1968 - Thomas Zingelmann - E-Book

1968 E-Book

Thomas Zingelmann

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Beschreibung

Der Sammelband zur Tagung »68 – soziale Bewegungen und geistige WegbereiterInnen« diskutiert die zentralen Ideen und Leitbilder, an denen sich die 68er-Bewegungen orientiert haben. Hierbei zeigt sich, dass sich deren Utopien und ihre Kritik am Status quo nicht auf einen weltanschaulichen Nenner bringen lassen: Die Beiträge in diesem Buch stellen deshalb die Frage nach den vielfältigen intellektuellen Voraussetzungen, die die (Gegen-)Kulturen, Ideen, Theorien und Lebensstile der Bewegungen beeinflusst haben. Deren Ideenhorizont wird durch Beiträge zu Marxismus, Feminismus, zur Frankfurter Schule und zu literarischen Strömungen rekonstruiert, alle Texte nehmen darüber hinaus aus den Perspektiven von ’68 auf zeitgenössische Themen Bezug. Mit Beiträgen von Alfred Betschart, Jens Bonnemann, Peggy H.-Breitenstein, Hannah Chodura, Christian Dries, Paul Helfritzsch, Michael Jenewein, Werner Jung, Wolfgang Kraushaar, Jörg Müller Hipper, Sabine Pamperrien, Gerhard Schweppenhäuser und Thomas Zingelmann

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Jens Bonnemann, Paul Helfritzsch,

Thomas Zingelmann (Hg.)

1968

Soziale Bewegungen,

geistige WegbereiterInnen

© 2019 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe · zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg

Satz: Germano Wallmann · Gronau · geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt

ISBN 978-3-86674-739-5

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung der Herausgeber

Jens Bonnemann, Paul Helfritzsch und Thomas Zingelmann

Zeitdiagnosen

1967

Einblicke in die soziale und politische Stimmung, die die 68er hervorbrachte

Sabine Pamperrien

Dutschke und der Situationismus

Wolfgang Kraushaar

Ein verstellter Blick auf das Bild der Gesellschaft im Aufschub der solidarischen Praxis.

Überlegungen zu Guy Debord und Francisco de Goya

Hannah Chodura und Paul Helfritzsch

WegbereiterInnen

Günther Anders und die 68er-Bewegung.

Synoptisches Mosaik

Christian Dries

Die Verantwortung des Schriftstellers.

Zur Aktualität einer Frage zwischen Kultur und Gesellschaft

Michael Jenewein und Jörg Müller Hipper

Die Erneuerung des Marxismus: Lukács und 1968

Anmerkung zu einigen Missverständnissen

Werner Jung

Marcuse und die Metaphysik

Gerhard Schweppenhäuser

Von Freud zu Sartre.

Die Vordenker der sexuellen Revolution

Alfred Betschart

Die Fallstricke der sexuellen Befreiung.

Marcuse, Reich, Houellebecq

Jens Bonnemann

Perspektiven

Von der Notwendigkeit der Distanz.

Plessner, Wilde und die 68er

Jörg Müller Hipper

Der Beat einer Revolution?

Beatniks, Hippies, Punks und die 68er

Thomas Zingelmann

Dann sind es Monster, also Intellektuelle.

Eine Frage der Verantwortung

Paul Helfritzsch

Rotwerden in finstren Zeiten.

68 als Erfahrung

Peggy H. Breitenstein

Über die AutorInnen

Einleitung der Herausgeber

Warum sollte man sich ein halbes Jahrhundert später mit der 68er-Bewegung auseinandersetzen? Handelt es sich nicht um einen alten Hut, der für uns heute kaum noch eine Rolle spielt? Oder ist das intellektuelle und kulturelle Klima, aus dem sie hervorging, für die Beschreibung unserer heutigen Zeit immer noch wegweisend? Der vorliegende Sammelband will interdisziplinäre Antworten auf diese Fragestellung geben: 68 ist eine Chiffre, ein Kürzel für einen Ereigniszusammenhang, der sich ausgesprochen zwiespältig darstellt: Wie ambivalent das Ganze ist, zeigt sich daran, dass sowohl die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung als auch terroristische Gruppen wie die Rote Armee Fraktion in Deutschland und die Roten Brigaden in Italien zum 68er-Gesamtkomplex gehören. 68 steht also für das Eintreten für die Bürgerechte der Farbigen, aber auch für die dogmatische Aufnahme marxistischer Lehren, wie z. B. des Leninismus oder des Maoismus, für die die bürgerlichen Freiheitsrechte nichts weiter als Verteidigungsbastionen einer verwerflichen kapitalistischen Ideologie sind. 68 steht für eine Liberalisierung der gesellschaftlichen Normen, aber auch für eine Verachtung des Liberalismus, die sich kaum überbieten lässt. Hier kann also schon festgestellt werden, dass die Chiffre 68 keinen homogenen Block an politischen und kulturellen Positionen kennzeichnet.

Es ist nicht übertrieben zu sagen: 68 spaltet auch heute noch die Gesellschaft. Für Konservative sind die 68er für die meisten Probleme der Gegenwart verantwortlich. Dazu gehört die Bildungsmisere, die Arbeitslosigkeit, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und der Verfall der Moral sowie der bürgerlichen Werte. Die fundamentale Kritik an Staat und Institutionen, an Familie, Rollenmustern und Geschlechtsidentitäten wird als ein verhängnisvoller Irrweg angesehen, der den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht. 68 wird schlichtweg verdammt als das Hauptübel aller gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Für Linke und Linksliberale ist 68 dagegen überhaupt erst der nachträgliche Gründungsakt der Bundesrepublik: nichts Geringeres als der Aufbruch zur einzigen Reformära in der Bundesrepublik. Jürgen Habermas stellt im Nachhinein fest, dass die 68er-Bewegung eine Fundamentalliberalisierung der BRD hervorgebracht habe.

Es ist im Blick auf die Bewertung dieser Epoche aufschlussreich, dass selbst diejenigen, die dem Denken und Handeln der 68er ganz und gar ablehnend gegenüberstehen, dennoch implizit ihre Bedeutung bekräftigen. So erklärt etwa Herbert Kickl von der FPÖ in der Tiroler Tageszeitung: »Das Projekt der 68er ist gescheitert. Wir erleben jetzt nicht nur in Österreich eine Gegenbewegung. Und das ist auch gut so!«1 Und ganz ähnlich betont in Deutschland auch Alexander Dobrindt, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag: »Die 68er bestimmen die öffentliche Debatte in Deutschland. 50 Jahre nach 1968 wird es nun Zeit für eine bürgerlich konservative Wende«2 – eine Bemerkung, die doch überrascht, so als wären 16 Jahre Helmut Kohl als Kanzler überhaupt nicht passiert. Beide Politiker lehnen alles ab, wofür 68 steht, aber beide erwecken auch den Eindruck, als würde dieser schädliche Einfluss, den die 68er auf das politische und kulturelle Leben vermeintlich ausüben, immer noch anhalten. Und nun bestehe aber endlich die Aussicht, sich von diesem verhängnisvollen Bann zu befreien. In der Talkshow Hart aber fair, die Frank Plasberg moderiert, wird im April 2018 die Frage nach der Bewertung der Protestbewegung gestellt und in Anlehnung an nicht selten zu lesende Polemiken als provokativer Anstoß für die Diskussionsrunde zusammengefasst: Die Alt-68er sitzen heute an den Schaltstellen des Landes, haben das Land ruiniert und schreiben uns nun mit ihrer Meinungsdiktatur das Denken vor. Während also die Studierenden in den sechziger Jahren erklärten: ›Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren‹, so müsste es anscheinend heute heißen: »Unter grauen Haaren der Muff von 50 Jahren.«3 Festzuhalten ist also: Die Vorwürfe gegen 68 sind vielfältig: Für die einen läuft alles letztlich mit der größten Konsequenz auf den Terrorismus und die schrecklichen Bluttaten der Roten Armee Fraktion hinaus. Für die anderen sind die 68er einfach Spinner gewesen, denen es nur um Sex und Kiffen gegangen sei. Allerdings muss man sich entscheiden: Will man den 68ern nun ihren Totalitarismus oder ihren Hedonismus vorwerfen – beides scheint doch nicht recht zusammenzupassen.

