Zwölf Türen zum Glück - Reinhard Wagener - E-Book

Zwölf Türen zum Glück E-Book

Reinhard Wagener

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Beschreibung

Das Paradies liegt in der Gegenwart Wir Menschen sind bedürftige Wesen. All unser Handeln beruht auf dieser Tatsache. Doch was brauchen wir wirklich? Was brauchen wir, nachdem die für unser Überleben notwendigen Bedürfnisse gestillt sind? Wir sehnen uns nach einem glücklichen und erfüllten Leben, verstricken uns dabei aber in einem Handeln, das nicht zu der erhofften Fülle führt. Wir fühlen uns unzufrieden und glauben, von allem mehr zu brauchen, um die Lücke schließen zu können. Dabei suchen wir vor allem in der Außenwelt, ohne je an einem Ort anzukommen, an dem unsere Bedürfnisse erfüllt sind, sich auflösen und einer tiefen Entspannung Platz machen. Erst in der Begegnung mit einer tieferen Dimension unserer Bedürfnisse können wir entdecken, dass die Erfüllung schon immer in unserer Innenwelt auf uns gewartet hat. Erst das Verstehen der Bedürfnisse hinter den Bedürfnissen kann unser Handeln so verändern, dass es der Erfüllung dient und unseren Kampf um Ressourcen und die damit verbundenen Konflikte beendet. Wenn Sie Ihre Bedürfnisse besser verstehen wollen und nach Erfüllung jenseits des alltäglichen Hamsterrades suchen, ist dieses Buch für Sie.

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

In meiner langjährigen Arbeit als Psychotherapeut zeigte sich bei aller Unterschiedlichkeit der jeweils zu bearbeitenden Lebenskrisen und häufig leidvollen Lebensgeschichten als zentrales Thema immer wieder ein fehlender oder nur oberflächlicher Zugang zu den eigenen Bedürfnissen. Die Therapiemotivation schien häufig geprägt von dem Wunsch, dem Leiden zu entgehen, ohne aber zu wissen, wo der Weg hinführen sollte. Der Blick blieb dabei auf das Leiden, dessen vermeintliche Ursachen in der Außenwelt und den Wunsch, diese in den Griff zu bekommen, fixiert. Die Frage nach tiefen Bedürfnissen als Wegweiser zum Glück blieb meist unbeantwortet und offenbarte eine Leerstelle in der eigenen Innenwelt, die lange keine Aufmerksamkeit mehr erhalten hatte.

Es schien daher nützlich, Material für ein tieferes Verständnis von Bedürftigkeit und den hinter allem Erleben von Mangel und Angst liegenden tiefen Bedürfnissen bereitzustellen. Dies führte zu der hier vorliegenden Beschreibung von zwölf tiefen Bedürfnissen und zwölf sogenannten Seinszuständen, auf die unsere Bedürfnisse in ihrer Sehnsucht nach Glück und Erfüllung abzielen. Mit den tiefen Bedürfnissen assoziierte Mangelgefühle und tiefe Ängste, die ebenfalls ausführlich dargestellt werden, werden dabei nicht als Hindernisse, sondern als bedeutsame, uns den Weg weisende Durchgangsstadien verstanden und daher nicht zurückgewiesen, sondern umarmt. Wie das Leben in Verbindung mit der Tiefendimension unserer Bedürfnisse jenseits des ständigen Sorgens deutlich leichter und erfüllter werden kann, ist das zentrale Anliegen dieses Buches.

Über den Autor

Reinhard Wagener arbeitete nach einem Studium der Philosophie und einigen Jahren der Tätigkeit als Heilpraktiker 25 Jahre als Psychotherapeut in einer psychosomatischen Reha-Klinik. Seine Arbeit ist geprägt von den Methoden der humanistischen und der systemischen Psychotherapien, gleichzeitig verwurzelt in der Welt christlicher Werte, mit denen er aufwuchs, und der spirituellen Weltsicht des Buddhismus. Keiner traditionellen Schule zugehörig betrachtete er eine zeitgemäße Meditationspraxis neben der Psychotherapie immer als einen zentralen Baustein sowohl der eigenen Entwicklung als auch der Arbeit mit Menschen. Für Fragen und Kommentare erreichen Sie den Autor per E-Mail unter [email protected]

Inhalt

Einleitung

Bedürftigkeit

Fragen

Gefühle

Freude

Wut

Angst

Trauer

Leiden

Mehr Fragen

Tiefe Bedürfnisse

Nahrung

Sicherheit

Bindung

Selbstwert

Raum

Halt

Ordnung

Orientierung

Kontrolle

Kreativität

Identität

Transformation

Mangel - die Tür zu tiefen Bedürfnissen

Hunger

Bedrohung

Einsamkeit

Scham

Enge

Fallen

Verwirrung

Unschlüssigkeit

Entgleiten

Phantasielosigkeit

Selbstzweifel

Stillstand

Angst - das Monster vor der Tür

Leere

Vernichtung

Isolation

Wertlosigkeit

Ausweglosigkeit

Bodenlosigkeit

Chaos

Verlorenheit

Ohnmacht

Scheitern

Selbstverlust

Leblosigkeit

Flucht vor Angst und Schmerz - Leugnung und Überwältigung

Seinszustände - die Essenz der Bedürfniserfüllung

Fülle

Geborgenheit

Eins-Sein

Liebe

Weite

Erdung

Klarheit

Ankommen

Fließen

Erfüllung

Einklang

Lebendigkeit

Epilog - Jenseits des Sorgens

Dank

Für die Menschen, die mir ihre Lebensgeschichten anvertrauten und mir den Weg zur Erforschung der tiefen Bedürfnisse und Glück verheißenden Seinszustände wiesen.

EINLEITUNG

Warum überhaupt ein Buch über Bedürfnisse? Ist darüber nicht schon alles gesagt? Etwas zu Essen, ein Dach über dem Kopf und Kleidung, Familie, ein paar Freunde und vielleicht noch etwas Kleingeld für den Extrakaffee. Das müsste doch reichen für das kleine Lebensglück. Aber so bescheiden sind wir nicht. Wie kommt es, dass uns die Basisausstattung offensichtlich nicht reicht, dass Genügsamkeit zwar eine Tugend ist, aber irgendwie keinen richtigen Spaß macht?

Ich möchte beginnen mit einer Bestandsaufnahme unserer menschlichen Situation. Diese ist einerseits geprägt von ungeheuren technischen Fortschritten, einer Vergrößerung unseres Wohlstandes und einer Verbesserung der Gesundheit und Lebenserwartung eines Gutteils der Menschheit, andererseits aber auch von zunehmender Zerstörung nicht nur unserer Lebensgrundlagen, sondern auch den Lebensgrundlagen der mit uns auf diesem Planeten lebenden Wesen. Stellen wir schon die Bedürfnisse aller anderen Wesen hinten an, so scheinen wir doch, wenn auch rücksichtslos, unseren eigenen Bedürfnissen recht gut zu folgen.

Aber ich möchte Sie fragen, handelt es sich dabei wirklich um unsere tiefen Bedürfnisse oder nur um oberflächliches Begehren, das sich mit dem Gefühl nie genug zu haben paart? Vielleicht gestehen wir uns dieses grundlegende Mangelgefühl, das sich durch nichts befriedigen lässt, selten ein und entdecken nicht die tiefen und grundlegenden Bedürfnisse, die sich dahinter verbergen. Wie oft fragen Sie sich, was Sie wirklich brauchen? Ich meine, was Sie wirklich wirklich brauchen. Was sich hinter dem Bedürfnis nach Urlaub, ständig neuer Kleidung oder einem schöneren und erfolgreicheren Partner verbirgt.

Nach einer vielleicht etwas unangenehmen und hier und da überzeichneten Bestandsaufnahme möchte ich gerne erforschen, wie sich aus der verfeinerten Wahrnehmung unserer Grundbedürfnisse und Grundängste ein bewussteres Leben entwickeln lässt, das einfacher, zufriedener und weniger getrieben ist und nicht nur dem eigenen, sondern dem ganzen Leben dient.

Wir wollen mehr vom Leben, mehr Glück, mehr Geld fürs Glück, mehr Erfolg für mehr Geld für mehr Glück, vielleicht mehr Anerkennung für mehr Erfolg für mehr Geld für mehr Glück. Diese Reihe ließe sich wahrscheinlich beliebig fortsetzen. Und so sehen wir, dass wir vermeintlich immer mehr brauchen, um unser Glück zu erreichen. Wir schaffen immer mehr Bedingungen und Voraussetzungen, die uns daran hindern, das zu erreichen, wonach wir zumindest in der Tiefe unseres Wesens Sehnsucht haben. Es ist nie genug und irgendetwas fehlt immer an der vorgestellten Perfektion des Lebens.

Da wir so häufig mit den Bedingungen für unser Glück beschäftigt sind, laufen wir diesem ständig hinterher und es scheint uns immer ein paar Schritte voraus zu bleiben. Selbst morgens beim Aufstehen fühlen wir vielleicht, dass wir schon einen Schritt hinterherhinken. Wie viele kennen das Mangelgefühl, das sich schon beim Aufwachen einstellen kann? Nicht genug geschlafen, nicht genug Zeit, zu spät ins Bett gegangen, zu viel gegrübelt, keine Zeit in Ruhe zu frühstücken, bloß nicht zu spät zur Arbeit kommen.

Vom einen zu wenig, dann vom anderen wieder zu viel. Zu viel Arbeit, zu viele Anforderungen, zu viele Verpflichtungen. Wie oft finden wir keine Zeit, zur Ruhe zu kommen, uns in unseren Empfindungen, Gefühlen und Gedanken ausführlich wahrzunehmen und in Kontakt mit den tieferen Quellen unserer Lebensenergie zu kommen? Wie oft treffen wir noch bewusste Entscheidungen für das, was angesichts unserer Endlichkeit das Leben mit Sinn und Freude erfüllt, uns öffnet und wachsen lässt?

