.

Zu dem Schmerz und der Frustration, die sich in ihrer Brust breitmachten, kam Furcht.

Der Mistkerl hatte eines seiner Spielchen begonnen … hier … nur für sie.

Atme durch und konzentrier dich, Jess.

Burnett beendete das Gespräch. »Die Telefongesellschaft bestätigt, dass Detective Wells’ Handy das letzte Mal mit einem Sendemast in diesem Gebiet verbunden war.« Er schob das Handy zurück in das Etui an seiner Hüfte. »Sieht aus, als hättest du auf Anhieb richtig gelegen, Jess. Dein Instinkt hat uns wertvolle Zeit gespart.«

Jess dachte nach. Sie war auf der richtigen Spur. Wells hatte ihre Wohnung fluchtartig verlassen, um hierherzukommen. Diese Bestätigung milderte keineswegs ihre Sorge darüber, was sie dort drinnen vorfinden würden. Die Chancen, dass Detective Wells’ Mutter und Schwester eine Begegnung mit dem Spieler überlebt hatten, standen schlecht bis aussichtslos.

Ob sie nun kostbare Zeit gespart hatte, wirkte sich im großen Plan des Spielers letztendlich kaum aus.

An einem Entführungstatort hinterließ er weder Spuren, noch Zeugen, noch Leichen, niemals. Zumindest nicht, soweit die Ermittlungen des FBI es ergeben hatten. Wenn in diesem Haus noch jemand am Leben war, wäre das ein Präzedenzfall. Schon dadurch, dass er dieses verdammte Paket an Jess geschickt hatte und nicht an ein Familienmitglied, hatte er die Spielregeln geändert.

Das konnte bedeuten, dass sich auch noch anderes an seinen sadistischen Methoden geändert hatte.

Bitte lass sie nicht tot sein.

Jess wollte rein in dieses Haus … jetzt sofort. Sie wollte, dass da drinnen alle am Leben waren. Und sie wollte Detective Wells finden … bevor er fertig mit ihr war.

»Was dauert denn so lange?«

Burnett musterte sie mit einem langen, besorgten Blick.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie, bevor er das Offensichtliche aussprechen konnte.

Auch wenn Spears sich zweifellos längst nicht mehr im Haus der Wells aufhielt, mussten sie laut Vorschrift den Tatort mit Vorsicht betreten. Das Zugriffsteam des BPD hatte sich dem Haus über die Straße genähert, die hinter Overton entlangführte. Sobald sie in Stellung waren, konnten sie reingehen.

Jess sah nach der Uhrzeit. Noch zwei Minuten vielleicht.

Die Sekunden zogen sich wie Stunden.

»Machen wir uns fertig.« Burnett öffnete seine Tür und stieg aus.

Aufregung ließ ihren Puls im Trommelfeuer-Rhythmus hämmern, als Jess ihm folgte. Ihre Knie waren wie aus Gummi. Sie drängte die Angst zurück, es war wichtig, dass sie objektiv war und blieb. Nur so konnte sie optimal funktionieren – da waren keine Gefühle erlaubt, nichts, das sie ablenken konnte.

Harper war schon ausgestiegen und zog seine Kevlar-Weste an. Burnett reichte Jess eine. Obwohl er einen Verwaltungsjob hatte, war er immer noch überraschend gut ausgerüstet, das musste sie ihm lassen. In seinem Luxusmercedes fuhr er ein regelrechtes Arsenal spazieren, das für alle Eventualitäten vorsorgte – Schusswaffen, alles, was zur Spurensicherung nötig war, Werkzeug und Erste-Hilfe-Utensilien.

Alte Gewohnheiten sitzen tief, dachte sie.

Sie legte die Weste an und schlang sich ihre Tasche über die rechte Schulter. Von wegen gut ausgerüstet: In ihrer Tasche schleppte sie selbst ein beeindruckendes Ermittlerarsenal herum, inklusive ihrer Glock Kaliber .40, die nicht unerheblich zu ihrer schlechten Körperhaltung beitrug.

Sie und Lori hatten noch darüber gescherzt, wie schwer es für weibliche Ermittler war, allzeit bereit und trotzdem schick zu sein. Männer hatten dieses Problem nicht.

