Tod in der Salzach - Irene Dorfner - E-Book

Tod in der Salzach E-Book

Irene Dorfner

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  • Herausgeber: ID Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Eine Gruppe von Schleusern ist gut organisiert und transportiert regelmäßig Illegale über die deutsch-österreichische Grenze. Aber es gibt einen Verräter - bei einem Transport über die alte Grenzbrücke zwischen Ach und Burghausen wartet die Polizei. In Panik springen der Fahrer und fünf seiner Passagiere in die kalte Salzach – und zwar genau an der Stelle, an der vor wenigen Tagen eine Frauenleiche entsorgt wurde…

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Irene Dorfner

Tod in der Salzach

Krimi

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Anmerkung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

Liebe Leser!

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum

Vorwort

Ich möchte mich bei meinen treuen Leo-Schwartz-Fans bedanken, denn nur durch eure Unterstützung darf er einen Fall nach dem anderen lösen.

DANKE!!

Inzwischen hat der eigenwillige Hauptkommissar nicht nur Leser in ganz Deutschland, sondern auch in der Schweiz, Liechtenstein, Frankreich, Italien, USA, Kanada, Australien, Costa Rica und natürlich auch im Nachbarland Österreich, sowie in vielen anderen Ländern der Welt.

Der Leserkreis wird größer und größer.

Wahnsinn!

Fall 47 „Tod in der Salzach“ spielt in der Grenzstadt Burghausen, wo die Salzach eine natürliche Landesgrenze zu Österreich bildet.

Leo Schwartz und seine Kollegen der Mühldorfer Kriminalpolizei bleiben aber diesmal nicht nur auf deutscher Seite, sondern ermitteln auch in Österreich - und zwar in Braunau am Inn und Mattighofen.

Viel Spaß bei den „internationalen“ Ermittlungen!!

Herzliche Grüße aus Altötting

Irene Dorfner

Anmerkung

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Samstag, 30. März gegen 3 Uhr nachts…

Er stellte seinen Wagen auf der alten Grenzbrücke im oberbayerischen Burghausen ab, stieg aus und sah sich um. Alles war ruhig, es war niemand zu sehen. Der helle Mond störte, aber daran war nichts zu ändern. Nur die unter der Brücke durchfließende Salzach gab ein monotones Geräusch von sich, was er so nicht erwartet hatte. Aufgrund der vielen Niederschläge der letzten Tage wurde Hochwasser vorhergesagt, wovon nicht viel zu sehen war. Ja, der Wasserpegel war hoch, aber noch nicht zu hoch – für ihn war alles perfekt.

Unschlüssig stand er vor dem Kofferraum und sah sich nochmals um. Noch zögerte er, aber er hatte keine Wahl, er musste sein Vorhaben umsetzen. Was sollte er sonst mit der Leiche machen? Alles war perfekt durchdacht. Obwohl er bis vorhin noch relativ ruhig war, begann er jetzt zu zittern, schließlich entsorgte er nicht jeden Tag eine Leiche. Er hatte fest zugeschlagen. Sie schrie wahnsinnig laut, während sie vor ihm lag. Er hob sie hoch und sie schrie noch lauter. Um sie mundtot zu machen, würgte er sie, wobei er zu lange und zu fest zudrückte. Sie sank zu Boden. Einfach so. Er hatte sofort gemerkt, dass sie tot war, trotzdem fühlte er ihren Puls. Sie war tatsächlich tot, es war so einfach. Ob sie jemand vermisste? Sie hatte keine Familie, die Freundschaften waren nur oberflächlich. Sie galt als flatterhaft und spontan, weshalb ihr Verschwinden so schnell nicht bemerkt werden würde, was ihm sehr entgegenkam. Auch das war alles geradezu perfekt. Jetzt musste er nur noch ihre Leiche entsorgen und er hatte ein Problem weniger.

Noch einmal blickte er sich um, ob in einem der Fenster in Burghausen Licht brannte oder von irgendwoher Scheinwerfer sichtbar waren. Aber da war nichts. Dasselbe war auf österreichischer Seite. Perfekter konnte der Moment nicht sein!

Er atmete tief durch, öffnete den Kofferraum und nahm das schwere Bündel heraus, was eine riesige Kraftanstrengung war. Obwohl er kein Schwächling war und immer Sport machte, war das hier nur schwer zu bewältigen. Er schaffte es, die Last über das Brückengeländer zu hieven. Er ging zurück, holte Waschbetonplatten, umwickelte sie mit Packband und brachte sie an dem Bündel an, dessen schwarze Folie im Mondlicht glitzerte. Durch die Kälte der Nacht raschelte sie auch noch, was ihn noch nervöser werden ließ. Hektisch vollendete er sein Werk, da er befürchtete, dass er doch noch entdeckt werden würde. Aber alles blieb ruhig. Er schwitzte und zitterte, als er der ersten der drei Waschbetonplatten einen Schubs gab. Jetzt musste alles sehr schnell gehen, bevor die Leiche ohne die beiden anderen Steine vorzeitig ins Wasser fiel. Hektisch schubste er auch die anderen drei Waschbetonplatten kurz hintereinander über die Brüstung. Das Gewicht zog die eingewickelte Leiche mit sich, hier brauchte er nichts mehr tun. Er sah zu, wie die Leiche mit einem Ruck in die Salzach platschte und unterging.

Erschöpft blickte er aufs Wasser und war erleichtert. Die Leiche war weg und niemand hatte ihn gesehen. Er konnte einfach wieder zurück in sein altes Leben.

Dass das so nicht stimmte, wusste er nicht, denn an einem der Fenster in Burghausen stand eine Frau, die alles gesehen hatte.

2.

