33 Augenblicke des Glücks - Ingo Schulze - E-Book

33 Augenblicke des Glücks E-Book

Ingo Schulze

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Beschreibung

Die einzelnen Episoden dieses im besten Sinne elektischen Bandes erzählen von einer Stadt, die Generationen von Schriftstellern, Künstlern, Musikern - und Lesern - fasziniert hat. Einer Stadt, wo aus jedem Kanaldeckel die Geschichte hervorzuquellen und jede Mauer von einer frischen Patina überzogen scheint. Doch trotz dieser alles überlagernden Pracht des Vergänglichen, das nie vergeht - oder gerade ihretwegen - eignet sich 'Piter' vorzüglich als Projektionsfläche für Schulzes literarische Phantasien. Als Fremder hat er genau hingesehen und oftmals ein kleines Detail aus dem Alltag aufgegriffen, das sich in seiner geradezu überbordenden dichterischen Vorstellungskraft zu einer komischen, grotesken, manchmal auch tragischen Geschichte auswächst. Ein ausgeklügeltes Vexierspiel, das mit erzählerischer Verve die große Tradition der Petersburger Literatur aufgreift und zugleich eine ganz eigene, ganz unverwechselbare Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur präsentiert.

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INGO SCHULZE

33 Augenblicke des Glücks

Aus den abenteuerlichen

Aufzeichnungen der Deutschen in Piter

 

 

 

 

BERLINER TASCHENBUCH VERLAG

 

 

 

FÜR H. P.

 

ICH WILL es Ihnen erklären: Vor einem Jahr erfüllte ich mir einen langgehegten Wunsch und fuhr mit der Bahn nach Petersburg. Ich teilte das Abteil mit einer frisch frisierten Russin, ihrem Mann und einem Deutschen namens Hofmann. Die Russen sahen in uns ein Paar, und Hofmann, als der Übersetzer ihrer Fragen und meiner Antworten, ließ sie wohl in diesem Glauben. Ich weiß nicht, was er ihnen noch alles erzählt hat. Sie lachten unentwegt, und die Frau tätschelte meine Wange.

Auch in der Nacht blieb es schwül, die Hemden der Schaffner waren fleckig vor Schweiß, die Fenster beschlagen, schmutzig und im Abteil nicht zu öffnen – angeblich gab es eine Klimaanlage –, und wenn es nicht nach Desinfektionsmitteln stank, dann nach Klo und Zigaretten. Stahlbleche, wie Zugbrücken zwischen den Waggons herabgelassen, schlugen tarrara-tarrara-bsching, tarrara-tarrara-bsching aufeinander, wechselten beim Abbremsen zu tarrara-bsching-bschong, tarrara-bsching-bschong, bis die Puffer aufeinander prallten – unberechenbare, unablässige Stöße, so daß ich nicht schlafen konnte und auch am folgenden Tag, als die Hitze nachließ, wach lag. Wenn Hofmann nicht mit den Russen sprach, blickte er, den Kopf ins Kissen gedrückt, zum Fenster hinaus, wo sich zwischen sumpfigem Brachland und wüsten Wäldern hin und wieder Häuschen zeigten, blau und grün und schief in die Erde gedrückt, und aufgestapelte Scheite hell hinter abgebrannten Wiesen und getünchten Zäunen leuchteten. Von den gelben Fähnchen der Schrankenwärter war oft nur der Holzstab zum Salutieren übriggeblieben.

Am zweiten Abend, bereits in Litauen, lud mich Hofmann plötzlich in den Speisewagen ein. Wie er mir gegenübersaß, dunkelblond, fast grauäugig, mit einer Narbe unterm Kinn, wirkte er selbstsicher. Er bestellte ohne Speisekarte und putzte sein Besteck an den roten Gardinen. Auf die Frage jedoch, wie ein deutscher Geschäftsmann, für den er sich ausgab, dazu komme, mit der Bahn zu reisen, verlor er einen Moment lang alle Leichtigkeit. Er lächelte angestrengt und fixierte mich. Statt zu antworten, begann er weitschweifig von seiner Arbeit für eine Zeitung zu sprechen. Vor allem aber sei er, neben seiner Leidenschaft für den Karaokegesang, ein Literaturliebhaber.

