Das Geheimnis vom Watzinger-Hof - Irene Dorfner - E-Book

Das Geheimnis vom Watzinger-Hof E-Book

Irene Dorfner

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Beschreibung

Anderl Untermaier, der Leiter der besten Landshuter SEK-Einheit, wacht nackt in einer fremden Wohnung auf. Seine Hände sind blutverschmiert. An das, was letzte Nacht geschehen ist, kann er sich nicht erinnern. Wenig später wird er suspendiert, da gegen ihn Anzeige wegen Körperverletzung und sexuellem Missbrauch einer Minderjährigen erstattet wurde. Sein Chef und die Kollegen glauben Anderls Unschuldsbeteuerungen nicht. Er findet ausgerechnet Hilfe bei seinem Erzfeind Hauptkommissar Leo Schwartz von der Mühldorfer Kriminalpolizei. Was der gemeinsam mit Hans Hiebler herausfindet, ist unfassbar…

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Seitenzahl: 266

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Irene Dorfner

Das Geheimnis vom Watzinger-Hof

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

VORWORT

ANMERKUNG:

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

Liebe Leser!

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Impressum

Copyright © 2023 Irene Dorfner

Verlag:ID Verlag Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting

www.irene-dorfner.de

All rights reserved

ISBN: 978-3-98738-146-1

Lektorat:

EarL und Marlies Heidmann, Spalt

Sabine Thomas, Stralsund

FTD-Script, Altötting

VORWORT

Diesen Krimi widme ich meinem kleinen Stinker Sammy, der mich von Anfang an überall bei den Recherchen zu allen Leo-Schwartz-Krimis begleitet hat. Mein Beagle und ich waren ein eingespieltes Team, das es jetzt so leider nicht mehr gibt.

Fall 44 war unser letzter gemeinsamer Fall, Sammy hat den Kampf gegen den Krebs verloren.

Lauf, kleiner Bärentöter, wir sehen uns wieder!!

Ich bin sehr, sehr traurig…

ANMERKUNG:

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Anderl Untermaier begriff nicht, was los war. Wo war er? Und was hatte er hier zu suchen? Ein nur schwer zu ertragender Kopfschmerz raubte ihm fast den Atem. Er musste sich zwingen, die Schmerzen zu ignorieren und zu verstehen, wo er sich befand. Das hier war nicht sein Bett, auch das Zimmer war ihm völlig unbekannt. Der Platz neben ihm war zerwühlt, also lag er heute Nacht nicht allein hier. Er hob die Bettdecke – er war nackt. Was sollte das? Erst jetzt bemerkte er das Blut an seinen Händen. Das war nicht seins, er war unverletzt. Was, verdammt nochmal, war hier los?

Trotz der rasenden Kopfschmerzen stand Anderl auf und sah sich um.

„Hallo?“, rief er immer wieder, aber hier war niemand. Das beruhigte ihn zwar, warf aber noch mehr Fragen auf.

Im Badezimmer wusch er das Blut von den Händen. Fassungslos musste er zusehen, wie die braunrote Brühe langsam im Abfluss verschwand. Nachdem er sich die Hände abgetrocknet hatte, bemerkte er die blutunterlaufenen Knöchel beider Hände. Hatte er sich geprügelt? Nein, das war nicht möglich, denn er war ein friedliebender Mensch, der sich – wenn überhaupt – verbal auseinandersetzte. Eine Schlägerei käme nie infrage, damit würde er auch in seinem Job Probleme bekommen, denn prügelnde Polizisten hatten in seiner Position keine Chance. Aber woher stammten die Verletzungen? Dafür gab es sicher eine plausible Erklärung.

Er suchte nach seiner Kleidung, die im Wohnzimmer verstreut lag. Das war nicht seine Art, denn Unordnung war ihm zuwider. Was war gestern passiert? Er erinnerte sich daran, dass ihn ein Kollege auf ein Feierabendbier einlud. Der erschien aber nicht. Während sich Anderl anzog, versuchte er sich krampfhaft daran zu erinnern, was danach geschah, aber da war nichts, alles war leer. Sein Smartphone! Darin fand er vielleicht Hinweise auf gestern. Hektisch suchte er nach seinem Smartphone, fand es aber nicht. Zum Glück lag sein Schlüsselbund auf dem Küchentisch, was ebenfalls seltsam war, denn noch niemals vorher hatte er die Schlüssel auf irgendeinen Tisch gelegt. Die behielt er immer in seiner Jackentasche – und die Jacke hing im Flur an der Garderobe. Die kleinen Puzzleteile passten für ihn nicht zusammen. Anderl spürte den Drang zu gehen, aber das durfte er noch nicht. Er zwang sich, sich nochmals in der fremden Wohnung umzusehen. Er suchte nach einem Hinweis darauf, wer hier wohnte und was geschehen war. Aber hier war nichts. Kein Foto, keine Korrespondenz – einfach nichts. Es gab kein einziges Detail, das ihn auch nur annähernd an irgendetwas erinnerte.

Frustriert verließ er die Wohnung. Ob er die Tür zuziehen sollte? Warum nicht.