Dienstag, 9. April

An diesem Tag, der ganz normal begann, änderte sich für den Rentner Dietmar Neumann alles. Er stand im Supermarkt in der Burghauser Straße der oberbayerischen Kleinstadt Altötting und hörte die Stimme, die er niemals vergessen würde. Mit einem völlig belanglosen Satz des Mannes hinter ihm kamen alle schrecklichen Erinnerungen wieder hoch, die er längst verdrängt hatte. War es möglich, dass dieser Mann tatsächlich hier war? Mitten in Bayern? Am Arsch der Welt? Nein, das war nicht möglich. Oder doch. Die Erinnerungen und die Tatsache, dass seine Frau Traudl nicht zuhause war und er mit dem Alleinsein sehr schlecht umgehen konnte, spielten ihm sicher einen Streich. Trotzdem hatte er die Stimme sofort wiedererkannt. Dietmars Muskeln waren angespannt. Er konnte kaum atmen, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er achtete penibel auf die eine Stimme, von der er hoffte, sie niemals wieder hören zu müssen. Ob der Mann nochmal etwas sagte? War er überhaupt noch hier? Sekunden vergingen, aber nichts geschah. Er hatte sich sicher getäuscht und sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich. Eigentlich brauchte er sich nur umzudrehen und nachzusehen, aber er konnte sich nicht bewegen, er war wie erstarrt. Schon allein die Vorstellung, dem verhassten Mann auch noch ins Gesicht sehen zu müssen, war für ihn unerträglich. Dass Dietmar erst kürzlich seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feierte, blendete er aus, denn gefühlsmäßig war er durch die Worte des Mannes wieder Ende zwanzig. Damals war er wie heute verheiratet, aber nicht mit derselben Frau. Seine erste Frau Silvia wurde wie er verhaftet, beide saßen in Hohenschönhausen in Ost-Berlin. Ein berüchtigter Ort der damaligen DDR für sogenannte Staatsfeinde, zu denen Dietmar und seine Frau auch gehörten. Wie naiv und dumm war er damals gewesen, als er einen Antrag stellte, um seinen Bruder in Bayern besuchen zu dürfen. Er wollte nicht ausreisen und seiner Heimat den Rücken kehren, sondern nur mit eigenen Augen sehen, wie sein Bruder im Westen lebte. Aber sein Antrag wurde als Ausreise-Antrag gewertet und damit begann ein Strudel, dem er nicht mehr entkam. Nach anfänglichen Verhören begannen Schikanen, die nicht nur ihn, seine Verwandten, Freunde und Nachbarn, sondern vor allem seine Frau Silvia und die gemeinsame Tochter betrafen. Irgendwann sah Dietmar keinen anderen Ausweg mehr, als tatsächlich aus der DDR zu fliehen. Dabei half ihm der Bruder im Westen. Blauäugig planten sie die Flucht, die völlig in die Hosen ging. Dietmar wurde an der tschechischen Grenze gefasst und nach Hohenschönhausen in Ost-Berlin gebracht. Dort wurde er sofort nach seiner Einlieferung verhört und geschlagen, die fehlenden Zähne waren eine Erinnerung daran. Aber viel schlimmer war die psychische Folter, der er insgesamt elf Monate ausgesetzt war. Schlafentzug, Isolierung und damit Einsamkeit, nächtliche Kontrollen, die sich stündlich wiederholten, Essensentzug und so weiter. Das alles konnte Dietmar irgendwie ertragen, aber nicht die Ungewissheit, wie es seiner Frau und der gemeinsamen Tochter ging - und was aus ihm selbst werden würde. Es kursierten trotz aller Abschottung den anderen Gefangenen gegenüber Gerüchte, dass man vielleicht sogar nach Russland gebracht wurde. Gulag war ein Wort, das niemand hören wollte und jeden in Angst versetzte. Jedem Häftling war klar, was das bedeutete.

Dietmar war ein Gefangener, der als Republikflüchtling härter bestraft wurde als Vergewaltiger, Diebe und sogar Totschläger. Grund dafür waren auch Aussagen von Menschen, die er kaum kannte, mit denen er nie gesprochen hatte. Das, was sie sagten, war nicht die Wahrheit. Sie belasteten ihn für ihre eigenen Vorteile. Das Urteil war nicht anfechtbar. Drei Jahre Haft. Was das bedeutete, lernte er sehr schnell. Während er einsaß, hatte er nur einen einzigen Kontakt zu seinem persönlichen Vernehmer, dessen Namen er nicht kannte. Der Mann war nicht gemein, er misshandelte ihn auch nicht. Er war ihm gegenüber freundlich und versuchte, ihn langsam mürbe zu machen. Mit gezielten Sätzen, oft nur mit wenigen Worten, setzte ihn der Mann nicht nur unter Druck, sondern machte ihm Angst. Er wiederholte Fragen wieder und wieder, bohrte geduldig nach und versuchte so, sein Ziel zu erreichen. Was er von ihm wollte? Namen. Namen von Menschen in seinem persönlichen Umfeld, die nicht nur von seinen Fluchtplänen wussten, sie unterstützten und guthießen, sondern selbst keine linientreuen Genossen waren und die auch eine Flucht aus der DDR planten. Dietmar blieb standhaft und nannte nicht einen Namen, worauf er bis heute stolz war. Nach jedem Verhör musste er zurück in die Zelle und hatte wegen der Abschottung von anderen Menschen und jeglicher Ablenkungsmöglichkeit immer nur die Worte seines Vernehmers im Kopf, die ihm stundenlang, sogar tagelang, keine Ruhe ließen.

Trotz allem hatte Dietmar damals sehr viel Glück gehabt, denn die Qualen wurden beendet, als er nach elf Monaten vom Westen freigekauft und ohne Vorankündigung abtransportiert wurde. Anfangs ahnte er nicht, wohin er gebracht wurde und was jetzt passierte, bis er endlich begriff: es ging in den Westen. Diesen Augenblick der Freude würde er niemals vergessen. Auch seine Frau Silvia wurde entlassen, aber die Ehe war durch beider Erlebnisse nicht mehr zu kitten – auch das war der Verdienst der Stasi.

