Die Toten von Stade - Irene Dorfner - E-Book

Die Toten von Stade E-Book

Irene Dorfner

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Beschreibung

Am Elbufer nahe der Festung Grauerort in Stade wird die Leiche einer jungen Frau angespült, eingewickelt in Draht. Niemand scheint sie zu vermissen oder zu kennen. In einem Wohngebiet im Altländer Viertel mitten in Stade lebt seit einigen Monaten die junge Carina, die nicht hierher gehört. Sie wartet täglich auf Post, die nur aus Postkarten mit merkwürdigem Text besteht. Hauptkommissar Leo Schwartz aus dem bayerischen Mühldorf am Inn wird von seiner Freundin Christine Künstle genötigt, sie wegen einer Erbschaft nach Stade zu begleiten. Dort geraten beide in einen Sumpf aus Entführung, Erpressung – und Mord. Und es bleibt nicht bei einem Opfer…

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Seitenzahl: 221

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Irene Dorfner

Die Toten von Stade

... und Leo Schwartz ermittelt

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

VORWORT

ANMERKUNG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

Liebe Leser!

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Impressum

Copyright © 2022 Irene Dorfner

© Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting

www.irene-dorfner.com

All rights reserved

Lektorat: Earl und Marlies Heidmann, Spalt

Sabine Thomas, Stralsund

FTD-Script, Altötting

VORWORT

Fall 41 – ein ganz besonderer Krimi, denn er spielt diesmal im norddeutschen Stade. 

Vielen, vielen Dank an die Polizei Stade, die mir sehr geholfen hat. 

Ich bin und bleibe ein Fan der Polizei, ihr macht einen tollen Job!

Ein riesiges Dankeschön gilt auch dem Team des Tourismusbüros Stade, 

Herrn Peter vom Museumsschiff Greundiek, 

Peter und Hannelore Schneidereit von der Festung Grauerort in Stade-Bützfleth, 

dem Team des Altstadtcafés Stade und natürlich 

meinem Fahrer Marko Reidenbach, der mir wahnsinnig viel gezeigt und erklärt hat. 

Ich wurde als schwäbische Bayerin sehr freundlich aufgenommen – ich komme auf jeden Fall wieder!

Einen Besuch in Stade und dem Alten Land kann ich jedem ans Herz legen!

Allen Lesern und Freunden von Leo Schwartz wünsche ich einen spannenden Aufenthalt in Stade!

Herzliche Grüße aus Altötting

Irene Dorfner

ANMERKUNG

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Festung Grauerort,

Stade-Bützfleth, am 4. Februar

Neugierig stieg der Tourist aus dem fernen Schwarzwald über die Absperrung, die vor dem Aufstieg aufs obere Plateau in der Festung Grauerort angebracht worden war. Das interessierte den Mann nicht. Er musste nach oben auf die Anlage. Dort standen früher Kanonen, mit denen über die angrenzende Elbe geschossen wurde. Das hatte er in einer Broschüre gelesen. Bilder reichten ihm nicht, er wollte das selbst sehen. Seine Frau versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, aber was die sagte, interessierte ihn schon lange nicht mehr.

„Komm da runter, du Volltrottel!“, hörte er ihre ätzende Stimme, die er gedanklich einfach ausschaltete. Sie hatte ihn genötigt, ein paar freie Tage in Hamburg und Stade zu verbringen, was wieder eine ihrer Schnapsideen gewesen war. Er nahm sich vor, während der ganzen Zeit zu schmollen – aber dann hatte er von dieser Festung gelesen, die ihn brennend interessierte.

