294 Tage in Griechenland - Gerd Lepic - E-Book

294 Tage in Griechenland E-Book

Gerd Lepic

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Beschreibung

294 Tage in Griechenland, der zweite Band aus der Reihe der Europäischen Künstlertagebücher, lädt ein zu einer Reise an der Seite des deutschen Künstlers Gerd Lepic. Die Tagebucheintragungen aus 39 Jahren beschreiben in gewohnt sinnlichem Ton Begegnungen mit Kunstschaffenden, Reiseabenteuer, Auseinandersetzungen mit Landschaften und Kunstwerken und bieten daneben einen Einblick in das alltägliche Leben eines Malers und Zeichners. Wie bereits der Vorgängerband 93 TAGE IN ITALIEN ist das Griechenlandbuch durchdrungen von einem völkerverbindenden Geist, der sich aus der Wiege der europäischen Kultur emporschwingt zu neuen kulturellen Zielen und Projekten. Mit sieben Abbildungen, einem umfassenden Orts- und Namensverzeichnis und Hinweisen auf weiterführende Internet-Adressen eignet sich das Buch gleichermaßen als anregendes Kompendium und Reisebegleiter.

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Seitenzahl: 492

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Wassermännchen und Indianer

Teil I

Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Platamónas, Kentrikí Makedonía

Teil II

Skáloma, Korinthiakós Kólpos, Dytikí Elláda

Lávrio, Attikí

Selínitsa, Messinías, Dytikí Máni

Teil III

Rígklia, Messinías, Dytikí Máni

Ortsverzeichnis

Namensverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen

Internet-Adressen

Wassermännchen und Indianer

Oktober 2021 Rígklia, Messinías auf der Peloponnes

Der flache Kieselstein saust über die braun-grüne Membran, die das Altwasser überspannt, eine vom Fluss abgegrenzte Region, die wie ein Teich kaum Strömung führt. Zu den feuchthohen Wiesenauen war ich erst vor kurzem vorgedrungen, hatte Schritt um Schritt meinen Bewegungsradius erweitern können, an bestimmten Stellen ausgebeult und gedehnt. Bis zu der Tiefe, in die sich mein kindlicher Körper beim sonntäglichen Baden in den braunen Strom hinabsenkte, konnte ich ermessen, was er unter seinen Schlieren verbarg. Neben dem Kirchgang gehörte das Autowaschen am Main zu den Ritualen, die mein Opa mit heiligem Ernst durchzuführen pflegte, sofern er nicht zum Wochenend-Dienst eingeteilt war. Auch in seiner Freizeit agierte er schneidig als ein aktiver Repräsentant der Bayerischen Landespolizei, stets dazu bereit einzugreifen. Aus diesem Grund fühlte ich mich in seiner Begleitung sicher, schlidderte über die Steinstufen hinunter zum Wasser, den Rinnsalen der Waschlauge folgend. Ich hatte früh schwimmen gelernt, vermochte aber rein gar nichts gegen die Strömung auszurichten, die meinen dürren Leib quer legte, sobald er zur Hälfte eingetaucht war. Allein der Eisenring, an dem ich mich regelmäßig festklammerte, verhinderte ein Abtreiben. So hing ich an vielen Sonntagen für Viertelstunden vor der Kaimauer in der schäumenden Brühe. Furcht vor dem Flusswasser kannte ich erst seit dem Tag, an dem ich vom Ertrinken eines Klassenkameraden meines älteren Bruders erfuhr. Wie viele der Würzburger Kinder vor und mit ihm war auch er damals mit Abenteuerspielen auf der „Mainkuh“ beschäftigt, einem ehemaligen Waschschiff, das zwischen den beiden Brücken der Stadtmitte festgetaut neben der Uferstraße lag. Trotz dieses erschütternden Ereignisses, dessen Einzelheiten und Umstände wir Kinder uns aufgrund Informationsmangels in den schwärzesten Farbtönen auszumalen begannen, behielt in den Begegnungen mit dem braunen Strom immer eine Sehnsucht nach dem Wunderbaren die Oberhand.

So folge ich auch in diesem Augenblick wie gebannt dem schnellen Gleiten des Kiesels. Besonders in den Muskeln der Waden und Oberschenkel nehme ich die leichte Spannung wahr, die sich unmittelbar nach dem Abwurf des Steines aufbaut und manchmal nur eine Sekunde lang anhält. Mit seinem Eintauchen in die unbekannte, weil unsichtbare Welt unter dem Fluidum aus Sepia- und Umbratönen, saust der Fokus meiner Wahrnehmung raketengleich von den Beinen in den Kopf. Dort betrete ich von Schlingpflanzen durchwobene Räume, das noch fallende Sediment mit Blicken verfolgend, die nun auf wunderbare Weise im Trüben sehen können. Mehr spüre ich noch, was ich zu sehen wünsche: das verführerische Unentdeckte der Tiefe.

Links hinter meinem schmalen Rücken luchst ein hochgewachsener Junge über meinen schwarzen Schopf hinweg, mit Adleraugen das Zwielicht einer tiefstehenden Sonne durchschneidend. Mein Bruder hat ihn, den Späher eines Würzburger Indianer-Stammes, mitgenommen auf unsere kurze Fährtensuche entlang des Mains, der Straße der langen Kähne, die noch immer unsere Stadt durchziehen. Von den Indianern hatte ich gelernt, den passenden Stein auszuwählen; Kiesbänke gab es in der näheren Umgebung meiner Stadt zu Genüge. Allein die aerodynamisch optimale Form unter dem Überangebot an Kieseln zu finden, war eine erste Kunst. Die Zweite bestand im richtigen Schleudern der Steinmünze. Nicht lange, aber oft versucht, wiederholt und dann eingeübt, hatte ich es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, die mich in eine Gilde hob, in der ich nicht einsam war. Zugegeben, in den 60ger Jahren kannte ich kaum einen Jungen in meinem Stadtviertel, der sich nicht als ein Meister im Werfen eines „Wassermännles“ betrachtet hätte. Nahezu jeder von uns beherrschte diese Kunst. Befangen vom Erfolg meiner Bemühungen blieb mir aber bis in die späte Schulzeit hinein verborgen, dass die meisten Mädchen unserer Generation in feinmotorischer Hinsicht gemeinhin besser entwickelt und gewissenhafter trainiert waren als wir Knaben. Bis zu diesem Zeitpunkt aber waren sie von einem Vergleich systematisch ausgeschlossen, einem der unzähligen Rituale, die in den Köpfen vieler Jungs den Irrglauben nährten, sie seien den Mädchen in irgendeiner Weise überlegen.

Im Frühjahr 1981 war ich mit einem etwa neunjährigen Buben wieder in den Mainauen unterwegs. An manchen Nachmittagen betreute ich ihn im Rahmen einer Sozialpädagogischen Familienhilfe. Nach einigen mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen, die Anforderungen der Hausaufgaben zu bewältigen, waren wir hinunter zum Fluss gerannt. Die Nasen im Wind näherten wir uns unter dem Sommerrauschen hohen Pappeln den Bereichen der Altwasser. Bereits aus der Ferne nahm ich Notiz von einer jungen Frau, ein klappriges Fahrrad lehnte an der Bank hinter ihrem Rücken. Zunächst konzentriert über die Wasser peilend, dann wieder im Bücken ähnlich aufmerksam, schien sie isoliert von aller Außenwelt ein geheimes Geschäft zu betreiben. Wir verlangsamten unsere Schritte und blieben wenige Meter hinter der Bank stehen. Nun wurden wir Augenzeugen einer Meisterschaft. Mit entschlossener Geste schleuderte die Najade flache Kieselsteine über den Wasserspiegel, ließ sie drei-, viermal die Membran touchieren, bis sie schließlich im Main ertranken. Die junge Frau lud uns ein, mitzuspielen. Es dauerte geraume Zeit, bis mein neunjähriger Begleiter an der ihm bislang präsentierten Idee einer unumstößlichen, da naturgegebenen, maskulinen Dominanz zu zweifeln begann. Als nach einer viertel Stunde die Rivalitäten geklärt waren, konnte das Spiel beginnen. Die Kiesbänke am Mainufer gaben einiges her. Von Ufer zu Ufer schlendernd kamen wir bald bis Randersacker, wo uns die junge Frau noch vor dem Abschiednehmen ihr Wohn-Atelier zeigte, gesetzt über eine gewölbte Steinhalle in einem baufälligen Dorfhäuschen.

Zwei Jahre nach dieser Begegnung reiste ich zum ersten Mal nach Griechenland. Eine stille Sehnsucht nach den Überresten des antiken Hellas war in mir bereits 10 Jahre zuvor von der Hand meines Onkels Pauli gesät worden. Er, eingeheiratet in unsere Familie, stand im scharfen Kontrast zu den meisten Männern, denen ich während meiner Kindheit begegnete. Viele Jahre vergingen, bis ich nicht mehr staunen musste über die höfliche Bescheidenheit, mit der er sich im Kreise der lauttönenden Prahler und Kräftemesser zurechtfand. Ähnlich fremdartig wie dieses Auftreten erschienen mir auch seine Interessen und Gesten. Pauli las Bücher. Um das Jahr 1970 schenkte er mir ein Taschenbuch mit dem Titel „So lebten die alten Griechen“. Noch ein schlechter Leser, arbeitete ich mich zunächst mühsam durch die Seiten. Zwischen den Etappen des Schriftendeutens zog ich Kräfte aus dem Nachzeichnen der vielen Abbildungen, die zumeist Athleten und mythologische Gestalten zeigten. Mit meinem Schulfreund Harald konnte ich über meine Eindrücke sprechen. Stärker als er, berührte mich das Visuelle. Während unserer Grundschuljahre verstand es Harald, mich durch sein Faktenwissen auch für historische Abläufe und Zusammenhänge zu interessieren. Mit Paulis und seiner Hilfe gelang es mir, den ersten Kieselstein zu entdecken, der sich für einen Flug von meiner unterfränkischen Heimat in Richtung Süd-Osten zu eignen schien.