Stattdessen folgen wir der Routine der vermeintlichen Notwendigkeiten und Zwänge des Lebens. Schon die Weckzeit ist vorgegeben, das Schellen des Weckers kein Weckruf für Lust und Lebendigkeit, sondern eher für Pflicht und die Notwendigkeit, irgendwie auch die Butter aufs Brot zu kriegen. Der Arbeitsweg ist genau berechnet. Der erste Stau versetzt uns bereits in Unruhe. Umwege sind nicht vorgesehen, Verzögerungen nicht eingeplant. Und auch der Rest des Tages folgt nur zu oft einem vorgegebenen Muster, das unausweichlich erscheint. Wenn wir doch nur im Lotto gewinnen würden.

Jeder kennt den nagenden Schmerz, dass auf unbestimmte Weise etwas fehlt. Sich diesem Schmerz zu stellen ist jedoch zu unangenehm, hätte vielleicht Konsequenzen und wäre ein Risiko für unsere gut gepflegte Routine. Es ist durchaus verlockend, der Routine zu folgen, denn sie dämpft auch den tieferliegenden Schmerz über das ungelebte Leben und die vertagte Sehnsucht nach Erfüllung. Und so helfen uns auch die abendliche Netflix-Serie, das Shoppen und all die kleinen Ablenkungen, die die Konsumgüterindustrie für uns bereit hält, einen tieferen Kontakt zu uns selber zu vermeiden und die unangenehmen Gefühle in Schach zu halten.

Da wir nicht den Mut finden, die Wurzel des tiefen Mangelgefühls in uns zu erforschen, geben wir uns mit dem oberflächlichen Mehr von was auch immer zufrieden. Haben wir die nächste Stufe auf der Karriereleiter erreicht, halten wir kaum inne, bevor es die übernächste Stufe sein muss. Haben wir die neuen Schuhe ausgepackt und das erste Mal getragen, gibt es einen kurzen Moment der Zufriedenheit. Aber wie lange hält dieser?

Das Nicht-genug und Mehr-Wollen lässt uns nicht los. Nur, was wir wirklich brauchen wissen wir häufig nicht. Und so können in unserer auf Leistung und Konsum basierenden Gesellschaft Bedürfnisse künstlich geschaffen und zum Ersatz für unsere tiefe Sehnsucht nach Erfüllung gemacht werden. Selbst die neue Gesichtscreme scheint das verlorene Paradies zu versprechen, verdeckt am Ende jedoch nicht einmal die Falten, die uns das Älterwerden ins Gesicht gezeichnet hat. Auf diese Weise versuchen wir um den tiefen Schmerz des Ungenügens herum zu kommen und lassen uns um die ursprüngliche Fülle unseres Lebens betrügen.

Als würde das doch nicht reichen, müssen wir uns eingestehen, dass wir dazu neigen, die grundlegenden Bedingungen unserer Existenz zu leugnen. Wir kommen als bedürftige Wesen zur Welt, vollkommen abhängig von unserer Umwelt und den Menschen, die sich um unser Wohlergehen sorgen. Dass dies auch die folgenden im Schnitt achtzig Jahre im Großen und Ganzen so bleiben wird, wollen wir nicht wirklich wahr haben. Neigen wir als Erwachsene doch dazu, uns in hohem Maß mit Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Stärke zu identifizieren. Denn wir haben alle die Erfahrung gemacht, dass sich die grundlegende Bedürftigkeit und Abhängigkeit nur allzu bald mit dem Erleben von Verletzlichkeit und Schmerz verbunden hat.

Da wir uns nicht als die bedürftigen Wesen wahrnehmen wollen, die wir doch unleugbar sind, verlieren wir den Zugang zu dem, was wir wirklich brauchen. So werden wir anfällig für Manipulation und das, was andere uns als Bedürfnisse vorgaukeln. Wir verlieren den Zugang zu tatsächlich eigenständigen Impulsen und folgen sozialen Normen, die uns von unserer wahren Natur entfremden.

Jeder Mensch kennt den inneren Konflikt zwischen dem Sollen, Müssen, nicht Dürfen, dem vermeintlich Notwendigen und Unausweichlichen auf der einen Seite und dem tiefen Wunsch, der eigenen Wahrheit zu folgen. Und doch entscheiden wir uns so häufig für die Norm, für die Anpassung an die Gepflogenheiten der Gemeinschaft. Ohne es so recht zu merken, unterliegen wir der Angst vor dem Verlust von Anerkennung und Zugehörigkeit. Ohne genau zu wissen wofür, verschreiben wir uns dem Druck der Karriereleiter und unterwerfen uns dem ökonomischen Druck des Immer-Mehr. Neue Kleidung, die wir nicht brauchen. Das bessere Auto, das uns auch nicht schneller von A nach B bringt. Der Urlaub, der uns auch nicht so lange erfüllt, wie wir hofften, nachdem wir in das Hamsterrad unseres Alltags zurückgekehrt sind.

Aber wenn erst die Rente durch ist, wenn wir möglichst früh möglichst viel Geld zurückgelegt haben, dann kann das Leben beginnen. Vielleicht finden wir uns aber auch in diesem kleinen schlecht bezahlten Job wieder, der uns irgendwann in stiller Resignation oder ohnmächtiger Wut enden lässt, ohne Aussicht auf das erfüllte Leben wenigstens im Rentenalter. So wird das Glück und die Erfüllung des eigenen Lebens in die Zukunft verschoben oder grundsätzlich für unmöglich gehalten.

Die latente Unzufriedenheit trägt auch nicht gerade dazu bei, unsere Beziehungen zu verbessern, erwarten wir doch auch von unseren Partnern, Kindern, Eltern, Freunden und Kollegen einen substanziellen Beitrag zu unserem Glück. Immer wieder machen wir die Erfahrung, dass unsere Erwartungen nicht erfüllt werden. Wir können nicht verstehen, wie es sein kann, dass all diese Menschen unsere Bedürfnisse nicht erkennen, nicht in der Lage sind, unsere Bedürfnisse zu erraten und uns mit dem doch selbstverständlichen Mindestmaß an Aufmerksamkeit und Zuwendung zu versorgen. Und warum auch über das Selbstverständliche reden? So entstehen unsere Beziehungskonflikte, die uns noch unzufriedener und ohnmächtiger werden lassen.

Manchmal scheint es so, als wäre das Leben einfach nicht auf unserer Seite. Wenn die Menschen sich doch nur verändern würden, wenn sie sich doch nur etwas mehr Mühe geben würden, könnten wir dann nicht zufriedener sein? Wären da nicht noch all die Umstände, die wir nicht in den Griff kriegen, denen wir uns so oft ausgeliefert fühlen. Wie könnten wir also angesichts der schwierigen Lage der Welt glücklich werden? Welchen Einfluss haben wir schon? Und so schreiben wir die Verantwortung für unser Leiden den anderen und den Umständen zu. In der Folge werden wir mehr zu Opfern als zu Gestaltern unseres Lebens.

Wir schauen auf den grüneren Rasen des Nachbarn und fühlen uns benachteiligt. Der Erfolgreiche schaut auf den noch Erfolgreicheren und wird neidisch und selbst der Milliardär schaut auf die noch größere Yacht seines Rivalen und beschließt, eine noch größere bauen zu lassen. Oder er ist getrieben von einer Mission zur Rettung oder wahlweise zur Beglückung der Menschheit, deren tiefe Wurzeln in seiner eigenen Bedürftigkeit und den Prägungen seiner eigenen Lebensgeschichte ihm nicht ins Bewusstsein kommen. Das Unglück ist also wohl allgegenwärtig und lauert gewissermaßen an jeder Ecke. Wir könnten ebenso gut gleich die Illusion aufgeben, dass der Lottogewinn etwas Tiefgreifendes verändern würde. Möglicherweise liegt das Problem ja in uns selber und doch nicht in den Umständen oder in der Verantwortung der anderen Menschen.

Vielleicht ist das alles etwas überzeichnet, um die verzweifelte Lage, in der wir uns tatsächlich befinden, zu verdeutlichen. Die Verzweiflung und den tiefen Schmerz zu leugnen und nicht spüren zu wollen, ist jedoch ein gravierendes Hindernis für einen neuen Weg. Den Schmerz nach Kräften zu betäuben, sich auf die vielfältigen Arten abzulenken, die uns das moderne Leben bietet, erscheint als ein Ausweg. Es fühlt sich dann alles etwas weicher an. Ist doch alles nicht so schlimm, sagen wir uns nach einem guten Essen und ein oder zwei Glas gutem Wein. Ach, wir jammern ja auf hohem Niveau, ist es nicht so? Also machen wir routiniert weiter, leben manchmal tage- oder sogar wochenlang wie auf Autopilot. Es ist ja irgendwie auszuhalten. Im Bewältigen innerer Widersprüche sind wir Meister.

Um etwas Tiefgreifenderes zu verändern, ist es notwendig, sich das eigene Leiden einzugestehen und dessen unabweisbare Realität als den Ausgangspunkt für eine genauere Untersuchung zu nutzen. Fest steht, dass es wenige Menschen gibt, die nicht leiden, keinem Glück hinterher jagen und auch nicht resignieren. Menschen, die einen Weg gefunden haben, in Kontakt mit sich selber und ihren tiefsten Bedürfnissen zu sein, sich verantwortlich für diese zu fühlen und keine Garantien für deren Erfüllung einzuklagen.