Oben angekommen, sog er die frische Luft ein, von der er sicher war, dass sie hier viel besser war als eine Etage tiefer. Interessiert sah er sich um. Dass hier offenbar Bauarbeiten stattfanden und man nicht umsonst die Sperrbänder angebracht hatte, war ihm egal. Es schien, als wären die nicht für ihn gedacht. Bedächtig ging er die Stellen ab, wo die Kanonen gestanden haben, die riesig gewesen sein mussten. Welchen Lärm sie verursachten, konnte er sich nur schwer vorstellen. Soldaten mussten hier Wochen und Monate mit schwerer Arbeit, Kanonendonner, ohne jeglichen Komfort und unter ständiger Angst ausharren. Gänsehaut machte sich breit, die ihn nur noch mutiger werden ließ. Dort hinten musste die Elbe sein. Die Bäume gab es damals noch nicht. Nur eine kurze Strecke trennte ihn vom Ufer der Elbe, die er seit ihrem Aufenthalt in Norddeutschland noch nicht gesehen hatte. Er konnte nicht anders, er musste seine Hände ins Wasser tauchen oder zumindest einen Stock hineinhalten, also kletterte er rüber. Das Verbotene trieb ihn vorwärts. Wenn ihn jetzt jemand entdecken würde, gab das sicher mächtigen Ärger, aber hier war weit und breit niemand zu sehen – Corona sei Dank! Er lächelte, denn diese Pandemie hatte ihn noch nie interessiert, er hielt sie und die Begleiterscheinungen für völlig überzogen. Ob ihn seine Frau an die Betreiber dieser Anlage verraten würde? So hinterhältig war sie dann doch nicht.

Der Blick auf die Elbe bei diesem herrlichen Wetter war phantastisch, vor allem für einen Mann, der nur selten aus dem Schwarzwald herauskam. Ein Containerschiff näherte sich. So ein riesiges Schiff hatte er noch nie gesehen! Dann stand er vor dem Wasser der Elbe, das heute ruhig ans Ufer schwappte. Noch bevor er sich bücken konnte, sah er links von sich etwas in der Sonne glitzern, das hier nicht hergehörte. Ein Klumpen hing an einem Ast, der vermutlich bei einem Sturm abgebrochen war. Der Rest wogte im Wasser leicht hin und her. Neugierig ging er darauf zu. Was war das? Es schien wie ein zusammengerollter Teppich auszusehen. Aber was hatte der hier zu suchen?

Als er näher kam, blickte er in die Augen einer übel zugerichteten Leiche, die in einen Draht eingewickelt war. Noch bevor er Hilfe holen konnte, musste er sich übergeben.

Kriminalhauptkommissar Bernd Strömer stand mit dem Kollegen Kurt von Hassel nur eine halbe Stunde später am Ufer der Elbe. Die beiden betrachteten die Leiche der jungen Frau, deren Anblick auch für die Kommissare, die schon so viel gesehen hatten, nicht leicht zu ertragen war. Ob sie einmal hübsch gewesen war? Und wenn, dann war davon nichts mehr zu sehen.

„Wie lange liegt sie schon im Wasser?“, wandte sich Strömer an den Kollegen, dessen Namen er vergessen hatte. Namen waren nicht sein Ding, das wussten alle.

„Schwer zu sagen. Ich schätze einige Wochen, vielleicht auch länger. Du musst die Obduktion abwarten.“

„Die Frage, ob wir es hier mit einem Mord oder einem Unfall zu tun haben, erübrigt sich“, sagte Strömer.

„Sie war in diesem Sechseckdraht eingewickelt. Den nimmt man gerne für Hasen- oder Hühnerausläufe.“

„Und ich dachte, ich hätte schon alles gesehen“, murmelte von Hassel, der mit dem Würgereiz kämpfte, sich vor den Kollegen aber keine Blöße geben wollte.

„Der Täter wollte auf Nummer Sicher gehen. Ich hatte früher schon einmal damit zu tun, aber das ist viele Jahre her. Da wurde eine Leiche in einen ähnlichen Draht gewickelt. Damit will man erreichen, dass Fische an das Fleisch können, die Leiche aber nicht mehr an die Oberfläche kommt. Wenn ein gewisser Prozentsatz des Fleisches weg ist, sinkt der Rest zu Boden. Eigentlich sehr clever. Ich meine sogar, dass das Militär früher so gearbeitet hat. Sehr interessant.“

„Clever und interessant? Was ist denn mit dir los? Das ist doch pervers! Außerdem könnte man das auch ohne diesen Draht erreichen. Fische kommen dann sogar besser dran.“

„Das sehe ich anders. Die Leiche an sich wird komprimiert, der Draht hält alles zusammen. Das lockt Fische geradezu an.“