All das ging Dietmar durch den Kopf, als er immer noch vor der Schokolade stand. Wie lange er vor sich hinstarrte, unfähig, irgendwie zu reagieren, wusste er nicht. Er konnte spüren, wie sich ein Muskel nach dem anderen ganz langsam entspannte. Vielleicht irrte er sich und sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich. Er hatte schlecht geschlafen. Seine Frau Traudl war auf Reha und er war allein zuhause, was er nur schwer ertragen konnte. Ein Lächeln huschte Dietmar übers Gesicht, als er an Traudl dachte. Ihr konnte er immer vertrauen, sie stand immer hinter ihm und ertrug seine Macken, die er durch die damaligen Erlebnisse nicht mehr loswurde. Dietmar lachte jetzt und schüttelte den Kopf. Warum sollte der verhasste Mann hier in Altötting auftauchen?

Dann schaffte er es, sich umzudrehen – und blickte dem Mann direkt ins Gesicht, der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte und der dafür verantwortlich war, dass er sehr viele Jahre ein gebrochener Mann war und Weichen für sein Leben stellte, die er sich so niemals selbst gestellt hätte. Seine Ziele und Wünsche wurden von diesem Mann zunichte gemacht, ihm gab er die Schuld für alles.

Dietmar konnte den Mann nur anstarren. Der aber zeigte keinerlei Regung.

„Kennen wir uns?“, fragte der Mann freundlich.

Diese Stimme, diese Augen – das war tatsächlich der verhasste Mann, dessen Namen er nicht wusste! Weit über dreißig Jahre lagen jetzt zwischen dem letzten Gespräch, aber Dietmar hatte das Gefühl, als wäre es gestern gewesen. Sofort zogen sich wieder alle Muskeln zusammen. Instinktiv griff Dietmar an seine Oberschenkel und nahm Haltung an, so wie er es damals gelernt hatte. Wenn er vom Schließer zu seinem Vernehmer gebracht wurde, durfte er auf dem Weg nicht sprechen. Kam ihnen jemand entgegen, was sehr selten vorkam, dann musste er sich mit dem Gesicht zur Wand stellen. Im Vernehmungsraum angekommen, musste er sich setzen und die Hände mit den Handflächen nach unten unter die Oberschenkel legen. Dieser Impuls funktionierte auch heute noch, nach so vielen Jahren.

Noch bevor Dietmar etwas sagen konnte, drehte sich der Mann um. Er sprach mit einem kleinen Mädchen, nahm deren Hand und ging einfach davon.

Dietmar war völlig durcheinander. Hass stieg in ihm auf. Wie alt war der Mann? Er konnte nur wenige Jahre älter sein. Gut sah er aus, die Kleidung war sicher nicht billig. War es so, dass der Mann nach der Wende ungeschoren davonkam? War das möglich?

Nach einigen Sekunden fasste sich Dietmar wieder und lief ihm hinterher, seinen Einkaufswagen ließ er einfach stehen. Draußen auf dem Parkplatz blickte er sich um. Dass es in Strömen regnete, fiel ihm nicht auf. Wo war der Mann? Dann entdeckte er ihn, wie er in eine Luxuskarosse stieg und langsam an ihm vorbeifuhr. Dabei sahen sie sich in die Augen. Anstatt so etwas wie Bedauern zu erkennen, grinste der Mann nur. In diesem Moment veränderte sich Dietmars Gefühlswelt völlig. Er spürte, wie etwas in ihm aufstieg, das er so nicht kannte. Es ging um verlorene Jahre, Schmerzen, Gewalt, Demütigungen, um die kaputte Ehe, die geraubte Möglichkeit, ein guter Vater sein zu dürfen. Es ging um Menschenwürde, die ihm genommen wurde. Und um einen ruhigen Schlaf, den er seit damals nicht mehr fand. Und wofür das alles? Er hatte nichts getan!

Dietmar merkte sich jedes Detail des Wagens, vor allem das Kennzeichen. Der Mann lebte nicht hier, das war ein österreichisches Kennzeichen. War das gut oder schlecht? Das war Dietmar völlig egal. Er war dem Mann, den er hoffte, niemals mehr sehen zu müssen, über den Weg gelaufen. Das änderte alles. Als die Rücklichter des Wagens verschwanden, war für Dietmar völlig klar: der Mann durfte ohne eine gerechte Strafe nicht davonkommen! Wenn er für seine Taten damals nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, musste er sich darum kümmern, auch nach all den Jahren.

Er rannte zu seinem Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen los. Passanten schimpften und zeigten ihm den Vogel, aber das war ihm egal. Verkehrsteilnehmer hupten und regten sich auf, denn Dietmar fuhr rücksichtslos, er hatte nur den Wagen des Mannes im Kopf. Endlich sah er ihn, wie er Richtung Burgkirchen abbog und auf die St2107 fuhr. Dietmar fuhr hinterher, wobei er halsbrecherisch einen Lastwagen überholte, der wegen ihm und dem Gegenverkehr stark abbremsen musste. Gerade noch rechtzeitig sah Dietmar, dass der Wagen links abbog. Wollte der nach Kastl? Dorthin, wo auch Dietmar mit seiner Frau lebte? Nach der Feuchterstraße bog der Protzschlitten rechts ab. Es ging kreuz und quer, dann blieb der Mann endlich im Eichenweg stehen. Warum gerade hier? In der Straße, in der Dietmar mit seiner Frau schon seit vielen Jahren lebte? Dietmar fuhr vor die Garage und stieg völlig aufgewühlt aus, wobei er den Mann nicht mehr aus den Augen ließ. Die Knie zitterten, er musste sich an seinem Auto festhalten. Wo wollte der Mann hin? Dietmar sah mit an, wie der Mann lachend ausstieg und mit dem kleinen Mädchen direkt in das große Mehrfamilienhaus ging, das hier nur als Schwarzwaldklinik bekannt war. Es gab fünf Wohnungen, von denen eine erst neu bezogen wurde. Dietmar und seine Frau achteten schon lange nicht mehr darauf, wer hier ein- und ausging, da es in der Schwarzwaldklinik ständigen Wechsel gab. Warum sollte ihn das auch interessieren? Seine Frau und er hatten nicht viel Kontakt mit den Nachbarn, der war hier sowieso nicht erwünscht. Alle lebten zwar in einer Straße, wo man sich grüßte und höchstens einen Satz pro Jahr miteinander sprach, ansonsten ging man sich aus dem Weg. Seine Frau Traudl war davon überzeugt, dass das an ihm lag. Für sie gab es zwei Gründe für das schlechte Verhältnis: zum einen, da er nicht von hier war, sondern aus der ehemaligen DDR stammte. Die Einheimischen waren allem Fremden gegenüber vorsichtig. Bis man sich hier öffnete, dauerte das nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte. Der zweite Grund war, dass ihr Mann einfach nicht den Mund halten konnte und immer offen und ehrlich seine Ansichten aussprach. Damit konnte man hier nur sehr schlecht umgehen. Oberflächlichkeiten waren erwünscht, auf alles andere konnte man verzichten. Traudl war sich sicher, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Dietmar war anderer Meinung. Es war sein Recht, seine freie Meinung zu äußern. Er war nie unfreundlich, da gab es ganz andere Kaliber, bei denen man aber weniger auf die Wortwahl achtete. Nein, seine Herkunft und sein Recht auf freie Meinungsäußerung waren nicht der Grund für die Distanz der Nachbarn. Für ihn war klar, dass es am Desinteresse und der Anonymität lag, die jetzt auch auf dem Land um sich griff. Vielleicht lag es auch am Neid, das war auch möglich, denn seine Traudl und er hatten es zu bescheidenem Wohlstand gebracht, was man ihnen offenbar nicht gönnte. Aber letzten Endes waren die Gründe egal. Dietmars Interesse hielt sich bezüglich der Nachbarn in Grenzen, was auf Gegenseitigkeit beruhte, aber was sich jetzt schlagartig änderte. Wer lebte in der Schwarzwaldklinik? Wer war eingezogen? Ein Verwandter oder Freund des verhassten Mannes?