In Blick auf die Gegenwart ist weiterhin in Betracht zu ziehen: Während die 68er in jungen Jahren gegen den Vietnamkrieg und für die Befreiungsbewegungen in der dritten Welt demonstrierten, lassen sie als Politiker der rot-grünen Regierung ca. 40 Jahre später im Jahr 1999 die jugoslawische Hauptstadt Belgrad bombardieren und schicken die Bundeswehr nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nach Afghanistan. Eine weitere Ironie der Geschichte springt an dieser Stelle ins Auge: So betont der Soziologe Thomas Wagner in seinem Buch Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten4, dass neue rechte Bewegungen – z. B. die Identitären – in ihren Protestaktionen zumindest in formaler Hinsicht von Spaßguerilla-Aktionen inspiriert sind, wie sie die studentische Jugend von 1968 etabliert hat. Genau wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) in den sechziger Jahren wird das Mittel der Provokation benutzt, um die Institutionen zu verunsichern und die Vertreter des Establishments zu einer Überreaktion zu verleiten, durch die sie sich dann als repressiv entlarven. Man könnte also sagen, dass die Neue Rechte von der alten Linken gelernt hat, wie Protest gestaltet werden kann – auch wenn sich die Ziele diametral entgegenstehen. Zweifellos bleibt die Neue Rechte in inhaltlicher Hinsicht allerdings abhängig von 68: Denn das Denken der Identitären Bewegung oder im Umfeld der AfD lässt sich nur angemessen verstehen, wenn man sich klar macht, in welchem Ausmaß ihre Feindbilder sich gegen die Errungenschaften der 68er-Bewegung richten. Dennoch sind die Parallelen nicht zu übersehen: Wer heute nach mehr direkter Demokratie ruft, wer auf die manipulative Meinungsmacht von Presse, Funk und Fernsehen schimpft, das politische Establishment verdammt, sich religionskritisch – allerdings gegenüber dem Islam – äußert, gibt sich nicht selten als Anhänger von Pegida oder AfD zu erkennen.

Allerdings: Die Rechten von heute kämpfen gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel und beschwören die kulturelle Homogenität des deutschen Volkes, während es den 68ern nicht zuletzt auch um die Solidarität mit Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt ging. Die Kritik der unbewältigten Nazi-Vergangenheit, also die Kontinuität der Eliten vom Dritten Reich zur BRD, war ein wesentlicher Bestandteil der Entfremdung zwischen den Generationen. So äußert sich Hannah Arendt in einem Brief über die westdeutschen Studierenden: »Sie wissen, sie leben in einem unbeschreiblichen Saftladen. Man könnte mit ihnen was machen, aber es ist niemand, der mit ihnen wirklich spricht. Sie waren sehr begeistert von mir, aber eben auch darum, weil es wirklich niemanden gibt auf weiter Flur. Der Generationsbruch ist ungeheuer. Sie können mit ihren Vätern nicht reden, weil sie ja wissen, wie tief sie in die Nazi-Sache verstrickt waren.«5 Heutzutage finden sich jedoch auch Stimmen – z. B. die Historikerin Christina von Hodenberg –, die den Aufstand gegen die Väter für einen literarischen Mythos halten.6

Aber der Generationenkonflikt ist beileibe nicht alles: Hochschulreformen sollten eine größere Beteiligung des akademischen Nachwuchses an der Uni-Verwaltung und der Gestaltung der Lehrinhalte ermöglichen. Und vehement wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie der Homosexuellen gefordert – im Übrigen gerade auch gegen das Macho-Getue der zumeist männlichen Wortführer der Protestbewegung. Die Herausbildung der Außerparlamentarischen Opposition (APO) ist ohne die lebendige Protestkultur der späten 50er und der frühen 60er Jahre nicht zu verstehen. Jedenfalls organisierte die Berliner SDS-Gruppe bereits 1959 die Ausstellung ›Ungesühnte Nazi-Justiz‹ und es fand im Frühjahr 1958 eine Anti-Atomkriegsbewegung gegen die geplante atomare Bewaffnung der Bundeswehr statt. Nicht zu vergessen sind die Friedensbewegung und die Ostermärsche, bei denen der Philosoph Günther Anders eine tragende Rolle spielte, der später zusammen mit Jean-Paul Sartre und Peter Weiß im Russell-Tribunal die Menschenrechtsverletzungen der USA in Vietnam verurteilte. Im April 1958 demonstrierten in Hamburg mindestens 120.000 Menschen – mehr als später die APO jemals an einem Ort auf die Beine gebracht hat. Ein Jahr zuvor erklärte der 28-jährige Adorno-Assistent Jürgen Habermas auf einer Kundgebung auf dem Frankfurter Römerberg die Unruhe zur ersten Bürgerpflicht; und bei einer Veranstaltung in Münster sprach eine 23-jährige Studentin namens Ulrike Meinhof als Hauptrednerin, die damals noch nicht einmal Mitglied im SDS war.

Für die deutsche 68er-Bewegung war zweifellos die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nazi-Regimes maßgeblich. Nicht zuletzt wird deswegen auch die Große Koalition aus CDU/ CSU und SPD unter der Kanzlerschaft des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Kurt Georg Kiesinger abgelehnt, wobei die geplanten und später in gemäßigter Form beschlossenen Notstandsgesetze den konkreten Anlass darstellten: Der Bundestag, oder bei Gefahr im Verzug auch der Bundespräsident, sollte berechtigt werden, zur Abwehr einer drohenden Gefahr für die freiheitliche demokratische Ordnung einen Ausnahmezustand zu verhängen. In diesem Fall und für den so definierten Zeitraum solle die Bundesregierung ermächtigt werden, gesetzesvertretende Verordnungen zu erlassen und mit diesen die Grundrechte der Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit sowie der Freizügigkeit einzuschränken. Kritiker sahen hierin eine Neuauflage der Ermächtigungsgesetze der Weimarer Republik, mit denen Hitler auf ganz legalem Wege eine Diktatur errichten konnte. Allerdings fanden die Notstandsgesetze nicht nur linke Kritiker: So teilte beispielsweise auch der Philosoph Karl Jaspers, dem man wirklich keine Nähe zu linken Ideologien unterstellen kann, die Kritik am Parteiensystem mit der Protestbewegung. Innerhalb des SDS sah man im Umfeld von Rudi Dutschke den Ausweg in einer Räterepublik. Auch diese Alternative zur Parteienrepublik ist nicht spezifisch links, denn von einer Rätedemokratie spricht auch Hannah Arendt, die etwa von Adorno eher dem konservativen politischen Lager zugerechnet wird.