Das Treppenhaus war hell, seine Schritte hallten auf den Fliesen. Vor dem Mehrfamilienhaus stand sein Wagen, der akkurat eingeparkt war – auch etwas, das er eigentlich nie machte. Das war eine Marotte von ihm, über die sich die Kollegen seit Jahren lustig machten. Bevor er einstieg, sah er sich um. Das Haus, die Straße, die ganze Gegend sagten ihm nichts. Wie war er hierhergekommen? Im Wagen sah er sofort im Navi nach, aber darin war nur die Adresse der Kneipe in Gangkofen gespeichert, mehr war da nicht. Dann bemerkte er das Kfz-Kennzeichen auf einem der anderen Fahrzeuge: EG für Eggenfelden. Ein Besucher? Anderl stieg wieder aus und sah sich auch die anderen Kennzeichen an. Hier stand kaum ein Fahrzeug, das nicht ein EG- oder ein PAN-Kennzeichen hatte, Letzteres stand für Pfarrkirchen, einer der Nachbarorte, der sich in Niederbayern befand. Anderls Verzweiflung wich nun Wut. Was war hier los, verdammt nochmal! Er zwang sich dazu, sich an gestern zu erinnern. Er hatte Feierabend gemacht wie jeden Tag, gestern hatte er Tagschicht. Die Arbeit bei der Landshuter Polizei wurde in drei Schichten eingeteilt, gestern war um 17.00 Uhr Schluss. Er selbst lebte noch nicht lange in Massing, einem kleinen Ort in Niederbayern. Hier bewohnte er ein Haus, das er von seiner Lieblingstante geerbt hatte. Das Haus war stark renovierungsbedürftig, normale Menschen hätten es einfach über den Haufen geschoben und ein neues gebaut. Aber das war nicht Anderls Art, denn er hatte sehr gute Erinnerungen daran und an seine Tante Heidi. Sofort nach der Testamentseröffnung hatte er mit dem Umbau begonnen und es tatsächlich geschafft, dass zumindest vier der kleinen Räume seit einigen Monaten bewohnbar waren. Massing und Landshut lagen nur eine dreiviertel Stunde Fahrzeit voneinander entfernt, das war leicht zu bewältigen. Der Wichtl Sepp hatte ihm eine Nachricht geschickt, ihn in Gangkofen, einem popligen Nachbarort Massings, in einer Kneipe zu treffen. Dass er sich daran erinnerte, freute ihn wahnsinnig, also war nicht alles aus seinem Gedächtnis verbannt. Dass er vor Freude fast weinte, merkte Anderl nicht. Wenn ihm das wieder einfiel, dann vielleicht auch die anderen Geschehnisse des letzten Abends oder der letzten Nacht? Gestern fuhr er zu dieser Kneipe, das war klar, aber er wartete dort vergebens auf den Sepp. In seinen Gedanken sah sich Anderl am Tresen sitzen, vor ihm stand ein Glas Wasser. Er konnte sich plötzlich sehr gut daran erinnern, dass sich darin eine Scheibe Zitrone befand. Ihn sprach ein junges Mädl an. Sie wollte, dass er ihr ein Getränk spendiere, was er auch bei dem schweigsamen Wirt geordert hatte. An einem Gespräch mit dem Mädl hatte er kein Interesse und saß dann wieder allein vor seinem Wasser. Wahnsinn, was alles vor seinen Augen lebendig wurde, wenn er sich nur anstrengte! Seine Freude über diese Erinnerungen schwand, denn mehr fiel ihm zum gestrigen Abend partout nicht ein. Anderl schlug sich auf den Kopf, gab sich zwei Ohrfeigen. Ob er sich so an den gestrigen Abend und die letzte Nacht erinnern konnte? Nein. So sehr er sich auch bemühte, fiel ihm absolut nichts ein. Wütend über sich selbst lief er auf und ab. Das hier war nicht seine Gegend, hier hatte er nichts verloren. Aufgebracht stieg er in seinen Wagen und fuhr zu der letzten Adresse seines Navis – der Kneipe in Gangkofen. Der Parkplatz war leer. Diese Kneipe, die jetzt bei Tageslicht ziemlich zwielichtig aussah, sagte ihm nicht viel. Vor dem gestrigen Abend war er niemals hier gewesen, das stand für ihn fest. Auch hier fiel ihm nichts ein, das ihm weiterhelfen konnte. Er startete den Wagen und fuhr zu der Straße zurück, in der er heute aufgewacht war. Er stieg aus und lief umher, wobei er sich nicht weit von dem fraglichen Haus entfernte. Was wollte er hier? Wer wohnte hier? Je mehr Zeit verging, desto verzweifelter wurde er. Irgendwann sprach er eine Passantin an.

„Das hört sich jetzt blöd an, ich weiß, aber könnten Sie mir sagen, wo wir hier sind?“

„In der Sudetenstraße.“

„In welchem Ort?“

„Massing.“ Die Frau schüttelte den Kopf und ging weiter. Dass sie ihn für verrückt hielt, war Anderl zwar klar, aber auch egal.