Je weiter wir uns von meiner Frage entfernten, um so unbekümmerter erzählte er, um so phantastischer und unglaubwürdiger erschienen mir seine Geschichten. Er überschüttete mich mit weitausholenden und erläuternden Ratschlägen, was ich unbedingt noch zu lesen hätte, wobei er mich tief seufzend zu meinem Nichtwissen beglückwünschte. »Was du noch alles vor dir hast!« sagte er immer wieder. Wir aßen und tranken viel, es war spottbillig, und alles kam, wie es kommen mußte – tarrara-tarrara-bsching …

Ich erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Die Sonne schien grell, der Zug stand, eine Station namens Pskow. Hofmanns Bett war abgezogen, die Matratze zusammengerollt. Niemand wollte oder konnte sagen, wo er geblieben war. Wie gewonnen, so zerronnen. Mir war elend. Und so blieb es, selbst als ich diese Mappe, die nun vor Ihnen liegt, hinter meiner Handtasche entdeckte. Ich wußte weder, wie sie dahin gelangt war, noch was ich damit anfangen sollte. Erst wollte ich sie dem Schaffner geben, denn wer weiß, worauf man sich in seiner Unkenntnis einläßt. Dann aber begann ich zu lesen.

Bei allem, was wir einander erzählten, sprach Hofmann auch von täglichen Aufzeichnungen, die er von Petersburg nach Deutschland geschickt habe. Beim Schreiben – er sagte nicht, an wen – habe er sich mehr und mehr der Neigung hingegeben, die Erfindung anstelle der Recherche zu setzen. Denn für ihn, so Hofmann, sei etwas Ausgedachtes nicht weniger wirklich als ein Unfall auf der Straße. Ebenso muß er Geschäftsfreunde und Bekannte ermuntert haben, ihm Episoden zu schildern, was dem Westler in Rußland keine Schwierigkeiten bereitet.

Vielleicht erlag Hofmann auch mir gegenüber seiner Schwäche und fabulierte lieber, statt der Wahrheit die Ehre zu geben. Ich weiß es nicht und kann Ihnen kaum mehr sagen, als daß ich seit einem Jahr vergeblich versuche, ihn zu vergessen. »Und?« werden Sie fragen. »Was geht mich das an?« Als Sie so offenherzig über Ihre Pläne sprachen, kam mir der Gedanke, daß jemand wie Sie dafür sorgen sollte, die Mappe zu publizieren. Überarbeitet ergibt sie bestimmt eine recht kurzweilige Unterhaltung. Und wenn Hofmann noch lebt, wird er sich melden. Eine andere Möglichkeit, ihn wiederzufinden, sehe ich für mich nicht.

Ich bitte Sie herzlich! Leihen Sie diesen Phantasien Ihren Namen! Denn kein Verlag nimmt ein Buch ohne Autor. Die Leute brauchen Fotos, Interviews, sie sind hungrig nach Gesichtern und wirklichen Geschichten. Was bei Ihnen ein erwünschter Effekt sein könnte, wäre mir lästig. Zum einen fühle ich mich der Sache nicht gewachsen, zum anderen gefährde ich ungern meine berufliche Stellung. Sie dagegen haben literarischen Ehrgeiz, sind befähigt zum Umgang mit Texten und verfügen über Freunde, die Ihnen hilfreich zur Seite stehen werden. Vielleicht verdienen Sie auch etwas Geld dabei.

Freiburg i. Br., am 25.6.94

 

Ich habe diesen Brief, leicht gekürzt, vorangestellt, weil er mich aller Erklärungen enthebt. Trotzdem möchte ich anmerken, daß materielle Erwägungen bei der Übernahme der Herausgeberschaft im Hintergrund standen. Wäre ich nicht zu der Überzeugung gelangt, daß die hier versammelten Aufzeichnungen über einen bloßen Unterhaltungswert hinausgingen und die Möglichkeit in sich trügen, die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks zu beleben, hätte ich von dieser Aufgabe Abstand genommen.

I. S.

Berlin, am 10. 6. 95

 

FRAUEN WIE MARIA begegnet man nur in Illustrierten und Werbespots. Abends wechselte sie im Foyer des Hotels Sankt Petersburg, in dem ich anfangs wohnte, von einer weißen Sesselgruppe zur anderen, als bewegte sie sich in einem Möbelgeschäft. Manchmal verschwand sie für fünf Minuten, aber jedesmal kam sie wieder, und jedesmal war sie allein.