Ein gutes Wassermännchen aber streift die Membran mehrere Male, bis es ins Wasser eintaucht. Die erste Gelegenheit dazu bot sich im Jahr 1983. Zum zweiten Sprung vor dem Einsinken in das Ägäische Meer setzte es im September 1987 an. Anschließend flog mein flacher Kieselstein eine beachtliche Strecke – erst im Jahr 2019 berührte er Griechenland aufs Neue. Nun sitze ich im Garten eines kleinen griechischen Hauses. Der Kieselstein ist im Meer versunken.

Teil I

Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Platamónas, Kendrikí Makedónia

Sonntag, 07. August 1983 Thessalía, auf dem Weg nach Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Ein Sonntag in Thessalien. Im Unterschied zu Deutschland dürfen wir heute alles einkaufen, was wir brauchen: Margarine, Paprika, Öl, Essig, Marmelade, Gurken, Auberginen, Tomaten, Reis, Tomatenmark, Wasser, Klopapier, Schreibhefte, Zwiebeln, frisches Obst und Wein. Überhaupt fühlen wir uns in Griechenland, das eindrücklich Körper und Geist belebt, freier und unbefangener als in den Ländern, die wir durchreist haben; nach den Erlebnissen der letzten sieben Tage wahrscheinlich ein Kontrastphänomen. Mit dem Zug waren wir von Österreich durch den realsozialistischen Diktatur-Staat Jugoslawien gerollt. Im Hauptbahnhof der bald 6000 Jahre alten slowenischen Stadt Ljubljana hatten wir die harte Hand der Militärpolizei kennengelernt. Nach dem Stürmen des Gebäudes wurden alle Eingeschlafenen im Wartesaal mit Schlägen auf Köpfe und Glieder brutal geweckt. Gekrönt mit übergroßen Schildmützen marschierten die stolzen Schläger umher, schwangen Stöcke und Fäuste. Eine ähnliche Situation hatten Astrid und ich vor drei Jahren in Frankreich erlebt. Damals, in den Gassen von Les Saintes-Maries-de-la-Mer wurden wir selbst zu Opfern prügelnder Polizeigewalt. Im Unterschied zu den unbescholtenen Fahrgästen im Zugbahnhof von Ljubljana saßen wir in Gesellschaft einer Horde langhaariger junger Leute, die umhüllt von Marihuana-Wolken verzückt den nächtlichen Gesängen eines Joe-Cocker-Imitators lauschten.

Obwohl wir hier nicht geschlagen wurden, fühlten wir uns in Jugoslawien verletzlicher. Wir verstanden die Sprachen nicht, waren in der Kommunikation auf die Kenntnisse und das Wohlwollen eines Gegenübers angewiesen.

Lange Fahrten mit dem Zug. Passagiere stiegen zu und wieder aus; allein, in Gruppen oder auch in Begleitung von sogenannten „Nutz“-Tieren. Nachdem ich eine Stunde lang die tiefgründigen und scharf umrandeten Augen einer weißbärtigen Ziege ergründet hatte, stieg eine Bäuerin zu, aus deren Weidenkorb hin und wieder der Kopf eines Huhnes herauslugte. Bald fischte ein älterer Herr Zwiebeln und eine Konservendose aus der Hosentasche und verzehrte mithilfe seines Taschenmessers die eng eingelegten Sardinen.

Oft blieben die Züge stehen – meistens während der Nachtstunden. Dann erloschen alle Lichter. Irgendwann blinzelten dann die blassen Lampions in den Fluren wieder auf und die Bahn fuhr weiter. Bar jeder räumlichen Orientierung hofften wir darauf, dass die Weichen noch richtig gestellt waren und uns der weitere Weg in Richtung Süd-Osten führt. Eines Nachts trampelten Schritte durch die wieder einmal stillgelegten finsteren Waggons. Abrupt wurde die Türe aufgeschoben. Zwei heiß atmende Schäferhunde stürmten herein, während ein Soldat im Eingang des Zugabteils stehen blieb und mit einer starken Taschenlampe ins Dunkle flammte. Grinsend fixierte er unsere überraschten wie ängstlichen Gesichter. Alle Passagiere mussten ihre Ausweise abgeben. Die Hunde und ihr Befehlshaber verschwanden dann für Stunden im Dunkel der Zug-Korridore. Im Morgengrauen wurden uns die Pässe endlich im Bündel entgegengeworfen und die Fahrt nahm weiter ihren Lauf.

Montag, 08. August 1983 Thessalía, auf dem Weg nach Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Die erste Person in meinem Bekanntenkreis, von der ich wusste, dass sie nach Griechenland reiste, war Edith, mit der ich meine erste Wohnung teilte. Bereits Monate vor der für den Sommer 1981 geplanten Tour stieß in immer kürzeren Abständen eine stark geschminkte Freundin zu uns, mit der Edith dann über Landkarten saß und ausgiebig diskutierte. Den beiden ging es darum, in kurzer Zeit möglichst viele griechische Inseln besuchen zu können; sie nannten dieses Bestreben „Inselhopping“. Schließlich buchten sie mithilfe eines Reisebüros Flüge und Schiffspassagen. Das Organisieren von Schlafgelegenheiten überließen die blühenden Mädchen der erhofften Initiative von patenten jungen griechischen Männern, denen sie zweifelsohne begegnen würden.

Unsere Wohnung bestand aus zwei winzigen Zimmern und einem kurzen „Küchenschlauch“, in den ich eine Dusche eingebaut hatte; die Toilette befand sich im Treppenhaus. Unter diesen beengten Verhältnissen wurde ich unfreiwillig Zeuge der ausgiebigen Reisevorbereitungen, als auch der sich später dem Spektakel anschließenden und schier endlos hinziehenden Erinnerungsgespräche. Galt mein anfänglich aufflackerndes Interesse als Zaungast noch insbesondere den rätselhaften Namen der griechischen Inseln, war es im Zeitraum weniger Wochen zu einem einzigen matten Wunsch verbrannt: „Ich möchte über Griechenland nichts mehr hören.“

Im Herbst des gleichen Jahres überließ mir mein Freund Gérard das von Bernard Willms verfasste Buch „Philosophie, die uns angeht“, eines der Werke, die er für essenziell hielt und über deren Inhalt er sich mit mir austauschen wollte. So begann ich zu lesen – von A wie Aristoteles bis X wie Xenophánes - und fand mich in einem völlig anderen Griechenland wieder, das mich bald stärker zu interessieren begann als Inseln und Landschaften. Die gemeinsamen Abende wurden von Gérard ab jetzt behutsam, aber systematisch, hellenisiert. Zu Gesprächen über griechische Philosophen und ihre grundlegenden Ansichten servierte er nun immer öfter Retsína, dann Oúzo und mitunter auch ein Glas Metaxá. Auf dem Plattenspieler lagen Scheiben von Míkis Theodorákis, mit den Gitarren begleiteten wir uns beim Singen von Moustaki-Liedern. Was aber bedeuten die Worte „Kapou iparkhi i agapi mou“ auf dem 1974ger Album?

Dank Gérards multimodaler Einführung in die griechische Kultur fing ich nach und nach Feuer und entwickelte eine Begeisterung für manche Aspekte des mir noch unbekannten Landes. Zu Gérards Konzept gehörte auch der Genuss der Verfilmung des Romans „Leben und Lebensart des Alexis Sorbas“ von Níkos Kazantzákis. Wenige Wochen später bot sich mir die Gelegenheit, das Sirtaki-Tanzen zu erlernen.

Sie hat mir dabei geholfen. Jetzt bin ich tatsächlich in Griechenland unterwegs, 20 Jahre alt, Astrid beinahe; und ich dichte lakonisch: „Neben dir kann ich nicht sitzen, da muss ich dauernd schwitzen.“

Dienstag, 09. August 1983 Kórinthos, auf dem Weg nach Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

In Sichtweite zur Stadt Kórinthos haben wir unser Zelt aufgeschlagen. Wie an jedem anderen Ort zuvor verbringen wir auch hier viel Zeit mit Lesen; insbesondere psychoanalytische Schriften binden unsere Aufmerksamkeit. Astrid geht über das Durcharbeiten und Diskutieren der Freudianischen Gedankenwelt bedeutende Schritte auf einem der vielen Wege, die eine Lösung von ihrem Elternhaus ermöglichen. Ihr allerorts dominant auftretender Vater praktiziert als Psychoanalytiker. Deshalb ruht in ihrem Rucksack auch eine Taschenbuchausgabe des Klassikers von Horst-Eberhard Richter zur Rolle des Kindes in der (psychoanalytisch aufgeladenen) Familie. Mir dient die Lektüre der Quellentexte zur Orientierung, denn noch habe ich nicht entschieden, ob ich meinen zweiten Studienschwerpunkt neben der Kunst auf die Psychologie verlegen soll, die mir erkenntnistheoretisch verlässlich erscheint, oder auf die Psychoanalyse mit ihren verwegenen Postulaten. Beide Fächer weisen interessante Bezüge zur Kunst auf. In Griechenland nun arbeiten wir uns durch Sigmund Freuds „Abriss der Psychoanalyse“ und „Das Unbehagen in der Kultur“ – nicht zuletzt auch deshalb, weil uns darin in ebenso dramatischen wie anregenden Bildern unentwegt das Erbe der griechischen Mythologie begegnet, etwa so: „Der Name Libido kann wiederum für die Kraftäußerungen des Eros verwendet werden, um sie von der Energie des Todestriebs zu sondern“ (Sigmund Freund: Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt: Fischer, Ausgabe 1983, S. 109).

Beim Wandern entlang des Strandes kommen wir mit zwei anderen graecophilen Deutschen ins Gespräch; junge Umherziehende wie wir. Ähnlich auch das Äußere: barfuß, die Leiber umweht von luftigen Stoffen. Unter der Bluse des blonden Mädchens synchronisieren sich entlang des Meeresufers glockengleiche Schwingungen mit denen der Brandung, schwer wogend und unergründlich.