Jess hörte, wie Burnett bestätigte, dass die Funkverbindungen standen, dann folgte sie ihm und Harper zwischen dem Haus der Wells und ihrem nächsten Nachbarn den Steilhang hoch, die dichten Hecken nutzten sie als Deckung. Die Mitglieder des Zugriffsteams waren jetzt in Position und überprüften die Fenster danach, ob irgendwo ein Einstieg möglich war.

Der Einsatzleiter gab das Kommando, das Haus durch die Tür zu betreten. Aufregung packte Jess.

Endlich.

Die verdammten hohen Absätze behinderten sie. Als sie sich heute Morgen angezogen hatte, hatte sie vorgehabt, sich zu verabschieden. An ein neues Jobangebot hätte sie nicht im Traum gedacht, und schon gar nicht an das hier.

Warum hatte Spears ihr nicht einfach aus der Stadt folgen können, um an einer Tankstelle irgendwo zwischen hier und Virginia zuzuschlagen? Oder gleich dort auf sie gewartet?

Weil er wusste, dass er sie hiermit am meisten treffen konnte.

Er weidete sich an der Angst seiner Opfer, und er wusste, dass er so dieses allzu menschliche Gefühl sowohl in seinem Opfer als auch in Jess hervorrief.

Sie durfte ihn nicht gewinnen lassen.

Als sie mit gezogener Waffe die Stufen zur Veranda erreichte, hatte das Zugriffsteam das Haus betreten.

Und Jess musste sich eingestehen, dass sie viel zu viel Zeit hinter einem Schreibtisch und einem Computerbildschirm verbracht hatte, denn sie war völlig außer Atem, und ihre Waden schmerzten. Verdammte Schuhe.

Eine Ewigkeit verging, ein winziger Bruchteil nach dem anderen, bevor die nächste Ansage über Funk kam.

Alles gesichert. Zwei Opfer … lebend.

Zitternd vor Erleichterung schob Jess die Waffe zurück in ihre Tasche und lief eilig durch die offene Haustür.

Gott sei Dank.

Harper ging sofort zu Detective Wells’ Mutter, um ihr die Fesseln abzunehmen. Der Einheitsleiter befreite die Schwester, Terri.

Jess trat innerlich einen Schritt zurück und versuchte erneut, sich von ihren Emotionen zu befreien. Sie besah sich die Haustür genauer. Keine Anzeichen gewaltsamen Eindringens, was bedeutete, dass die Tür für Spears aufgeschlossen worden und nach seinem Weggang auch so geblieben war. Andernfalls hätte das Zugriffsteam einen Rammbock eingesetzt.

In dem L-förmigen Wohnzimmer, das in ein Esszimmer überging, schien nichts in Unordnung gebracht worden zu sein. Nur zwei Esszimmerstühle waren in die Mitte des Wohnzimmers gezogen worden, auf denen Mutter und Tochter saßen, mit Klebeband gefesselt und geknebelt.

»Er hat meine Schwester!«, schrie die jüngere Frau, sobald sie sprechen konnte. Sie wischte sich das Gesicht mit den Handrücken ab. »Er hat Lori mitgenommen! Sie müssen sie finden!« Schluchzend stürzte sie zu ihrer Mutter.

Sie umarmten sich, verständlicherweise völlig aufgelöst.

Burnett beugte sich näher zu Jess. »Ich nehme die Schwester.«

»In der Küche«, schlug Jess vor. Je schneller sie die beiden trennten, desto geringer war das Risiko, dass sie ihre Aussagen aneinander anglichen. Zeugen erinnerten sich viel besser, wenn ihr Gedächtnis nicht davon beeinflusst wurde, was ein anderer über dasselbe Ereignis sagte.

»Mrs Wells«, sagte Jess über Harper hinweg, der vor der Frau hockte und sie mit sanften Worten zu beruhigen versuchte, »wenn Sie dazu in der Lage sind« – Jess warf Harper einen scharfen ›Reißen Sie sich zusammen‹-Blick zu – »haben wir ein paar Fragen an Sie.«

»Wie wär’s auf dem Sofa«, schlug Harper vor, »da haben Sie es bequemer?«

Die Frau sah aus wie Ende fünfzig. Sie hatte noch Morgenmantel und Hausschuhe an. Die Schwester war offenbar schon angekleidet gewesen und hatte sich auf den Weg zur Arbeit machen wollen, als der unerwartete Besucher erschien. Harper hatte erwähnt, dass sie in den Sommerferien in einem Buchladen in der Innenstadt arbeitete. Die Mutter war Teilzeit in einer Kinderkrippe beschäftigt. Beide hatten das gleiche dunkle Haar wie Lori, nicht aber ihre grünen Augen. Beide reagierten verstört darauf, getrennt zu werden, als Burnett die Tochter in die Küche führte.