Massing! Die Sudetenstraße lag am anderen Ende des Ortes, in dem er seit einigen Monaten lebte. Was wollte er hier? Was sollte der Mist?

Anderl war verzweifelt, dann wurde er wieder wütend. Da hat sich jemand einen sauberen Witz erlaubt, anders war das alles nicht zu erklären. Aber das war nicht witzig, das hier überstieg jede Grenze. Er stieg in den Wagen und fuhr durch die Gegend. Vielleicht irrte sich die Frau und er war doch woanders. Das bestätigte sich aber nicht, er war tatsächlich in Massing. Es war kurz nach neun Uhr, er müsste längst im Büro sein. Verdammter Mist!

Trotz der Eile fuhr Anderl zuerst nach Hause, schluckte erst einige Schmerztabletten, duschte und zog sich um. Was auch immer in der Nacht geschehen war, er musste es auch äußerlich loswerden.

Vom Festnetz aus rief Anderl einen seiner Mitarbeiter bei der Polizei Landshut an. Oliver Sailer war sein bester Mann, ihm konnte er vertrauen.

„Servus Oliver. Ich komme heute später, ich habe verschlafen.“

„Mach, dass du deinen Hintern hierherschaffst, der Chef sucht nach dir. Hier ist irgendetwas im Busch, das mit dir zu tun hat.“

„Was soll das sein? Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“

„Keine Ahnung, aber die Stimmung ist sehr angespannt. Komm endlich und klär das, wir machen uns hier alle große Sorgen.“

„Alles klar.“ Anderl machte sich Gedanken über das, was Oliver eben gesagt hatte. Was wollte der Chef von ihm? Anderl war sich keiner Schuld bewusst. Das, was anlag, war sicher nicht so dramatisch, wie es der Kollege schilderte.

Bevor er das Haus verließ, legte er die gebrauchte Wäsche fein säuberlich zusammen und gab sie dann in den Wäschekorb. Das war eine Marotte, die er nicht gedachte, heute schleifen zu lassen.

Anderl ging zu seinem Wagen. Die neugierige Nachbarin Resi Gschwend stand wie immer am Fenster. Die neugierige Matz hatte immer alles und jeden fest im Auge, wobei sie auf Fehler lauerte, die sie dann lautstark hinausbrüllte und nicht selten zur Anzeige brachte. Unter normalen Umständen würde er zumindest einen dummen Spruch anbringen, aber dafür war keine Zeit. Der ausgestreckte Mittelfinger musste heute reichen.

Eineinhalb Stunden nach dem Telefonat mit Oliver Sailer war Anderl endlich in Landshut angekommen. Sein Weg führte ihn direkt zum Polizeichef, aber zuerst sprach er einige Worte mit der Sekretärin des Chefs, Gitte Prinz. Sie war immer gut informiert und wusste sicher, was der Chef von ihm wollte.

„Ich habe keine Ahnung, Anderl, aber es muss sehr ernst sein“, sagte die kleine Frau mit den braunen, wilden Locken.

„Du weißt doch sicher was“, setzte Anderl nach. Er wollte nicht unvorbereitet zum Chef gehen.

„Ich weiß nur, dass etwas gegen dich vorliegt.“

„Was soll das sein? Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“

„Da läuft etwas, das nicht gut ist.“

Anderl lachte und strich ihr durch die Lockenpracht, wie er es sonst auch immer machte. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren und hatten sehr viel gemeinsam erlebt, weshalb Gitte Prinz ihm die vertrauliche Geste nicht übel nahm. Allerdings durfte das nur er, sonst niemand.

Gitte Prinz sah Anderl hinterher, wie er im Büro des Chefs verschwand. Anderl war unbedarft und ahnte nichts davon, was ihm jetzt bevorstand. Natürlich wusste sie, was ihn erwartete, schließlich kannte sie jedes Detail. Nicht nur aus den Unterlagen, sondern auch von den Gesprächen, die sie belauscht hatte. Wie es ihre Art war, hatte sie dem Chef gegenüber einige Sätze fallenlassen. Nicht nur, um ihn in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen, sondern um ihre eigenen Interessen zu forcieren.

Anderl trat trotz der immer noch hämmernden Kopfschmerzen so sorglos und fröhlich wie möglich ins Büro des Chefs Bernhard Dunst.

„Sorry, ich habe verschlafen. Du wolltest mich sprechen?“

„Setzen Sie sich.“ Der Ton war sehr scharf, was Anderl misstrauisch werden ließ. Vor allem, dass ihn der Chef nicht mehr duzte, sondern das SIE sogar betonte, war sehr ungewöhnlich. Was war hier los? Bernhard Dunst war sonst ein umgänglicher, äußerst freundlicher und auf Harmonie bedachter Mann, wovon jetzt nichts zu spüren war.