Abends stellen wir die Zelte dicht aneinander, kochen Gemüse über unseren Gastkartuschen, singen Lieder vor einer brennenden Kerze und finden sogar über die gelesenen Bücher gemeinsame Gesprächsthemen.

Mittwoch, 10. August 1983 Kórinthos, auf dem Weg nach Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Vollkommen unverdient wurden wir in ein freies Land hineingeboren. In Griechenland herrschte von 1967 bis 1974 eine Militärdiktatur – glücklicherweise ist sie überwunden! Vor wenigen Tagen haben wir die noch real existierende – und allgegenwärtige Menschenverachtung Jugoslawiens hinter uns gelassen.

Es ist so schön, ein Wal zu sein im tiefen Meer. Wale sind nicht gern allein. Schwimm her zu mir!

Ich gehe durch ein fremdes Dorf, halt meine Träume in der Hand. Mit Wind und Sonne zieh`ich fort. Und such‘ ein warmes, fernes Land.

Donnerstag, 11. August 1983 Stereá Elláda, auf dem Weg nach Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Ein Busbahnhof irgendwo in Stereá Elláda, etwa die geografische Mitte Griechenlands. Mein Onkel Pauli hat mir zu Beginn des Sommers den Tramper-Rucksack geschenkt, der prall gefüllt sehr eng an meinem Rücken anliegt. Mit seinem Aluminium-Gestell stützt der Tornister die Wirbelsäule. Seit gut drei Jahren lasse ich mir von Orthopäden immer wieder die Ursachen des Schmerzes erklären, der sich wie ein heißes Metall in meinen Magen bohrt. Den Hauptverursacher nennen sie nach dem dänischen Radiologen Holger Werfel Scheuermann kurz Morbus Scheuermann. An den Grund- und Deckplatten der Wirbelkörper angreifend, schwächt er die Wachstumszonen im Bereich der unteren Brust- und der Lendenwirbelsäule. Die Folgen sind irreversibel: Schäden an den Knorpel-Knochen-Verbindungen, eine Fehlstatik und Schmerzen. Die kenntnisreichen Orthopäden wollten mich zunächst mit Schwefelbädern versorgen; die gute Absicht wurde von dem Umstand vereitelt, dass ich über keine Badewanne verfüge. Es folgten Injektionen, Krankengymnastik in mancherlei Variation und die dringende Empfehlung, stundenlanges gebeugtes Sitzen zu vermeiden. Als ein Mensch, der doch so gerne zeichnet und schreibt, bemühe ich mich. Heute verhilft mir der Rucksack zu aufrechter Haltung.

Auf dem vorderen Brett einer leuchtend roten Bank sitze ich nun und warte. Ein frisch gebrochenes Stück Brot liegt neben mir, an einem zweiten knabbere ich herum. Seit John Lennons Tod trage ich wieder die abgewetzte Wildlederjacke und eine kreisrunde dunkle Nickelbrille. In den letzten Monaten sind mir Kopfhaar und Bart unkontrolliert entwachsen.

Freitag, 12. August 1983 Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Nach einer langen nächtlichen Reise entlang des Balkan-Gebirges nähern wir uns am Vormittag Αθήνα in der Region Αττική, der sich wie eine Flüssigkeit in alle Winkel hinein ausdehnenden Stadt Athen. In Abständen von wenigen Metern durchziehen nun lauthals rufend Männer die Zugabteile, preisen Hotels an, maßgeschneidert für die Bedürfnisse junger Leute, verteilen bunte Prospekte. Im Zug sitzen, stehen und liegen Scharen langhaariger Mädchen und Jungen. Alle haben Schlafsäcke dabei, Parkas, Rucksäcke, mache auch ihre Gitarren. Vorstädte gehen ineinander über, Bebauungsgrenzen lassen sich nicht mehr ausmachen. Dann kreischen die Bremsen, die Bahn stottert hinein in den Bahnhof Stathmós Larísis. Menschenmengen, ein Durcheinander, bald schiebt es uns hinaus unter die Sonne. Um fünf Uhr nachmittags möchten wir mit der Fähre vom Fährhafen Piréas zur Insel Égina hinübersetzen. Bis dahin verbleibt noch viel Zeit. Da wir aber auch einen Eindruck von der Stadt Αθήνα mitnehmen möchten, entscheiden wir gegen unsere Geldbeutel für die luxuriöse Variante. Anstatt weite Strecken auf den eigenen Füßen zurückzulegen, möchten wir uns ein Taxi leisten. Minuten vergehen, dann bald eine Stunde. Keines der zahlreich an uns vorübertuckernden Fahrzeuge bleibt stehen. Keiner der Fahrer akzeptiert uns als Fahrgäste, wir sehen wohl zu abgerissen aus: Astrid barfuß in Pluderhose, unter der rotblonden Mähne über und über behangen mit frisch gefertigten Muschelschalenketten. Daneben ich, ein dunkelgebräunter bärtiger Strich in der Landschaft, bepackt wie ein Lastenesel mit Rucksäcken und Plastiktüten. Letztlich durchmessen wir die Stecke von gut 10 Kilometern zu Fuß. Wir kennen das. Während unserer ersten Reise, 1980 in die südfranzösische Camargue, haben wir noch mit Enttäuschung und Neid auf das Glück unseres Reisebegleiters Gérard reagiert. Er, stets allein unterwegs und von bestechend vertrauenerweckender Erscheinung, wurde von wildfremden Leuten zum Mitfahren eingeladen, während wir uns die Strecke von Les Saintes-Maries-de-la-Mer bis zum Mauerring von Aigues-Mortes erwandern mussten.

Es ist sehr warm. Ich liebe das. Am wohlsten fühle ich mich dann, wenn sich die Quecksilbersäule bis hinauf zum Skalenwert meiner Körpertemperatur streckt. Im Unterschied zu Astrid brauche ich wenig Wasser. Reptilienhaft entziehe ich Luft und Sonne Energie und Lebenskraft. Meine Begleiterin aber leidet unter der Hitze und der aggressiven Sonneneinstrahlung. Noch rotgebrannt von der Radiation am Kanal bei Kórinthos wechselt sie die Straßenseite, sobald sie Schatten erspäht, nimmt Unmengen Flüssigkeit zu sich und reduziert fortschreitend ihre motorische Aktivität. Trotzdem gelingt es uns, den Fährhafen rechtzeitig zu erreichen.

Pünktlich um 17 Uhr legt die Fähre in Piréas ab. Wir gleiten hinaus in den Saronischen Golf im Westen der Ägäis, der auch Golf von Égina genannt wird. Im Süden wird dieses Gebiet von dem Regionalbezirk Argolída auf der östlichen Peloponnes begrenzt. Hier befindet sich Árgos, die älteste ununterbrochen besiedelte Stadt Europas. Nach gut einer Stunde Fahrt über türkisblaues, klares Wasser erreichen wir die Insel Égina. Zum ersten Mal in meinem Leben finde ich mich einer Flut von Pistazienfeldern gegenüber, ein Anblick, der sich in Europa nur noch auf Sizilien und in Andalusien bietet. Dazwischen schimmern die silbernen Reflexe von Olivenbäumen und Wein.

In Sichtweite zieht sich von der Nachbarinsel Moní Nisáki im Südwesten ein niedriges Faltengebirge herüber bis zum Berg Parliágos im Nordosten von Égina. Es ist heiß. Moní bedeutet auf Griechisch „Kloster“, Nisáki oder auch Nisída „Inselchen“. Seit 20 Jahren steht das winzige Land unter Naturschutz. In den zurückliegenden zehn Jahren habe ich wiederholt über Forschungsberichte des Club of Rome von den Grenzen des Wachstums erfahren. Eine nachhaltige Entwicklung und der Schutz von Ökosystemen liegen mir seitdem am Herzen. Wir sind an einem guten Ort gelandet, denn hier wurde dem Zerstörungspotential der Menschen Paroli geboten. Noch am Abend gewinnen wir einen Fischer für die Überfahrt.

Samstag, 13. August 1983 Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Ganz ähnlich deinem Lachen, wenn du richtig fröhlich bist, leuchtet heut der Strand. Komm schnell, nimm meine Hand! Wir laufen, bis wir wortlos schweben über Meer und Land.

Am Vormittag setzen wir wieder über von Moní nach Égina. Gut neun Kilometer vom Fährhafen entfernt erstreckt sich das Dorf Pérdika. Bunt bemalte Häuser und Restaurants ziehen Touristen an, die in Scharen eingefallen sind und ihr Geld auf den Tischen verteilen. Hier kaufen wir das Nötigste ein, denn nach Moní muss man mitbringen, was man zum Leben braucht. Hinter den animierenden Fassaden Pérdikas aber verbergen sich baufällige Wohnviertel; Hunde und Menschen leben dort, Die mit ruhigen Blicken den vorüberschlendernden blasshäutigen Gästen folgen.

Astrid und ich sprechen oft über das bewusste Streben nach dem eigenen Glück, die Mühe, das Geld und die Zeit, die dafür benötigt werden. Dazu passt gut Albert Camus‘ Roman „Der glückliche Tod“, den ich im Rucksack habe. Patrice Mersault, die Hauptfigur, bewohnt nach Jahren der Monotonie und Bedeutungslosigkeit an der auch ausgedehnte Reisen nichts ändern, zusammen mit drei jungen Frauen am Mittelmeer ein Haus hoch über der See. Schließlich wählt Mersault entgegen jeder gesellschaftlichen Konvention einen ganz persönlichen Weg zum Glück. Er entschließt sich dazu, allein zu leben; zufrieden stirbt er an einer Krankheit.

Ein Glücks-Entwurf wird immer individuell sein, denn unsere Suche nach Sinnhaftigkeit steht der Sinnlosigkeit der Welt gegenüber. Mit Astrid betrachte ich diese Welt manchmal durch Camus‘ Augen und entdecke die Absurdität von Elend, Armut und unerklärbarem Leid. Manchmal fühlen wir uns als Fremde auf diesem Planeten, auf der verzweifelten Suche nach einem Grund für Hoffnung.