Sich das eigene Leiden einzugestehen, führt unausweichlich dazu, sich auch die eigene Bedürftigkeit einzugestehen. Ist dieser Schritt einmal vollzogen, sind wir damit in der Realität unseres Menschseins angelangt, eröffnet sich die Möglichkeit für eine genauere Untersuchung mit der Aussicht, nicht mehr von unbewussten und häufig oberflächlichen Bedürfnissen quasi fremdgesteuert zu werden. Wir können daran gehen, zu den Wurzeln unserer Bedürftigkeit vorzudringen und mit diesen Freundschaft zu schließen. Schließlich wird es uns gelingen, unsere Bedürfnisse klarer zu erkennen und sie nicht nur als einen unbestimmten Drang, der kein deutliches Ziel hat, zu erleben. Wir erhalten die Chance, mit uns selber ins Reine zu kommen und uns in unserer Ganzheit vollkommen zu akzeptieren. Unsere Handlungen werden von mehr Klarheit und Verständnis geprägt sein, da uns die Bedürfnisse und Impulse, aus denen unsere Handlungen entspringen, bewusster werden.

Schließlich werden wir die inneren positiven Zustände, auf die die Erfüllung unserer Bedürfnisse abzielt, besser kennenlernen und uns leichter in diese Zustände begeben können. Das Glück wird erreichbarer sein und auf weitaus weniger nicht erfüllbaren Voraussetzungen fußen. Wir werden uns verantwortlich für unser Glück und unsere Erfüllung fühlen und nicht mehr Umstände und andere Menschen für unser Unglück verantwortlich machen. Am Ende wird sich die Bedürftigkeit nicht als Schwäche erweisen, sondern als eine Stärke, die unser Leben erfüllter werden lässt, ihm eine klarere Richtung verleiht, uns mit mehr Mitgefühl ausstattet und so auch mehr Frieden und tiefere Begegnungen in unser Leben bringen wird.

Dieses Buch will dafür keine fertigen Lösungen präsentieren und keine Wahrheiten verkaufen, sondern eine Anregung für eine spannende Forschungsreise in die Tiefen der eigenen Seele anbieten. Erwarten Sie keine akademische Exaktheit, keine wissenschaftlich verbrieften Ergebnisse oder eine immer geradlinige und schlüssige Argumentation, sondern eher einen Tanz um das Thema der tiefen Bedürfnisse, der Assoziationen folgt, die manchmal ihre eigenen Wege gehen, im Kreis verlaufen oder sogar umherzuirren scheinen, bevor sie wieder auf einen nachvollziehbaren Pfad gelangen. Wie das richtige Leben halt.

In der neugierigen, wachen, selber denkenden und fühlenden Auseinandersetzung mit dem Text können die eigenen Wahrheiten gefunden werden, die eigenen tiefen Bedürfnisse, die eigene Identität, das eigene Leben. Dass die Reise vorbei führt an den Höllenhunden der tiefen Ängste, die den Eingang zur Unterwelt der Seele bewachen, und unseren tief verwurzelten Gefühlen des Mangels und Ungenügens und auch Begegnungen mit den Schattenbereichen unserer Innenwelt einschließt, soll hier nicht verschwiegen werden. Die Reise ist nicht ohne Risiko, bietet jedoch die Aussicht auf das ein oder andere Abenteuer - das Abenteuer der Selbstentdeckung.

Und vielleicht findet der Reisende am Ende doch noch sein Glück am Ende des Regenbogens. Aber wer kann das schon wissen. Das Leben ist unbeständig und so bleibt ohnehin nichts wie es ist. Auch dieser Tatsache müssen wir uns irgendwann stellen und uns einverstanden erklären, dass das Erreichte sich wieder in etwas anderes wandeln wird. So wird jedes Bedürfnis und auch seine Erfüllung vorübergehend bleiben und das Glück wird darin bestehen, auch mit dem Wandel vollkommen einverstanden zu sein.

Auf den nächsten Seiten möchte ich, Sie hoffentlich zum Mitdenken und Mitfühlen anregend, erforschen, welches die tiefen Bedürfnisse sind, die sich hinter all unseren kleinen, manchmal unübersichtlichen Alltagsbedürfnissen und Erwartungen verbergen. Kommen wir den Wurzeln unserer Bedürftigkeit dabei allmählich näher, wird es deutlich übersichtlicher und einfacher. Und ist es nicht so, dass wir manchmal die Komplexität unserer Innen- und Außenwelt gerne etwas reduzieren würden, um den Überblick zu behalten und wieder handlungsfähiger zu werden?

Haben wir einmal die wenigen tiefen Bedürfnisse entdeckt, die all unser Verhalten und Erleben steuern, stellt sich die Frage, woran wir sie in unserem täglichen Leben besser wahrnehmen können. Hierbei wird es um die Wahrnehmung von Mangelzuständen gehen. Im Grunde ist es ganz einfach. Dass wir Nahrung brauchen, merken wir am Hungergefühl. Das Mangelgefühl ist also notwendig, um ein Bedürfnis wahrnehmen zu können. Darin liegen allerdings auch ein paar Fallen. Denn manchmal spüren wir unseren Hunger nicht, sondern es ist einfach Mittagszeit und da isst man halt. Oder wir spüren Appetit, der aber nicht notwendigerweise etwas mit dem Bedürfnis nach Nahrung zu tun hat. Die Lust auf die Tafel Schokolade sagt vermutlich nichts über das Bedürfnis nach Nahrung aus. Aber darüber später mehr.

Nachdem wir uns mit dem notwendigen Erleben von Mangel auseinandergesetzt und diesem Höllenhund in die Augen geschaut habe, werden wir uns tiefer in die Abgründe unserer Innenwelt bewegen, um den sich hinter jedem Mangelgefühl verbergenden tiefen Ängsten zu begegnen. Dies ist der Bereich, vor dem wir im Normalfall so weit wie möglich weglaufen. Angst zu haben, soweit soll es gar nicht erst kommen. Wir haben Angst vor der Angst und halten sie für kein akzeptables Gefühl, dem wir freiwillig nähertreten würden. Wir werden jedoch sehen, wie das Leben vollständiger und tiefer wird und sich zusehends entspannt, wenn wir uns mit unseren tiefen Ängsten anfreunden und schließlich sehen, dass sie eine Eingangstür hin zu unseren tiefen Bedürfnissen sind. Am Ende werden wir herausfinden, dass sich hinter der Angst Zustände unaussprechlicher Fülle verbergen. Aber erst dann, wenn wir bereit sind, die Angst ganz zu erforschen, anzunehmen und uns in sie hineinfallen zu lassen.

Nach dem Abstieg in unsere persönlichen Höllen werden wir wieder aufsteigen und uns mit der Frage beschäftigen, worauf die Erfüllung von Bedürfnissen eigentlich abzielt. Auch diese Frage stellen wir uns meist nicht. Wir wollen einfach, dass unsere Bedürfnisse erfüllt werden, basta. Am Beispiel der Nahrungsaufnahme hört es sich ja banal an. Wir haben Hunger, also brauchen wir Nahrung. Wenn wir keine kriegen, stellt sich früher oder später die Angst zu verhungern ein. Aber woran merken wir, wann es genug ist? Manch einer isst einfach weiter, weil es so gut schmeckt. Aber geht es nicht darum, das Gefühl der Sättigung wahrzunehmen und zwar als etwas Angenehmes, als den Punkt, an dem das Bedürfnis erfüllt ist und damit verschwindet?

Diese je nach tiefem Bedürfnis ganz verschiedenen Zustände der Sättigung können wir Seinszustände nennen. Sie sind das letzte Ziel und die Essenz der Erfüllung unserer tiefen Bedürfnisse. Dort kommt unsere Bedürftigkeit zur Ruhe und für eine Weile sind wir einfach in der Gegenwart, mit nichts anderem beschäftigt als den Zustand zu genießen und anwesend zu sein.

Seinszustände sind der Ort, an dem wir Erfüllung finden. Dort kommt unser Sehnen und Suchen an ein Ende und wir können in Ruhe abwarten, bis das nächste Bedürfnis sich meldet. Sie dauern nicht ewig, können aber doch als zeitlos erlebt werden. Mit diesen Zuständen werden wir uns ausführlich beschäftigen und Wege erforschen, wie wir dort hingelangen können. Dies wird vor allem Wege beinhalten, die weniger in der Außenwelt als vielmehr in der eigenen Innenwelt beschritten werden können.

Zuletzt soll ein Blick auf die Dimension jenseits des Sorgens gerichtet werden. Zunächst lässt das bewusste Annehmen unserer Bedürftigkeit und der fortgesetzte, eigenverantwortliche Ausdruck unserer Grundbedürfnisse uns in unserer Persönlichkeit vollständiger und reifer werden. Wir lernen, offen um etwas zu bitten, was wir brauchen. Wir lernen damit, uns für das Leben, für uns selber und für andere Menschen zu öffnen und verletzlich zu zeigen. Wir lernen, aus unseren tatsächlichen, tiefen Bedürfnissen heraus zu handeln und unser Leben zu gestalten. Wenn wir das, worum wir bitten, nicht erhalten, betrachten wir es nicht als Katastrophe, sondern als eine Aufgabe. Wir gehen einfach weiter und klopfen an die nächste Tür. Der Umgang mit unseren Bedürfnissen wird immer leichter, entspannter und sorgenfreier.

Am Ende werden wir vielleicht sogar herausfinden, wer wir jenseits unserer Bedürfnisse sind. Vielleicht entdecken wir eine Fülle, die jenseits aller erfüllten Bedürfnisse liegt, eine Fülle, die nicht wieder verloren werden kann, die nicht von Zeit und Raum begrenzt wird. Wer kennt nicht die Sehnsucht nach einem Zustand jenseits des Sorgens, jenseits des Verlangens, jenseits des Leidens, jenseits des Werdens und Vergehens.