In Dietmar keimte ein Verdacht, der ihn noch mehr ins Wanken brachte. Und zwar so sehr, dass er sich dringend setzen musste. War es möglich, dass der Mann selbst sein neuer Nachbar war?

3.

Zur selben Zeit in der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn…

„Ich darf doch bitten, meine Herren!“, schrie Rudolf Krohmer sehr laut, nachdem die beiden Streithähne ihn offenbar nicht gehört hatten. Die Diskussion über den bevorstehenden Einsatz lief völlig aus dem Ruder. Wie in den Wochen vorher gab es zwischen Leo Schwartz und dem neuen Mitarbeiter der Mordkommission Franz Windisch schon wieder Streit. Die beiden schenkten sich nichts. Es schien sogar, als würden sie auf eine Äußerung, auf einen Fehler des anderen warten, um dann dagegen zu gehen. „Sie hören augenblicklich auf, sich gegenseitig anzugreifen. Wenn nicht, werde ich andere Seiten aufziehen!“ Krohmer war stinksauer. „Das hier ist die Kriminalpolizei und nicht der Kindergarten! Sie benehmen sich jetzt kollegial, sonst lernen Sie mich kennen – beide!“

Der zweiundsechzigjährige Kriminalhauptkommissar Hans Hiebler war genervt von den ewigen Streitereien zwischen den beiden Kollegen. Anfangs war Hans auf Leos Seite, was nicht nur mit der Freundschaft zusammenhing. Inzwischen schlug ihm die tägliche miese Stimmung aufs Gemüt. Und zwar so, dass er manchmal keine Lust mehr hatte, zur Arbeit zu gehen. Heimlich zählte er die Tage bis zu seiner Pensionierung, die im nächsten Jahr – wenn alles reibungslos lief – bevorstand.

Es war totenstill. Leo und der Neue sahen sich feindselig an. Krohmer war der Chef und was der sagte, betraf sie beide. Sie versuchten nicht, sich zu erklären oder zu verteidigen, schließlich war beiden klar, dass Krohmer recht hatte.

„Sie haben die Einsatzpläne für den Einsatz an den Grenzen in Burghausen, an die Sie sich alle halten. Ich persönlich werde ebenfalls vor Ort sein und mich der Leitung anschließen. Und ich versichere Ihnen, dass ich keinen Spaß verstehe, wenn es Probleme geben sollte“, sagte Krohmer und sah dabei vor allem Leo Schwartz und Franz Windisch an. „Die Schleuser müssen aus dem Verkehr gezogen werden. Ich verlange von Ihnen allen vollen Einsatz!“

„Wissen wir, ob die Informationen zuverlässig sind?“, mischte sich die dreiunddreißigjährige Diana Nußbaumer ein, der die Streitereien der Kollegen ebenfalls auf die Nerven ging. Sie tendierte aber auf Leos Seite, denn den Neuen konnte sie auch nicht leiden. Diana sah auch heute wieder wie aus dem Ei gepellt aus, worauf sie großen Wert legte. Das rote Kostüm mit den hohen Schuhen unterstrichen die blonden Haare und das perfekte Make-up. Dass ihre Outfits und ihr Auftreten immer wieder für Gesprächsstoff sorgten, war ihr inzwischen gleichgültig. Sie konnte herumlaufen wie sie wollte, da durfte niemand mitreden.

Krohmer war erschöpft. Er saß gemeinsam mit dem Staatsanwalt und dem Chef der Bundespolizei Niederegger die halbe Nacht über den Plänen, die in seinen Augen perfekt waren. In den letzten Monaten nahmen die Straftaten in Bezug auf illegale Einwanderer durch Schleuser mehr und mehr zu. Es gab sogar schon einen Todesfall zu beklagen, nachdem ein kontrollierter Wagen die Flucht ergriff und einen tödlichen Unfall hatte. Zum Glück waren alle Einsatzfahrzeuge mit Kameras bestückt, wodurch die Umstände des Unfalls und des daraus folgenden Todes des Mannes zu beweisen waren. Die Polizei hatte keine Schuld daran. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Beweise nicht vorgelegen hätten!