„Papiere oder irgendetwas, mit dem wir die Frau identifizieren können?“

„Nein, wir haben nichts gefunden.“

„Mist! Wer hat sie gefunden?“

„Ein Besucher der Festung. Er stieg über die Absperrung der momentanen Baustelle und lief über den Wall bis zur Elbe. Dabei hat er sie entdeckt.“

„Touristen! Die müssen überall ihre Nase reinstecken.“

„Sei fair, Bernd. Wenn er sie nicht gefunden hätte, hätte sie vermutlich noch viele Wochen unentdeckt hier gelegen. Während der Wintermonate ist hier nicht viel los, Corona und die Beschränkungen kommen noch dazu.“ Kurt von Hassel kannte die Festung Grauerort von einigen Veranstaltungen, die aber fast alle im Frühjahr und Sommer stattfanden, einige wenige im Herbst. Das war noch vor Corona gewesen. Sehnsüchtig dachte er an die Zeit zurück – ob es jemals wieder so werden würde? Die Lockerungen griffen nur langsam. Und wenn, dann in Bereichen, die ihn kaum betrafen. Geschafft war es erst, wenn man sich wieder ohne Maske frei bewegen konnte. Ob das überhaupt jemals wieder möglich war?

Die Befragung des Touristen gab nicht viel her. Er hatte sich bereits von mehreren Seiten diverse Standpauken anhören müssen, weshalb er sich echt schlecht fühlte. Auch seine Frau, die mit ihm im Café der Festung saß, hatte sich mit Beschimpfungen nicht zurückgehalten. Ja, er war verbotenerweise über die Absperrbänder geklettert, das hätte er nicht tun sollen, das war ihm jetzt klar. Den Anblick der Leiche würde er nie wieder vergessen, das war seine gerechte Strafe und damit musste er jetzt leben. Die dunklen, leeren Augen der schwarzhaarigen Frau bohrten sich in sein Gedächtnis. Zitternd saß er auf seinem Stuhl. Alle hackten auf ihm herum. Nur die Frau des Vorsitzenden und gute Seele des Vereins Festung Grauerort, Hannelore Schneidereit, hatte Mitleid mit ihm. Sie war die Einzige, die ihm einen Tee brachte und ihn anlächelte, an ihrem freundlichen Gesicht hielt er sich fest.

Als zwei Männer auf ihn zukamen, wusste er sofort, dass das Polizisten waren. Die Ausweise, die ihm gezeigt wurden, ignorierte er. Gefasst wartete er auf einen weiteren Anschiss, der aber überraschenderweise ausblieb – sehr zum Leidwesen seiner Frau. Die Polizisten befragten ihn zu der Leiche und zu seinem eigenen Verhalten, als er sie fand.

„Ich schwöre, dass ich nichts angefasst habe. Ich musste mich übergeben, das tut mir sehr leid.“

„Das haben wir gesehen“, murmelte Strömer. „Wie weit waren sie von der Leiche entfernt? Direkt an ihr dran?“

„Ja. Ich wollte helfen, aber da war nichts mehr zu machen, das habe ich gleich gesehen. Da war kein Leben mehr, die Frau war tot!“

„Als ob du wüsstest, wie eine Leiche aussieht!“, mischte sich seine Frau ein.

„Haben Sie irgend etwas angefasst?“, fuhr Strömer fort, ohne auf die schrille Stimme der Frau zu achten.

„Ich habe nichts angefasst, ich schwöre! Ich hätte die Frau nicht anfassen können, das hätte ich nicht geschafft. Ich wollte helfen, aber da war nichts mehr zu machen“, wiederholte er.

„Beruhigen Sie sich, Sie haben alles richtig gemacht. Kommen Sie heute bitte zur Zeugenaussage aufs Revier. Passt sechzehn Uhr?“

Der Mann nickte nur und konzentrierte sich wieder auf Frau Schneidereit, die nicht aufhörte, ihn anzulächeln, was ihm sehr, sehr guttat. Seine eigene Gattin ignorierte er, was die zur Weißglut brachte. Die Vorwürfe wurden heftiger und derber, aber das ging die Polizei nichts an, deshalb mischten sie sich nicht ein.