Harper ließ sich neben Mrs Wells auf dem Sofa nieder. Jess wandte sich an ihn und sagte: »Warum holen Sie Mrs Wells nicht ein Glas Wasser? Und Sergeant …«

Er begegnete ihrem Blick.

»Lassen Sie sich Zeit.«

Harper protestierte nicht, obwohl sie in seinen Augen sah, dass es ihm nicht gefiel.

Jess stellte ihre Tasche auf den Boden und streifte die Weste ab. Die meisten Zeugen fanden die Polizeiausrüstung einschüchternd. Dies war immerhin Loris Mutter … und selbst wenn sie sicher ein wenig vertraut mit der Polizeiarbeit war, ihre Tochter wurde vermisst, und sie hatte Angst.

Jess hockte sich auf die Kante des Sofas und nahm die Hand der Frau. »Mein Name ist Jess Harris. Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihre Tochter zu finden. Ich weiß, wie schrecklich das alles ist.« Sie drückte kurz die zitternde Hand. »Aber wir brauchen Ihre Hilfe, um zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Okay?«

Mrs Wells nickte und holte dann bebend Luft.

»Fangen wir doch ganz am Anfang an«, schlug Jess sanft vor.

»Ich habe gerade Frühstück gemacht, als er an die Tür klopfte.« Mrs Wells zog ihren Morgenmantel an den Aufschlägen enger um sich. »Ich dachte, es wäre vielleicht Lori, die vor der Arbeit noch einmal kurz reinschaut.« Ein zittriges Lächeln hob ihre Mundwinkel. »Das macht sie manchmal. Vor allem wenn sie weiß, dass ich Pfannkuchen mache.«

Jess schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Sie verstand. Zwischen Pfannkuchen und einem Bagel fiel die Wahl nicht schwer.

In der Tür war ein Guckloch, doch Mrs Wells hatte nicht hindurchgeschaut. Das wusste Jess, auch ohne dass die Frau es ihr bestätigte. Sie würde sich noch schuldig genug fühlen, wenn ihr die Konsequenzen ihrer Handlungsweise aufgingen. Es gab keinen Grund, ihr die Sache noch schwerer zu machen.

Wenn Spears es wollte, hätte er sich so oder so Zutritt zu diesem Haus verschafft.

»Sie haben die Tür geöffnet«, vermutete Jess, »aber es war nicht Lori.«

Mrs Wells nickte. Erneut traten ihr die Tränen in die Augen. »Er … hat sich einfach an mir vorbeigedrängt. Er hatte eine Pistole in der Hand. Er hat mir befohlen, mich hinzusetzen.« Sie wand die Finger in den Stoff an ihrem Hals. »Terri war noch in ihrem Zimmer. Ich habe gebetet, dass sie ihn hört und die Polizei ruft, aber das hat sie nicht.« Mrs Wells zeigte auf den Flur auf der anderen Seite des Zimmers. »Sie kam angerannt, und er hat sie gepackt … oh Gott.« Bei der Erinnerung an den durchlebten Schrecken bebte ihr ganzer Körper. »Er hat ihr die Pistole an den Kopf gehalten.«

Dann brach Mrs Wells zusammen, und Jess wartete geduldig, bis sie sich wieder gefasst hatte. Der schlimmste Albtraum aller Eltern war für sie wahr geworden.

»Er hat mir befohlen, Lori anzurufen und ihr zu sagen, dass ihre Schwester gestern Abend nicht nach Hause gekommen wäre … und dass auch eine ihrer Freundinnen vermisst würde.« Wieder rang sie um Fassung. »Lori sagte, sie wäre schon unterwegs.« Tränen rannen über ihre Wangen. »Dann hat er uns mit dem Klebeband so gefesselt, dass wir uns nicht mehr bewegen konnten. Terri hat er gleich ein Stück über den Mund geklebt.« Ihre Lippen zitterten. »Aber mir hat er Fragen gestellt, während er auf Lori wartete.«

»Was für Fragen?« Kälte sickerte in Jess’ Knochen.