„Was ist hier los? Was ist passiert?“

„Gegen Sie wurde Anzeige erstattet.“

„Anzeige gegen mich? Das kann nicht sein, das ist sicher ein Missverständnis. Du musst mir glauben, dass ich mir nichts vorzuwerfen habe.“ Anderl erinnerte sich an den Stinkefinger seiner Nachbarin gegenüber. War sie so dreist und würde ihn wegen so einer Lappalie anzeigen? Zuzutrauen wäre es ihr. „Geht es um meine Nachbarin Frau Gschwend? Die Alte ist eine Nervensäge, die legt sich mit jedem an.“

„Darum geht es nicht! Eine sehr junge Frau, fast noch ein Kind, hat Anzeige wegen Vergewaltigung, Nötigung und Körperverletzung erstattet.“ Der Polizeichef kochte vor Wut und Enttäuschung. „Ich dachte auch erst an ein Missverständnis, da ich Sie schon seit vielen Jahren kenne und Sie bisher auch sehr geschätzt habe. Die Fotos, die ich mir ansehen musste, waren schrecklich. Sie haben ein junges Mädl geschlagen und sexuell missbraucht, so etwas werde ich bei meiner Polizei nicht dulden.“

„Das ist doch Blödsinn! So etwas würde ich niemals tun!“

„Dann sind Sie damit einverstanden, dass wir Spuren an Ihnen sichern?“

„Normalerweise ja, aber ich habe geduscht, da wird man nicht viel sichern können. Die Kleidung der letzten Nacht liegt zuhause im Wäschekorb.“ Hoffnung keimte auf, denn daran waren sicher keine Spuren zu finden.

„Die Tatsache, dass Sie geduscht haben, ist belastend.“

„Weil ich geduscht habe? Das macht man morgens so, daraus kann man mir keinen Strick drehen.“

„Wir werden die Kleidung, von der Sie eben sprachen, untersuchen. Versprechen Sie sich nicht zu viel davon, schließlich wissen wir nicht, was genau Sie während der Tat getragen haben. Sie sind vorrübergehend suspendiert, Herr Untermaier, mir bleibt keine andere Wahl. Ausweis und Waffe!“

Anderl war völlig durcheinander.

„Spinnst du jetzt komplett, Bernhard? Du traust mir die Tat wirklich zu? Du kennst mich doch!“

„Das dachte ich auch, aber die Beweise sind erdrückend. Und wenn ich mir Ihre Hände ansehe, muss ich erkennen, dass ich Sie völlig falsch eingeschätzt habe.“

„Das muss ein Missverständnis sein. Betrachten wir die Sache ganz nüchtern. Wen soll ich misshandelt und missbraucht haben? Und wo soll das stattgefunden haben? Ich war letzte Nacht nicht in Landshut.“

„Und wo wollen Sie gewesen sein?“

„In Massing. Die Umstände sind mir selbst noch nicht ganz klar, aber ich war definitiv nicht in Landshut!“ Innerlich war Anderl erleichtert, dass die Sache damit hoffentlich vom Tisch war.

„Die Tat hat in Massing stattgefunden, und zwar in der Sudetenstraße. Ihr Smartphone ist eines der Beweisstücke. Die darauf befindlichen Fotos sind eindeutig, das können Sie nicht wegdiskutieren. Sie haben sich selbst belastet, als Sie zugaben, letzte Nacht in Massing gewesen zu sein, das ist Ihnen hoffentlich klar.“

„Mein Aufenthalt ist nachvollziehbar, schließlich wohne ich dort seit einigen Monaten. Das weißt du doch, Bernhard! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das Mädchen wirklich geschlagen und missbraucht habe!“ Mehr konnte Anderl nicht dazu sagen. Das Wort Sudetenstraße schwirrte in seinem Kopf. Das durfte doch alles nicht wahr sein!

„Ich werde diese Aussage den Akten zufügen, dazu bin ich verpflichtet. Und jetzt möchte ich Ihren Ausweis und Ihre Dienstwaffe!“

Anderl legte beides auf den Tisch. Während er versuchte, sich irgendwie zu erklären, hörte Bernhard Dunst nicht zu.

„Genug jetzt! Gehen Sie mir aus den Augen, Untermaier!“

Anderl stürmte an Gitte Prinz vorbei. Sie war nicht unglücklich darüber, denn sie hatte keine Ahnung, was sie zu ihm sagen sollte. Als er außer Sichtweite war, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Alles lief genau so, wie sie es erwartet hatte. Anderl hatte den Kopf in der Schlinge und konnte sich daraus nicht mehr befreien. Hätte er sie nicht in all den vielen Jahre abgewiesen und seine Späße gemacht, wäre er verschont geblieben, aber so hatte er verdient, was jetzt mit ihm geschah.

„Kümmern Sie sich darum, dass die Kleidung von Untermaier aus dessen Haus abgeholt und untersucht wird“, wies Dunst die Sekretärin Gitte Prinz an. „Hier ist die Adresse.“

Gitte brauchte die Adresse nicht, sie wusste sehr gut, wo und wie Anderl lebte.