Kurt von Hassel wandte sich dem Vorsitzenden des Vereins Festung Grauerort Peter Schneidereit zu, der nicht fassen konnte, dass der Ort, um den sich alle mit großer Mühe und riesigem Engagement kümmerten, mit einer Leiche in Verbindung stand.

„Sie waren in den letzten Monaten nicht an der Elbe?“

„Nein, dort bin ich sehr selten. Auch die anderen Mitglieder der Stiftung, die sich um den Erhalt der Festung kümmern, sind nicht oft dort. Warum auch? Wir kümmern uns um die Anlage und die Veranstaltungen, die ab April hoffentlich wieder starten, wenn uns das coronabedingt erlaubt wird. In den wärmeren Monaten gehen immer wieder Touristen von der Anlage aus direkt an die Elbe. Das sehen wir nicht gern, aber wie sollen wir das verhindern? Mit der Baustelle wird das alles noch viel gefährlicher. Wir dachten, dass die Absperrbänder ausreichen, aber Menschen sind unberechenbar. In diesem Fall sollten wir dem armen Mann dankbar sein, sonst würde die Frau dort noch lange liegen.“ Peter Schneidereit fasste das zusammen, was alle dachten. „Es wird wohl besser sein, wenn wir alles mit Absperrgittern versehen. Das sind unvor-hergesehene Kosten, mit denen wir uns immer wieder herumschlagen müssen.“

Kurt von Hassel zeigte ihm das Foto der Toten.

„Kommt Ihnen die Frau bekannt vor?“

„Nein.“

Auch seine Frau und die anderen Vereinsmitglieder der Festung Grauerort, die sich inzwischen eingefunden hatten, mussten verneinen. Niemand kannte die Tote, deren Anblick kaum zu ertragen war.

„Vielleicht eine Touristin?“

„In diesem Zustand? Wie soll das gehen? Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Die letzte Veranstaltung fand im Oktober letzten Jahres statt, denn danach war in der Festung wegen Corona nicht mehr viel los. Es gab eine Geburtstagsfeier im November, aber das waren fast nur ältere Herrschaften. Wenn da eine junge Frau abgängig gewesen wäre, wüssten wir längst Bescheid.“

Die Befragungen der Gäste der fraglichen Geburtstagsfeier liefen ins Leere. Auch die Aussage des Touristen aus dem Schwarzwald brachte keine neuen Erkenntnisse. Er war pünktlich in Begleitung seiner Frau auf dem Revier erschienen und wiederholte das, was er bereits ausgesagt hatte. Dies wurde mit Vorwürfen der Frau untermalt. Als die beiden weg waren, atmeten alle erleichtert auf.

Die Kriminalkommissare Strömer und von Hassel standen vor einem Rätsel, denn in Stade, Hamburg und Umgebung wurde keine Person vermisst, auf die die Beschreibung auch nur annähernd passen würde.

„Wir haben nur das Zahnschema.“

„Machen wir uns an die Arbeit und klappern die Zahnärzte ab.“

Die Obduktion brachte nicht einen brauchbaren Hinweis für weitere Ermittlungen. Kein einziger Zahnarzt meldete sich wegen des Zahnschemas. Die Spur des Drahtgitters führte ebenfalls ins Leere, denn das gab es in jedem Baumarkt als Massenware. Die Kriminalbeamten hatten lediglich die Beschreibung der Frau: Circa 25 Jahre alt, 1,60 Meter groß, schwarze Haare. Kein Tattoo, keine Narbe, keine alten Verletzungen – einfach nichts, was zur Identifizierung wichtig wäre. Dass die Frau nicht ertrunken war, war jedem zwar klar, wurde aber nun bestätigt. Die Verletzungen, die mit bloßem Auge sehr gut sichtbar waren, konnten nicht eindeutig zugeordnet werden. Es könnte sein, dass die Frau misshandelt wurde. Es war aber auch möglich, dass die Blessuren von Schiffen, Treibholz oder Ähnlichem in der Elbe verursacht worden waren.

Auch nach Wochen kamen die Polizisten keinen Schritt weiter. Wer war die tote Frau, die niemand zu vermissen schien?

2.