„Die Kollegen Niederegger und Hintermaier der Bundespolizei haben die Informationen bestätigt, die offenbar aus erster Hand kommen und zuverlässig sind. Die genaue Quelle wollte er nicht nennen. Wir müssen uns also darauf verlassen, dass die Angaben stimmen. Noch Fragen?“, sagte Krohmer in die Runde und sah seine Leute dabei lange an. Jeder einzelne schüttelte den Kopf. „Gut, dann kann es losgehen. Hiebler und Nußbaumer bilden ein Team. Sie schließen sich der Gruppe B an, das ist die neue Grenze. Schwartz und Windisch sind der Gruppe A unterstellt, die sich um die alte Grenzbrücke kümmert. Sie melden sich bei dem verantwortlichen Einsatzleiter…“

„Ich soll mit dem zusammenarbeiten?“, rief Windisch aufgebracht. „Das können Sie nicht von mir verlangen!“

„Aha, und wieso kann ich das nicht?“ Krohmer sprach jetzt sehr ruhig, was kein gutes Zeichen war, aber das wusste Windisch noch nicht. Er war noch nicht lange in Mühldorf und das hier war der erste große Einsatz.

„Jeder hier weiß, dass Schwartz mich nicht leiden kann. Er nutzt jede Gelegenheit…“

„Das ist mir doch scheißegal!“, schrie Krohmer aufgebracht. „Das hier ist die Kripo und kein Ponyhof! ICH teile die Gruppen ein und SIE haben sich daran zu halten! – Noch Fragen?“

Windisch schüttelte den Kopf. Das war ein Anschiss, den er sich eigentlich nicht leisten konnte. Wegen der ständigen Streitigkeiten mit Schwartz und der Tatsache, dass er neu war und sich noch nicht beweisen konnte, musste er dringend Punkte sammeln. Das wurde ihm nicht leicht gemacht. Dass er daran selbst schuld hatte, begriff er nicht. Er sah den verhassten Kollegen Schwartz an, aber der verzog keine Miene. Dass Leo das nicht leicht fiel, wusste er nicht.

„Es versteht sich von selbst, dass Sie alle Schutzwesten tragen. Sie ziehen sich um, Frau Nußbaumer. Wenn Sie beim Einsatz mit Kostüm und Stöckelschuhen auftauchen, wirft das ein schlechtes Licht auf uns.“

„Selbstverständlich werde ich mich umziehen, das hätten Sie nicht extra betonen müssen, Chef.“

„Auch Sie werden sich umziehen, Herr Schwartz. Mit diesem T-Shirt werden Sie sich vor den Kollegen der Bundespolizei nicht präsentieren, damit sind wir alle blamiert. Dass Sie es auch immer übertreiben müssen!“

Alle starrten auf Leos T-Shirt, das neu zu sein schien. Darauf war ein Teddybär abgebildet und der Spruch: Halb Mensch, halb Bärchen. Ich bin ein Märchen. Leo verstand zwar nicht, was es daran zu bemängeln gab, wollte aber den Chef nicht noch mehr reizen. Deshalb nickte er nur, was sonst nicht seine Art war, denn seine einzigartigen T-Shirts verteidigte er sonst vehement.

„Gut. Sie wissen, was Sie zu tun haben, ich verlasse mich auf Sie. Viel Glück!“

Für Krohmer war es selbstverständlich, dass er die Kollegen der Bundespolizei bei dem geplanten Einsatz persönlich unterstützte. Schleuser, mit denen illegale Einwanderer ins Land – speziell über die bayerischen Grenzen – gebracht wurden, wurden immer dreister und skrupelloser. Für Krohmer ging es nicht vorrangig um die Illegalen, sondern um die Schleuser selbst, denen Menschenleben offenbar nicht viel wert waren. Sie kassierten diese verzweifelten Menschen ab und gingen oft sehr rücksichtslos vor, was Krohmer nicht leiden konnte. Menschen wie Ware zu behandeln, war nicht akzeptabel. Ein Menschenleben war immer noch mehr wert als alles Geld der Welt!

Krohmer sah auf die Uhr. Es war jetzt kurz vor fünf. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihm, dass der Frühling nicht immer nur schöne Seiten hatte. Der eiskalte Wind, der seit Tagen übers Land fegte, hielt sich auch heute nicht zurück. Vom Wetter ganz abgesehen beschäftigte ihn das schlechte Verhältnis zwischen Schwartz und Windisch, das einfach nicht besser wurde. Nach dem heutigen Einsatz gab er den beiden einige Tage frei, danach musste er mit ihnen ein ernstes Wort reden.

Dass es dazu nicht kommen würde, ahnte Krohmer noch nicht, denn was als kollegiale Unterstützung der Bundespolizei geplant war, lief direkt in eine Katastrophe...

4.

Dietmar Neumann fand einfach keine Ruhe. Immer wieder stand er am Fenster und sah hinüber zur Schwarzwaldklinik und zum Parkplatz. Der Wagen des verhassten Mannes stand immer noch dort. War es so, dass der jetzt tatsächlich sein neuer Nachbar war? Das war doch nicht möglich!

Unruhig lief Dietmar auf und ab. Wenn er doch nur mit jemandem sprechen könnte! Seine Frau Traudl hatte genug mit sich selbst zu tun, sie wollte er mit seiner alten Geschichte nicht schon wieder belästigen. Wie oft sie sich alles anhören musste, konnte er nicht mehr zählen. Sie war immer geduldig, was er ihr hoch anrechnete. Dietmar tat sich schwer mit neuen Freundschaften, zu groß waren seine Vorbehalte und Ängste. Die Erfahrungen während seines damaligen Prozesses waren es nicht allein, Familie, Freunde und Weggefährten wendeten sich von ihm ab. Nein, er vertraute so schnell keinem mehr. Für ihn war es besser, vorsichtig zu sein und niemanden zu nahe an sich heranzulassen. Nach der Wende versuchte er, mit alten Weggefährten, die dasselbe oder ein ähnliches Schicksal teilten und ihn verstanden, Kontakt aufzunehmen, aber das Interesse auf beiden Seiten hielt sich in Grenzen. Das Leben ging weiter. Es gab keine oder nur noch sehr wenig Gemeinsamkeiten, die für einen weiteren Kontakt nicht ausreichten. Dasselbe galt auch für seinen Bruder Klaus, mit dem er sich längst entzweit hatte. Der hatte kein Verständnis für seine Ängste und Sorgen, unter denen er seit der Haft litt. Die Flucht seines Bruders aus der DDR war Jahre vorher reibungslos geglückt, wodurch er sehr viel mehr Zeit hatte, sich ein gutes Leben aufzubauen – und zwar ohne die schlechten Erfahrungen der Haft, unter denen Dietmar bis heute litt und die ihn geprägt hatten. Klaus beschäftigte sich mit belanglosen Dingen, mit denen Dietmar nichts anfangen konnte und die ihn langweilten. Mit wem sollte Dietmar also sprechen? Außer seiner Traudl hatte er niemanden, dem er sich anvertrauen konnte.