Harper wartete ein paar Schritte entfernt. Jess nickte ihm zu, und er stellte ein Glas Wasser auf den Tisch neben die aufgewühlte Frau.

»Er … er wollte alle Kosenamen wissen, die sie als Kind gehabt hatte.« Ihre Brust hob und senkte sich, als sie tief durchatmete. »Ihr Vater hat sie Lori Doodle genannt. Zuerst habe ich mich geweigert zu antworten, aber dann hat er Terri diese Pistole ins Gesicht gedrückt und gedroht, es würde mir leid tun, wenn ich nicht ganz schnell antworte.«

Harper bot der armen Frau ein Taschentuch an. Sie tupfte sich Augen und Wangen ab.

»Hatte er noch mehr Fragen?«, fragte Jess, damit sie weitersprach.

Sie befeuchtete sich die Lippen. »Er wollte wissen, warum sie unter Höhenangst leidet.« Mrs Wells schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht, wovon er sprach.«

Aber Jess wusste es leider. »Leidet Lori denn unter Höhenangst?«

Mrs Wells schüttelte erneut und entschiedener den Kopf. »Nein.« Sie lachte, ein gequälter, schwacher Laut. »Na, das Mädchen ist als Kind auf jeden Baum in diesem Garten geklettert. Dieser Mann ist ein Lügner. Kommt hierher und sagt, die Lori, die er kennt, hätte Höhenangst.« Sie bewegte den Kopf hin und her. »Ich glaube nicht, dass er meine Lori kennt.«

Jess versuchte das Hämmern ihres Herzens zu beruhigen, doch ohne Erfolg. »Haben Sie ihn aufgeklärt, Mrs Wells?«

Sie nickte heftig. »Ich sagte ihm, dass er, wenn er Lori kennen würde, wüsste, dass Lori vor nichts in der Welt Angst hat, außer vor Wasser. Seit sie einmal fast ertrunken ist, als sie zehn war, geht sie nicht mal mehr in die Badewanne. Nur unter die Dusche. Nie in die Badewanne.«

Jess hielt ganz still und wartete auf den Rest.

»Er lachte und sagte etwas wie ›ach ja, stimmt ja‹.« Ihr Gesicht legte sich in ängstliche und unglückliche Falten. »Dann hat er mir den Mund zugeklebt und auf Lori gewartet.«

Endlose Möglichkeiten, wie die verschiedensten Wasserquellen zur Folter benutzt werden konnten, wirbelten Jess durch den Kopf. Sie blinzelte die allzu lebendigen Bilder fort. »Mrs Wells, können Sie den Mann, der das getan hat, beschreiben?«

Harper zückte sein Handy, um sich Notizen zu machen. Anscheinend benutzte außer Jess niemand mehr Stift und Papier. Sie mochte es, ihre Notizen auf die altmodische Art zu machen und durchzugehen. Tatsächlich liebte sie einfach den Geruch eines frisch gespitzten Bleistifts und von sauberem, frischem Papier.

Dass ein solch banaler Gedanke ihr gerade jetzt durch den Kopf ging, war ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass sie sich auf unsicherem Boden bewegte.

Spears hatte sie genau da, wo er sie haben wollte … sie hatte Angst.

»Er war groß, sicher über eins achtzig.« Mit zitternder Hand nahm Mrs Wells einen Schluck Wasser. »Dunkelblondes Haar.« Sie wiegte den Kopf. »Eher blond, würde ich sagen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube, er hatte blaue Augen.«

Während sie sprach, entstand vor Jess’ innerem Auge Eric Spears’ Bild. »Irgendwelche besonderen Gesichtsmerkmale? Narben? Muttermale?« Spears hatte keines von beidem. Jess war sich zwar sicher, dass er es war, aber sie durfte trotzdem nicht einfach davon ausgehen.

Mrs Wells forschte einige Sekunden in ihren Erinnerungen. »Nein. Er war …«

Obgleich sie sehr gut wusste, was als Nächstes kommen würde, wartete Jess, um ihr nichts in den Mund zu legen oder sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.