Bisher war vor allem die Rede von Deutschland, aber mit 68 ist natürlich ein globaler Protest mit wechselseitigen Einflüssen und verschiedenen Hochburgen gemeint. Eine davon war sicher Paris, wo die Protestaktionen gewissermaßen größer, aber dafür kürzer und schneller vorbei waren. Die Studierenden errichteten in den Gassen des Quartier Latin Barrikaden aus Pflastersteinen – daher auch die Parole: ›Unter dem Pflaster liegt der Strand‹ –, bestehend aus quer gestellten Autos, Parkbänken und umgestürzten Zeitungsbuden. Die Studierenden lieferten sich Schlachten mit der Polizei – und was angesichts der Militanz auf beiden Seiten wundert, ist, dass es nur einen einzigen Toten gab. Anders als in Deutschland stießen die Protestaktionen allerdings auf Solidarität: Die Anwohner ergriffen Partei und versorgten die Studierenden mit Wasser und Lebensmitteln. Mehr noch: Alle großen Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf, eine Welle von Fabrikbesetzungen legte große Teil der Wirtschaft lahm. Und für zwei, drei Tage hatte es den Anschein, als sei alles möglich.7

Zu erwähnen ist auch der Prager Frühling, dem deswegen eine Sonderstellung zukommt, weil sich die Proteste hier in einem Land hinter dem Eisernen Vorhang abspielten. Die Studierenden waren zwar beteiligt, aber sie gehörten hier nicht zur Speerspitze dieser Bewegung: Es waren eher zehn bis 15 Jahre ältere Intellektuelle wie z. B. Vaclav Havel oder Ivan Svitak, die ein Ende der Einparteienherrschaft verlangten, bis schließlich am 21. August die sowjetischen Panzer in die Prager Innenstadt rollten und den Versuch beendeten, einen Sozialismus mit menschlichen Antlitz in die Wege zu leiten.

Wichtig für die intellektuelle Orientierung der Studierenden waren anfänglich die Denker der kritischen Theorie, also vor allem Horkheimer, Adorno und Marcuse. Hierzu ein paar Zahlen: Adorno hatte damals ca. 150 TeilnehmerInnen in Proseminaren, bis zu 90 TeilnehmerInnen in Hauptseminaren, bei seiner letzten Vorlesung im Sommersemester 1969 hörten 1000 Studierende zu. Wenn man hier von einem Marxismus sprechen kann, dann handelt es sich um einen runderneuerten nichtdogmatischen Marxismus, der sich mit Elementen der Psychoanalyse, der Kulturkritik und der Existenzphilosophie angereichert hat. Vor allem Marcuse stellte für die Studierenden gewissermaßen die Personifikation dieser Theorie dar. Marcuse spricht von einer Kulturrevolution, insofern er in den alternativen Lebensformen der Hippies, in der modernen Literatur und Kunst, vor allem aber auch in der Popmusik – explizit nennt er Bob Dylan und Jefferson Airplane – die Züge einer neuen Weltsicht zu erkennen glaubt: Die jungen Menschen, so heißt es bei Marcuse, durchleben nicht nur eine Revolution des Denkens, sondern auch der Sinnlichkeit, weswegen sich die bisherigen Institutionen langfristig als antiquiert herausstellen werden.

Insgesamt knüpfte man in den ersten Jahren der Bewegung an die Tradition des westlichen Marxismus an, die sich dezidiert in Abgrenzung zum orthodoxen Sowjetmarxismus begreift. Am Anfang dieser Tradition stehen zwei Bücher, die auch wegweisend für die Theoriebildung der Frankfurter Schule waren: Das sind erstens Karl Korschs Buch Marxismus und Philosophie und zweitens – und wirkungsgeschichtlich weitaus bedeutsamer –: Georg Lukács’ Schrift Geschichte und Klassenbewusstsein, wobei insbesondere die dort entwickelte Theorie der Verdinglichung von erheblichen Einfluss war.

Wie sich zeigt, suchten die jungen Rebellierenden theoretisch und argumentativ also einen Rückhalt bei Denkern, die eigentlich ihre Großväter sein könnten: Adorno und Marcuse aber auch de Beauvoir und Sartre unterstützten die Bewegung, der sie jedoch auch vielfach ratlos und skeptisch gegenüberstanden. Später wurde den geistigen WegbereiterInnen der 68er-Bewegung häufig der Vorwurf gemacht, sie seien letztlich auch verantwortlich für den linken Terror – eine Frage, die natürlich insbesondere aufkam, als Sartre den RAF-Terroristen Andreas Baader im Gefängnis in Stammheim besuchte. Zweifellos sah Sartre über fragwürdige und unverantwortliche Positionen seiner linksradikalen oder maoistischen Freunde hinweg, auch wenn er sie nicht immer teilte. Anders als im Fall Sartre in Frankreich wurde in Deutschland im Laufe der zunehmenden Radikalisierung der Protestbewegungen der Unmut über die Kluft, die sich etwa bei Adorno zwischen Theorie und Praxis findet, immer größer. Die Kritischen Theoretiker bieten zwar eine ausführliche Gesellschaftskritik, ohne jedoch irgendeine Bedienungsanleitung für die revolutionäre Praxis zu liefern. Das tut auch Marcuse nicht, der der Revolte weitaus wohlwollender noch als Adorno und erst recht als Horkheimer gegenüberstand. Ganz grundsätzlich stellt sich spätestens an dieser Stelle die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Intellektuellen. Sollen sich die Intellektuellen politisch engagieren und Stellung beziehen und haben sie gerade aufgrund ihres Status eine gewichtigere Verantwortung als andere?

Ihren Anfang nahm die 68er-Bewegung jedoch in den USA und hier sind die Kernthemen die Bürgerrechtsbewegung der Farbigen und der Vietnamkrieg, welcher als Thema weltweit alle Protestbewegungen auf die Straße trieb. Aus der Bürgerrechtsbewegung ging schließlich die martialische Black-Panther-Bewegung hervor, die nicht mehr nur für Reformen, sondern für Revolution plädierte: Sie sah sich selbst als Inbegriff einer revolutionären Avantgarde, die sich auf Mao und Che Guevara beruft, ganz besonders aber auf Frantz Fanon und auf dessen 1961 kurz vor seinem Tod erschienene kolonialismuskritische Schrift Die Verdammten dieser Erde, für die kein geringerer als Sartre ein agitatorisches Vorwort verfasste, in dem er die Gewalt rechtfertigt, die von unterdrückten Gruppen ausgeht.

Der politische Protest war eng verbunden mit einem neuen Lebensgefühl: An der Westküste der Vereinigten Staaten stieß das antibürgerliche Weltbild der schon etwas älteren Beatniks – vor allem Jack Kerouac, William Burroughs und Allen Ginsberg – mit der Musik der sechziger Jahre zusammen, mit den Beatles und den Rolling Stones aus Großbritannien, Bob Dylan, Jefferson Airplane, Jimi Hendrix und den Doors aus den USA. Die Beatnikgeneration war um diese Zeit schon in ihren Vierzigern, aber die inhaltlichen Überschneidungen mit den 68ern waren beachtlich: Ekstatische Lebensbejahung, fernöstliche Spiritualität, Selbstverwirklichung, antiautoritärer Habitus, diffuse linke Ansichten, Abwendung vom Materialismus und Konsumismus. Im Vordergrund stand die Idee der freien Liebe, für die sich die intellektuelleren Freigeister auf den Freud-Schüler Wilhelm Reich berufen konnten. Hierzu gehörte aber auch der Konsum von Drogen, der in den Romanen von Kerouac und Burroughs ausführlich beschrieben wird – vor allem Marihuana und LSD, das erst ab Oktober 1966 verboten wurde. Tendenziell waren die Beatniks eher hedonistisch-künstlerisch als aggressivproletarisch, aber dennoch vereinte der antiautoritäre Gestus der Unangepassten die Beatnikgeneration mit der 68er-Bewegung. Innerhalb der Jugend äußerte sich das Verlangen nach Abenteuer und nach Kicks. Während die Rebellion der Jugend der 50er Jahre sich letztendlich an die Eltern wendete und somit privat und affektiv blieb, richtete sich erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Kritik auch gegen die Institutionen der Gesellschaft.