Ich würde mich freuen, wenn wir die Reise zur Entdeckung unserer Bedürfnisse, dem manchmal wilden, manchmal ruhigen Fluss des Lebens und dem Raum jenseits des Sorgens gemeinsam unternehmen, und uns in Offenheit und der Zartheit und Verletzlichkeit des Menschseins begegnen. Gleichwohl wird es keine leichte Reise, keine bloße Unterhaltung, kein Sightseeing an schönen Orten, keine Fahrt auf dem Beifahrersitz. Der Weg muss selber erwandert werden, manchmal durch offene Weiten, manchmal durchs Unterholz, mal in der hellen Sonne, mal in der Finsternis aber nie allein. Denn wir sind immer verbunden im Gehen des Weges.

BEDÜRFTIGKEIT

Bedürftigkeit hat einen schlechten Ruf. Häufig verbinden wir damit Ärmlichkeit, den Empfang von Sozialleistungen, Schwäche, Abhängigkeit und weitere negative Eigenschaften, mit denen wir nach Möglichkeit nichts zu tun haben wollen. Die Vorstellung einmal selber bedürftig werden zu können, löst Angst aus. Wir wollen uns das am besten gar nicht vorstellen. Wir verbinden Bedürftigkeit mit der Hilflosigkeit von Alter, Krankheit und Sterben und versuchen dies aus unserem Alltag herauszuhalten. In den Nachrichten werden wir mit Hunger, Epidemien und Krieg konfrontiert und schauen mitleidig oder vielleicht sogar mit Mitgefühl aus der Ferne zu. Meist versuchen wir, distanziert zu bleiben und schnell wieder zu vergessen. Wir hoffen, dass das alles mit uns nichts zu tun hat. Vielleicht versuchen wir sogar, das Gefühl der Hilflosigkeit über das Spenden an wohltätige Organisationen abzuwehren. So hat es ja den Anschein, als würden wir etwas tun können, anstatt uns unsere Hilflosigkeit eingestehen und sie aushalten zu müssen.

Das hört sich alles so negativ an, wird mancher einwerfen wollen. Und natürlich soll hier nicht grundsätzlich etwas dagegen gesagt werden, etwas von den eigenen finanziellen Mitteln für andere einzusetzen. Aber es ist etwas anderes, sich vielleicht sogar vor Ort, dort wo das Leiden tatsächlich geschieht, mit der eigenen Ohnmacht und der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten zu konfrontieren. Denn dann besteht die Gefahr, dass es uns das Herz bricht, dass wir unsere gewohnten Selbstschutzmechanismen nicht mehr aufrecht erhalten können und in Kontakt kommen mit unserem eigenen Elend und der eigenen Bedürftigkeit. In diesem Moment können wir nicht mehr distanziert bleiben, ist die Bedürftigkeit nicht mehr dort draußen, sondern in unserer eigenen Innenwelt spürbar. Wir beginnen wahrzunehmen, dass der Hunger der anderen auch unser eigener Hunger ist. Wir befinden uns plötzlich auf der gleichen Ebene, wie alle anderen Menschen. Wir sehen unsere grundlegende Verletzlichkeit und gestehen uns ein, dass wir darin mit der gesamten Menschheit verbunden sind. Den Schmerz und die Bedürftigkeit der anderen zu spüren und sie schließlich als die eigenen zu erkennen ist unerlässlich, wenn wir uns in unserer Menschlichkeit und auch als Menschheit weiterentwickeln wollen.

Meist lieben wir mehr die aufsteigenden als die absteigenden Bewegungen. Mehr ist besser als weniger. Wir zollen dem Weg aufs Siegertreppchen Beifall. Den Zweitplatzierten bemitleiden wir bereits. Wer erinnert sich noch an den Namen des zweiten Mannes auf dem Mond oder gar an den, der die Apollokapsel weiter um den Mond steuerte? Wir sprechen über Karrieren bewundernd, manchmal neidisch, manchmal mit Verachtung. Wir schauen nach oben. Wer hätte nicht gerne mehr Geld, stünde nicht gerne weiter oben auf der sozialen Leiter. Der Erfolgreiche scheint sein Leben im Griff zu haben, erscheint nicht als bedürftig oder verletzlich, nicht angreifbar. Aber zeigt sich nicht schon in unserem Blick nach oben die Bedürftigkeit, die wir im Blick nach unten auf Armut und Elend bei uns selber nicht wahr haben wollen? Ist nicht der Erfolgreiche am Ende auch getrieben durch seine mehr oder weniger bewusste Bedürftigkeit? Nur würde er es nicht so nennen und hätte vielleicht auch nicht die Zeit, die Wurzeln seines Antriebs zu erforschen.

Dass ein Leben für den Erfolg richtig ist, versteht sich ja von selbst, ist offensichtlich und bedarf gar nicht der Selbstreflektion. Der Buchmarkt ist voll von Büchern, die das Wort Erfolg bereits im Titel führen und uns sichere Wege dorthin verkaufen wollen. Wer will schon etwas lesen über einen zuverlässigen Weg in die Armut. Das wäre ja geradezu absurd. Die Armut ist jedoch auch die eigene innere Armut, das Eingeständnis, dass dort drinnen etwas Wichtiges fehlt. Doch dieses Fehlen wollen wir ungern wahrnehmen, da es schmerzt, ohne dass wir ein schnell helfendes Medikament dagegen hätten. Natürlich hilft die eine oder andere Droge, wenn der Schmerz in stillen Nachtstunden und Grübeleien dann trotzdem auftaucht. Das Glas Wein, das Internet oder das Shoppen helfen uns hinreichend schnell, das Gehirn wieder etwas zu benebeln und die aufbrechenden Gefühle wieder zu dämpfen.

Solange uns das Bedürfnis nach Erfolg oder einfach ein diffuses Gefühl von „mehr“ antreibt, haben wir keine Chance, bei uns selber anzukommen und herauszufinden, was wir tatsächlich brauchen. Ein Gutteil unserer Bedürfnisse entsteht ja ganz offensichtlich noch nicht einmal aus der Selbstwahrnehmung, sondern aus der gesellschaftlichen Vermittlung durch Eltern, Verwandte, Lehrer und soziale Vorbilder. Wir haben gelernt, was unsere Bedürfnisse sein dürfen und sein sollen und verinnerlichten dies in einem Alter, in dem wir uns noch keine eigene Meinung bilden konnten. Von dem vielleicht sogar liebevoll und sorgend vorgegebenen Weg abzuweichen hatte Konsequenzen. Und außerdem waren die Großen ja die Großen, die vermutlich Recht hatten, denen man vertrauen konnte und musste.

Dass wir als grundlegend bedürftige Wesen zur Welt gekommen sind, können wir uns leicht vor Augen führen. Zu akzeptieren, dass wir das auch bleiben werden, ist schon weitaus schwerer. Dennoch ist es ganz offensichtlich. Als Menschen sind wir offene Systeme, das heißt, wir können nicht aus uns selber heraus existieren. Wir werden sehen, dass uns gerade diese für das Leben notwendige systemische Offenheit notwendigerweise verletzlich macht. Die Offenheit zieht nach sich, dass nichts so bleibt wie es ist, denn Input und Output verändern das System.

Die Folge der Veränderung nennt man gewöhnlich Entwicklung oder Wachstum. Morgen sind wir nicht mehr die Gleichen wie heute. Unser Gehirn wird komplexer, wir entwickeln mehr Vielfalt in unserem Denken. Unsere Gefühle werden differenzierter und wir antworten mit ihnen auf die Umstände unseres Lebens. Ohne Offenheit und Unbeständigkeit ist also Leben schlechterdings nicht vorstellbar. Dennoch verschließen wir uns erstaunlicherweise immer wieder und lehnen die Unbeständigkeit des Lebens ab. Wir werden noch sehen warum, und auch warum es unserer Entwicklung mehr dient, mit Offenheit, Verletzlichkeit und Unbeständigkeit einverstanden zu sein.

Wir bedürfen von der Empfängnis an des Austausches mit unserer Umwelt. Wir brauchen Nahrung, um uns entwickeln zu können und schließlich geboren zu werden. Ebenso müssen wir die Abfallprodukte unseres Stoffwechsels wieder ausscheiden. Wir brauchen also offene Grenzen, wo etwas hinein- aber auch wieder heraus kann. Aber wir brauchen auch stabile Grenzen, um uns als individuelle Wesen überhaupt erleben zu können. Mit der Grenze zwischen Innen und Außen werden wir uns noch weiter beschäftigen müssen, da sie zu den Bedingungen unseres Lebens gehört, aber offensichtlich auch einige Schwierigkeiten, die wir mit dem Leben haben, begründet.

Es ist die Grenze, die uns von der Welt trennt, uns zu Individuen macht, uns aber gleichzeitig mit ihr verbindet. Ohne Grenze könnten wir nicht entscheiden, was wir hineinlassen wollen, und was wir als schädlich zurückweisen. Schon Einzeller bewegen sich auf das zu, was sie brauchen, und ziehen sich von dem zurück, was ihre Integrität als individuelle Wesen bedroht. Die Grenze ist also notwendig, um sich überhaupt als individuelles Wesen verstehen zu können. Gleichzeitig führt sie zur Illusion des Getrenntseins von der Welt, anderen Menschen und dem Leben.

Wir können also nur sein im gleichzeitigen Stabilisieren und Öffnen unserer Grenze, was sich ziemlich paradox anhört. Früher oder später werden wir herausfinden, dass viele dieser scheinbar unauflösbaren Gegensätze unser Leben begleiten und wir lernen können, in der Spannung der gegensätzlichen Pole zu leben. Gerade diese Spannung kann das Leben fruchtbar machen und Entwicklung und Wachstum anregen.