Sonntag, 14. August 1983 Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Auf der Insel Égina verwenden wir viel Zeit für die Begehung des Areals um den uralten Tempel der lokalen Göttin Aphaía. Möglicherweise ist sie mit einer Nymphe oder den Göttinnen Athéne oder Ártemis identisch. Ein gutes halbes Jahrtausend vor der Zeitenwende wurde dieser Tempel nach seiner Zerstörung erneut aufgebaut – diesmal bestückt mit virtuos gestalteten Giebelfiguren, den „Aegineten“. Wir kennen sie bereits von Aufenthalten in München, wo ich sie in der Glyptothek gezeichnet habe; der bayerische Kronprinz Ludwig hatte sie im frühen 19. Jahrhundert angekauft.

An einer Küstenstraße entdecken wir das Haus, in dem Níkos Kazantzákis 12 Jahre lang gewohnt hat. Hier schrieb er wohl auch an seinem berühmten Zorbas-Buch mit einer der Hände, die mich nach Griechenland geführt haben.

Kurz nach Fünf am späten Nachmittag finden wir uns wieder in Pérdika ein, okkupieren zwei Holzstühle in der Taverna Ádonis. Umringt von einer Schar anmutiger Frauen ignoriert der eifrig schwatzende Kellner meinen ständig wachsenden Appetit. Im wilden Rauschen seines Testosteronspiegels versinken schließlich auch alle in feinstem Englisch vorgetragene Bestellungen. Die frischen Damen, deren Kreise auch mich beständig umschließen, zeigen unter der späten Sonne viel Haut. Der betörte Ádonis gerät in Wallung, ja in eine gewisse Hochform, die ihn scherzen – und angesichts der Internationalität seines weiblichen Publikums gar in Zungen sprechen lässt! Seine schöne Stadt, nein, die ganze Welt, gehört nun den jungen, blühenden Frauen. Eine gute Stunde später kommen nur noch weibliche Gäste unterhalb einer bestimmten Alters- und Bekleidungsschwelle in den Genuss seiner, zugegeben, atemberaubenden Gunst. Viele Kunden haben das Lokal mittlerweile verlassen; Geld ist nicht alles. Ich aber bleibe, profitiere von den reich bestückten Tellern meiner Nachbarinnen.

Später fährt uns ein Fischer wieder hinüber zum Inselchen, das im blauen Nest sitzt, gekrönt wie ein Hahn mit einem kurzen dreigezackten Felsenkamm, der zentral aus der Vegetation rag. Die milden Hänge zwischen Felsen und Meer tragen den Schmuck von Macchia und lichten Kiefernhainen. Das Zelt haben wir an den Hängen unterhalb der Felsen aufgeschlagen, außerhalb der Sicht- und Rufweite der Strände.

Die einzigen Lebewesen, denen wir hier außer Insekten und Möwen begegnen, sind verwilderte Ziegen. Furchtlos wandern sie in diesen tagerhitzten und hellen Abendstunden einzeln oder in überschaubaren Gruppen an uns vorüber und sorgen auf diese Weise hin und wieder für Bewegung zwischen dem Himmel, der Insel, der blauen Fläche des Meeres und dem sich in der Ferne windenden Gürtel des attischen Festlandes. Noch in der Abenddämmerung aber zieht sich der Himmel zu, flüchtig zunächst. Mit Einbruch der schwarzen Nacht schieben sich schwere Massen über unseren Köpfen über- und ineinander, türmen sich auf, den Sternen entgegen, und schirmen sie ab vor unseren Augen. Alle Besitztümer nehmen wir mit ins Zelt.

Gegen Mitternacht erleuchten grelle Blitze für Minuten unsere aufmerksamen Gesichter, orange eingefärbt vom Farbfilter der dünnen Zeltplane. Dann krachen die ersten Donnerschläge gegen den Felsenkamm, der Echos über Land und Meer schleudert. Ein nun jäh einfallender Wind schwingt sich stufenlos zu einem mächtigen Sturm auf, einem kalten Föhn, der unser winziges Zelt in alle Himmelsrichtungen hin und her klappen lässt. Astrid umklammert den einen Zeltmast, ich den anderen. Das Wigwam bietet den einzigen Schutz, den wir haben – natürlich nicht vor dem Regen, der bereits nach wenigen Sekunden durch die dünne Membran rieselt und unsere Schlafsäcke tränkt. Das Zelt bewahrt uns vor dem Einschlag der Winde, der bei freiem Zugang im Nu alle Gegenstände über die Insel verteilen würde – wohl auch uns beide. Über Stunden rollen Donner über uns hinweg. Einige Male glauben wir, im Frequenzwirrwarr des krachenden Lärmens das Brechen und Rollen von Felsen auszumachen, fürchten, ein Steinschlag könnte uns verschütten. Unsere Glieder zittern vor Kälte und Anstrengung. Hochkonzentriert lenken wir alle Kräfte auf den Erhalt des Zeltes. Im Zenit einer ohrenbetäubenden Kaskade berstender Explosionen biegt sich dann im Griff einer Windböe die Aluminiumstange, die ich zu stützen versuche – und bricht ab. Sofort verliert das Zelt seine Form. Im Aufspringen vermag ich noch das Absinken des Firstes in das Wasserbecken unter meinen Knien zu verhindern, keile meinen Kopf in die Giebelecke und hebe den Grat des Daches mit der Länge meines Rückens. In dieser Haltung verharre ich zunächst, den Schrecken in allen Körperteilen. Nach wenigen Minuten beginnt der Schmerz. Und kurze Zeit darauf versiegt der Regen.

Es ist kurz nach fünf Uhr. In einer halben Stunde wird die Sonne aufgehen. Nun sinke ich sehr langsam hinunter in den gefüllten Schwamm meines Schlafsackes. Die Zeltmembran bedeckt meinen geschundenen Leib wie eine zweite, kalte Haut. Ich höre nicht mehr viel von den tröstenden Worten, die Astrid findet.

Montag, 15. August 1983 Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Verschließe deine Ohren, verkriech dich unterm Bett. Mach die Augen zu. Ich habe Angst, dass was passiert durch den Blitz. Mach die Augen zu. Oh, dieser Donner ist zu laut für meinen Kopf! Ich kann die Wolken brennen sehen. Trotzdem sind alle Bäume grün. Weißt du, was ich glaube? Du bist zu still für diese Welt. In dir lebt zu viel Gefühl. In dieser wilden Hektik muss jeder stark sein, schreien, sonst geht er unter im Gewühl.

Ohne ernsthafte Verletzungen haben wir das Gewitter überstanden. Die zerborstene Zeltstange war schnell repariert – ein geeigneter Holzdübel, der die beiden Rohre miteinander verbindet, war schnell hergestellt. Bereits mit dem Sonnenaufgang legte sich dann eine tröstende und alle Dinge trocknende Wärme über das Land – schon am Mittag konnten wir das Zelt wieder einrichten.

Morbus Holger Werfel Scheuermann aber, der in meinen Knochen wohnt, meldet sich heute erbarmungslos. Die Keile, die er mir in die Wirbelsäule treibt, möchte ich mir durch die Brust herausreißen. Wie ein panisches Tier hetze ich über die Hänge, mache die Ziegen nervös, möchte meinem Körper entfliehen, in dessen Mitte ein heißer Schmerz glüht. Natürlich ohne Aussicht auf Erfolg. Auf der Suche nach Ablenkung springe ich ins Meer.

Am Abend plündern wir unsere Urlaubskasse und bestellen zum ersten Mal Souvláki in der Insel-Bar, wo uns mitleidige Blicke streifen.

Dienstag, 16. August 1983 Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

Wieder im Hafen von Pérdika erwerbe ich eine kleine getöpferte Öllampe, glasiert in gedeckten Rosatönen. Ihre Bauchkugel ziert auf beiden Seiten des erigierenden Schnäbelchens je eine achtblättrige stilisierte Blüte, hingeworfen in Strichen aus Kobalt und Umbra. Die beiden Sterne tragen in ihren Mitten je eine blaue Kugel, die schwarz umrahmt, mit den kühnen Kurven der sie flankierenden Zweiglein korrespondiert. Ihre blauen Nadeln wachsen nicht ohne Eleganz dem schlanken Hals des Gefäßes zu. Ich zeichne diese östliche Ornamentik in mein Skizzenbüchlein. Ich werde die Lampe als Kerzenhalter verwenden.

Mittwoch, 17. August 1983 Moní Nisída, Saronikós Kólpos, Attikí

14 Uhr, ein älterer Herr befördert uns mit seinem Boot hinüber nach Égina. Jetzt warten wir auf die Fähre, die den Hafen Piréas ansteuert. Um 21.10 Uhr werden wir in Athína den „Venezia Express“ besteigen; er wird uns nach Nordwesten transportieren, zurück in die Heimat.

Ich lebe am Meer. Die Häuser am Hafen sind meine Stadt. Unter meinem Fenster liegt ein Dampfer aus Trinidad. Ich liebe dich sehr. Und wenn du Lust hast, komm in mein Boot. Wir stoßen uns ab und reiben uns die Backen rot.

Ich sehe eine Frau ganz in Schwarz unter der Sonne gehn. Komm, wir nehmen sie mit. Komm, wir nehmen sie mit! Für eine Sekunde bleibt die Zeituhr stehn. Komm, wir nehmen sie mit, komm! Sie kann sich gut erinnern, zurück an die Obristenzeit. Der Schreck ist ihr geblieben wie das Futter in einem Kleid. Und aus ihm ist sie gewachsen, schwarz vor dem Olivengrün.

Freitag, 19. August 1983 Grombühl in Würzburg, Deutschland

Wir sind wieder zuhause, jeder von uns beiden in seinem Zimmer. In wenigen Tagen wird Astrid aufbrechen, um für ein Jahr in Nizza zu leben, einem Flecken roter Erde am Mittelmeer, der seit mehr als 400.000 Jahren von Menschen bewohnt wird. Sie wird den Weg über die Alpen nehmen, um französische Kultur zu erlernen und ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen. Die Stadt, die heute den französischen Namen Nice trägt, wurde an dieser Stelle vor gut 2350 Jahren von Phokäer begründet. Diese Leute waren ursprünglich Ionier, also Griechen, die aus dem Gebiet der heutigen türkischen Provinz Izmir kamen. Sie tauften ihre neue Stadt Νίκαια nach Níke, der Göttin des Sieges.