Die Eltern dieser Generation verlebten ihre Kindheit und Jugend in harten Zeiten der Weltwirtschaftskrise, mussten meist in jungen Jahren eine Arbeit aufnehmen und sahen sich schnell in ein Leben gedrängt, das in der Regel wenig Freiraum für Selbstverwirklichung und die Realisierung von individuellen Wünschen und Träumen ließ. Ihre Kinder dagegen wuchsen im prosperierenden Nachkriegs-Amerika auf, meist ökonomisch abgesichert, behütet und trotz der konservativen 50er Jahre doch mit größerem Spielraum erzogen als jede Generation zuvor. Kurz: Die Jugend kennt den Geschmack der Freiheit.

Nichtsdestotrotz blieb die Gegenkultur ein heterogenes Gemisch, das sich aus verschiedenen Strömungen mit sehr unterschiedlichen Interessen zusammensetzte. 68 steht also nicht nur für politische Kämpfe und Proteste gegen den Vietnamkrieg, sondern eben auch für ein neues Lebensgefühl, das sich aus sehr unterschiedlichen Quellen speiste: die Musik dieser Zeit, die Literatur der Beatniks; ostasiatische Meditation, Drogenkonsum. Wie es in Jean-Luc Godards gleichnamigem Film heißt, sind die 68er nicht nur die Kinder von Marx, sondern auch von Coca-Cola. Die einschlägigen Medienbilder haben die Einschätzung dieser Jahre allerdings einseitig besetzt: So war die Mehrheit der jungen Menschen wohl keineswegs politischer als in anderen Zeiten und die Studentenschaft wie die gesamte Gegenkultur eher eine Minderheitenbewegung – wenn auch mit ungewöhnlicher gesellschaftlicher Schlagkraft. Immerhin hatte etwa der SDS zu keiner Zeit mehr als 2000 Mitglieder.

Hier wie auch sonst bestätigt sich: Man muss in der 68er-Bewegung die Kulmination einer Entwicklung sehen, die bereits in den 50er Jahren ihren Ausgangspunkt hatte: Die Beiträge in diesem Sammelband widmen sich erstens Zeitdiagnosen, bieten zweitens eine Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen der WegbereiterInnen und werfen drittens die Frage nach den Perspektiven für die heutige Gegenwart auf. Innerhalb des Abschnittes Zeitdiagnosen zeigt Sabine Pamperrien die sozialen Strukturen und Bewegungen anhand wichtiger historischer Ereignisse auf, die 1967 bereits die Protest- und Reformbewegungen der 68er in die Wege leiten. Wolfgang Kraushaar thematisiert den Zusammenhang zwischen den Ideen des Situationismus – die notwendige und hinreichende Bedeutung der konkreten Situation für politische Veränderung – und dem politischen Aktionismus von Rudi Dutschke. In dem letzten Beitrag dieses Abschnitts stellen Hannah Chodura und Paul Helfritzsch im Blick auf Guy Debords Spektakelbegriff die Bedeutung von aktiver künstlerischer Produktion und aktiver Rezeption von Kunstwerken für die Erkenntnis gesellschaftlicher Strukturen dar.

Der zweite Abschnitt WegbereiterInnen konzentriert sich auf die Bedeutung einzelner TheoretikerInnen für die sozialen Bewegungen und kulturellen Veränderungen. Den Anfang macht dabei Christian Dries, der Günther Anders in den Mittelpunkt seines Beitrags rückt und sich damit einem Wegbereiter zuwendet, dessen Berücksichtigung für die 68er-Bewegung zunächst eher ungewöhnlich anmutet. Im Anschluss daran diskutieren Michael Jenewein und Jörg Müller Hipper anhand der Rede von Michael Köhlmeier zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus Sartres Konzept der engagierten Literaten. Danach rekonstruiert Werner Jung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Rezeptionsgeschichte von Georg Lukács in Zusammenhang mit einer Neuorientierung innerhalb der Germanistik in den 60er und 70er Jahren. Gerhard Schweppenhäuser nimmt wiederum mit Herbert Marcuse einen anderen Vordenker in den Blick und hebt metaphysische Voraussetzungen in der Repressionstheorie dieses Philosophen ans Licht. Die folgenden zwei Beiträge von Alfred Betschart und Jens Bonnemann wenden sich dem Thema der sexuellen Befreiung zu. Während Alfred Betschart die Bedeutung de Beauvoirs und Sartres für die Bestrebungen der sexuellen Befreiung herausstellt, fragt Jens Bonnemann, inwiefern die Kritik, die der aktuelle französische Romanautor Michel Houellebecq an der sexuellen Befreiungsbewegung geübt hat, auf die Positionen Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses zutrifft.

Im dritten und letzten Abschnitt werden Perspektiven eröffnet, die sich mit und nach 68 für heutige Debatten und politische Diskussionen ergeben. Den Anfang dieses letzten Teils macht der Beitrag von Jörg Müller Hipper, der aus der sozialphilosophischen Perspektive von Helmuth Plessner einen kritischen Blick auf das Gemeinschaftsideal der 68er wirft. Daran schließt eine Betrachtung der Beatniks, Hippies und Punks durch Thomas Zingelmann an, der sowohl die feinen als auch die deutlichen Unterschiede in der Bedeutung dieser Gruppen für die sozialen Bewegungen herausstellt. Im Folgenden bestimmt Paul Helfritzsch im Ausgang von Sartre, inwiefern jede Person in ihrer eigenen Lebenswelt zur/zum Intellektuellen werden kann, sobald sie repressive soziale Strukturen versteht, benennt und gegen sie ankämpft. Den Abschluss des Sammelbandes bildet der Beitrag von Peggy H. Breitenstein, der die schwierige Position und Rolle der Frauen in den Protestbewegungen damals und heute in den Mittelpunkt rückt.

Jens Bonnemann, Paul Helfritzsch und Thomas Zingelmann

Zeitdiagnosen

1967

Einblicke in die soziale und politische Stimmung, die die 68er hervorbrachte

Sabine Pamperrien

»1968 – das Jahr, das angeblich alles verändert hat – begann im späten Frühjahr 1967 und währte etwa achtzehn Monate«,1 konstatiert der Historiker Norbert Frei zu Recht. Gedanken über das Jahr 1968 und dessen disruptive Wirkung beginnen häufig mit der Gründung der Kommune I in Berlin am 1. Januar des Jahres 1967. Als geradezu paradigmatisch für die gesellschaftlichen Konflikte und Umbrüche stehe dieses Ereignis, mit dem plötzlich und unerwartet Moral und Schamgefühl einer ganzen Nation zerstört wurden, wie uns unter anderem die heute übliche Rhetorik in Sachen »linksgrünversifft« gern suggeriert und, was wesentlich ist, damit auf sich verbreiternde Zustimmung stößt.

Was bleibt eigentlich in der Wahrnehmung von tatsächlichen oder gefühlten Revolutionen übrig? In Sachen Kommune I wurde »das Ereignis« erst in der Rückschau und späteren Deutung zum Menetekel. Lebensgefühl, Gestimmtsein und historisch wirksame Einflüsse zeigen sich viel weniger in solchen Einzelereignissen als vielmehr im Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Geschehnisse, die gleichzeitig und völlig unabhängig voneinander stattfinden und doch das eigentliche Szenario für Geschichte ausmachen. Was war damals in der Welt los? Was bewegte die Menschen?