Je länger Dietmar über sich und sein Leben nachdachte, desto mehr verstrickte er sich in Selbstmitleid. Er versank in alten Geschichten, von denen er glaubte, dass er sie längst verarbeitet hatte. Aber dem war nicht so. Alles, was damals geschah, war wieder präsent – und zwar so, als wäre alles erst gestern gewesen. Dietmar trank viel zu viel Kaffee. Wenn das seine Traudl wüsste, wäre sie sauer. Als er an seine Frau dachte, die immer hinter ihm stand und seine Macken einfach hinnahm und weglächelte, ging es ihm noch schlechter. Warum war sie nicht hier? Sie wüsste sicher, was zu tun war. Er entschied, seine Frau anzurufen. Noch bevor er wählen konnte, sah er nochmal aus dem Fenster – und da war der Mann! Fröhlich lächelnd ging er seelenruhig zu seinem Wagen. Diesmal war kein Kind dabei. Dietmar wurde nervös. Was sollte er jetzt machen? Rübergehen und herausfinden, ob und wie der Mann hier lebte? Oder ihm folgen? Dietmar entschied sich für Letzteres.

Dass das ein großer Fehler war, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und wenn doch, wäre er dem verhassten Mann trotzdem gefolgt.

5.

„Los! Schneller!“, trieb Karl Assauer die Leute an, die nur langsam aus ihren Verstecken krochen, in seinen Augen viel zu langsam. „Hurry up!“, drängelte er und sah sich um. Der Parkplatz des riesigen Supermarktes außerhalb des österreichischen Grenzortes Braunau am Inn war zwar noch leer, aber das würde nicht lange so bleiben. Es war schon kurz nach halb sieben und es blieb nicht mehr viel Zeit, bis hier reger Betrieb herrschte. Karl Assauer war heute viel zu spät am vereinbarten Treffpunkt angekommen, was einem liegengebliebenen Lastwagen geschuldet war. Die Autobahnpolizei hatte viel zu großräumig abgesperrt und dadurch einen Stau verursacht, der in Assauers Augen völlig unnötig war. Eine gute Stunde zu spät, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Der eisige Wind blies über den Parkplatz. Die spärlich gekleideten Männer schlichen geradezu zu dem Kombi, in dem es keine Sitzmöglichkeiten gab. Karl Assauer hatte darauf verzichtet, denn dadurch passten sehr viel mehr Menschen in den Laderaum – und jeder einzelne bedeutete bares Geld. Zum Glück waren diesmal keine Frauen und Kinder dabei, das erleichterte die Arbeit ungemein, denn Mütter beschützten ihre Kinder und das gab immer Ärger. Die Angst in den Augen der Männer war sichtbar, aber die interessierte ihn nicht, das war nicht sein Problem. Er hatte einen Job zu erledigen und den gedachte er, wie immer zu aller Zufriedenheit auszuführen. Wieder und wieder trieb er die Männer an. Als endlich alle im Kombi saßen, zählte er sie. Neun Männer – die Anzahl stimmte. Die Namen kontrollierte er nicht, die waren ihm völlig egal. Sein Boss hatte die Papiere der Flüchtlinge, die waren nicht sein Problem. Es waren neun Männer, mehr wollte er nicht wissen. Er drängte sie dicht zusammen und mahnte sie eindringlich zur Ruhe, dann stapelte er einige Kartons davor, die kaum Platz fanden. Dass es die Männer nicht bequem hatten, interessierte Karl ebenfalls nicht. Endlich konnte er die Tür des Kombis schließen. An den Scheiben war heute die Werbung eines Schreiners angebracht, die Assauer selbst gestaltete und die es günstig gab, er hatte da sehr gute Beziehungen. Von diesen Werbungen gab es diverse Ausführungen und Assauer achtete darauf, sie regelmäßig auszutauschen. Ein Aufwand, der sich lohnte, denn bisher gab es nie Probleme. Die Werbungen hatten auch andere Vorteile. Seine wertvolle Fracht war vor neugierigen Blicken geschützt und von innen konnte man nicht rausschauen. So waren die Fahrten sehr viel ruhiger.

„Hast du sie alle reinbekommen?“, fragte ihn der Mann, der die Flüchtlinge von der ungarischen Grenze übernommen und bis hierhergebracht hatte. Sein Name war Fredo, einen Nachnamen gab es nicht. Er war Tscheche oder Ungar – mehr wusste Karl von ihm nicht und mehr war auch nicht nötig. Fredo übergab die Flüchtlinge und mehr interessierte ihn nicht. In welcher Verfassung die Menschen waren und ob es ihnen gutging, war auch nicht wichtig. Karl übernahm die heikelste Strecke, und zwar die über die österreichische Grenze nach Deutschland. Mit ihm gab es weitere Fahrer, aber auch für die interessierte sich Karl nicht. Er hatte seinen Job zu machen, so wie die anderen auch. Heute wählte Karl die Route über Burghausen. Aus erster Hand wusste er, welcher Grenzübertritt heute sicher war.

Karl hatte keine Lust, mit dem unsympathischen Fredo zu sprechen und nickte nur.

„Du bist heute spät“, rief Fredo ihm hinterher. „Warum verschiebst du die Tour nicht?“

„Das passt schon.“ Karl arbeitete schon lange mit Fredo zusammen, der Typ wusste immer alles besser. Dass der immer darauf achtete, dass die Fahrer sich untereinander nicht sahen, was ein logistischer Aufwand war, wusste Karl nicht. Und wenn, dann war es ihm gleichgültig, denn das war nicht sein Job. Er hatte die Ware zu übernehmen und über die Grenze zu bringen – und genau das erledigte er immer zuverlässig, es gab bei ihm nie Probleme.