Stade, Altländer Viertel, 16. März

Endlich sah sie das Fahrzeug des Briefträgers, auf das sie sehnsüchtig wartete. Seit Stunden stand sie am Fenster. Ob heute endlich die ersehnte Nachricht kam?

Sie zog die blonde Perücke auf und rannte die Treppen des Mehrfamilienhauses im Altländer Viertel in Stade nach unten. Das hier war nicht ihr Zuhause, die Wohnung war ihr zugewiesen geworden. Es war eine Anweisung gewesen, sich hier aufzuhalten und auf weitere Informationen zu warten, die heute, nach vier Monaten, vielleicht endlich ein Ende fanden. Dass sie hier so lange ausharren und sogar Weihnachten und Silvester in dieser fremden Umgebung verbringen musste, war ihr gleichgültig. Da sie verstanden hatte, dass man nur mit ihr zusammenarbeitete und sie das Leben ihrer Lieben schützte, wenn sie sich an die Anweisungen hielt, harrte sie geduldig aus. Ihr eigentliches Zuhause befand sich in einem noblen Vorort Hamburgs. Sie war davon überzeugt, dass ihr Vater von diesen Menschen ebenfalls unter Druck gesetzt wurde, sonst hätte der längst alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu retten. Er war ihr Held, zu ihm blickte sie auf. Anfangs hoffte sie noch auf Hilfe, aber als die ausblieb, war ihr klar, dass auch er unter diesen skrupellosen, schlechten Menschen litt. Ob man sich von anderer Seite Sorgen machte, wo sie, ihr Mann und ihr Sohn waren? Könnte es nicht sein, dass man sie vermisste und längst nach ihr suchte? Vermutlich nicht, denn alle Nachbarn kümmerten sich nur um sich selbst. Dass sie und ihr Mann daran nicht ganz unschuldig waren, war ihr bewusst, denn sie vermieden von Anfang an, seit sie vor acht Jahren in die alte Villa des verstorbenen Großvaters gezogen waren, jeglichen Kontakt zu anderen und machten ihr eigenes Ding. Ob alles anders gekommen wäre, wenn sie sich anders verhalten hätten? Nein, vermutlich nicht. Die jetzige Situation wäre auch eingetreten, wenn sie einen größeren Freundeskreis und Kontakt zu den Nachbarn gehabt hätten, das war ihr in den letzten Wochen klargeworden. Wieder und wieder hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, Zeit hatte sie schließlich genug. Sie musste sich ausschließlich in dieser Wohnung aufhalten, was unter normalen Umständen eine Zumutung für sie gewesen wäre. Keine Spaziergänge, keine Besuche, nichts war ihr erlaubt. Ein einziger Einkauf pro Woche im angrenzenden Supermarkt war gestattet, aber auch hier durfte sie mit niemandem sprechen. Sie hatte diese schäbige blonde Perücke zu tragen, die man ihr zusammen mit Kleidung, die nicht ihrem sonstigen Stil entsprach, in dieser Wohnung parat gelegt hatte. Ihre einzige Aufgabe war es, abzuwarten. Das machte ihr die meiste Zeit nichts aus, auch wenn ihr oft die Decke auf den Kopf fiel. Das musste sie ignorieren und irgendwie aushalten. Wenn es ganz schlimm wurde, machte sie Yogaübungen oder kochte, denn die Sorgen um ihren Mann Reiner und vor allem um ihren siebenjährigen Sohn Niclas brachten sie fast um den Verstand. Was hatte der Kleine denn getan, dass man ihn so quälte? Einen Fernseher oder ein Radio gab es nicht, weshalb sie immer empfindlicher auf Geräusche achtete, die von draußen zu ihr drangen. Ein einziges Mal war sie versucht gewesen, im Supermarkt heimlich zu einer Tageszeitung zu greifen, aber das blieb nicht unbemerkt. Am nächsten Tag fand sie eine Nachricht unter der Wohnungstür, die sie erschaudern ließ, denn die Drohung war eindeutig. Wenn sie sich das nochmal getraute, würde Niclas darunter leiden, er war als erstes Opfer auserwählt worden. Man drohte, ihr einen seiner Finger zu schicken. Diese Drohung erschreckte sie bis ins Mark. Seitdem war ihr klar, dass sie beobachtet wurde, weshalb sie sich strikt an alle Anweisungen hielt.