Szenen des Jahres 19672

Blende auf: Am Abend des 21. Januar 1967 findet in der Hamburger Universität eine Podiumsdiskussion zum Thema »Radikalismus in der Demokratie« statt. Unter der Leitung des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer sollen der Soziologe Ralf Dahrendorf, der Publizist Rudolf Krämer-Badoni, der Verleger Gerd Bucerius, der NPD-Vorsitzende Adolf von Thadden und der Ost-Berliner Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul über »KPD-Verbot, Nazi-Verbot, Mehrheitswahlrecht«, so der Untertitel der Ankündigung, diskutieren.

Der Publikumsandrang ist riesig, denn eine solche Diskussionsrunde ist bisher einmalig. Drei Fernsehprogramme, Rundfunk und Vertreter anderer Medien sind vor Ort, darunter Wochenschau-Reporter aus dem Osten. Andere Medienvertreter sind im Publikum zu finden, wo die Kameras immer wieder auf bekannte Gesichter wie Stern-Gründer Henri Nannen im Kreise seiner Redakteure schwenken oder prominente Zeit- und Spiegel-Mitarbeiter und bekannte Redakteure des NDR. Dreißig zivil gekleidete Sicherheitskräfte sind auch da, zudem Verfassungsschutzmitarbeiter und Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR.

Es soll auch darüber gesprochen werden, wie es möglich sein kann, dass eine rechtsradikale Partei in Deutschland 20 Jahre nach dem Ende des verbrecherischen Regimes der Nationalsozialisten wieder in die Parlamente gewählt wird. Am 6. November des Vorjahres ist es der NPD bei ihrer ersten Teilnahme an einer Landtagswahl gelungen, mit einem Stimmenanteil von fast acht Prozent in den hessischen Landtag einzuziehen. Bei den bayerischen Landtagswahlen am 20. November hat die hier ebenfalls erstmals angetretene NPD 7,4 Prozent der Stimmen erhalten und stellt mit 15 Abgeordneten neben CSU und SPD die dritte Fraktion im Drei-Parteien-Landtag. Die zu den vorherigen Landtagen zählenden Kleinparteien FDP und Bayerische Volkspartei haben den Einzug in den bayerischen Landtag verfehlt.

Wahlforscher und mit ihnen alle Medien beschäftigen sich intensiv mit der Frage, wie der rasche Aufstieg der Partei möglich ist. Ihr Entstehen verdankt die NPD dem Zusammengehen von Aktiven aus verschiedensten nationalistischen und rechtsextremen Kleingruppierungen und Splitterparteien, dazu der Deutschen Reichspartei DRP, auf deren Organisationsstrukturen sie aufbauen konnte. Die erst am 28. November 1964 mit 473 Mitgliedern gegründete neue Partei hatte bereits im September des darauffolgenden Jahres in allen elf Bundesländern Landesverbände mit 66 Bezirks-, 336 Kreis- und 240 Ortsverbänden, womit 70 Prozent der Gesamtfläche der Bundesrepublik abdeckt waren.

Bei der Bundestagswahl 1965 trat die NPD an und erzielte mit zwei Prozent einen höheren Stimmenanteil als je zuvor die DRP. Anfang 1966 hatte die NPD 13.700 Mitglieder, am Ende des Jahres waren es 25.000. Nicht nur aus dem Ausland wird sehr aufmerksam der Aufstieg einer nationalistischen Partei in Deutschland verfolgt, auch im Land ist die Sorge um die Haltbarkeit der Demokratie groß.

Der NPD-Vorsitzende hat sich bereit erklärt, in einer Art Tribunal Rede und Antwort zu stehen. Seine Zielrichtung ist klar. Er will seine Partei als ernstzunehmende politische Alternative in der bundesdeutschen Parteienlandschaft etablieren. Das von den bürgerlichen Parteien und ihren journalistischen Sympathisanten viel Gegenrede kommen wird, will er zur Selbstdarstellung nutzen. Von Thadden traut sich zu, in der bevorstehenden Debatte, die später in Rundfunk und Fernsehen übertragen wird, Punkte zu machen.

Der Ost-Berliner Jurist Kaul, führendes SED-Mitglied, ist eingeladen worden, weil er – als auch im Westen zugelassener Anwalt – im Verbotsprozess vor dem Bundesverfassungsgericht die KPD vertrat. Er wird an diesem Abend einen Skandal provozieren. Der Jurist aus der in der Bundesrepublik nur »Ostzone« genannten DDR nutzt das mediale Interesse an seinem Auftritt, um eine im Verlautbarungsjargon seiner Partei verfasste Erklärung abzugeben, wonach er als Vertreter aus dem Ausland nicht befugt sei, sich in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik einzumischen. Er zielt damit auf die Nichtanerkennung der DDR als Staat ab. Sein Argument ist das Totschlagsargument schlechthin, mit dem totalitäre Staaten sich Kritik aus dem Ausland verbieten. Mit dem Thema des Abends hat das wenig zu tun. Hier soll doch gerade Meinungsfreiheit geboten werden und gerade auch ihm! Die lautstarken Unmutsäußerungen aus dem Publikum lassen Kaul kalt. Nach Ende seiner Erklärung steht er auf und verlässt den Saal. Seine Haltung wird als schallende Ohrfeige von all jenen verstanden, die die Argumente einer offenen Diskussion konträrer Kräfte hören wollten und der Meinung waren, der als Stargast angekündigte SED-Vertreter Kaul würde sich an demokratische Spieregeln halten.

Und der junge Ralf Dahrendorf wird Forderungen nach Einführung des Mehrheitswahlrechts entgegen halten: »… die große Frage, die sich uns heute stellt, ist doch: Ist die wildgewordene Mitte, die uns in den zwanziger und dreißiger Jahren den Nationalsozialismus beschert hat, und die in anderen Ländern nicht im selben Maße, aber in erheblichem Maße auch wirksam war, heute noch lebendig. Gibt es also heute noch die politischen Interessen und Einstellungen, in der Regel mittelständischer Gruppen – es lässt sich nicht leugnen –, die antidemokratisch für eine autoritäre oder gar totalitäre Staatsordnung sind, die ein breites Echo finden und die zu beseitigen nach meiner Meinung nur möglich ist durch eine klare innere und äußere Politik, nicht dagegen durch Wahlrechtsmanipulationen.«3

Blende: Am 18. März fährt der aus Kuwait kommende Supertanker Torrey Canyon vom Atlantik aus in den Ärmelkanal, und nimmt Kurs auf das walisische Milford Haven. Das Schiff hat 120.000 Tonnen Rohöl gebunkert, die in den dortigen Ölraffinerien weiterverarbeitet werden sollen. Statt die übliche internationale Schifffahrtsroute westlich der Scilly-Inseln zu benutzen, fährt das Schiff weiter in den Ärmelkanal ein. Erst bei Lands End an der Südspitze Cornwalls manövriert der Kapitän das Schiff nach links. Mit voller Geschwindigkeit von 16 Knoten pflügt das 300 Meter lange Schiff durch die unruhige See. Der voll beladenen Supertanker steuert nun auf die schmale östliche Passage zwischen den Scilly-Inseln und Großbritannien zu. Das Gewässer weist gefährliche Untiefen im Bereich des Seven-Stone-Riffs auf, das als Unterwasser-Verlängerung der Granitklippen Cornwalls weit ins Meer ragt. Von Schiffen mit einer Größe von mehr als 12.000 Bruttoregistertonnen wird die Passage deshalb nicht benutzt. Schon Phönizier, Römer und Normannen kannten das Riff als gefährlichstes Fahrwasser an den britischen Küsten. Das Gebiet ist ein berüchtigter Schiffsfriedhof. 6000 Havarien verzeichnen die Annalen seit der Antike in einem Areal von nur 53 Quadratkilometern.