Fredo war sauer. Karls Verspätung brachte den ganzen Zeitplan durcheinander. Er nahm sein Smartphone.

„Karl war zu spät, er fährt jetzt erst los.“

„Spinnt der? Halt ihn zurück.“

„Er wird sich von mir nicht aufhalten lassen. Das gefällt mir nicht. Er wird zu spät in Burghausen sein.“

„So eine Scheiße! Halt mich auf dem Laufenden.“

Karl Assauer startete den Motor und fuhr los. Er drehte die Heizung ganz auf. Dass seine Passagiere in ihrer dünnen Kleidung sicher sehr viel mehr froren und die Wärme nicht bis hinten durchdrang, war ihm auch egal. Hier ging es einzig und allein um ihn und den Job.

„Ich habe alle an Bord“, sprach er in sein Smartphone.

„Jetzt erst? Du bist viel zu spät!“

„Ließ sich nicht vermeiden. Ich bin unterwegs.“

„Was für eine Scheiße! Wann bist du in Burghausen?“

„Gegen halb acht.“

„Das ist viel zu spät! Blas die Sache ab!“

„Warum? Ich habe die Fracht an Bord und bin bereits unterwegs.“

„Halb acht ist zu spät, bis dahin sind viel zu viele Leute unterwegs. Wenn ich allein an die Schulkinder denke, wird mir übel. Das gefällt mir nicht, Karl.“

„Reg dich ab, das wird schon. Ich steige aus und du übernimmst. Niemand wird etwas merken.“

„Und wenn sich deine Fracht nicht im Griff hat? Was passiert, wenn die schreien oder Panik bekommen? Das wäre nicht das erste Mal. Du weißt doch, was passiert ist.“

„Ja, das weiß ich, aber das war eine Ausnahme. Der Fahrer hat die Nerven verloren, das wird mir nicht passieren. Wir haben doch über alles gesprochen und unsere Taktik komplett geändert. Bis uns die Bullen draufkommen, fließt viel Wasser die Salzach runter“, lachte Assauer, der nicht gedachte, jetzt aufzugeben. Nur noch wenige Kilometer und er war am Ziel. Der Grenzübertritt war heikel, denn die österreichische Polizei hatte auch dort die Kontrollen verschärft. Aus sicherer Quelle wusste er, dass heute an der neuen Grenze kontrolliert wurde, deshalb nahm er die Route über die alte Grenzbrücke. Eigentlich konnte nichts schiefgehen, schließlich war sein eigener Kontakt zur österreichischen Polizei zuverlässig und auch sehr teuer. Er hatte seinen eigenen Informanten, von dem niemand etwas wusste.

„Also gut, ziehen wir die Sache durch. Gib Gas, du musst früher hier sein. Kurz nach sieben würde noch passen, aber nicht später.“

„Das schaffe ich nicht, aber ich versuche mein Bestes. Bis später.“ Assauer unterbrach die Verbindung. Was sollte er jetzt noch lange mit dem Chef diskutieren? Für die Verspätung konnte er nichts, das war höhere Gewalt. Er hatte die Fracht an Bord und würde sie in Burghausen gleich nach der Grenze mitsamt dem unauffälligen Kombi übergeben. Natürlich konnte er versuchen, schneller zu fahren und einige Minuten rauszuholen, aber das war zu riskant. Mit den Österreichern war bezüglich Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht zu spaßen, er durfte nicht auffallen. Deshalb blieb er ruhig und fuhr umsichtig, aber nicht zu langsam. Auf dieser Strecke sollten heute keine Kontrollen stattfinden, trotzdem war er wie immer angespannt, auch wenn man ihm das nicht anmerkte. Jeder Transport war ein Risiko, geschnappt zu werden. Er hatte zwar den Informanten bei den Österreichern, aber trotzdem konnten immer noch überall Gefahren lauern. Seit dem tödlichen Unfall im letzten Jahr auf deutscher Seite waren die österreichischen und deutschen Polizisten gewarnt und verstärkten die Kontrollen, weshalb sie die Übergabe nun an unterschiedlichen Tagen und Tageszeiten durchführen. Fahrzeuge wechselten ständig, worauf vor allem Karl großen Wert legte. Außerdem wurde nach dem Vorfall fast die ganze Mannschaft ausgetauscht, nur die beiden Chefs, Fredo und er selbst blieben. Die jeweiligen Fahrer wurden auf Herz und Nieren geprüft, bevor man ihnen eine Fracht anvertraute. Das alles war ein logistischer Aufwand, der aber sein musste, um ihren Job sicher und zuverlässig zu erledigen.

„Bist du sicher, dass an der neuen Grenze kontrolliert wird?“, vergewisserte sich Karl bei seinem Kontakt, mit dem er nun sprach. Niemand kannte die Identität des Mannes und das musste auch so bleiben.

„Ja“, war die knappe Antwort. Hauptmann Michael Steigmüller arbeitete gern mit Karl zusammen. Das war unproblematisch und brachte viel ein. Geld, das er für sich und seine kleine Familie gut brauchen konnte. Mit dem Neubau des Eigenheimes hatte er sich übernommen, aber mit den Zusatzeinnahmen von Karl war alles wieder im Lot. Die letzten fünf Touren liefen problemlos ab, das würde auch hoffentlich so bleiben. Steigmüller hatte kein schlechtes Gewissen. Warum auch? Die Flüchtlinge wollten nicht in Österreich bleiben, sie wollten alle nach Deutschland. Österreich war nur ein Transitland und somit nicht direkt betroffen. Warum sollte er also nicht abkassieren, wo das Problem nur das der Deutschen war?

Karl war zufrieden, auf Michaels Aussagen konnte er sich bisher immer verlassen. Hochburg-Ach, der letzte Ort auf seiner Tour. Jetzt ging es noch die Serpentinen nach unten und dann musste er nur noch über die alte Grenzbrücke. Dann war er in Burghausen und in Deutschland. Dann konnte er den Kombi übergeben und abwarten, bis er ihn wiederbekam und damit wieder zurückfuhr. Nur noch wenige Minuten und er hatte es geschafft. Wie immer schaltete er das Smartphone stumm, eine Ablenkung konnte er jetzt nicht brauchen. Er wies seine Passagiere unmissverständlich an, keinen Laut von sich zu geben.