Astrid wird also bald zurückkehren in den Kulturkreis der Griechen. Bis zu den Semesterferien im Winter werde ich bestimmt wieder genügend Geld in der Tasche haben, um sie dort besuchen zu können … ausgerüstet mit Stift, Zeichenblock und Hausaufgaben in Erkenntnistheorie, Neurophysiologie und Statistik.

17. März 1985 Grombühl in Würzburg, Deutschland

Seit einigen Jahren spiele ich in verschiedenen Rock-Bands Gitarre und stehe auch am Mikrophon. Unser Musikstil wechselt zwischen Punk, New-Wave und Rock-and-Roll. In letzter Zeit proben wir im Salon 77, der Würzburger Künstlerinitiative, die mir auch ein Atelier zur Verfügung stellt. Wieder wohne ich in Grombühl, wo es noch billigen Wohnraum gibt – mit Ölofen und Etagenklo. Nach den Band-Proben essen wir gerne eine Kleinigkeit bei Páno, dem griechischen Koch, der das Restaurant „Alpenrose“ gepachtet hat. Hier gibt es für vier Mark fünfzig Souvláki oder auch den griechischen Salat Choriátiki. Páno und sein Kellner sind während der Zeit der Militärdiktatur aus Griechenland geflohen.

Bedingt durch meine chronische Geldknappheit liefern mir die beiden nach den Souvláki aus der Strandbar auf Moní Nisída die einzige Referenz, über die ich verfüge, wenn es um griechisches Essen geht. Obwohl ich schon in Griechenland war, kenne ich noch immer nur zwei landestypische Gerichte. Dazu trinken wir Retsína und Oúzo.

Bei meinen alten Freund Gérard, der über erhabene materielle Ressourcen verfügt, durfte ich auch Metaxá kosten, einen griechischen Weinbrand, auf dessen Etikett die Anzahl der Sterne die Dauer der Lagerhaltung anzeigt. Auf diesen Etiketten erscheinen bis zu 40 Sterne!

Letzte Woche schrieben wir einen Text über die „Alpenrose“; heute habe ich eine Melodie dazu gefunden. Das Lied heißt „Sterne“ und nimmt Bezug auf die Zeit vor dem Sturz der Militärjunta 1974. Gleichzeitig handelt es von den aktuellen Zivilgesellschaften in Griechenland und Deutschland, in denen es noch immer ausgeprägte rassistische Tendenzen gibt.

STERNE

Ich entspreche nicht dem bundesdeutschen Schönheitsideal. Meine Haare sind zu schwarz, mein Bartwuchs ist zu stark. Leider bin ich kein Einzelfall. Trotzdem falle ich noch auf - unangenehm – in dieser gepflegten Stadt.

Seit ‘78 wohn ich schon am Neunerplatz. Hab einen Job bei Páno in der Alpenrose, eine Frau, drei Kinder; die werden alle satt und ich auch. Stundenlang dann aufm Klo, zähl ich die Narben auf meinem Arm. Ich habe Angst vor dieser Welt, habe Angst, weiß nicht wieso.

Da wo es finster ist, wo meine Freunde wohnen, die warten auf die Freiheit, da wo es finster ist, weil man die Sterne erstickt dahin will ich niemals mehr zurück.

Manchmal sehe ich im Halbschlaf wie die Tür aufgeht. Und drei Ordnungshüter in Zivil, die flüstern leise meinen Namen, schreiben Zeichen in ein schwarzes Buch.

Da wo es finster ist, wo meine Freunde wohnen, die warten auf die Freiheit, da wo es finster ist, weil man die Sterne erstickt dahin will ich niemals mehr zurück.

Irgendwann, es dauert nicht mehr lange, schließ ich die Türe ab zum letzten Mal. Den Schlüssel lege ich zu Páno, die Wohnung kriegt der freie Staat.

Freitag, 11. September 1987 Grombühl in Würzburg, Deutschland

Traum vor dem Aufbruch zur zweiten Griechenland-Reise

Mein Studienkollege Daniel und ich bewohnen zwei Zimmer in einem unterfränkischen Barockpalais. Jeder von uns hat sich auf seine eigene Weise eingerichtet und führt ein unabhängiges Leben. Wir treffen uns nur zum gemeinsamen Essen; unsichtbare Hände reichen dann erlesene Speisen.

Ich schreite finstere Stufen hinab. Tore lassen sich nur mit Mühe öffnen, so, als müsste ich einen Widerwillen brechen. Entgegen jeder Gewohnheit streicht ein schwarzer Begleiter schmiegsam neben mir her. Krachend fallen hinter meinem Rücken Türflügel in ihre Schlösser. Dann, im Weiterlaufen, drängen mich zwei starke Arme nach rechts ab, während ich ringe mit unsichtbaren Körpern, denen sie entwachsen.

Mein schwarzer Begleiter, nun von mir getrennt, wird von einem erlöschenden Schicksal verschlungen – eingeschwungen von weiteren Türen, die sich in stets verdichtenden Abständen schließen und in Rost versinken. Die Anzahl der in den Raum ragenden Hände wächst von vier auf sechs und alle Unterschiede beginnen zu verwischen.

Umso deutlicher formt sich nun ein uns verbindender Gedanke, der sich, bald materialisiert in einem einzigen Pulsschlag, all meiner Körperlichkeit bemächtigt. Die näheren Umstände unseres gemeinsamen Fliehens sowie der allgegenwärtig spürbare Fluch, mit jedem Sprung drückender, entzieht sich mit Vollendung dieses Schlages den Spuren meiner Erinnerungen. Geblieben ist nur ein Schaudern.

Die beklemmende Einsamkeit eines gemeinsamen Lebens, deren erhofftes Ende bereits greifbar schien, gestreift von den Flügeln der Hoffnung, hindert den goldenen Schwan noch immer daran, das Wasser zu erreichen. Ein jähes Ende findet sie erst durch das Aufbäumen kurzwelliger Lichtbündel. Die im fahlen Neon Kolonien bildenden Nesseltiere entpuppen sich als Krankenschwestern und dies soll fürs Erste genügen.

Was uns das Labyrinth des Kellers vorenthalten hat, nimmt nun Gestalt an. Das OEuvre eines langen Lebens springt mit einem Satz auf wie eine gereizte Vogelspinne und verbreitet in Windeseile seinen unverwechselbaren Geruch, ein Umstand, der diese Angelegenheit keineswegs erträglicher macht. Fremdartige Schmatz-Geräusche malträtieren meine Trommelfelle, während die sechs Hände unbemerkt tief im Boden verankerte Gefahreninseln passieren, eine nach der anderen.

Glaube ich an Metaphysik, Zauber, fremde Mächte? Noch im Hinunterbeugen verschwindet mit einem Mal dieser Anflug von Leichtsinn, als die Oberärztin die Szenerie betritt.

Die Summgeräusche des Inkubators haben zwischenzeitlich das fünfte Frequenzband übersprungen. Als an der Schwelle ihrer Stimmgewalt mein linkes Ohr Gefahr läuft, den Tücken der Maskierung anheimzufallen, treffen sich unsere Augen. Auf natürliche Weise webt sich nun das lodernde Tau der Geschehnisse von Knoten zu Knoten, abertausende schlitzäugiger Pipetten missachtend und gejagt von einer atemberaubenden Medizinerin.

Erst später, als sich die zu einer Kruste geschichtete Haut, seit Stunden bereits über meinen Mund gespannt, leise knisternd löst, reißt der Faden ab.

Sonntag, 13. September 1987 Platamónas, Kentrikí Makedonía

Gestern Abend habe ich um 20 Uhr in Eisingen Adams Bus bestiegen. Gérard hatte mich mit seiner Ente hinaus aus Würzburg zu diesem Dorf geflogen, das dem bescheidenen Reiseunternehmen über die Jahre zu einen Start-Bahnhof geworden war. Von Adam und seinem Bus habe ich erst kürzlich erfahren. Für gewöhnlich führen seine Reisen zu Orten, an denen junge Leute feiern und baden möchten – zu erschwinglichen Preisen. Ich aber brauche eine Pause und viel Ruhe zum Malen und Zeichnen. Deshalb habe ich zugesagt, als mir der letzte noch freie Platz angeboten wurde – für eine „Badereise“ nach Griechenland.

Heute Abend, am Ende einer langen Fahrt, hält der Reisebus endlich an. Wir stranden im mittleren Drittel einer sich zwischen Bahntrasse und Meereswellen dahinstreckenden Häuserzeile. Von einem zerbeulten Straßenschild zeichne ich einen Schriftzug ab, dessen grafische Qualität mir ins Auge fällt, dessen Inhalt aber kryptisch bleibt: Πλαταμώνας. Vom Bus stakse ich dann mit meiner Reisetasche hinüber zu einem gebückt an den Bahngeleisen sitzenden Anwesen, das ein Blechdach trägt und auf dessen Fassade ein ausladendes Werbeschild prangt. Ich bin müde und verzichte deshalb auf das Abzeichnen der neuen grafischen Rätsel, die mir diese Tafel entgegenhält. Endlich ein Bett. Wieder einmal war ich während der Fahrt durch Jugoslawien mit Behördenwillkür und Korruption konfrontiert. In zahllosen Polizeikontrollen musste der Busfahrer „Geschenke“ abtreten, die er freilich genau zu diesem Zweck bereits in Deutschland geladen und in den Reisepreis einkalkuliert hatte. Nach den langen Stunden auf dem engen Sitz sehne ich mich danach, die Beine ausstrecken und schlafen zu dürfen. Der Wirt teilt die Zimmer zu. Mein Wunsch wird erfüllt.