Die Besatzung des seit hundert Jahren vor den Klippen zur Warnung liegenden Feuerschiffs »Wolf Rock« versucht, die Brücke des Tankers mit einer Signallampe anzumorsen und dann mit Leuchtraketen auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Doch der Tanker verändert weder seinen Kurs noch wird die Geschwindigkeit verringert. In voller Fahrt schrammt der riesige Schiffsrumpf über das berüchtigte Riff und läuft auf. Aus mehreren Lecken beginnt Öl auszulaufen.

Sofort wird eine Hilfsaktion eingeleitet, um das Schiff wieder flott zu bekommen. Es soll unbedingt verhindert werden, dass der der Brandung ausgesetzte Schiffskörper auseinanderbricht und die ganze Ladung sich ins Meer ergießt. Nie zuvor gab es eine vergleichbare Bedrohung für die Umwelt durch auslaufendes Öl. Zudem existieren keinerlei erprobte Verfahren zur Abwendung einer Ölpest durch 120.000 Tonnen Öl.

Blende: Am 19. April stirbt in Rhöndorf Konrad Adenauer. Etwa zur selben Zeit wird in Boston der 71. Marathon gestartet. Unter den Teilnehmern befindet sich mit der Startnummer 261 K. V. Switzer von den Syracuse Harriers. Da es schneit, kann die einzige Frau unter den 739 Läufern am Start ihr Geschlecht mit dicker Kleidung kaschieren. Sie muss sich als Mann ausgeben, denn die Teilnahme am Boston Marathon ist Frauen traditionell untersagt. Die 1947 im bayerischen Amberg als Tochter eines Offiziers der US-Army geborene Kathrine Virginia Switzer will beweisen, dass auch Frauen einen Marathon-Wettbewerb durchstehen können. Das traut den Frauen nämlich niemand zu. Im offiziellen Sport sind die 800 Meter die längste für Frauen vorgesehene Laufstrecke.

Schon auf dem ersten Streckenabschnitt wird sie von Journalisten aus dem Pressebus entdeckt. Was folgt, ist helle Aufregung: »Oh, da läuft ein Mädchen. Und sie trägt eine offizielle Startnummer!« Switzer winkt fröhlich den Fotojournalisten zu, die nun ihre Kameras auf sie richten. Plötzlich hört sie hinter sich den Laufschritt von einem Läufer, der keine Laufschuhe trägt. Ganz deutlich nimmt sie die hektischen Schritte von jemand in Lederschuhen wahr. Schon wird sie von hinten gepackt und in ihrem Lauf aufgehalten. Ein bulliger Mann versucht, ihr die Startnummer abzureißen. Switzer ist schockiert über die Rage im Gesicht ihres Angreifers. Der völlig ausrastende Mann, der sie attackiert, ist der Rennleiter des Marathons. »Verschwinden sie zum Teufel noch mal aus meinem Rennen«, brüllt er. Sie gerät ins Straucheln. Allein hat sie keine Chance.

Aber die Amerikanerin wird bei ihrem Lauf von ihrem Trainer und ihrem Freund begleitet. Der ist der 115 Kilogramm schwere Footballspieler Tom Miller. Der Zweimetermann schubst den Rennleiter mit einem massiven Bodycheck zur Seite. Das alles geschieht vor den Augen der Presse. Zahlreiche Fotografen halten die Attacke im Bild fest. »Bist du auf Kreuzzug? Bist Ddu eine Suffragette?«, rufen die Journalisten der 20-Jährigen nach. Switzer setzt ihren Lauf fort. »Jetzt erst recht«, denkt sie. »Jetzt muss ich die Strecke schaffen. Ganz egal, wie. Wenn ich den Marathon jetzt nicht durchlaufe, ist alles verloren.« Nach vier Stunden 20 Minuten erreicht sie das Ziel. Viele Zuschauer applaudieren, viele sind empört. Die Bilder gehen noch am selben Tag um die ganze Welt. »Die Frau, die den Boston-Marathon zerstörte« titelt die New York Times.4

Blende: Am 11. Mai 1967 beschließt der Bundestag einstimmig und ohne Enthaltungen auf Antrag der Fraktionen der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD die Einrichtung einer Enquete-Kommission zur Untersuchung der Konzentration und der Meinungsfreiheit im deutschen Pressewesen. Innenminister Lücke erklärt, dass es für die Bundesregierung bei der Konzentration keineswegs nur um einen wirtschaftlichen Vorgang gehe. Entscheidend sei auch die politische Frage, ob in diesem Vorgang der Konzentration Gefahren für die in Art. 5 des Grundgesetzes garantierte Pressefreiheit und Freiheit der Berichterstattung liegen. Die Absicht, eine solche Kommission einsetzen zu wollen, hatte die Bundesregierung bereits im Januar erklärt. Der erste Zwischenbericht der Kommission soll bereits am 1. Oktober vorliegen. Besonders betroffen ist Axel Springer, der nach Höhe der Auflagen seiner Zeitungen 40 Prozent des gesamten westdeutschen Zeitungsmarkts kontrolliert und in Hamburg und Berlin jeweils über 90 Prozent.

Blende: Am 23. Mai 1967 wird in Frankfurt das Urteil im ersten Prozess verkündet, in dem sich Ärzte für die als Euthanasie deklarierten Massenmorde der Nationalsozialisten an Kranken und Behinderten verantworten müssen. Vor Gericht stehen drei angesehene Mediziner. Die Staatsanwaltschaft unter Fritz Bauer hat in einer 310 Seiten umfassenden Klageschrift den Angeklagten ihre Beteiligung an der Vergasung von tausenden Geisteskranken und Körperbehinderten im Rahmen der »T4«-Aktion nachgewiesen.

Das Kürzel »T4« leitete sich ab von Tiergartenstraße 4, wo die Tarnorganisationen saßen, die die Vernichtung des – im Jargon der Nationalsozialisten – »unwerten Lebens« organisierten. Seit 1939 wurden geistig- und/oder körperlich behinderte oder als asozial geltende Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten die ersten Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsstrategie. Vor Gericht stehen nun drei von mehreren hundert in die Morde verwickelten Personen. Der gegen die drei angeklagten Ärzte erhobene Vorwurf lautet, heimtückisch, grausam und aus niedrigen Beweggründen vorsätzlich tausende von Menschen getötet zu haben.

An 57 Verhandlungstagen seit dem 3. Oktober 1966 sind über 100 Zeugen vernommen und zehn Sachverständige gehört worden. Das von den Verteidigern vorgetragene Argument, selbst evangelische und katholische Kirche hatten damals die Vernichtung »lebensunwerten« Lebens völlig akzeptiert, wird von theologischen Sachverständigen widerlegt. Weitere Gutachten zeigen, dass die erbbiologischen Forschungen der Nationalsozialisten jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrten.

Dass die drei Angeklagten tatsächlich an den Tötungen beteiligt waren, steht außer Frage. Das Gericht stellt zunächst fest, dass die Tötungen im Rahmen der T4-Aktion Mord waren. In seiner Urteilsbegründung trägt der Direktor des Frankfurter Landgerichts vor, das Gericht sei sicher, dass der Angeklagte Ullrich in Brandenburg an der Havel an der Vergasung von mindestens 1800, der Angeklagte Bunke in Bernburg an der Saale am Tode von mindestens 4950 und der Angeklagte Endruweit in der Anstalt Sonnenstein am Tode von mindestens 2250 Kranken beteiligt gewesen sei. Zu beurteilen war aber das Maß der strafrechtlich relevanten Schuld der Angeklagten an diesen Vorgängen, so der Richter.