„Alles klar, Chef. Sie haben richtig gehandelt. Untermaier musste suspendiert werden. Wenn sich die Vorwürfe gegen ihn bestätigen, sind Sie damit aus dem Schneider. Niemand wird…“

„Genug jetzt! Ich möchte in der nächsten Stunde nicht gestört werden.“

Gitte war nicht böse über die schroffe Art, damit hatte sie ja gerechnet. Sie hielt den Zettel in der Hand. Ob sie sich wirklich darum kümmern sollte?

Anderl lief wie ferngesteuert. Der Gang durch die Flure glich einem Spießrutenlauf. Das, was ihm vorgeworfen wurde, hatte offenbar bereits die Runde gemacht. Was ihn in seinem Büro erwartete?

Oliver Sailer stand sofort auf und ging auf seinen Vorgesetzten zu.

„Das lässt sich sicher aufklären, Anderl, Kopf hoch!“

Auch andere Kollegen nickten ihm zu, allerdings entging Anderl nicht, dass sich einige von ihm abwandten. Er sah ins Gesicht von Manfred Nehmer, der an seinem Schreibtisch saß und keine Miene verzog. Nehmerstand nicht auf und sagte auch nichts zu ihm. Und wo war Josef Wichtl? Hätte er nicht einiges zur Klärung beitragen können? Wichtl war nicht hier. Sollte er nach ihm suchen? Die Stimmung im Büro war im Keller, niemand sagte ein Wort, es war totenstill. Anderl hätte sich erklären oder um Hilfe bitten können, aber dazu war er nicht in der Lage. Ob er nach Wichtl suchen sollte? Das schaffte er nicht, er wollte nur noch weg.

Anderl Untermaier war völlig durcheinander. Was dem Sechsundfünfzigjährigen vorgeworfen wurde, war für ihn nicht zu begreifen. So viele Jahre im Dienst der Polizei und als Leiter einer der besten SEK-Einheiten waren mit diesem Vorwurf einfach weggewischt worden. Sein Chef, mit dem er noch bis gestern befreundet war, hatte ihn suspendiert und glaubte ihm nicht, er wollte seine Erklärungen ja nicht einmal anhören. Anderl war enttäuscht von seinem Chef, denn der sollte ihn besser kennen und hinter ihm stehen. Stattdessen wurde er vorverurteilt und verlor seinen Job – zwar nur vorübergehend, aber das war jetzt nicht wichtig. Was ihm aber mehr zusetzte, waren die Reaktionen der Kollegen. Nur Oliver stand auf seiner Seite, die anderen stellten sich gegen ihn.

Anderl floh geradezu aus dem Polizeigebäude und setzte sich in seinen Wagen. Ob er den überhaupt noch fahren durfte? Das war ihm egal. Ziellos fuhr er stundenlang durch die Gegend. Er hätte auch nach Hause gehen können, aber was sollte er dort? Trübsal blasen und darauf hoffen, dass sich alles irgendwie auflösen würde? Nein, das war nicht seine Art. Er musste irgendwie herausfinden, was das alles sollte. Aber wo und wie musste er ansetzen? Jetzt, da er suspendiert war, hatte er nicht den Hauch einer Chance, auch nur annähernd an Informationen zu kommen. Immer wieder ging er die Momente des gestrigen Abends und vor allem der Nacht durch, die er abrufen konnte, aber an die Zeit, die wichtig gewesen wäre, konnte er sich nicht erinnern. Die hämmernden Kopfschmerzen wurden unerträglich. Die Schmerztabletten wirkten nicht, trotzdem schluckte er die restlichen Tabletten. Ohne Plan fuhr er durch die Gegend. Irgendwann landete er doch in Massing. Er fuhr erst durch den Ort, danach war Gangkofen dran – aber auch jetzt erinnerte ihn nichts an das, was gestern Abend und in der Nacht passiert war. Er stand vor dem fraglichen Haus, in dem er heute Morgen aufgewacht war. Der Name auf dem Klingelschild sagte ihm nichts. Da er niemanden fand, den er fragen konnte, fuhr er frustriert weiter. Er parkte irgendwo in einer Parkbucht an einer Bundesstraße und versuchte, etwas zu schlafen, was ihm nicht gelang. Die Gedanken kreisten. Zumindest wurden die Kopfschmerzen erträglicher. Irgendwann döste er ein und fiel in einen unruhigen Schlaf. Durch einen vorbeifahrenden Traktor wurde er wach. Die Sonne ging langsam unter, es war inzwischen kurz nach achtzehn Uhr. Die letzten Tage des stürmischen Aprils schlugen jetzt nochmals zu, aber das Wetter interessierte Anderl nicht. Sofort war das, was ihm vorgeworfen wurde und was er selbst erlebt hatte, wieder präsent. Er startete fluchend den Wagen und fuhr weiter. Wie schön wäre es, wenn er jetzt einfach aufwachen und feststellen würde, dass alles nur ein schlechter Traum gewesen war, aber so viel Glück hatte er nicht.

Irgendwann stand Anderl vor dem umgebauten Bauernhof vor den Toren Altöttings, auf dem der Mühldorfer Kriminalbeamte und Erzfeind Leo Schwartz lebte. Wie er hier gelandet war, konnte sich Anderl nicht erklären. Was wollte er hier?