Bald schlafe ich selig. Dann aber und schlagartig, werde ich, wie ein bleiernes Pendel, das an einem Kautschukseil schwingt, jäh aus dem Gewebe meiner Träume gerissen. Raketenhaft schnellt mein Körper auf in eine schräge Sitzposition und ich starre ungläubig gegen die Zimmerwand. Mit ohrenbetäubendem Lärm rauscht ein Eisenbahnzug durch das Hotelzimmer. Minutenlang. In einer Art Angststarre befangen, beginnt mein Gehirn bald mit dem Zählen der für mich unsichtbaren Waggons, Güterwagen, die über Holzschwellen rattern und je nach Ladung und Gewicht in ihren eigenen Frequenzspektren resonieren. Es ist sehr laut in diesem Zimmer. Hundemüde fühle ich mich gleichzeitig hellwach. Wie spät mag es sein? In der Dunkelheit bleibt meine Uhr unauffindbar. Dann stürzt Stille zurück in den vom Schall geschundenen Raum, weichen mit langen schallleeren Schwüngen die letzten flachen Amplituden eines schwächelnden Echos aus der Welt. Ruhe. Plötzlich, wieder. Endlich. Der Schlaf überrollt mich schnell und gnädig. Leider wiederholt sich die Ekstase der Lärmeinbrüche mehrmals in dieser Nacht. Ich liege Wand an Wand mit den Eisenbahnschienen. Alles hat seinen Preis. Dieses Bett lehnt an einer wichtigen Bahnstrecke, die die zweitgrößte Stadt Griechenlands Θεσσαλονίκη (Thessaloníki) vermutlich mit dem Rest der Welt verbindet – zumindest mit dem Fährhafen Piréas, von dem ich vor vier Jahren zur Insel Égina übergesetzt war.

Montag, 14. September 1987 Platamónas, Kentrikí Makedonía

Nach einer zerrütteten Nacht bin ich schließlich im Süden der Region Zentralmakedonien endgültig erwacht. Vor dem Hotel lockt das den blauen Himmel reflektierende Wasser der Ägäis im Thermaischen Golf, die sogenannte Olympische Riviera. In vielleicht 25 Kilometer Entfernung erhebt sich vor meinen Augen in nordwestlicher Richtung der Όλυμπος (Olymp), mit Gipfeln, die sich auf nahezu dreitausend Meter Höhe erheben, das mächtigste Gebirge dieses an Höhenzügen, Felsenkämmen und -massiven reichen Landes. Ich wohne also in Sichtweite zum Berg der olympischen Götter! Das bietet optimale Voraussetzungen für eine produktive Woche. Ich möchte mich nicht mit Menschen auseinandersetzen, lieber mit den Göttern. Ich werde zeichnen und malen!

Dienstag, 15. September 1987 Platamónas, Kentrikí Makedonía

Auf der Kante eines schwarzen Felsens hocke ich mit einem guten Blick hinüber auf Himmel und Meer, die mir ihr doppeltes Blau entgegenhalten. In Sichtweite, gewunden wie ein Schneckenhaus, präsentiert sich in zeitloser Stimmung der eng umschlossene Fischerhafen. Zu meinen Füßen arrangieren sich Sand mit Wasserglas und Farbkasten zu einem glitzernden Stillleben; zwischen meinen Lippen ragt ein kurzer Bleistift in den Wind. Ich finde einen flachen Kieselstein und lasse ihn über die Membran sausen. Bald spiegeln sich auf dem Papierblock die Lichtflecken der Wellen und hellwandiger Häuser. Ich übe das Aquarellmalen. Ilse Selig, meine gestrenge Lehrerin, hat mich vor fünf Jahren nach dem Absolvieren einiger Kurse zögernd entlassen. Nach ersten behüteten Schritten ermutigte sie dazu, nein, forderte sie, eine eigene Handschrift zu finden. Die eigene Handschrift. Nicht nur ich suche nach ihr.

Mittwoch, 16. September 1987 Platamónas, Kentrikí Makedonía

Heute dringe ich in eine krautige und oft stachelbewehrte Vegetation vor, die gleich hinter den Bahngleisen beginnt. Schließlich residiere ich am Fuße des Olymps, in dessen buchenbestandenen Tälern und von endemischen Arten bevölkerten Schluchten Nymphen, Satyrn, Mänaden und Silene leben.

Um meinen Lebensunterhalt, das Studieren, Malen und Musizieren zu sichern, arbeite ich zuhause in mehreren Jobs. Nachts fahre ich für die Zeitung „Mainpost“ Anzeigenfahnen durch die Stadt, morgens erscheine ich oft auf Baustellen, Weinbergen oder stehe auch als wissenschaftliche Hilfskraft vor Studienanfängern, um sie in Experimental-Methodik einzuführen. An manchen Abenden halte ich vor einem wissenschaftlichen Publikum Vorträge über Psycho-Akustik oder Informationstheorie. Auf diese Weise komme ich durch. Eine Flasche Rotwein strecke ich mithilfe von Leitungswasser durch alle sieben Abende einer Woche. Meine finanziellen Mittel ermöglichen ein gutes Leben, in dem klare Hierarchien herrschen. Zuerst werden Primärbedürfnisse befriedigt: Hunger, Durst und Schlaf. Dazu kommen die dem unterfränkischen Klima angemessene Bekleidung sowie eine Behausung, die Schutz vor Kälte und Nässe bietet. Das restliche Geld gebe ich für Bücher, Malmaterial und Reisen aus.

So kommt es, dass ich die Hänge des Olymps heute mit gelben Plastikschuhen an den Füßen bewandere. Meine alten Treter ließen sich nicht mehr flicken, die neuen Dinger waren billig. Da ich die Wärme liebe, genieße ich trotz triefender Füße jede einzelne Minute, die mich inmitten üppiger Sommervegetation hinaufführt: gelbblühende Orchideen, Enzian und immergrüner Buchsbaum markieren in Matten und grob umrissenen Fleckenteppichen die Gradienten hin zu kühleren Regionen. Dort begegne ich Alpenveilchen und Erdbeerbäumen, aus denen hier Schnaps gebrannt wird. Knabenkräuter, Nelken, Schöllkraut und Schwertlilien provozieren meinen Drang, die Farben auf Papier zu bannen. Zum Malen finde ich aber keine Ruhe. Ich fühle mich erregt, aufgebracht, möchte möglichst schnell höher hinauf, in Regionen, die ein Aussicht auf die Zusammenhänge im Tal, in der Ebene, an der Küste gestatten. Dieses Drängen kenne ich seit 17 Jahren, als ich in Begleitung meines Vaters erstmals in Südtirol Berge bestieg. Schon damals, im Alter von sieben, acht Jahren liebte ich das Laufen. Da ich während der Grundschulzeit mit meinem Bruder ein Fahrrad teilte, war ich früh an Tempo und Ausdauer gewohnt. Zudem erlebte ich mich im Gehen als frei und selbstwirksam – Straßenbahn oder Fahrrad waren entbehrlich, ein Luxus, den ich gerne nutzte, wenn er sich anbot, aber notwendig war allein das Vermögen, sich eigenständig mit beliebig einsetzbaren Kraftreserven fortbewegen zu können. Ich liebe das Laufen auch heute noch so sehr, dass ich sogar lustvoll davon träume. Auf meine Beine kann ich mich verlassen. Jetzt also möchte ich wieder hoch hinaus, wie damals in Südtirol. Dort lernte ich eine angenehme Abgeschiedenheit von den Menschen kennen, denn meinen Vater habe ich nie zu ihnen gezählt. Diese Einsamkeit, etwas grundsätzlich Positives, suche ich seitdem immer wieder und finde sie auch zuverlässig beim Malen oder Wandern, allein in menschenleerem Gelände. In dieser Hinsicht befinde ich mich hier am richtigen Ort. Statt der Menschen bietet dieses Gebirge eine Vielfalt an Tierarten, von der ich freilich wenig mitbekomme. Neben den Rothirschen, Rehen und Gämsen existieren hier noch vereinzelt Braunbär und Wildkatze! Nach dem Passieren eines Flussufers, gesäumt von Platanen und Weiden, erreiche ich eine senkrecht abfallende Bergwand, an der stellenweise Efeu und andere Kletterpflanzen emporklimmen. Wenige Meter weiter versperrt mir ein Esel den Weg. Jeden meiner nach vorne gerichteten Schritte quittiert er mit eindeutigen Signalen. Das mit allen Grautönen gesegnete Tier legt die Ohren flach nach hinten und schlägt mit seinem Schwanz hin und her. Nun schwenkt es seinen Kopf in meine Richtung, nähert sich Schritt um Schritt und zeigt wiederholt seine Zähne. Stante pede sind meine Ziele revidiert, trete bereits den Rückzug an, denn schlagartig sehe ich mich dem Hades näher als seinem Bruder Zéus. In aller Bescheidenheit geht es nun zurück, hinunter in den Einflussbereich des Poseidónas. Länger als vier Stunden war ich bis hierher unterwegs. Auch die Vernunft rät deshalb zur Rückkehr nach Platamónas.

Donnerstag, 17. September 1987 Platamónas, Kentrikí Makedonía

Ich habe von Astrid geträumt. Wieder begleitete sie mich in Griechenland, dieses Mal nicht mehr im winzigen windschiefen Zelt unter dem Sturmwind, sondern in einem bescheidenen Hotelzimmer. Wir haben uns geliebt, nackt und weniger unschuldig, als wir es sieben Jahre lang geübt hatten. Hier nahmen wir Abschied voneinander, schmerzhaft und für alle Zeiten.

Donnerstag, 01. Oktober 1987 Grombühl, Würzburg, Deutschland

Aus Platamónas habe ich Astrids Gepäck mitgebracht. Sie war vor mir abgereist. Heute werde ich ihr die Sachen vorbeibringen.