Seit sie hier war, schlief sie schlecht, was sie von früher nicht kannte. Aber das alte Leben gab es nicht mehr, das war vorbei.

Frierend stand sie vor der Haustür. Dass es in diesem ungemütlichen März nicht wärmer wurde, war ihr gleichgültig, die Kälte spürte sie nicht. Sie wartete nur auf den Postboten, der hoffentlich eine Nachricht für sie dabei hatte.

Siegfried Schindler, den alle nur Siggi nannten, war nicht überrascht, dass die Frau auch heute wieder vor der Tür stand und auf ihn wartete. Er wusste von der Postadresse, dass sie Carina Leipert hieß und seit etwa vier Monaten hier in diesem Haus wohnte. Als er sie zum ersten Mal sah, spürte er, dass sie hier nicht hergehörte. Dieses Haus war unter den Einheimischen nicht beliebt. Abgesehen davon, dass alles dreckig und heruntergekommen aussah, war die Nummer 12 ein beliebter Drogen-umschlagplatz, der in den späten Abendstunden stark frequentiert wurde. Dann hielten sich hier Gestalten auf, um die man besser einen großen Bogen machte. Alle wussten davon, aber es wurde nicht viel dagegen unternommen. Das Informationsnetz funktionierte, weshalb die Polizei keine Chance hatte, das Treiben zu unterbinden. Hier war die fremde Frau abgestiegen, was Siggi nicht verstand. Obwohl er sich redlich bemühte, ein paar Worte mit ihr zu wechseln, gelang ihm das nicht. Wenn sie überhaupt reagierte, dann nickte sie nur und verschwand – mit oder ohne Post. Ob sie stumm war? Frau Leipert bekam nur Postkarten, ein Brief war nie dabei. Je länger er seine Kundin betreute, desto komischer kam ihm das vor – und desto mehr mochte er die Frau.

„Ich habe nichts für Sie dabei, Frau Leipert“, rief er ihr zu. Er sah, dass sie zitterte, deshalb sollte sie so schnell wie möglich ins Haus zurück. Siggi machte sich schon lange keine Gedanken mehr darüber, warum sie keine Jacke trug. Sie schien sich nur auf die Post zu konzentrieren, auf der ihr ganzer Fokus lag.

Keine Post! Carina konnte nicht fassen, dass auch heute keine Karte dabei war. Was war nur los? Sie hatte alles getan, was man von ihr verlangte. Warum ließ man sie jetzt hängen?

Siggi Schindler konnte die Enttäuschung der Frau förmlich greifen. Am liebsten hätte er sie getröstet, aber das durfte er nicht. Seit dieser verdammten Pandemie war es ihm nicht erlaubt, sich der Kundschaft zu nähern. Anfangs hatte er sich nicht daran gehalten, was ihm nicht gut bekommen war, denn irgendjemand hatte ihn angezeigt, was ihn fast den Job gekostet hätte. Seitdem hielt er demonstrativ Abstand, was ihm echt schwerfiel. Traurig sah er Frau Leipert hinterher, als sie sichtlich enttäuscht im Haus verschwand. Dass er seufzte, merkte er nicht.

„So hübsch und so traurig“, hörte Siggi eine Stimme hinter sich. Ruckartig drehte er sich um. Vor ihm stand ein Mann um die siebzig, den er sehr gut kannte: Benno Jäger. Der gebürtige Rheinländer lebte seit über dreißig Jahren in Stade, hatte aber den Dialekt nicht abgelegt.

„Wohl wahr“, murmelte Siggi. „Guten Morgen. Heute ist nichts für dich dabei.“

„Wer sollte mir auch schreiben“, lachte Jäger. „Die guten Freunde sind verstorben, die bucklige Verwandtschaft kann mich mal. Was ist nur mit dieser Frau los?“, kam er aufs Thema zurück. Schon lange beobachtete er Frau Leipert. Das fiel ihm leicht, da er im Haus gegenüber wohnte und sowieso nicht viel zu tun hatte.