Jetzt folgt der entscheidende Satz. Werden die Angeklagten schuldig gesprochen oder nicht? Nein, es ergehen Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Im Publikum bricht Jubel aus. Sie hätten nicht schuldhaft gehandelt, sondern sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden, befindet das Gericht. Während der Direktor des Landgerichts zwei Stunden lang die mündliche Urteilsbegründung vorträgt, wird immer wieder applaudiert. Da die Beschuldigten sich in dem Glauben befunden hätten, nur an der Tötung von Geisteskranken ohne natürlichen Lebenswillen mitzuwirken und dass das erlaubt sei, träfe sie keine Schuld, befindet das Gericht. Applaus. Da sie unter dem Einfluss der NS-Ideologie gestanden hätten, konnten sie die Ermordung der Kranken für Sterbehilfe halten, so der Richter weiter. Applaus. Der Tod in der Gaskammer sei »eine der humansten Tötungsarten«, den Opfern seien »keinerlei körperliche Schmerzen« und »keinerlei seelische Qualen« zugefügt worden, befindet das Gericht. Applaus. Erst die Drohung des Landgerichtsdirektors, wegen der ständigen Beifallsbekundungen aus dem Publikum den Saal räumen zu lassen, sorgt für Ruhe. In einer »moralisch defekten« Zeit sei es den Angeklagten auch wegen ihres jungen Alters subjektiv nicht möglich gewesen, das objektive Unrecht ihrer Taten zu erkennen.

Der von der Staatsanwaltschaft vorgetragenen Rechtsauffassung, wonach die Euthanasie-Aktionen eben nicht als Einzeltaten zu bewerten seien, deren Schuldhaftigkeit individuell zugeordnet und bewiesen werden müsse, sondern eine natürliche Handlungseinheit einer auf die Vernichtung zielenden gemeinschaftlichen Tat darstellen und die Angeklagten daher als Mittäter zu beurteilen seien, denen die Schuld der anderen zuzurechnen sei, folgte das Gericht nicht.

Die drei angeklagten Ärzte, die nach 1945 ihre Approbation behalten und unbehelligt weiter ihren Beruf ausgeübt hatten, können in ihr altes bürgerliches Leben zurückkehren. Ullrich und Bunke sind als Frauenärzte in Stuttgart beziehungsweise Celle tätig, Endruweit als praktischer Arzt in Bettrum bei Hildesheim.

Die Rechtsauffassung von Fritz Bauer bezüglich Täterschaft und Schuldzurechnung setzte sich erst Jahrzehnte später Anfang der 2000er Jahre im Prozess gegen den KZ-Wärter Demjanjuk durch. Im August 1970 hob der Bundesgerichtshof das Urteil gegen die drei Ärzte wegen sachlicher Widersprüche in der Begründung auf. Doch anschließend verzögerten immer neue ärztliche Gutachten, die die krankheitsbedingte Verfahrensuntauglichkeit der Angeklagten belegten, den Prozess. Erst 1987 kam es gegen zwei der Beteiligten in einem Revisionsverfahren zu Verurteilungen.

Blende: Am frühen Abend des 17. August 1967 ist der Georgsplatz in Hannover erneut Schauplatz einer polizeilichen Maßnahme gegen Gammler. Angeblich ist einer der Gammler auf dem Platz Fahrrad gefahren. Ein halbes Dutzend Streifenwagen rückten an, um ihn festzunehmen. Vor den Augen von fast tausend Schaulustigen kommt es zu einem Handgemenge, bei dem ein Gammler ein blaues Auge davonträgt. Seine Gefährten marschieren zur nächsten Polizeiwache, um dort Anzeige zu erstatten. Dort teilt ihnen ein Polizeihauptmeister mit: »Anzeige gibt es nicht. Das Grundgesetz ist heute außer Kraft.« Nachts wird erneut auf dem Georgsplatz eine Razzia gegen die Gammler durchgeführt. Die wenigen, die noch angetroffen werden, begrüßen die Polizisten wie alte Bekannte und lassen die Prozedur aus Festnahme, Abführen, Überprüfen und ein paar Stunden in Gewahrsam über sich ergehen.

Blende: Am 28. August 1967 unterzeichnet in der europäischen Unternehmenszentrale der Investmentgesellschaft International Overseas Service (IOS) am Genfer See der amtierende FDP-Vorsitzende und ehemalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und Vizekanzler der Bundesrepublik im Kabinett Erhard 2, Erich Mende, einen Fünfjahresvertrag als Vorsitzender des Verwaltungsrates der IOS Deutschland GmbH. Mende ist ab sofort für ein Salär von 30.000 Dollar, umgerechnet 120.000 Mark, dafür zuständig, die Vertriebsorganisation des IOS in der Bundesrepublik zu straffen und die 2500 deutschen IOS-Vertreter zu schulen und einzuweisen sowie die Öffentlichkeitsarbeit zu beaufsichtigen. Seine Parteiämter will er beibehalten und auch erneut für den Vorsitz der FDP kandidieren.

Die Geschäftsbanken entdecken gerade erst die Arbeitnehmer und deren Ersparnisse als einträgliches Geschäft auch mit Privatkunden. Das Anwerben von Sparern für Fonds ist etwas ganz Neues. IOS-Chef Bernard Cornfeld lockt seine Kunden mit satten Renditen und dem Versprechen, den »Volkskapitalismus« zu ermöglichen. Der IOS ist höchst umstritten und überaus erfolgreich, besonders durch die Nutzung des Leumunds und der Medienpräsenz von Politikern und Prominenten. Die Kundenakquise erfolgt vorwiegend per Telefon und Haustürgeschäft.

Die skandalöse Pleite der nach dem Schneeballsystems arbeitenden Investmentgesellschaft einige Jahre später brachte tausende Kleinanleger um ihr Erspartes, bewirkte gesetzliche Regelungen in Sachen Anlagevermittlung und war doch nur die Spitze eines gerade entstehenden Eisbergs, der die aktuelle Disproportionalität der Vermögensverteilung beförderte.

Das Problem der verkürzten Wahrnehmung

Szenen eines Jahres: Der Blick zurück weitet den Blick auf die Gegenwart und erleichtert Problemlösungsansätze für die Zukunft. Voraussetzung allerdings: Man muss genau hinschauen. Das Jahr 1967 hält für Chronisten der Zeitläufe gleich mehrere Dèjà-vu-Erfahrungen bereit. Die Rekonstruktion manches Ereignisses zeigt nicht nur das hohe Niveau damals üblicher politischer und gesellschaftlicher Debatten, einschließlich der Notwendigkeit und auch der Machbarkeit von Veränderungen. Es zeigt auch, wie wenig teilweise bis heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen aus den damals schon gezogenen Schlüssen gelernt wurde.

Einen wesentlichen Grund dafür hat der Historiker Nobert Frei benannt. In der Rückschau auf das einer ganzen Generation als identitätsstiftendes Jahr zugeschriebene 1968 ist der Fokus überwiegend auf Jugendrevolte und globalen Protest gerichtet. Frei hat in seiner luziden Analyse dessen, was »1968« ausmacht, herausgestellt, dass die gängige Wahrnehmung der »68er« so verkürzt ist, ihre Rezeption so überschattet durch den nachfolgenden linken Terrorismus, dass ihre Vorgeschichte, die in das letzte Drittel der Ära Adenauer rage, kaum wahrgenommen werde.