Teil II

Skáloma, Korinthiakós Kólpos, Dytikí Elláda

Lávrio, Attikí

Selínitsa, Messinías, Dytikí Máni

Samstag, 16. November 2019 Skáloma, Efpálio, Fokída

Erschüttert haben wir noch in Tirana në Shqipëri, Albanien vom Tod unseres Maler-Freundes Daniel Eltinger erfahren. Er ist jung von uns gegangen, in der Ferne der oberbayerischen Wahl-Heimat. In der letzten Zeit hatte er sich mit mir oft über Versuche ausgetauscht, eine literarische Charakterisierung seiner Kunst der inversiven Malerei zu schreiben. André Bretons Manifeste des Surrealismus, die er zu diesem Zweck von mir entliehen hatte, nahm ich nach unserem letzten Treffen mit auf die Weiterreise durch Europa. Beim Lesen in diesem Spiegel werden wir beide uns nicht aus den Augen verlieren.

Bis zum vergangenen Mittwoch war ich gemeinsam mit Uta für Clowns ohne Grenzen in Albanien unterwegs. Wir spielten in Kinderheimen und Tagesstätten für Roma, die wie viele der Flüchtenden, die es gerade noch lebend bis über die europäischen Außengrenzen schafften, bei jedem Wetter in Zelten leben. Schließlich haben wir unsere Show noch in einer Wohngruppe für befreite, und dort sicher versteckte ehemalige Sklavinnen aufgeführt. Die Wochen in Albanien haben uns berührt, körperlich und mental gefordert.

Am Donnerstag nahm ich mir endlich Zeit, den Maler Jeton Ciri in der Rruga Budi zu besuchen. Er betreibt in Tirana eine Produzentengalerie. Da wir in der Nähe wohnten, bin ich auf den Hundespaziergängen mit Coco öfter bei ihm vorbeigekommen, habe seine Bilder betrachtet, wir grüßten uns. Dann fand ich endlich die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Wie viele Kollegen versucht auch er Bilder herzustellen, die sich verkaufen lassen, vorwiegend dekorative Darstellungen von Blumenstilleben und idyllischer Landschaften. Daneben aber arbeitet er als Künstler, das heißt, er erfindet Eigenes, Bilder mit unverwechselbarer Handschrift, voller Geheimnisse und Symbolkraft. Inmitten der Clowns-Arbeiten hatte ich in den vergangenen Wochen nur Zeit für schnelle Skizzen gefunden.

Dann der Aufbruch am Freitagmorgen. Wir passieren die verdreckten Ballungszentren um Tirana und Durrës, die mit den zwischen Müll, Beton und Schutt gesetzten Palmen an die Côte d’Azur erinnern, wie ich sie im Winter vor 36 Jahren erstmals sah. Bei diesem, mir noch immer vertrauten Anblick, erinnere ich einen internet-Artikel, in dem ein Reiseveranstalter das „kristallklare Wasser“ und die „unberührten Strände“ Albaniens anpreist. De facto handelt dieser Text von Anachronismen, Erfahrungsbildern aus vorindustriellen Zeiten. Selbst der bescheidenste Straßenhändler verpackt in Albanien heute seine Ware in Plastiktüten. Ich sehe nicht, wie sich die Umwelt ohne Müllvermeidung, und -entsorgung und die Inbetriebnahme von Kläranlagen erholen könnte.

Im Laufe unserer Fahrt in Richtung Süden aber gelang es der imposanten Landschaft die Zivilisation zu dominieren - mit jedem Kilometer in Richtung der griechischen Grenze ein wenig stärker, besonders sichtbar in den Gebirgen bis Gjirokastra. Wie auch Berat in Mittelalbanien beherbergt diese Stadt zudem Häuser aus früheren Jahrhunderten, eine Seltenheit in den Zentren dieses von kommunistischer wie kapitalistischer Ausbeutung gleichermaßen gezeichneten Landes. Zwischen den bunten Abfällen ihrer Konsum-Verpackungen und grauen Betonresten, die die Menschen auch hier überall hinterlassen, stehen noch zahlreiche Bauwerke aus osmanischer Zeit, teilweise aus dem 18. Jahrhundert. Viele von ihnen sind verlassen und verfallen, es werden aber sichtbare Anstrengungen unternommen, einen Teil der Altstadt zu retten. In den Gassen begegneten uns Schulklassen auf ihrem Weg zum Waffenmuseum in der alten Burgruine. Seit wenigen Jahren boomt hier der Tourismus. Das Basar-Viertel bot auch jetzt im Spätherbst neben allerlei Balkan-Nippes eine reiche gastronomische Auswahl. Nach einem guten türkischen Kaffee genossen wir in Defrim Gjocas winzigem Restaurant ein vorzügliches Abendessen mit feinen kleinen Leckereien voller würziger Geheimnisse.

Coco, die treue Gefährtin, teilte mit uns das gemütliche Zimmer über den Steindächern der Ruinenstadt. Um ein Uhr, und dann endgültig gegen Sechs, weckte sie mich mit Knurren und Bellen. Viele verwilderte Hunde streifen nachts umher an diesem wundersamen Ort. Barfuß betrat ich den knarrenden Holzboden. Belegt mit geometrisch gemusterten Teppichen fügte er sich ästhetisch in das frisch renovierte Ensemble aus Steinmauern, dunkel gebeizten Hölzern und hohen Fenstern. Mein Blick schweifte über das noch nächtliche Grau dieser alten, fast vollständig verlassenen Siedlung. Im klaren Bewusstsein, dass außerhalb meines Gesichtsfeldes in den Vierteln der Neustadt in diesem Augenblick abertausende Menschen in ihren Betten liegen, zusammengerollt in den Betonkuben der in die Hänge hineingegossenen Bunkeranlagen, haftete mein Blick trotzig an diesem Fossil einer wohlgestalteten, archaisch anmutenden Architektur.

Im Parterre erwartet uns später ein fast schon griechisches Frühstück – neben Honig und Joghurt stand auch Schafskäse auf dem groben Tisch! Dann rumpelte unser roter Citan, vollgepackt wie ein Ei, Gjirokastras steile Gassen bergabwärts. Uta nahm sicher Kurve um Kurve, bis wir einen Ausgang aus dem Labyrinth fanden und auf der Hauptstraße landeten. Von hier aus legten wir noch 34 Kilometer durch Wald und Bergtäler zurück, bis die Grenzstation in Sicht kam.

Hier warteten wir nur eine viertel Stunde und verfolgten beschämt, wie ein ebenfalls aus Albanien herangefahrener Reisebus vor unseren Augen komplett geleert wurde. Die Passagiere trugen alle ihre Gepäckstücke zu Fuß hinüber in eine blecherne Halle, wo Kontrollen durchgeführt wurden. Der Inhalt unseres Fahrzeuges dagegen interessierte niemanden. Unsere Dokumente wurden nur oberflächlich überflogen. Bevor wir nach Albanien einreisten, hatten wir viel Zeit, Geld und Nerven investiert, um für Coco noch rechtzeitig die notwendigen Papiere zu besorgen, die wir bei der Wiedereinreise in die Europäische Union benötigen würden. In Sichtweite der auf dicken Bündeln sitzenden Bus-Passagiere wurden wir uns wieder einmal schlagartig der weitreichenden Privilegien bewusst, die wir als deutsche Staatsbürger genießen dürfen – ohne eigenes Zutun.

Erleichtert rollten wir hinüber nach Griechenland, der philosophischen und historischen Wiege Europas. Alles ist hier anders und immer anders, immer neu, wie alles, was man jemals geliebt hat. Umgeben von grünen Hängen legten wir Kilometer um Kilometer zurück und fanden kaum noch Müllspuren neben der Fahrbahn.

Bald durchreisten wir Epirus und erreichten nach wenigen Stunden den Ambrakischen Golf bei Árta am Ionischen Meer. Hier beginnt Westgriechenland und die über viele Kilometer ausgreifende Mündung des mächtigen Flusses Achelóos, benannt nach dem ältesten Flussgott der griechischen Mythologie. Am Nachmittag dann kam die spektakuläre Brücke Géfyra Ríou-Andirríou in Sicht, ein auf schwimmenden Pfeilern ruhendes Monument, das griechische Festland mit der Peloponnes verbindend. Nur wenige Kilometer nach Osten, durch die Sträßchen der alten Stadt Náfpaktos, dann entlang der südseitigen Ufer des Kolpos, des Golfs von Kórinthos, und wir erreichten unser Ziel. Vorbei an zwei dürren Hunden, die bäuchlings hingestreckt vor einem Müllcontainer auf Nachschub warteten, schlängelten wir uns zwei enge Kurvenwindungen hinunter bis zu einer stillen Kapelle am Meeresufer.

Hier beginnt der kurze Halbmondstrand von Skáloma, unter seinen feinen Kieseln auch Steinmünzen, die sich hervorragend für den Flug über die Wasserfläche eignen. Mit Coco spazieren wir ein kurzes Stück im Wellenrauschen, bis Alménta erscheint, unsere Kontaktperson. Der Vermieter unserer Wohnung, ein Dirigent, lebt im fernen Athen. In eng geschnürter Schürze, braun befleckt, hat Alménta die Olivenernte unterbrochen, um uns lachend und giggelnd in radebrechendem Englisch, unterstützt durch beredte Gesten, mit dem Hausschlüssel und wichtigen Informationen zu versorgen. Gemeinsam schlagen wir die Fensterläden auf, lassen Licht und Meeresluft hineinströmen in den hohen Raum vor dem Kolpos. Wir verstehen: morgen werde sie uns zwei Liter frisches Olivenöl vorbeibringen. Welch ein Glück! Lauthals singend braust Alménta mit ihrem klapprigen Fahrzeug davon. Schon stehen unsere Nachbarn winkend am Gartenzaun, ein älteres, freundliches Paar. Auch sie sprechen Englisch. Vor der Armut und der Diktatur waren sie nach Kanada geflohen, haben dort die längsten Zeiten ihres gemeinsamen Lebens verbracht. Vor Jahren bereits sind sie zurückgekehrt an ihren Heimatort, zu ihren versteckten Zitronengärten und dem Kolpos. Während der warmen Monate vermieten sie einen Teil ihres Hauses an Sommergäste, die allesamt, genau wie wir, kein Griechisch verstehen.