Doch zunächst zurück zu Austausch und Durchlässigkeit. Der Fötus ist während der Schwangerschaft in einem regen Austausch mit der Mutter und beide beeinflussen sich gegenseitig. Es ist von Beginn an keine einseitige Angelegenheit, bei der die Mutter nur gibt und das werdende Kind nur nimmt. Es findet ganz offensichtlich nicht nur auf der Ebene des physiologischen Geschehens ein Austausch statt, sondern auch auf den Ebenen des Emotionalen und Geistigen. Ohne diesen Austausch kann das werdende Leben nicht am Leben bleiben. Wir sehen, dass der Austausch ein zentrales Prinzip des Lebens und eine dessen Grundbedingungen ist. Damit ist Abhängigkeit verbunden. Das Eine kann nicht ohne das Andere. Das Eine bedarf des Anderen, womit wir bei der Bedürftigkeit wären. Diese wird ja nicht von Beginn an als solche erlebt, da zunächst nichts fehlt, sofern die Schwangerschaft ohne Komplikationen verläuft. Die Erfüllung des Bedürfnisses geschieht von alleine, ehe sich ein Mangel bemerkbar macht. Kein Fragen oder Bitten ist notwendig. Die Nahrungsversorgung ist noch kontinuierlich. Es gibt keine schmerzhaften Wartezeiten, in denen sich ein Gefühl wie Hunger einstellen könnte.

Sobald nach der Geburt die Nabelschnur durchschnitten ist, ist es vorbei mit der Selbstverständlichkeit der Versorgung und wir haben unsere erste Begegnung mit dem „richtigen“ Leben. Wir brauchen Sauerstoff, bekommen diesen aber nicht mehr durch den Austausch mit der Mutter, sondern müssen selber atmen. Und so erleben wir zum ersten Mal das Paradox, das unser gesamtes weiteres Leben bestimmen wird. Wir sind verdammt zur Eigenständigkeit, da wir jetzt selber etwas tun müssen, um das zu bekommen, was wir brauchen. Gleichzeitig macht uns dieses Brauchen vollkommen abhängig von unserer Umwelt. Die kleine selbstverständliche Umwelt des Mutterbauches wird abgelöst von dem großen unwägbaren Leben dort draußen.

Langsam müssen wir lernen, dass auch das große Leben dort draußen, dass uns dieser kleine Planet am Rande der Milchstraße mit allem versorgt, was wir brauchen. Wir brauchten mehr Weite. Das Universum des Mutterbauches war uns zu eng geworden und so hatten wir keine andere Wahl, als uns der Konfrontation mit der Bedürftigkeit des Lebens zu stellen. Wir merken nun, dass wir zunehmend von der Erfüllung getrennt sind und dies schmerzt. Noch wissen wir nicht, dass dieser Schmerz, das Gefühl des Mangels und Getrenntseins von dem Glück, das doch unser Geburtsrecht sein sollte, unser Leben bestimmten wird.

Anfänglich geschah der Umgang mit Mangel und Bedürfnis noch wie selbstverständlich, ohne darüber nachdenken zu müssen. Wir haben den Hunger unmittelbar und ungefiltert gespürt und uns ebenso unmittelbar mit diesem Mangelgefühl bemerkbar gemacht. Wahrscheinlich haben wir geschrien, und wenn alles gut verlief, kam unsere Mutter und stillte uns. Vielleicht fühlten wir uns allein, haben geschrien und unsere Mutter kam, nahm uns auf den Arm und gab uns Geborgenheit. So machten wir erste Erfahrungen mit dem Spüren des Mangels, dem Ausdruck unserer Bedürfnisse und deren Erfüllung. Uns wurde bald klar, dass wir das Paradies, die Unmittelbarkeit der Bedürfniserfüllung verloren hatten.

Die Mangelgefühle wurden für jeden von uns deutlicher wahrnehmbar. Die emotionalen Reaktionen darauf mögen unterschiedlich gewesen sein. Vielleicht Wut und vermehrte Aktivität, um das zu kriegen, was wir brauchten. Vielleicht Enttäuschung, erster Rückzug und Ansätze von Resignation, wenn es allzu lange dauerte bis unser Bedürfnis erfüllt wurde. Es bildeten sich erste Reaktionsmuster aus den frühen Erfahrungen mit Bedürfniserfüllung oder -versagung. Es verging Zeit zwischen Hunger und Sättigung und so begann die Zeit zu einem unserer großen Feinde zu werden. Es war immer die Zeit und die damit einhergehende Erwartung der Erfüllung, die uns von unserem Glück trennte. Manchmal ging es ganz schnell und wir konnten uns wieder gesättigt entspannen. Manchmal war aber auch die Zeit viel zu lang und der Schmerz des Hungers oder der Einsamkeit hielten unverhältnismäßig lange an.

Dort machten wir vielleicht die ersten Erfahrungen mit Ohnmacht und Hilflosigkeit. Unser Tun, in diesem Fall unser Schreien, sorgte nicht für sofortige Abhilfe. Schmerz und Verletzlichkeit traten also unausweichlich immer wieder in unser Bewusstsein und so eigneten wir uns in einem noch gänzlich sprachlosen Bewusstsein erste Überzeugungen über das Leben und den Umgang mit unserer Bedürftigkeit an.

Waren Schwangerschaft und Geburt ohne Komplikationen verlaufen und unsere Eltern liebend, sorgend und erreichbar, blieb die Erfahrung des Schmerzes und der Verletzlichkeit vielleicht gering, aber dennoch unausweichlich. Oft genug kommt es jedoch auch vor, dass die selbstverständliche Sicherheit und Geborgenheit bereits in der Schwangerschaft nicht mehr gegeben ist, Mutter und Kind durch die Geburt körperliche und seelische Verletzungen davon tragen und so das Leben von Beginn an zerbrechlich und unsicher erscheint.

Das Leben scheint nicht eben fair zu sein und seine Umstände nur sehr bedingt beherrschbar. Auch hier geht es wieder um die Akzeptanz von Unwägbarkeit und Unbeständigkeit, die ein Preis für Leben und Lebendigkeit sind. Nur, wie alt müssen wir erst werden, um das begreifen zu können?

Wie es scheint kommen wir um die Erfahrung von Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Schmerz nicht herum. Manchmal werden wir satt und manchmal nicht. Ein Teil von uns möchte gerne in das Paradies der unmittelbaren Erfüllung zurück und kann nicht verstehen, dass gerade dies zur Hölle würde und der eigentliche Segen des Lebens in dessen Bedürftigkeit besteht. Wären stets alle Bedürfnisse schon erfüllt, ehe wir überhaupt den Hunger nach ihnen spüren würden, gäbe es keinen Impuls in Bewegung zu kommen und damit auch keine Entwicklung, keine Neugier, kein Suchen und Finden. Das Leben bliebe in seiner vordergründigen Erfülltheit leer und schließlich schal und bedeutungslos.

Stellen wir uns die ewige Langeweile der perfekten und anhaltenden Erfüllung vor und wir bekommen einen Eindruck der wahren Hölle. Das heißt keinesfalls, dass wir immer Suchende bleiben sollen, um in Bewegung bleiben zu können. Wir müssen auch finden können und dürfen. Wir wollen und können dort ankommen, wo unsere Sehnsucht uns hinträgt, um dort für einen Moment zu verweilen und das Gefundene wieder loszulassen. So finden wir allmählich ein Gleichgewicht zwischen Bewegung und Innehalten, zwischen Entwicklung und Erfüllung und erkennen, dass das Schwingen zwischen gegensätzlichen Polen das Leben erst zum Leben macht. Vielleicht können wir irgendwann damit einverstanden sein, dass das Leben uns in Bewegung versetzt und das Schwingen zwischen Hunger und Sättigung, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Freiheit und Bindung, zwischen Geburt und Sterben unsere ganz eigene Lebensmusik hervorbringt.

Fest steht, dass unsere Bedürftigkeit zu den Bedingungen unseres Lebens gehört und wir sie nicht abstreifen können. Aber könnten wir nicht das Ausmaß unserer Bedürftigkeit möglichst gering halten? Würde das nicht das Risiko von Verletzlichkeit mindern und uns unabhängiger machen? Stellen wir uns einen Baum vor, der beschließt, möglichst wenig Wasser und Nährstoffe aufzunehmen, um eigenständiger und unabhängiger zu werden. Vielleicht würde er auch noch versuchen mit möglichst wenig Sonne auszukommen und gar nicht erst Blätter auszubilden, da er diese ja ohnehin wieder verlieren würde. Könnte er dann irgendwann allein dastehen, groß und stark in seiner Autarkie und Selbstbestimmung? Wohl kaum. Dieser Baum würde verdorren und niemals Früchte tragen können, Samen hervorbringen und neues Leben begründen. Der Baum kann wohl keine bewusste Entscheidung treffen über seine Bedürftigkeit, sein Nehmen und Geben ist ihm eingeprägt und vielleicht fühlt er sich einfach eins mit dem Leben und ist einverstanden, dass die Dinge so sind wie sie sind. Unser Bewusstsein ist ein anderes.

Früher oder später müssen wir über unsere Bedürfnisse und deren Ausdruck bewusst entscheiden. Wir wachsen aus der Einheit mit unserer Mutter und der selbstverständlichen Erfüllung unserer Bedürfnisse heraus und lernen mehr oder weniger schmerzhaft, dass wir Verantwortung für sie übernehmen müssen. Dies zu verstehen kann ein langwieriger Lernprozess sein und wird gewöhnlich als Erwachsenwerden bezeichnet. Hier entscheidet sich auch, inwieweit wir uns schließlich als aktive Gestalter unseres Lebens verstehen oder als dessen Opfer.