»Er war gut gekleidet. Wie ein teurer Anwalt oder so.« Ihr Blick begegnete dem von Jess. »Ein gut aussehender Mann. Niemand, von dem man annehmen würde, dass er so etwas Schreckliches tut.« Bei den letzten Worten schwankte ihre Stimme.

Auch ihre eigene Hand war ganz und gar nicht sicher, als Jess in die Tasche griff und ihr Handy herausholte. Sie rief das einzige Foto auf, das sie von dem Mann, dessen Geburtsurkunde, Pass und Sozialversicherungsnummer ihn als Eric Spears auswiesen, besaß – dem Mann, von dem sie sicher wusste, dass er der Spieler war – und zeigte es Mrs Wells.

Ihr Atem stockte. »Ja.« Sie nickte. »Das ist er.«

Jess ließ das Handy in ihren Schoß sinken. »Was ist dann passiert?«

Harper wurde mit jeder Frage unruhiger. Er stand nicht mal einen Meter von ihnen entfernt. Seine Objektivität war ebenso beeinträchtigt wie die von Jess.

»Er wartete an der Tür, bis Lori da war. Als sie öffnete, hat er sich dahinter versteckt.« Mrs Wells zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, sie war so überrascht, uns beide gefesselt zu sehen, dass sie einfach stehen blieb und guckte.« Die arme Frau tat einen zittrigen Atemzug. »Er trat hinter sie und befahl ihr, ihm ihre Waffe und ihr Handy zu geben.«

Sie hielt inne. Ihr Gesicht war eine Maske aus nackter Angst, als sie sich an diesen aufwühlenden Moment erinnerte.

»Zuerst hat Lori sich geweigert, aber dann warnte er sie, dass er erst mich und Terri und dann sie tötet, wenn sie nicht genau das tut, was er sagt. Ich wollte ihn anflehen, dass er mich an ihrer Stelle nimmt, aber das Klebeband …« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat so getan, als würde er mich nicht hören.«

Das Team der Spurensicherung traf ein, zwei Techniker packten ihre Ausrüstung aus. Mrs Wells blickte von ihnen zu Jess.

»Das geht in Ordnung, Mrs Wells. Diese Herren sind hier, um Beweise zu sichern, die uns möglicherweise helfen, Lori zu finden.« Jess versuchte ihre Lippen zu einem passablen Lächeln hochzuziehen, doch es gelang ihr nicht. »Die machen ein bisschen Durcheinander, aber glauben Sie mir, es ist wichtig, um diesen furchtbaren Mann zu finden, der heute Morgen in Ihr Heim eingedrungen ist.«

Sie hasste es, diese grausame Killermaschine einen Mann zu nennen. Er war ein Monster. Ein krankes, abscheuliches Monster, das Frauen zum Vergnügen folterte und tötete.

Ihr Magen zog sich zusammen, als erneut die Panik in ihr hochstieg.

Als die Techniker ihr Material aufgebaut hatten, drückte Jess aufmunternd die Hand der Frau. »Das machen Sie prima. Bitte fahren Sie fort. Ihre Hilfe ist für uns von entscheidender Bedeutung.«

Mrs Wells nickte. »Lori hat ihm ihr Handy und ihre Waffe gegeben, und er hat sie gezwungen, mit ihm mitzugehen. Ich … ich …« Sie ließ das Gesicht in ihre Hände sinken und schluchzte. »Ich konnte … nichts tun.«

Jess legte ihr den Arm um die bebenden Schultern. »Lori weiß, dass Sie nichts hätten tun können. Ich verspreche Ihnen, dass sie in diesem Moment nur an Ihre und Terris Sicherheit gedacht hat. Sie ist ein guter Detective, Mrs Wells. Sie weiß in jeder Situation, was zu tun ist. Denken Sie immer daran.«

»Wer ist dieser Mann?« Mrs Wells starrte Jess an. »Was will er?«

»Das wissen wir noch nicht mit Sicherheit.« Details aus dem gnadenlosen Tatmuster Spears’ preiszugeben, würde zu diesem Zeitpunkt nichts bringen, würde sie nur noch mehr in Angst und Schrecken versetzen. Leider hatte sie vermutlich bereits in den Nachrichten von dem Spieler gehört und würde irgendwann eins und eins zusammenzählen, aber von Jess sollte sie es nicht erfahren. Zumindest nicht jetzt. Jetzt konnte Mrs Wells nichts Besseres tun, als weitere Fragen zu beantworten. »Können Sie mir bitte beschreiben, was er anhatte? Ganz genau?«