„Keine Ahnung. Sie wartet täglich auf Post und ist immer wahnsinnig enttäuscht, wenn ich nichts für sie dabei habe. Sie tut mir sehr leid.“

„Welche Art Post bekommt sie denn?“

„Ausschließlich Postkarten“, entfuhr es Siggi, der sich dafür hätte ohrfeigen können, denn das durfte er nicht verraten. Hastig drehte er sich um und wollte wieder in seinen Wagen steigen, aber Jäger ließ das nicht zu.

„Was steht auf den Postkarten? Von wem sind sie?“

„Das weiß ich doch nicht!“

„Jetzt komm schon, Siggi, das glaubt dir keiner! Jeder weiß doch, wie neugierig du bist, was keine Schande ist. Warum auch nicht? Du interessierst dich für deine Kundschaft und nimmst an unser aller Leben teil, was sehr lobenswert ist.“ Es folgte ein Schwall warmer Worte, die Siggi sichtlich genoss.

„Ja, es stimmt, die kurzen Texte fielen mir auf. Auf jeder der insgesamt acht Postkarten stand jeweils nur ein einziger Satz, der für mich keinen Sinn ergab.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Zwei Sätze konnte ich mir merken, die anderen bekomme ich nicht mehr zusammen.“ Siggi sah sich um, so langsam wurde ihm die Situation unangenehm.

„Jetzt lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wie lauten die Sätze?“

„Postgeheimnis!“, sagte Siggi und wollte nur noch weg.

„Wenn die Leute nicht wollen, dass man ihre Nachrichten liest, sollen sie keine Postkarten schreiben“, lachte Jäger, der fürchtete, dass Siggi gleich verschwand, noch bevor er seine Informationen hatte.

„Stimmt auch wieder“, gab Siggi zu, der sich genau dasselbe dachte.

„Und? Raus mit der Sprache! Wie lauten die beiden Sätze? Vielleicht können wir der armen Frau Leipert irgendwie helfen.“

„Wir beide? Das glaubst du doch selbst nicht!“

„Könnte doch sein, oder nicht? Ich möchte es jedenfalls versuchen.“

Siggi wurde weich. Carina Leipert selbst und die ominösen Postkarten ließen ihn schon lange nicht mehr zur Ruhe kommen. Bis jetzt hatte er sich niemandem anvertraut. Hatte er in dem alten Benno Jäger einen Verbündeten gefunden?

„Also gut, aber kein Wort zu niemandem, verstanden? Wenn das rauskommt, bin ich meinen Job endgültig los!“

„Selbstverständlich halte ich den Mund, was hältst du denn von mir?“

Verschwörerisch sah sich Siggi um.

„WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS. Gruß Niclas.“

Jäger sah Siggi mit großen Augen an.

„Willst du mich verarschen?“

„Keineswegs. Das ist genau der Satz, der auf einer der Postkarten stand. Ich habe den Sinn auch nicht verstanden, aber die Nachricht muss für Frau Leipert sehr wichtig gewesen sein. Als sie ihn las, hat sie genickt.“

Benno Jäger sah Siggi skeptisch an, denn er fühlte sich immer noch veräppelt.

„Du sprachst von einem weiteren Satz. Wie lautet der?“

„Mach dich auf etwas gefasst, denn der hört sich auch nicht besser an: AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN. Gruß Niclas.“

„Was?“

„Genau das stand auf der Karte.“

„Siggi, ich warne dich! Mach dich nicht über mich lustig.“

„Das würde ich nie tun. Ich verstehe diese Nachrichten ja auch nicht. Du etwa?“

„Wie sollte ich?“ Benno Jäger holte einen Zettel und einen Stift aus der Innentasche seines alten Jacketts hervor. „WIR ALLE RENNEN TROTZ EIS NORDWÄRTS. Gruß Niclas“, murmelte er und sah Siggi an, der daraufhin nickte. „AFFEN LIEBEN LECKERES ESSEN SEHR, OHNE KARTOFFELN. Gruß Niclas.“ Auch jetzt nickte Siggi.