Der springende Punkt dabei, den wir wirklich verstehen müssen, ist folgender. Ohne Bedürftigkeit gibt es kein Wachstum und keine Entwicklung. Und ohne Bewusstheit über die eigenen Bedürfnisse und Übernahme von Verantwortung für ihren Ausdruck kann das Wachstum keine eigenständige Ausrichtung entwickeln, sondern wird von außen gesteuert und läuft gewissermaßen auf Autopilot.

Der Blick auf unsere Bedürfnisse lässt uns hinter unsere Entscheidungen schauen und macht sie mit der Frage „wofür das alles?“ erst verständlich. Wir werden uns also in unserer Entwicklung damit auseinandersetzen müssen, was tatsächlich unsere eigenen Bedürfnisse sind und welche uns, ohne darüber nachdenken zu können, durch frühe Lebenserfahrungen, durch Erziehung und die damit verbundenen Gebote und Verbote, aber auch durch Vorbilder, an denen wir uns orientierten, eingeprägt wurden.

Wir werde uns daher Fragen stellen müssen, viele Fragen. Wir werden uns selber in Frage stellen müssen, allzu Gewohntes anzweifeln und Unbekanntes in Erwägung ziehen. Wir werden auf innere Widerstände stoßen und auch diese hinterfragen. Wir werden uns als Forscher betätigen und das unbekannte Land in unserer inneren Welt aufsuchen. Das Fragen ist die zentrale Bewegung, um dorthin zu gelangen. Die Fragen lassen uns in eine innere Suchbewegung kommen und sorgen dafür, dass wir unsere Wahrnehmung schärfen und schließlich Neues am Horizont entdecken können. Und schließlich werden wir das Neue untersuchen und verstehen und es in unser Leben integrieren können. Und selbst das Fragen werden wir als einen Aspekt unserer Bedürftigkeit erkennen.

Nachdem wir die Natur unserer Bedürftigkeit und damit auch ihre Unabwendbarkeit und ihren Segen verstanden und uns gänzlich damit einverstanden erklärt haben, werden wir uns zunächst die Frage stellen, was eigentlich unsere grundlegendsten Bedürfnisse sind. Da sind natürlich die Bedürfnisse, die uns das Leben vorgibt. Was diese angeht, müssen wir jedoch keine Entscheidungen treffen, da sie für unser Überleben unabdingbar sind. Wir müssen atmen und können uns dem Bedürfnis nach Sauerstoff allenfalls minutenlang entziehen. Etwas besser sieht es schon bei dem Bedürfnis nach Wasser aus. Ein paar Tage können wir es ohne aushalten, bis unser Körper uns den Dienst versagt. Dann das Bedürfnis nach Schlaf. Manch einer hält ja den Schlaf für verlorene Lebenszeit, während andere gar nicht genug davon kriegen können. Aber wie auch immer wir dazu stehen, schaffen wir es kaum länger als zehn Tage am Stück wach zu bleiben. Und selbst das ist eher eine Weltrekordleistung als das, was dem durchschnittlichen Menschen möglich wäre. Inzwischen ist bekannt, dass wir den Schlaf sowohl für physische als auch für psychische Regenerationsprozesse benötigen und nicht einfach darauf verzichten können. Noch etwas lockerer können wir es mit dem Bedürfnis nach Nahrung angehen lassen. Das halten wir, wenn es darauf ankommt, schon über einige Wochen aus. Das Essen ist zwar überlebensnotwendig, aber man kann sich ihm auch für eine Weile verweigern. Eine Zeit lang kann man so tun, als bräuchte man keine Nahrung und wäre autark.

Offensichtlich gibt es diese Tendenz in uns, möglichst viel Ich zu sein und die Angst, je mehr wir brauchen, desto weniger ein klar abgegrenztes, eigenständiges Ich sein zu können. Wie gesagt, die Bedürftigkeit öffnet unsere Grenzen, macht uns durchlässiger und lässt uns mehr eins werden mit dem Leben, was unser Ich-Gefühl durchaus bedrohen kann. Unsere Gesellschaft lehrt uns jedoch, dass nur ein starkes Ich ein gutes Ich ist, eines, das sich durchsetzen kann, das seine Ziele erreicht, erfolgreich ist und nur so dem Leben Sinn und Bedeutung verleihen kann. Das bedürftige Ich ist ein schwaches Ich, ein unterlegenes Ich. „Du Opfer“ ist unter Jugendlichen ein beliebtes Schimpfwort geworden. Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Die Selbstbilder, mit denen wir täglich versorgt werden, sehen Bedürftigkeit als Abhängigkeit von unserer Umwelt nicht vor, sondern allenfalls als das Streben des Starken, der sich nimmt, was er braucht ohne zu fragen und das Streben des Restes der Welt, es ihm gleich zu tun.

Es wird vielleicht schon deutlich, dass es im Folgenden weniger um die Bedürfnisse gehen soll, die in unserer Biologie quasi fest verdrahtet sind und unser körperliches Überleben sichern, und auch nicht um jene, die uns von der Werbeindustrie untergeschoben werden, sondern mehr um solche, die seelisches Überleben und Entwicklung ermöglichen. Wir werden sehen, dass sich unser Leben ohne Zugang zu diesen Bedürfnissen nicht bewusst entwickeln kann und unsere Suche nach Glück kein Ende finden wird.

Erst wenn wir uns unserer tiefen Bedürfnisse tatsächlich bewusst sind, werden wir auch wissen, was uns satt macht und aufhören, an der falschen Stelle zu suchen. Um das Suchen kommen wir allerdings, wenn wir noch nichts gefunden haben, nicht herum. Nur, wie können wir das Suchen einleiten? Die wahrscheinlich wichtigste Technik dafür ist, Fragen zu stellen und der Suche damit eine Richtung zu geben. Wir müssen uns daher dem Fragen zuwenden, fragend in die Tiefe unserer Seele hinabsteigen und unsere Bedürftigkeit genauer erforschen.

FRAGEN

Bevor wir uns der Frage nach unseren tiefsten Bedürfnissen und möglichen Antworten zuwenden, müssen wir uns mit dem Fragen selber beschäftigen. Warum ist das Fragen so wichtig? Welche Fragen können, sollen und müssen wir vielleicht sogar stellen? Was heißt es überhaupt zu fragen? Vielleicht kennen einige noch aus ihrer Kinderzeit das Lied aus der Sesamstraße „Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm.“ Also haben wir schon mal alle Sätze, die mit einem solchen w-Wort anfangen als Fragen identifiziert. Aber was machen diese Sätze?

Vordergründig will die Frage eine Antwort. Kinder scheinen zu fragen, um Antworten zu kriegen. Aber was tun sie da eigentlich wirklich, wenn das Fragen kein Ende nimmt und sie uns mit ihrem Fragen Löcher in den Geist brennen, bis wir versuchen, unsere gnadenlos aufgedeckte Unwissenheit zu vertuschen? Erinnern wir uns an dieses kindliche „warum“, das jede Antwort mit einem erneuten „warum“ hinterfragte. Irgendwann waren wir, falls unsere Geduld reichte, bei Adam, Eva und dem Apfel oder wahlweise dem Urknall. Aber das „warum“ hörte nicht auf. Irgendwann endeten wir als Erwachsene vielleicht mit einem „weil es halt so ist und jetzt lass mich in Ruhe.“

Ja, Fragen sind unbequem. Und vielleicht suchen sie auch nicht notwendigerweise nach Antworten. Das kindliche Fragen ist ja zunächst ein Beziehung aufnehmen. Fragen verbindet. Fragen verbindet uns mit anderen Menschen, aber auch mit der Welt. Einmal aus der Einheit herausgefallen brauchen wir Fragen, um wieder Verbindung zur Welt aufzunehmen, sie neu zu entdecken, sie bewusst zu entdecken in der Paradoxie, der Welt als ein Ich gegenüber zu stehen aber doch eins mit ihr zu sein.

Im Babyalter waren wir zunächst noch nicht von der Welt unterschieden, waren fast noch eins mit der Mutter. Alles war noch fraglos gegeben. Dann aber begannen wir, uns von unserer Mutter und der Umwelt zu differenzieren und ihr gegenüber zu treten. Wir begannen, die Welt als etwas Unbekanntes zu erfahren, das entdeckt und begriffen werden wollte. Ohne schon etwas fragen zu können, begannen wir, die Dinge, die wir greifen konnten, in den Mund zu stecken. Da schwang das Fragen schon auf eine Weise mit. „Was ist das wohl? Nahrung? Nein, irgendwie nicht. Aber was ist es dann?“ Auf eine ganz natürliche Weise wurden wir immer neugieriger und wollten die Welt entdecken, uns in Beziehung zu ihr setzen und herausfinden, wer wir in der Beziehung zu dieser Welt sind. Das Fragen half uns dabei, in Kontakt zu kommen mit der Welt und den Menschen dort draußen, zu verstehen, einzuordnen.

Die Neugier und das Entdecken scheint ein natürlicher Impuls des Lebens zu sein und beschränkt sich ganz sicher nicht auf die animalische Suche nach Nahrungsquellen und Fortpflanzungsmöglichkeiten. Auch bei Tieren lässt sich beobachten, wie sie die Welt spielerisch entdecken und sich aneignen. Der spielerische Umgang mit dem Unbekannten ist also Teil des Fragens, Teil unserer Entdeckungsreise ins Leben. Das Leben will sich offensichtlich selber verstehen. Fragen, Spielen und Entdecken gehen hier eine innige Verbindung ein und vielleicht sollten wir uns als Erwachsene darauf zurückbesinnen, dass das Fragen nicht lediglich ein Werkzeug der Informationsgewinnung ist, sondern dem Spiel des Lebens dient.