Mrs Wells runzelte die Stirn. »Eine dunkle Anzugjacke. Schwarz oder dunkelblau.« Sie fasste sich an den Hals. »Ein weißes Hemd. Und Jeans, glaube ich.«

»Sie haben nicht zufällig nach draußen gucken können und gesehen, was er für ein Auto fuhr?« Jess vermutete, dass die Antwort Nein lautete, aber fragen schadete nie. Vielleicht hatte sie auf dem Weg zur Tür einen Blick aus dem Fenster geworfen und einen fremden Wagen auf der Straße bemerkt, ohne sich etwas dabei zu denken. Oftmals fiel den Zeugen doch noch etwas ein, wenn man genug gezielte Fragen stellte.

»Ich dachte, Lori wäre an der Tür. Ich habe gar nicht nach draußen gesehen.«

Jess erkannte, dass der Frau vorerst nichts Relevantes mehr einfallen würde. »Mrs Wells, brauchen Sie ärztliche Hilfe?«

»Nein. Nein.« Sie packte Jess’ Hand. »Finden Sie meine Tochter, mehr brauche ich nicht.«

»Ich verstehe. Eine letzte Frage, Ma’am.«

Mrs Wells sah sie erwartungsvoll an.

»Trug der Mann Handschuhe? Oder etwas, um sein Gesicht zu verbergen oder unkenntlich zu machen? Irgendetwas?«

»Keine Maske, keine Sonnenbrille. Nichts dergleichen.« Sie zögerte. »Aber er trug Handschuhe. Solche aus Latex, wie die von Ärzten und Krankenschwestern, nur dass sie dicker wirkten.« In ihren Augen war zu sehen, wie es ihr allmählich dämmerte. »So wie die meiner Friseurin, wenn sie mir die Haare färbt.«

»Ich danke Ihnen, Mrs Wells.« Jess stemmte sich hoch. »Wir haben möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt noch weitere Fragen an Sie.«

Jess ließ Harper bei der Frau und ging in die Küche.

Burnett hatte die gleiche Geschichte von der Tochter, Terri, gehört.

Als Terri ins Wohnzimmer zu ihrer Mutter gegangen war und er und Jess allein waren, fragte Burnett: »Warum hat er sie sein Gesicht sehen lassen?«

Gute Frage. Auf die es keine gute Antwort gab.

Bis vor zwei Monaten war Spears für alle Welt nichts weiter als ein wohlhabender, zurückgezogen lebender Geschäftsmann aus Richmond gewesen. Dann hatten Jess’ Ermittlungen ihn mit mindestens sechs grässlichen Morden in Verbindung gebracht, begangen durch einen Serienmörder, den man den Spieler nannte. Dieser bis dahin unbekannte Täter, der Spieler, war den Behörden seit über fünf Jahren immer wieder entwischt … und die Zahl seiner Opfer lag bei mindestens dreißig. Auch wenn ihre Ermittlung am Ende im Sande verlief, war Jess absolut sicher, dass Spears der Spieler war. Doch sie konnte es ihm einfach nicht nachweisen. Es gab nicht einen einzigen Beweis, der ihn auch nur mit einer Parksünde in Verbindung gebracht hätte, geschweige denn einem Mord.

Das FBI hatte keine andere Wahl gehabt, als ihn gehen zu lassen. Die darauf folgende Medienhatz wegen der stümperhaften Ermittlungen war für Jess’ Karriere vernichtend gewesen. Ihr Vorgesetzter hatte sie dazu verdonnert, Urlaub zu nehmen, bis der Staub sich gelegt hatte. Woraufhin sie die erste Gelegenheit ergriffen hatte, aus Virginia zu flüchten. Aber es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen, in ihre Heimatstadt Birmingham.

Denn er war ihr gefolgt.

Nun plötzlich entführte er eine Polizistin und ließ zwei Zeugen zurück, die ihn als Eric Spears identifizieren konnten?

Irgendetwas daran war fürchterlich falsch.