Alle Männer in dem Kombi waren angespannt, die Angst und die Aufregung waren ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Ganz besonders einer von ihnen, denn der gehörte hier nicht her, obwohl er optisch genau dazu passte.

Der Kombi verlangsamte das Tempo. Normalerweise genoss Assauer die Aussicht auf die Burghauser Burg, die die längste Burg Europas war. Aber heute hatte er andere Sorgen. Die Zeit lief ohne Erbarmen und viel zu schnell. Zu dem morgendlichen Berufsverkehr hielten ihn noch viele Schulbusse auf, was ihn wertvolle Minuten kostete. Auf den Serpentinen von Ach nach Burghausen fuhr auch noch ein Traktor vor ihm, der kaum über 20 km/h hinauskam. Was war heute nur los?

Endlich fuhr er über die alte Grenzbrücke, die über die Salzach führte. Auf der deutschen Seite wartete der Chef, der die Fracht und den Kombi übernahm. Ob der ihn selbst fuhr? Karl hatte keine Ahnung. Er freute sich auf das Frühstück und auf einen Spaziergang über den schönen Stadtplatz Burghausens, bis er dann wieder nach Hause konnte. Nur noch wenige Meter und die Übergabe auf dem Stadtplatz der Grenzstadt Burghausen konnte endlich stattfinden.

Dass er von der Polizei erwartet wurde, ahnte Karl Assauer nicht.

6.

Eine halbe Stunde vorher…

Leo Schwartz und Franz Windisch wurden vom Einsatzleiter der Bundespolizei Albert Hintermaier instruiert. Der Mann war freundlich, aber auch bestimmt. Er wusste genau, was er wollte und was er von seinen Leuten verlangen konnte. Und er duldete keine Widerworte. Es gab kurze Befehle, über die er nicht diskutierte. Dass heute Kollegen der Kriminalpolizei dabei waren, interessierte ihn nicht, die waren so gut wie alle anderen. Leo Schwartz behielt Hintermaier allerdings besonders im Auge, denn der Kollege war berüchtigt für seine Alleingänge und seinen Dickschädel, aber Schwartz hatte auch beachtliche Erfolge vorzuweisen. Trotzdem hatte hier und heute Hintermaier das Sagen, sonst niemand.

„Jeder geht auf seinen Posten. Alle bleiben in Deckung, niemand unternimmt etwas ohne meinen Befehl. Und ohne meinen ausdrücklichen Befehl wird auch nicht geschossen! Wir haben uns verstanden?“ Alle nickten und gingen auf ihre Posten, die nicht nur an der neuen und alten Grenze strategisch verteilt wurden, sondern auch über den historischen Stadtplatz der Stadt Burghausen. Als der Bürgermeister über die bevorstehende Aktion informiert wurde, geriet er in Panik und hielt vorsorglich das Rathaus heute geschlossen. Alle Mitarbeiter wurden gebeten, zuhause zu bleiben. Dass das völlig überzogen war, interessierte den Mann nicht. Er durfte nicht einen seiner Leute der Gefahr aussetzen – vor allem nicht sich selbst.

Hintermaier war genervt von der in seinen Augen überzogenen Reaktion des Bürgermeisters, der einen riesigen Aushang an die Tür des Rathauses angebracht hatte, dessen Wortlaut in Hintermaiers Augen sehr unglücklich gewählt wurde.

„Hätte man das nicht anders schreiben können? Ich befürchte, dass das nur Fragen aufwirft und die Bevölkerung verunsichern könnte.“

Krohmer war derselben Meinung. Wegen außergewöhnlichen Umständen konnte man wirklich falsch verstehen.

„Wir räumen den Stadtplatz“, bestimmte Krohmer. „Alle Passanten müssen weg.“

„Denken Sie, dass das nötig ist? Wir wissen doch noch nicht, ob diese Leute über die alte Grenzbrücke kommen.“

„Lassen Sie den Platz räumen. Wenn der Aushang des Rathauses die Runde macht, könnte das Panik auslösen.“

„Und wenn wir den Aushang einfach wegnehmen?“

„Den haben schon zu viele gelesen, das steht sicher längst im Internet und hat sich dort verbreitet. Wenn der jetzt verschwindet, wirft das zusätzlich Fragen auf, die Spekulationen Tür und Tor öffnen. Das Kind ist bereits in den Brunnen gefallen. Ich bin dafür, dass wir den Stadtplatz räumen – und zwar so schnell wie möglich.“ Krohmer war überzeugt, dass das die einzige Lösung war.

„Wir bleiben jetzt ganz ruhig und überlegen in aller Ruhe“, versuchte Hintermaier zu beschwichtigen. Dass der Mühldorfer Polizeichef heute anwesend war und offenbar nicht gedachte, sich still zurückzuhalten, passte ihm überhaupt nicht. „Kaffee?“

„Nein! Ich bin nicht wegen eines Kaffeekränzchens hier! Ich diskutiere nicht mit Ihnen, Kollege Hintermaier. Der Stadtplatz wird geräumt, und zwar sofort!“

„Ich bin hier der Einsatzleiter und ich habe das Sagen.“

„Das sehe ich anders. Sie räumen augenblicklich oder ich sabotiere den Einsatz. Sie wissen, dass ich das könnte, wenn ich wollte.“ Krohmer drohte nicht oft und eigentlich mochte er es nicht, seine Macht zu demonstrieren, aber das war hier offenbar angebracht.

„Gut, Sie haben gewonnen“, brummte Hintermaier sauer. Er gab den Befehl weiter und der Stadtplatz wurde geräumt. Das ging nicht ganz ohne Protest, trotzdem war der Stadtplatz nach wenigen Minuten menschenleer.

Leo und Windisch nahmen den ihnen zugeteilten Posten ein.

---ENDE DER LESEPROBE---