Die erste Frage, die wir in der kindlichen Sprachentwicklung lernten, hieß mit vielleicht knapp zwei Jahren „das da?“ und meinte „was ist das?“ Wir begannen, Namen für die Dinge zu lernen und so mit ihnen in Beziehung zu treten. Wir lernten allmählich, die Namen von den Dingen zu trennen und sie so in unser inneres Universum zu verlagern. Die Namen wurden zu symbolischen Stellvertretern für die Dinge. So konnten wir über den Ball sprechen, auch wenn er gerade nicht zu sehen war. Während wir uns allmählich von der unmittelbaren Erfahrung der Welt entfernten und lernten, sie mit mehr Distanz wahrzunehmen, gewannen wir gleichzeitig mehr Verstehen, ein Gefühl von Ordnung in den Dingen und einen Zuwachs an Kontrolle.

Im Alter zwischen zwei und drei Jahren begannen wir „Ich“ zu sagen und uns als eigenständige Persönlichkeit und deutlich differenziert von unserer Umwelt zu erfahren. Die Fragen nahmen zu, während wir Fragewörter lernten und begannen, sie richtig zu benutzen. Wir konnten „was“ und „wo“ fragen und später auch „warum“. Mit der Warum-Frage begannen wir, über die isolierte Wahrnehmung von Dingen und Ereignissen hinaus, Zusammenhänge zu entdecken und Verbindungen herzustellen. Wir lernten die Beziehung von Ursache und Wirkung zu verstehen und dieses Verständnis nicht nur auf die sichtbare, materielle Welt anzuwenden, sondern auch auf unsere Beziehungen, insbesondere die zu unseren Eltern.

Unser Geist begann auf diese Weise, sich von der konkreten Welt dort draußen unabhängiger zu machen und ein eigenes, inneres Universum zu entwickeln, das sich zunehmend mit sich selber beschäftigen konnte und allmählich weniger Input benötigte, was bald zu einer zweischneidigen Angelegenheit werden sollte. Denn einerseits ermöglichte es uns, nach und nach in unserem Denken eigenständiger zu werden, uns tatsächlich eigene innere Welten zu erschaffen oder uns Luftschlösser und philosophische Systeme zu bauen, andererseits war es unausweichlich, dass wir zu Gefangenen unserer inneren Welten wurden, sie für die einzige Realität hielten und uns häufig nur wenig zugänglich für einen korrigierenden Input aus der Außenwelt zeigten.

Ein Mensch beispielsweise, der früh in seinem Leben anhaltende Entwertung erlebte und allmählich glaubte, was ihm da ständig aufgetischt wurde, wird sich auch als Erwachsener noch wertlos fühlen und misstrauisch werden, wenn er unerwartete Wertschätzung erhält. Er wird an diese nicht glauben, da sich die innere Welt, in der er an seine Wertlosigkeit glaubt, schon über viele Jahre verfestigt hat und so wirklicher erscheint als jede andere Wirklichkeit. Die eigene Wertlosigkeit erscheint dann als fraglos gegeben und wird nur schwer in Frage gestellt.

Uns und unsere Überzeugungen immer wieder in Frage zu stellen und der Welt, uns selbst eingeschlossen, immer wieder aufs Neue fragend zu begegnen ist nicht einfach, stellen wir uns damit doch auch immer wieder selbst in Frage. Dies kann sich durchaus bedrohlich anfühlen, denn unsere innere Welt ist auch Teil unserer Identität, unseres Selbstbildes und unseres Selbstverständnisses, die wir unbedingt schützen und aufrecht erhalten wollen, selbst wenn wir darunter leiden sollten. Lieber die bekannte Hölle als das Risiko des unbekannten Himmels einzugehen.

Das Fragen und sich in Frage stellen, das hier gemeint ist, soll jedoch nicht den destruktiven Charakter nagenden Selbstzweifels haben, sondern vielmehr einen weiten Raum schaffen, dem wir uns öffnen und in den wir uns stellen können. Wir könnten sagen, dass wir uns gleichsam in die Frage stellen, den Raum der Frage betreten, uns ihr aussetzen und sie wirken lassen, was ein sehr meditativer Prozess sein kann.

Wir lernten im Aufwachsen, unsere Fragen nicht nur unseren Bezugspersonen zu stellen, sondern auch uns selber, und uns damit auf dem Boden unserer bisherigen Erfahrungen selber die Antworten zu geben. In dieser Zeit begannen wir vielleicht auch, uns zu fragen, warum das Leben in Gestalt unserer Eltern nicht mehr alle Bedürfnisse sofort und zufriedenstellend erfüllte. Manch einer kam zu dem Ergebnis, dass es nur an ihm selber liegen konnte, denn die Eltern waren ja sicher liebend, allwissend und allmächtig. Früher oder später kamen die meisten von uns zu dem Ergebnis, dass mit uns selber irgendetwas nicht stimmen konnte. Da wir noch nicht zwischen unseren Handlungen und unserer Person trennen konnten, trafen uns Kritik, Verbote und Strafen im Kern. Wir wussten noch nicht, dass wir zwar etwas falsch gemacht haben konnten, damit aber nicht als Mensch falsch waren.

Unser Verstand war in dieser Zeit noch nicht fähig, all dies zu hinterfragen und zu eigenständigen Ergebnissen zu kommen. Die Eltern waren schließlich noch allmächtig und allwissend und so kriegten wir jede Menge Antworten auf Fragen, die wir nie gestellt hatten und verinnerlichten diese. Wir hatten nie gefragt, was wir sollen, müssen, dürfen oder nicht dürfen. Wir hatten auch nicht gefragt, was für Menschen wir sind, ob liebenswert, schlau oder dumm, Sieger oder Verlierer. Wir bekamen diese Zuschreibungen ganz ungefragt, konnten uns selber aber noch nicht fragen, ob diese tatsächlich irgendetwas mit uns zu tun hatten. Wir nahmen Wertungen in uns auf, von denen wir uns noch nicht distanzieren konnten, hielten sie für wahr, verinnerlichten sie und lebten aus dieser vermeintlichen Wahrheit heraus. Des Schmerzes, der sich dabei einschlich, mussten wir uns auf irgendeine Weise entledigen. So entwickelten wir unsere persönlichen Strategien der Schmerzvermeidung und der Panzerung gegen die Verletzlichkeit.

Wer selber Kinder hat, wird vermutlich wissen, dass es unmöglich ist, dieser Dynamik zu entgehen. Egal wie sehr wir unsere Kinder lieben und bereit sind, uns für ihr Glück zu verbürgen, werden wir ähnliche Fehler machen wie unsere eigenen Eltern. Mal wird es zu wenig gewesen sein, was wir geben konnten, mal werden wir über das Ziel hinausgeschossen sein. Mal engten wir unsere Kinder über die Maßen ein, ein anderes Mal ließen wir zu, dass sie in der gewährten Freiheit keinen Halt mehr fanden. Wir konnten nicht anders als sie mit Antworten auf nicht gestellte Fragen aus unserer eigenen Erfahrung aber auch aus unserer Liebe und Sorge heraus zu versorgen. Manche Antworten ermöglichten vielleicht tatsächlich eine Entwicklung in Richtung auf mehr Offenheit, mehr Neugier, mehr Lebendigkeit und mehr Menschlichkeit. Bei anderen mussten wir später feststellen, dass wir unsere Kinder so beschnitten und eingeengt hatten, wie wir es manchmal selber als Kinder erlebt hatten.

Früher oder später hatten wir genug Antworten gehört, die uns die Lust aufs Fragen verdarben und unserer kindlichen Neugier einen Dämpfer verpassten. Vielleicht geschah es, dass mit der Menge der vorgefertigten Antworten, mit denen wir konfrontiert wurden, unsere Lust auf das Fragen selber abnahm. Vielleicht passten wir uns an die fremden Antworten an oder leisteten Widerstand, und so begann bei vielen von uns, die lebendige Energie des fragenden und entdeckenden Geistes zu erlahmen. Auch in der Schule lernten wir wenig über das Fragen, sondern mehr über die richtigen Antworten. Wir lernten, die richtigen Antworten zu reproduzieren und da wir bereits wussten, dass eine Beziehung zwischen „richtigem“ Tun und unserem Wert als Menschen bestand, mühten wir uns, mit der richtigen Antwort unseren Wert zu beweisen. Wir stellten sogar Zusammenhänge zwischen einer Zahl auf einem Stück Papier, das „Note“ genannt wurde, und unserem Wert als Menschen her. Gelang uns dies, wurden wir zu einem wertvollen und vollwertigen Mitglied der Gemeinschaft. Gelang uns dies weniger gut, begannen wir vielleicht, uns als Versager oder Außenseiter zu fühlen. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass, während wir uns anpassten oder Widerstand leisteten, die Fähigkeit Fragen zu stellen abnahm.

Viele von uns erinnern sich sicher, wie das Fragen während der Pubertät wieder aufblitzte, etwas von der alten Neugier aufwachte und wir die Antworten, die uns bis dahin aufgedrängt worden waren, in Frage stellten. Wer kann sich nicht erinnern an eine Phase vehementen eigenständigen Denkens, bereit, alles in Frage zu stellen, für die eigenen, neuen Einsichten zu kämpfen und unbequem für Eltern und Lehrer zu werden. Je nach persönlicher Kraft und Geschicklichkeit waren wir in diesem Kampf mehr oder weniger erfolgreich.

Wie viele von uns ließen die Zeit des eigenständigen Denkens wieder hinter sich, um beruflich erfolgreich sein zu können, ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppierung zu erhalten, sich nicht als Versager zu fühlen oder einer erhofften Anerkennung nicht verlustig zu gehen? Unsere Fragen bezogen sich jetzt vorwiegend auf Vorgänge in der Außenwelt, auf die Lösung beruflicher Fragestellungen, auf Möglichkeiten der Sicherung unseres finanziellen Auskommens, vielleicht auf den Hausbau, das passende neue Auto, die richtige Kleidung oder auf die Verbesserung unserer Persönlichkeit, um in den Augen der anderen gut da zustehen. Für die meisten von uns nahm das Leben immer mehr Fahrt auf, verselbständigte sich und begann auf Autopilot gestellt zu laufen.