„Draußen steht ein Wagen“, flüsterte Tante Gerda ihrer Mitbewohnerin Christine Künstle zu. Die beiden hatten sich einen Krimi angesehen, der nach Christines Meinung völlig realitätsfremd war – und sie als pensionierte Pathologin konnte das beurteilen. Dann fing der kleine, runde Mischling Felix zu knurren an. Er stand nicht auf, dafür war er schon zu alt, zu dick und zu gemütlich geworden. Also stand die einundachtzigjährige Tante Gerda auf und sah nach, was den kleinen Felix beunruhigte. Schließlich wurde auch Christine neugierig.

„Eine Landshuter Nummer, der Wagen war noch nie hier. Darin sitzt ein Mann, das kann ich deutlich erkennen. Das gefällt mir nicht, Gerda. Leo ist noch nicht hier, Sabine ist auch noch unterwegs.“

„Das weiß ich, auf die beiden können wir nicht zählen. Es sieht nicht so aus, als würde der Wagen wieder wegfahren. Was sollen wir jetzt tun?“

„Wir fragen den Mann, was er hier will.“ Christine ging in ihr Zimmer und kam mit einer Waffe zurück.

„Du willst ihn mit einer Waffe in der Hand fragen?“ Tante Gerda war zwar eine taffe Frau, aber das schien ihr dann doch etwas zu viel.

„Nur zur Sicherheit. Wer weiß, mit welchem Irren wir es zu tun haben, schließlich ist die Welt voll davon.“

Anderl Untermaier hatte die Frauen nicht kommen sehen, er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Als es an der Autoscheibe klopfte, bekam er fast einen Herzinfarkt. Er senkte die Seitenscheibe.

„Guten Abend. Können wir Ihnen irgendwie helfen?“ Christine Künstle war vorgeprescht. Die Siebenundsechzigjährige umklammerte die Waffe und war jederzeit schussbereit. Tante Gerda stand dicht hinter der Freundin.

„Ich wollte….ich will….“, stammelte Anderl. Wie sollte er erklären, warum er hier war, wo er es doch selbst nicht wusste?

„Wer sind Sie?“

„Andreas Untermaier, alle nennen mich Anderl.“

„Untermaier?“, mischte sich jetzt Tante Gerda ein. „Sind Sie der geschiedene Mann der verstorbenen Viktoria Untermaier?“

Anderl nickte nur. Seine Exfrau war vor zwei Jahren in ihrer neuen Heimat Berlin ums Leben gekommen. Das lastete er Leo Schwartz an, da Viktoria in seinem Auftrag einen Einsatz übernahm, bei dem sie umgebracht wurde. Die Gedanken an Viktoria und ihren gewaltsamen Tod zogen ihn noch weiter runter. Hierher zu fahren war eine saublöde Idee gewesen, es war besser, wieder zu verschwinden. Er startete den Motor.

„Kommen Sie, ich mache uns einen Tee, der wird Ihnen guttun“, sagte Tante Gerda und lächelte Anderl an.

Dieses Lächeln tat Anderl so unendlich gut, dass er den Motor ausschaltete und tatsächlich ausstieg. Es schien, als wäre die fremde, freundliche Frau seine einzige Vertraute in dieser beschissenen Lage.

Wenig später saß er mit den beiden Damen in dem gemütlichen Wohnzimmer, vor ihm stand eine dampfende Tasse Tee. Neben ihn hatte sich der Hund gekuschelt, was ihm ebenfalls sehr guttat.

„Sie sind also der Anderl“, sagte Tante Gerda.

„Sie haben sicher nicht viel Gutes von Viktoria über mich gehört.“

„Das kann ich so nicht bestätigen. Wenn ich ehrlich bin, hat Viktoria nicht viel erzählt, aber dafür war Leo gesprächiger.“

„Er kann Sie nicht leiden“, schob Christine nach, deren Waffe direkt neben ihr lag – griffbereit für den sofortigen Einsatz. Sie kannte den Mann nicht. Außerdem war die Tatsache, dass Leo ihn nicht mochte, ein guter Grund für ihr Misstrauen.

„Das weiß ich, ich mag ihn auch nicht“, murmelte Anderl, wobei ihm die ablehnende Haltung der Frau nicht entging. „Leo und ich haben unsere Diskrepanzen. Er weiß und kann immer alles besser. Denken Sie, dass der Mann irgendwann den Mund halten kann? Das schafft er nicht.“

„Das ist sein schwäbisches Temperament, so ist er nun mal.“ Christine verschränkte die Arme vor der Brust. Dieser Mann wurde ihr immer unsympathischer, auch wenn er mit einigem von dem, was er sagte, nicht unrecht hatte.