„Ist dir noch etwas aufgefallen?“

„Die Sätze waren in Großbuchstaben geschrieben, der Gruß ganz normal. Das ist nicht üblich, deshalb fiel mir das auf.“

„Was ist mit den Motiven der Postkarten?“

„Darauf waren Schiffe abgebildet, Segelschiffe. Abgestempelt wurden sie in Hamburg.“

„Wer wohl dieser Niclas ist?“

„Das habe ich mich auch oft gefragt, habe aber keine Antwort darauf.“

Benno Jäger sah sich die beiden Sätze auf dem Zettel wieder und wieder an.

„Das ist doch nicht normal! Was soll das?“

„Das ist für mich ein Rätsel. Ich würde Frau Leipert gerne darauf ansprechen, aber sie möchte nicht mit mir sprechen.“

„Wir sollten zur Polizei gehen“, sagte Jäger, der spürte, dass hier etwas oberfaul war.

„Womit? Mit zwei Sätzen aus meinem Gedächtnis und einer vagen Vermutung zweier Männer? Die Polizisten lachen uns doch aus.“

„Ja, da magst du recht haben. Trotzdem sollten wir etwas unternehmen.“

Siggi sah auf die Uhr. Das hier dauerte schon viel zu lange, er musste weiterarbeiten.

Jäger verstand.

„Wir machen uns beide Gedanken darüber und treffen uns morgen wieder hier. Vielleicht hat einer von uns eine zündende Idee.“ Benno Jäger ging Richtung Innenstadt zum Altstadtcafé, wo er täglich seinen Kaffee trank und sich mit den netten Damen unterhielt. Manchmal hatte er Glück und es gab eine Veranstaltung, an der er teilnehmen konnte. Ob das heute auch so war?

Auf dem Weg ins Altstadtcafé gingen Jäger die Sätze nicht mehr aus dem Kopf. Was sollte der Mist? Dass da etwas nicht stimmte, stand für ihn außer Frage. Aber was? Er nahm sich vor, am Ball zu bleiben.

3.

Im Altstadtcafé Stade

in der Hökerstraße…

Benno Jäger setzte sich an seinen Stammplatz, den ihm die freundliche Natascha immer frei hielt.

Am Nebentisch saß Hauptkommissar Leo Schwartz aus dem bayerischen Mühldorf am Inn zusammen mit seiner besten Freundin Christine Künstle. Die beiden unterhielten sich angeregt, es hörte sich sogar teilweise nach Streit an.

„Der Termin beim Notar ist erst morgen, meine Liebe. Kannst du mir erklären, warum wir bereits heute angereist sind?“

„Weil ich sichergehen wollte, dass uns diese dämliche Pandemie keinen Strich durch die Rechnung macht. Was hast du dagegen, ein, zwei freie Tage mit mir zu verbringen?“

„Dagegen habe ich nichts. Allerdings hätte ich es fair gefunden, mich einzuweihen, schließlich geht es um meine Urlaubstage, über die ich gerne selbst verfüge. Du hast nicht das Recht, über meinen Kopf zu bestimmen, das finde ich echt Scheiße! Anstatt hier sinnlos herumzusitzen, könnte ich in dem neuen Fall ermitteln, den jetzt die Kollegen allein bewältigen müssen.“ Dass sich dieser Fall als Selbstmord entpuppt hatte, behielt Leo lieber für sich, denn sonst hätte er kein schlagkräftiges Argument vorzubringen, um seiner ältesten Freundin ein schlechtes Gewissen einzureden. Christine zuckte aber nur mit den Schultern.

„Die Verbrecher kommen auch mal zwei Tage ohne dich aus, so wie die Kollegen auch. Mach einfach mal Pause, das schadet dir nicht. Man kann nicht immer nur Mörder jagen, man muss auch mal ausspannen können.“

Der siebenundfünfzigjährige Leo Schwartz lehnte sich zurück - er war sauer. Vor zwei Tagen hatte ihn Christine gebeten, sie nach Stade zu begleiten. Da er völlig übermüdet war, hatte er einfach zugesagt, ohne zu begreifen, dass Stade in Norddeutschland liegt. Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Christine bestand darauf, dass er sie begleitete, da sie zum einen nicht gerne allein verreiste, und zum anderen nicht wusste, was auf sie zukam. Außerdem stand eine Aussprache mit Leo an, die längst überfällig war.