Jedoch ist, wie John Lennon wohl bemerkte, Leben das, was passiert, während wir andere Pläne machen. Und so kommt es, dass das Leben uns früher oder später ein Bein stellt - wenn es gnädig ist, früher als später. Es ist dann so, als würde das Leben selber unsere Lebensweise, unsere Haltungen, Werte und Ideale auf den Prüfstand stellen und uns zunächst freundlich aber unmissverständlich auffordern, das Fragen wieder aufzunehmen und aus der Trance der Selbstverständlichkeit unserer Lebensabläufe aufzuwachen. Dem einen stellt das Leben ein Bein mit einer körperlichen Erkrankung, dem anderen mit einem burnout, dem nächsten mit dem Verlust des Lebenspartners oder der unverhofften Kündigung. Selten sind wir einverstanden damit, wenn wir so unsanft aufgeweckt werden. Wir lieben ja auch die Routine und Bequemlichkeit, wenn alles läuft und wir uns keine Gedanken machen müssen.

Wenn wir aus dem Tritt gekommen sind und das nächtliche Grübeln uns den Schlaf raubt, ist Schluss mit lustig. Wer kommt in diesem Augenblick schon auf die Idee, dass das Leben es gut mit ihm meint. Eher fühlen wir uns als Opfer, halten das Leben für unfair, den Chef für ein Schwein und schwanken zwischen Wut, Ohnmacht und Versagensgefühlen. Wir halten uns selber oder die Umstände und andere Menschen für schuldig. Tief unter der Oberfläche kommen wir vielleicht in Kontakt mit dem Gefühl der Scham, nicht richtig zu sein, so wie wir sind, nicht gut genug. Und weil es noch nie genug war und wir nicht gut genug, waren wir immer auf das „mehr“ ausgerichtet und damit auf das Morgen, das Erwarten, das Hoffen und Befürchten statt auf die Lebendigkeit des Gegenwärtigen.

So erhalten wir hoffentlich alle im Leben die Chance, uns wieder mit uns selber auseinanderzusetzen, uns in Frage zu stellen, uns wieder neu zu entdecken und wieder bei uns selber und der Lebendigkeit, die sich das Leben von uns wünscht, anzukommen. Das Leben möchte von uns, dass wir Fragen stellen, dass wir jederzeit auf diese kindlich neugierige und entdeckende Weise auf es zu gehen und damit bis zu unserer letzten Stunden nicht wieder aufhören.

Fragen führen uns in eine Suchbewegung und damit in eine erweiterte Wahrnehmung, die uns mehr Möglichkeiten erkennen lässt. Das Fragen führt uns weg von eingefahrenen Wegen und eingeengten Mustern des Denkens, Fühlens und Handelns. Aus der erweiterten Wahrnehmung heraus fangen wir an, mehr zu verstehen, womit wir die Grundlagen für Veränderung schaffen und uns allmählich aus der Entmündigung durch unsere frühen und uns häufig nur wenig bewussten Prägungen befreien können.

Hiermit soll schon mal ein ganz allgemeines Muster von Entwicklungsprozessen vorgeschlagen werden, das folgende Schritte umfasst. Wir beginnen mit der Einsicht, dass wir leiden, falls es nicht die pure kindliche Neugier ist, die uns antreibt. Neben der Neugier ist Leiden sicher der wichtigste Motor für Veränderung in unserem Leben. Also gestehen wir uns besser ein, dass wir Leiden, statt dieser Tatsache auszuweichen, das Leiden zu verdrängen oder zu beschönigen. Wir fragen nach dem „was“ des Leidens und erlauben uns so, es in seiner Natur vollständig wahrzunehmen und dieser Wahrnehmung nicht auszuweichen. Hierbei werden wir in tieferen Kontakt mit Gefühlen und Empfindungen kommen. Dann können wir beginnen, Fragen nach den Ursachen unseres Leidens zu stellen, was uns zur Wahrnehmung unserer persönlichen emotionalen und gedanklichen Muster und der damit verbundenen Lebens- und Lerngeschichte führt.

Auf dem Boden dieser sich allmählich erweiternden Wahrnehmung beginnen wir, uns besser zu verstehen. Auf der Grundlage des Wahrnehmens und Verstehens entwickeln wir schließlich hilfreichere Einstellungen zum Leben, generieren daraus neue Ziele und schließlich Handlungsweisen, die uns diesen näher bringen. Das Leben wird so wieder lebendiger. Wir nehmen am Spiel des Lebens teil und entfalten uns, was uns schließlich zu einem erfüllten Leben führt. Vielleicht erkennen wir dabei sogar, dass das Paradies nicht im Jenseits liegt und wir es selber sind, die sich immer wieder zu Fegefeuer und Hölle verdammen.

Veränderung beginnt also nicht damit, einfach etwas anders zu machen, sondern mit der Wahrnehmung dessen, was überhaupt vorgeht. Dafür ist es notwendig, einen wachen und interessierten Forschergeist zu entwickeln. Der Forschergeist beobachtet, aber in unserem Fall nicht wie ein Wissenschaftler, der ins Reagenzglass schaut, emotionslos darin herumstochert und vollständig davon distanziert bleibt, sondern eher wie ein Ethnologe, der in das Umfeld seines Forschens eintaucht, sich berühren lässt, mitfühlt, gleichzeitig aber mit einem Teil seines Geistes die forschende Distanz aufrecht erhält.

Auf ähnliche Weise tauchen wir ganz und gänzlich bewusst in unsere Körperlichkeit, unsere Emotionalität und unser mehr oder weniger (eher weniger als mehr) rationales Denken ein, während wir gleichzeitig die Fähigkeit des Beobachtens entwickeln. Der Forschergeist ist dabei ein offener Geist, ein Geist der sich darin übt, Vorurteile zu erkennen und aufzugeben, der bereit ist, sich selber in Frage zu stellen, hinter die Scheuklappen der eigenen Prägungen zu schauen und sich von überraschenden Erkenntnissen aus den Socken hauen zu lassen.

Fragen heißt also ganz unmissverständlich auch, sich selber in Frage zu stellen, alles Gewohnte auf den Prüfstand des Fragens zu stellen und sich damit einzugestehen, dass es nicht nur dort draußen, sondern auch in uns ein unbekanntes Universum gibt, das entdeckt werden will. Das Selbstverständliche und Gewohnte ist vielleicht eben doch nicht das Wahre oder das Richtige. Manches woran wir fest glauben, dürfte sich als kindliche Illusion entpuppen. Wie damals als wir in der Kindheit mit dem Fragen begannen, beginnen wir auch jetzt wieder möglichst neugierig mit der Frage nach dem „was“. Was nehme ich dort wahr, wenn ich meine Aufmerksamkeit bewusst auf den Körper, die Gefühle und den Geist richte?

Sinnvoller Weise beginnen wir dabei mit dem Körper. Dieser ist konkret, anfassbar und ganz unmittelbarer Wahrnehmung zugänglich. Dazu kommt, dass wir in einer sehr vom Verstand geprägten Gesellschaft häufig dazu neigen, unsere Körperlichkeit auszublenden oder unseren Körper zu funktionalisieren, ihn als bloßes Mittel für einen Zweck betrachtend. Damit machen wir unseren Körper zum Objekt, leben nicht mehr vollständig in ihm und spüren nicht mehr so ganz, dass wir ja der Körper auch selber sind.

Verstärkt wird dies sicher durch Bilder, die uns durch die Medien vermittelt werden. Die Werbung vermittelt uns einen Körperkult, einhergehend mit der Aufforderung, unseren Körper zu verbessern, attraktiver zu machen, schlanker, stärker und jugendlicher. Damit soll unser Körper den Vorstellungen unseres Verstandes, die von Funktion und Idealen geprägt sind, folgen. Vom Subjekt der lebendigen Erfahrung wird der Körper so zum Objekt unser Vorstellungen und Erwartungen. Man könnte das einen Missbrauch des eigenen Körpers nennen.

Irgendwann werden wir in der Folge sauer oder enttäuscht sein, dass der Körper unseren Vorstellungen nicht folgt und so wenden wir uns gegen ihn, anstatt auf ihn zu hören. Der eine resigniert, weil er seinen Körper nicht so stromlinienförmig gestalten kann, wie er will und lässt sich anschließend gehen. Der andere besteht darauf, dass sein Körper ihm folgen muss und verlangt ihm noch mehr ab nach dem Motto „da wollen wir doch mal sehen, wer der Herr im Hause ist.“ Früher oder später wird da deutlich werden, wer der Stärkere ist. Der Verstand ist es jedenfalls nicht.

Die Trennung von Körper und Geist bestimmt unsere Kultur seit Jahrhunderten und ist uns tief eingeprägt. Wir sind es gewohnt, uns mit unserem Verstand zu identifizieren und diesen als unser eigentliches Ich zu verstehen. Der Körper gehört dann schon zur Außenwelt, fast wie unser Auto oder unser Haus. Er muss gewartet und manchmal repariert werden. Für diese Trennung zahlen wir jedoch einen hohen Preis. Wir verlieren die Ganzheit unseres Selbst, die Einheit von Körper, Seele und Geist, die die Voraussetzung für eine umfassende Lebendigkeit ist. Erst wenn wir wieder ganz dieser Körper sind und die Distanz zu ihm aufgegeben haben, wird er uns wieder verlässliche Rückmeldungen geben können, wo wir gerade stehen, was wir fühlen und brauchen und welchen Weg wir gehen können und vielleicht sollen.