„Leo war mit meiner Exfrau zusammen, das gefiel mir überhaupt nicht. Außerdem bin ich der Meinung, dass er schuld an ihrem Tod hat. Wenn er nicht gewesen wäre, würde Viktoria noch leben.“

„Das ist doch Schwachsinn! Leo wollte Viktoria zurückhalten, aber sie wollte nicht auf ihn hören“, sagte Christine aufgebracht. „Sie kannten die Frau doch, die hätte niemals auf irgendjemanden gehört. Ihr Leichtsinn wurde ihr zum Verhängnis, daran hat Leo keine Schuld! Wissen Sie eigentlich, wie sehr Leo unter Viktorias Tod gelitten hat? Denken Sie, dass er sich keine Vorwürfe macht? Dass er sich nicht jeden Tag Gedanken darüber macht, was er hätte anders machen können?“

„Trotzdem ist ihr Tod für mich leichter zu ertragen, wenn ich jemandem die Schuld dafür geben kann, und das ist nun mal Leo. Und jetzt hat er auch noch eine tolle Ehefrau an der Seite, die ich ihm nicht gönne.“

„Sie sind ehrlich, das gefällt mir“, meinte Tante Gerda, nachdem sie ihren berühmten Schnaps geholt hatte, den Anderl dankend ablehnte.

„Keinen Alkohol für mich, ich bin trockener Alkoholiker.“

Jetzt wurde auch Christine für einen kurzen Moment weich, denn die Offenheit des Mannes imponierte ihr.

„Sie mögen Leo nicht, das ist klar. Vermutlich beruht das sogar auf Gegenseitigkeit. Trotzdem frage ich mich, was Sie zu uns geführt hat“, kam sie auf den Punkt, der sie am meisten interessierte. „Warum sind Sie hier?“

„Das frage ich mich auch.“ Leo stand an der Tür, er hatte die letzten Sätze gehört. Er stemmte die Arme in die Hüften, wodurch sich die alte Lederjacke öffnete und das T-Shirt sichtbar wurde, auf dem ein Rockstar abgebildet war, den außer ihm mal wieder niemand kannte. „Was willst du?“, schob er unfreundlich nach.

Anderl, Christine und Tante Gerda erschraken. Nur der kleine Felix hatte Leo bemerkt, aber nicht auf ihn reagiert. Warum auch? Der Mann war schließlich jeden Tag hier.

Anderl Untermaier musste sich jetzt entscheiden. Entweder stand er jetzt auf und ging einfach, oder er bat seinen Erzfeind um Hilfe. Wenn er jetzt ging, war er völlig auf sich gestellt, und das bedeutete, dass er sehr wahrscheinlich wirklich alles verlor. Leo war seine einzige Chance, vielleicht doch noch irgendwie aus dem Schlamassel rauszukommen. Er fasste sich ein Herz und atmete tief durch.

„Ich sage das jetzt wirklich nicht gerne, Leo, aber ich brauche deine Hilfe.“

„Und da kommst du ausgerechnet zu mir?“

„Du bist in meinen Augen ein Arschloch, das weißt du ja. Dass du mich auch nicht besonders magst, ist mir nicht entgangen. Trotzdem bist du ein sehr guter, zuverlässiger Polizist – und das werde ich auch nicht zweimal sagen. Ich stecke tief in der Scheiße, ich brauche dich.“

Leo setzte sich. Wenn Anderl zu ihm kam und um Hilfe bat, musste es sehr ernst sein.

„Worum geht es?“

„Könnten wir das unter uns klären?“

„Nein. Ich habe vor meinen Freunden keine Geheimnisse. Also?“

„Mir wird sexueller Missbrauch einer Minderjährigen zur Last gelegt, außerdem Körperverletzung und Nötigung.“ Jetzt war es raus. Die Worte hörten sich laut ausgesprochen noch schrecklicher an.

„Dann bist du der Kollege, über den seit heute Mittag überall gesprochen wird? Du wurdest suspendiert?“

„Richtig. Es war mir klar, dass das sofort die Runde macht, obwohl das eigentlich eine interne Angelegenheit ist.“

„Irgendeiner quatscht doch immer. Welche Beweise gibt es gegen dich?“ Leo blieb sehr ruhig.

„Eine junge Frau, deren Namen ich nicht kenne, hat mich angezeigt. Sie nahm mein Smartphone an sich, darauf befinden sich offenbar kompromittierende Fotos, die ich aber nicht kenne.“

„Die Fotos können wir beschaffen. Sonst noch etwas?“

„Die Tat soll im niederbayerischen Massing in der Sudetenstraße stattgefunden haben. Dort bin ich heute Morgen aufgewacht. Meine Hände waren voller Blut – und dann habe ich das hier entdeckt“, Anderl zeigte seine blutunterlaufenen Knöchel. „Ich weiß, dass das jetzt blöd klingt, aber ich kann mich an nichts erinnern. Außerdem sagt mir die Straße, die ganze Gegend nichts.“