Noch vor dem Sonnenuntergang nimmt Uta meine Hand. Unter den wachsamen Augen unserer braunpelzigen Gefährtin Coco balancieren wir schwankend über den Kiesstrand hinein ins noch herbstwarme Meer.

Sonntag, 17. November 2019 Skáloma, Efpálio, Fokída

Hinter dem Haus erhebt sich Stufe um Stufe das gewaltige Gebirgsmassiv des Parnassós, der heilige Berg des Gottes Apóllon. Von alters her leben hier die Musen, Göttinnen der Künste. Zum Malen, Zeichnen, Schreiben kann ich mir keinen besseren Ort vorstellen als Phokis hier in Mittelgriechenland, historische Landschaft unter dem Schutz der Götter.

Der Tag beginnt mit Morgengymnastik und dem sich anschließenden Schwimmen im Ionischen Meer, dessen Fluten den Kolpos füllen. Nach dem Duschen bringe ich das Frühstück in den üppig blühenden Garten. Wir sitzen unter einer wärmenden Sonne. Ich schreibe ein paar Zeilen an meine Tochter Teresa, die über das Wochenende an einem Aktzeichenkurs in München teilnimmt; dann beginne ich damit, Erinnerungen an Albanien niederzuschreiben.

Später am Vormittag führen wir Coco die Strände entlang, vorüber an blühenden Gärten aus denen Hunde bellen. Auf dem Rückweg vom Nachbarort Marathías kreuzen zwei freilaufende Exemplare unseren Weg. Die Nackenhaare aufgestellt, zeigen sie ihre Zähne, knurren, bellen, gehen dann zur Attacke über. Während Uta den Angreifern mit Stimmgewalt entgegentritt, entreiße ich dem nächstgelegenen vertrockneten Haufen am Wegesrand einen Prügel und stürme den wütenden Schreihälsen entgegen. Szenen wie diese kennen wir mittlerweile gut; in Albanien waren sie an der Tagesordnung. Coco kann sich allerdings nicht an die Randale gewöhnen, reagiert noch immer überrascht und defensiv, was wiederum unsere Beschützerinstinkte wachhält. Und wieder gelingt es uns, die liebe Gefährtin unversehrt auf das mit Zäunen geschützte Grundstück zu begleiten. Für die freilaufenden Hunde besitzen diese leicht überwindbaren Barrieren freilich nur eine rein symbolische Bedeutung, die sie nur so lange respektieren, wie die Frontlinie konsequent verteidigt wird. Wir halten es wie viele der Einheimischen und werden nur noch mit einem Stock bewaffnet aus dem Haus gehen.

Untertags widme ich mich den notwendigen Hausarbeiten, als plötzlich wilde Rhythmen, durchsetzt von Bouzoúki-Klängen und einer schmetternden Frauenstimme über die Stille der Bucht hereinbrechen. Alménta trägt strahlend wie eine Muse das versprochene Olivenöl ins Haus und trifft sich dann auf ein Pläuschchen mit unserer Nachbarin, die ihr lächelnd entgegentanzt.

Ich lege die Grundierungen für zwei Bilder an. In einem ersten Gemälde möchte ich die Eindrücke aus Albanien verdichtet niederlegen. Kaleidoskopartig soll aus den zahlreichen Bleistiftskizzen eine gemalte Metapher entstehen, damit der Kopf endlich frei wird für das Verarbeiten des plötzlichen Hinwegscheidens unseres Freundes Daniel, eine Formgebung der Trauer, Auseinandersetzung mit Verlust und Endlichkeit. Zugleich werde ich versuchen, Daniels Perspektive einzunehmen, die sich grundlegend von meiner unterscheidet. Über Jahre hinweg wurde er nicht müde, die Grenzen seiner physischen Existenz auszuloten, seinen Körper bewusst zu gestalten, das Innere nach außen zu wenden – so lange, bis er dieses Prinzip auf seine Kunst übertragen konnte, die er aus gutem Grund eine inversive Malerei nannte. Ich werde also einen Prozess des rhythmischen Perspektivwechsels beginnen. Er wird so lange andauern, bis ich mir ein Bild davon gemacht habe, wie ich den Verlust in ein Mitnehmen umwandeln kann. Ein Modell für dieses Vorgehen soll mir die Choreografie der suchenden Schritte geben, auf denen es gelang, meinen verstorbenen Bruder in mein fortbestehendes Leben zu integrieren. Eines der letzten Bilder, die ich von ihm malte, trägt den Titel „Dieter progrediens“. Es zeigt die Metamorphose, in deren Vollzug er in fortschreitender und sich ständig verändernder Form auf diesem Planeten weiterlebt.

Während die Leinwände trocknen, vertraue ich meinen Leib noch einmal den sonnenerwärmten Wellen des Kolpos an. Trotz der Medikamente, die ich regelmäßig einnehme, stürmt mein Blutdruck heute in ungesunde Höhen, freilich, um irgendwann wieder jäh hinabzustürzen. Während ich die Bucht diagonal durchschwimme, sinne ich darüber nach, ob ein Besuch beim Asklēpiós-Heiligrum im nahen Náfpaktos helfen könnte - und spähe von der Meeresseite hinauf zu den Höhen des Parnassós.

Mithilfe des frischen Olivenöls ist es keine Kunst, aus Kalamária und Melitzánes ein Festmahl zu bereiten: gebratener Kalmar auf Auberginen. Kaum hat sich das glühende Kreisbild der untergehenden Sonne in den menschengemachten Rahmen gesetzt, den die nahe Stadt Pátra mit der Ríou-Andirríou-Brücke bildet, kommt Kälte auf. Zum Abendessen ziehen wir uns hinter die schützenden Mauern des Hauses zurück. Nach dem Aufräumen der Küche platziere ich mich dann bis Mitternacht zum Schreiben an den Holztisch auf dem Fensterplatz der dezent gepolsterten und mit grünem Samt bespannten Bank, die den Raum in seiner ganzen Breite zur Nachbarwohnung hin abschließt.

Montag, 18. November 2019 Skáloma, Efpálio, Fokída

Trotz der kurzen Nacht weckt mich heute bereits gegen sechs Uhr ein starker, aber kurzer Regenguss. Bald hängen die grauen Wolkensäcke leer geschüttet über der Felskante und berühren fast das Dach unseres Hauses. Nach der Stunde, die über Gymnastik und Schwimmen verstreicht, hat dann ein strahlendes Blau alle Grauwerte vertrieben. Am Vormittag steuert Uta Pátra an, denn das Auto braucht einen Ölwechsel. Mit Coco erkunden wir ausgiebig die nördlichen Stadtviertel und Strände, genießen es, am Ufer zu lagern und hinüber auf das Festland zu blicken. Am Nachmittag kehren wir über die neue Brücke dorthin zurück.

Unter den warmen Winden ist die Wäsche getrocknet. Allerorts werden Oliven geerntet - Griechenland bietet uns vieles von dem, was wir ersehnt haben. Neben einem angenehmen Klima, der betörend schönen Landschaft und den geselligen und hilfsbereiten Menschen trifft das insbesondere auf Essen und Trinken zu. Unsere praktische Wohnung grenzt mit dem dazugehörigen Garten direkt an den Kiesstrand und das Grundstück der freundlichen älteren griechischen Nachbarn. Leider zwingt uns ihre Schwerhörigkeit heute eine Intensität der akustischen Teilhabe auf, die sich nur durch absichtliche räumliche Distanzierung ertragen lässt. Auf dem Strandabschnitt vor der westlichen Gartenseite begegnen wir dann einem Fischer, den wir grüßen, dessen Worte wir aber leider nicht verstehen.

Vor dem Haus breitet sich über dem schmalen Kieselstrand, der zum Steinchen-Werfen einlädt, ein durchsichtiges Meer aus. Wir können präzise ausmachen, in welcher Entfernung die Besiedelung des Grundes mit den schwarzen Seeigeln beginnt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Golfes von Kórinthos blinken nachts die Lichter der Dörfer auf der Peleponnes. Hinter unserem Garten aber türmen sich schwarz und mächtig immergrüne Büsche und Bäume bis hinauf zum Parnassós, auf dem die Musen wohnen.

Wir kochen ein Abendessen, setzen uns zum Speisen vor das schöne Meer in die milde Abendluft und lauschen dem Bellen der Hunde, die Gärten bewachen, in denen Orangen, Zitronen und Feigen residieren.

Dienstag, 19. November 2019 Skáloma, Efpálio, Fokída

Heute münden Gymnastik und Schwimmen in ein ausgedehntes Literarisches Frühstück, das sich inmitten eines warmen Sonnenkegels vor dem Haus entfaltet, eine Lichtdusche, deren elektromagnetischer Strahlenregen sich Minute um Minute ausdehnt und gleichzeitig verdichtet.

Der Hundespaziergang beschränkt sich auf ein wiederholtes Abwandern der kleinen Bucht, von der Kapelle im Nordwesten zum Wegesende im Südosten und zurück. Die drei in Sichtweite patrouillierenden Nachbarshunde bleiben heute friedlich. Vielleicht haben sie schon gefressen.

Uta setzt sich vor den Computer, schreibt Emails, recherchiert Routen und Etappen für die Fortsetzung der großen Reise im nächsten Jahr. Ich vertiefe mich in das Erarbeiten der inversiven Untergründe für Daniels Todes-Portrait. Während der Trocknungsphasen lege ich Zeichnungen und Hintergründe für das Albanien-Bild an, das ich „Kanun“ nenne. Die in diesem zerrissenen Land gewonnenen Eindrücke wiegen schwer.

Für sieben Euro ersteht Uta bei der fahrenden Fischverkäuferin zwei Doraden. Am Abend nehmen wir sie aus, grillen sie und kredenzen sie, umgarnt mit den Resten der letzten Mahlzeit auf dem schönen Geschirr unseres Gastgebers. In diesem Ambiente öffnen wir die letzte Flasche Crémant d’Alsace, ein Geschenk unserer Musikerfreunde Joëlle Kuhne und Christophe Formery aus Wangenbourg im Alsace.

Mittwoch, 20. November 2019 Skáloma, Efpálio, Fokída