Hinzuzufügen ist, dass die Fokussierung auf den deutschen Terrorismus die weltweite Wechselwirkung historischer Einflüsse vernachlässigt und auch die Alltagsgeschichte in einer Zeit, von der Andy Warhol sagte, jeder habe sich um jeden gekümmert. Deshalb findet in gängigen Betrachtungen kaum Beachtung, dass einige Impulse aus dieser Zeit in das kollektive Gedächtnis eingingen und nicht nur unbewusst weiterwirken, sondern zuweilen sogar prägend geworden sind.

Das Jahr 1967 ist geprägt von zwei grundstürzenden, die ganze Welt erfassenden sozialen Strömungen, die gegensätzlicher nicht sein könnten und auf die eine oder andere Art bis heute fortwirken. »Summer of Love« und »Long, Hot Summer« finden gleichzeitig statt und sind beide Folgen der immer deutlicher zutage tretenden Webfehler der westlichen Demokratien. Besonders deutlich treten diese in den Vereinigten Staaten von Amerika hervor, anschließend adaptiert auf der sprichwörtlich »ganzen Welt«.

Der Sommer der Liebe steht für die immer größer werdende Jugendbewegung und eine völlige Veränderung der Lebensentwürfe. Der »Lange, heiße Sommer« steht im engeren Sinne für die schlimmsten Rassenunruhen, die die Vereinigten Staaten je erlebten. Mit rigorosem Einsatz von Polizei und Militär werden Aufstände niedergeschlagen. Der »Long, Hot Summer« umschreibt das Aufflammen bisher nie dagewesener Gewalt und zugleich den Respektsverlust gegenüber einer Staatsmacht, die offenkundig ihr Gewaltmonopol missbraucht.

Die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologie ermöglicht nahezu unmittelbare Teilhabe an Geschehnissen auf der ganzen Welt. Das erzeugt nicht nur das Gefühl, durch sofortiges Eingreifen etwas beeinflussen oder gar ändern zu können. Es aktiviert die Menschen, weil sie sich nun fast schon in Echtzeit über Kontinente hinweg miteinander verständigen können und Gleichgesinnte entdecken. Andy Warhols Aussage hat auch einen kommunikationstechnologischen Aspekt.

Es brodelt überall auf der Welt. Polizeistaatsmethoden sind nicht nur in Militärdiktaturen dieser Zeit zu besichtigen, sondern auch in der sogenannten »Freien Welt«. Und auch die Justiz macht keine gute Figur mit Entscheidungen, die eher von Willkür und politischem Kalkül als Unabhängigkeit und Rechtstreue bestimmt scheinen. Muhammad Ali in den Vereinigten Staaten und Mick Jagger in England werden in übertriebener Härte abgeurteilt. In der Bundesrepublik werden die Freisprüche von des Mordes eigentlich überführten Nazi-Ärzten nur ganz am Rande rapportiert, während zur selben Zeit härteste Strafen gegen polemisierende Studenten und Arbeitsdienst für Gammler gefordert werden.

Trotz oder gerade wegen ihrer Gegensätzlichkeit sind die symbolhaften zwei Sommer ideell eng miteinander verwoben. Sie sind geprägt von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, beide vor Kraft strotzend und darauf ausgerichtet, etwas zu ändern. Beide sind Auseinandersetzungen mit Gewalt: staatlicher Gewalt, Krieg, Willkürherrschaft, Unterdrückung. Zu zeigen ist in diesem Jahr ein lange vorher begonnener, aber hier kulminierender Werteverlust und auch der beginnende Wertewandel, der neue Wertigkeiten ins Bewusstsein der Gattung Mensch rückt. Das Unglück des Supertankers Torrey Canyon und der erste juristische Erfolg gegen den Einsatz von DDT wiesen der Wahrnehmung der Umwelt als schützenswertes und einklagbares Gut den Weg. Eklatante Sicherheitsmängel bei einer Brandkatastrophe in einem Brüsseler Kaufhaus mit hunderten Toten und Verletzten und ebenso folgenreiche Sicherheits- und Planungsmängel bei der Vorbereitung des ersten Flugs zum Mond sensibilisierten für Sicherheitsstandards. Im Herrschaftsbereich der Sowjetunion beginnen Schriftsteller, sich von der politischen Bevormundung zu emanzipieren, auch, weil die Menschen in den westlichen Demokratien es plötzlich ernst zu meinen beginnen mit Demokratie und Teilhabe.

Die neue Teilnahme bezieht sich auch auf entfernte Länder, unterdrückte oder gefährdete Völker. In Bolivien versucht Che Guevara, einen Volksaufstand gegen das brutale Militärregime zu organisieren und ein Teil der Weltöffentlichkeit beobachtet das Geschehen. Ins Gedächtnis gerufen werden sollte auch die Welle der Sympathie und Hilfsbereitschaft bei Bevölkerungen rund um den Globus entstand, als die tödliche Bedrohung offensichtlich wurde, der Israel vor dem Sechstagekrieg ausgesetzt war? Während Regierungen stumm blieben, fuhren Taxifahrer durch Berlin, Paris und London, und sorgten auf ganz direkte Art für Unterstützung, wie viele andere Bürger auch, die Unterstützung für die Israelis organisierten.

Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 wird als die Initialzündung der 68er-Bewegung wahrgenommen. Das Brodeln in der Gesellschaft begann aber weitaus früher. Ohnesorgs Tod sollte das Menetekel werden, das zeigte, wie recht die Kritiker der Polizeistaatsmethoden der Berliner SPD-Regierung mit ihren Vorwürfen hatten. Erst der Tod des Studenten aktivierte eine breite Öffentlichkeit auch außerhalb der Zentren der Studentenproteste und nun auch innerhalb der bürgerlichen Presse.

Die nicht zu Unrecht verschriene »Springerpresse« sorgte nicht nur für Stimmung gegen Gammler und Studenten. Die öffentliche Meinung des Jahres 1967 hyperventilierte bei unmoralischem Lebenswandel prominenter Fernsehmoderatoren weitaus dramatischer, als beim Tod eines Studenten. Eine entscheidende Rolle spielte die Bild-Zeitung auch im größten Kriminalfall des Jahres. Der Täter – man nannte ihn Terrorist und Staatsfeind Nr. 1 – nutzte das Blatt als Forum und Vermittler.

Der Boulevard war das Facebook jenes Jahres, auch bereits mit fast allen Konsequenzen des Post-Faktischen und ebenso verzerrend. In Großbritannien etwa war die Zeitung News of the World maßgeblich an einer Intrige gegen die Rolling Stones beteiligt, die mit tätiger Unterstützung des britischen und US-amerikanischen Geheimdienstes den vermeintlich negativen Einfluss der Rocker auf die Jugend beenden sollte.

Aber schlagen all diese mehr oder weniger bedeutenden historischen Ereignisse auf den Alltag einer ganz normalen Durchschnittsfamilie durch? Werden nicht entscheidende Tatsachen vergessen, wenn immer nur Herrschaftsgeschichte beschrieben wird? Es gibt andere Blicke auf Geschichte, etwa auf die Mentalität, die Technik, die Medizin, Kaufkraft und Konsumverhalten.

Die Jugend wird gerade erst entdeckt. Das plötzliche Interesse an der jungen Generation wird geweckt, weil erstmals Jugendliche und junge Erwachsene über erhebliche Kaufkraft verfügen. Das Time-Magazine