„Wie bist du in die Wohnung gekommen?“

„Keine Ahnung, auch das weiß ich nicht! Gestern Abend lud mich ein Kollege auf ein Bier ein. Ich weiß noch, dass ich dort allein saß, der Kollege kam nicht. Ich sehe mich mit einem Glas Wasser am Tresen sitzen. Komischerweise weiß ich noch sehr gut, dass darin eine Zitronenscheibe schwamm. Ein junges Mädl sprach mich an, aber ich hatte keine Lust auf ein Gespräch, also wies ich sie ab. Das Mädl hatte in der Kneipe nichts verloren, dafür war sie viel zu jung. Vielleicht ist sie diejenige, die mich angezeigt hat? Ich weiß es einfach nicht!“ Anderl weinte fast. „Du musst mir glauben, dass ich kein Interesse an ihr hatte, sie hätte meine Tochter sein können. Du kennst mich, Leo, junge Frauen sind nicht mein Ding, schon gar keine Minderjährigen. Du weißt sehr gut, auf welchen Typ ich stehe. Gestandene Frauen, die wissen, was sie wollen. Außerdem muss etwas an ihnen dran sein.“

Leo nickte. Das war der einzige Punkt, in dem sie sich einig waren.

„Welcher Kollege hat dich eingeladen?“

„Das war der Wichtl Sepp.“

„Josef Wichtl?“

„Richtig. Ich sehe, dass du langsam in Bayern angekommen bist, Leo.“ Anderl hatte trotz der Umstände seinen Humor noch nicht ganz verloren.

„Hast du den Mann darauf angesprochen, warum er nicht erschienen ist?“

„Nein, ich habe ihn heute nicht gesehen, er war nicht im Büro. Du hättest dabei sein müssen, als mich die Kollegen angestarrt haben. Nur Oliver war auf meiner Seite, sonst hat niemand ein Wort gesagt. Das war der schrecklichste Moment meines Lebens.“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen“, sagte Leo, auch wenn ihm klar war, dass er die Kollegen immer hinter sich hatte, egal in welchem Schlamassel er stecken würde. „Es wäre gut gewesen, Wichtl darauf anzusprechen, warum er nicht erschienen ist, aber das kann man nachholen. Was ist dann passiert?“

„Daran kann ich mich nicht erinnern. Heute Morgen bin ich in der Wohnung in der Massinger Sudetenstraße aufgewacht. Meine Hände blutverschmiert und die Knöchel verletzt. Und dazu hatte ich hämmernde Kopfschmerzen, die nicht sehr viel besser geworden sind. Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf platzt. - Du musst mir glauben, Leo, dass ich mich niemals prügeln würde. Früher ja, aber dabei hat der Alkohol eine große Rolle gespielt. Nachdem mich Viktoria verließ, habe ich mein Leben komplett umgekrempelt. Ich bin seitdem trocken und habe mich unter Kontrolle. Ich würde niemals eine Frau schlagen, sie misshandeln und vergewaltigen, die Vorstellung ist absurd.“

„Ich kann mich da an Geschichten von Viktoria erinnern. Du hast sie geschlagen, du Arschloch, und zwar nicht nur ein Mal.“

„Ja, das habe ich getan und dafür schäme ich mich. Damals habe ich getrunken, sehr viel sogar. Aber das ist Geschichte. Ich habe mich bei Viktoria aufrichtig entschuldigt und sie hat mir verziehen. Außerdem trinke ich nicht mehr, seit damals keinen einzigen Tropfen mehr!“

„Deshalb das Wasser in der Kneipe?“, mischte sich Christine ein.

„Richtig. Alle in meinem Umfeld wissen, dass Alkohol für mich tabu ist.“

„War das Glas irgendwann unbeaufsichtigt?“

„Ich ging zur Toilette. – Moment! Sie denken, dass mir jemand etwas ins Glas geschüttet hat?“

Christine stand auf und kam mit einem Koffer zurück.

„Ärmel hochkrempeln!“, befahl sie und zog sich Handschuhe an.

„Warum?“

„Ich werde jetzt eine Blutprobe entnehmen und werde sie analysieren. Ich denke zwar, dass inzwischen zu viel Zeit vergangen ist, aber wir werden es versuchen. Und jetzt: Ärmel hochkrempeln. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren.“

Anderl machte, was die Frau von ihm verlangte. Er würde alles tun, um seine Unschuld irgendwie zu beweisen.

„Aua!“, rief Anderl und sah Christine mit großen Augen an.

„Nicht so zimperlich. Sie sind doch ein kräftiger Mann, der einiges abkann. Meine früheren Kunden haben sich nie beschwert“, lachte Christine.

„Sagten Sie nicht, dass Sie Pathologin waren?“

„Richtig“, lachten jetzt alle, was die Stimmung etwas auflockerte. „Wir sind schon fertig. Fest draufdrücken, sonst wird das ein fetter Bluterguss“, murmelte Christine, nachdem sie zwei Kanülen Blut entnommen hatte. „Die Tabletten sind für die Kopfschmerzen. Sie nehmen erst zwei, nach einer Stunde eine weitere. Dann müssten die Kopfschmerzen weg sein.“

Anderl sah sich die Tabletten genauer an. Sie waren orange.

„Eine eigene Zusammenstellung, die sich seit Jahren bewährt hat. Wenn Sie die Tabletten nicht wollen, dann eben nicht.“

Anderl schluckte sofort zwei Stück.