Auf dem Weg in die Hotelbar sprach ich sie an, und so traten wir schon als Paar ein. Maria wurde fröhlich und noch schöner. Sie hatte tatsächlich auf mich gewartet. Der Barkeeper zog mich den anderen Gästen vor, und ich kehrte in Marias Blickbahn voller Erfolg an unseren Tisch zurück, ohne einen Schwapp aus den Gläsern verloren zu haben. Selbstvergessen verfingen sich ihre Finger in der Silberkette über dem Dekolleté, und ihre langen Nägel zogen Striemen auf dieser unglaublichen Haut, die über den Knien genauso rein aus ihrem roten Kleid wieder auftauchte. Ich bediente sie mit ihrem Feuerzeug, damit sie nicht abgelenkt wurde im Erzählen über Margarita und Lolita, über den Vergleich von Soschtschenkos Sprache mit der Platonows, und meine Hände lagen flach auf dem Tisch, während sie Puschkin und Brodsky rezitierte, als stellte sie ein Menü nach dem Alter der Weine zusammen. Sie hatte Zeit für mich, als warte kein Fußballstar oder Sänger, kein Abgeordneter oder Kapitän auf sie, und ich wußte: Petersburg, das sind ihre dunklen Augen. Wie Sterne sollten sie mir über der Stadt stehen, egal, was mich noch erwartete.

»Erzähl von dir«, sagte Maria, drückte ihre Hand auf meinen Arm und küßte mir behutsam die Finger. Ich war erschienen, um Maria zu retten. Sie wußte nicht, wer ihr Vater war. »Vielleicht ein Italiener«, sagte sie und hob mir ihr schwarzes Haar mit dem Handrücken entgegen.

Maria würde eine Wohnung für uns suchen, wir könnten zusammenleben und morgens umschlungen aufwachen. Ich würde ihren größten Wunsch erfüllen und ihr ein Auto kaufen. Zusammen würden wir durch die Stadt und ans Meer fahren, tanzen gehen, Schuhe kaufen, ihre Mutter besuchen und reisen, zuerst nach Amsterdam, und mit ihrer Freundin die Hochzeit feiern, und dann nach Italien.

Zwei Stunden saßen wir zusammen, der Barkeeper gab uns seinen Segen, und ich hätte ihn gern um zwei seiner goldenen Ringe gebeten. Wieso hatte Maria gerade mich erwählt? Sie ließ ihre Hand auf meinem Knie ruhen, nahm dann meinen Zeigefinger, der ihr Schlüsselbein auf und ab fahren sollte, und ich küßte die kleinen Mulden neben ihrem Hals, so daß sie die Schultern hochzog und die Augen schloß.

Mir war es peinlich, ihr Geld anzubieten, und sie nickte nur, wie man eben so nickt.

Nach fünf Minuten folgte mir Maria aufs Zimmer, nach zwanzig Minuten war sie wieder aus dem Bett.

»Milizija«, erklärte sie niedergeschlagen. Sie war schön bis in die Kniekehlen und bewegte sich auf der Suche nach ihrem Kleid so unbekümmert durch den Raum, als hingen ihre Sachen hier im Schrank.

Während ich an den Wasserhähnen drehte, setzte sich Maria auf die Toilette und versprach, für morgen früh ein Taxi zu besorgen. Wir würden uns wiedersehen und nach Pawlowsk fahren.

Kaum hatte sie mich verlassen, als jemand gegen meine Zimmertür schlug. Die Etagendame hielt Maria am Handgelenk fest. Ich erklärte, alles sei in Ordnung, es fehle nichts. Dann knallte die Tür wieder zu.

Zwei Wochen lang wartete ich morgens und abends in den weißen Sesseln auf Maria. Aber sie kam nicht. Ich fragte den Barkeeper nach ihr, den Taxifahrer, der mit ihr getuschelt hatte, die Etagendame. Vielleicht hatte man sie verschleppt, vielleicht war sie gar nicht mehr am Leben, oder ein alter Liebhaber war aus Sibirien zurückgekehrt. Noch lange fuhr ich abends von meiner Wohnung ins Hotel. Keine der anderen Frauen und Mädchen konnte sich mit Maria messen. Keine wußte etwas von ihr.

Nach einem dreiviertel Jahr sahen wir uns am Eingang des Europa-Hotels wieder. Maria hatte zwei Sterne zugelegt und Hunger. Wir setzten uns in den Innenhof, tranken Kaffee und aßen Bockwurst. Nach einer Stunde gab es kaum noch freie Plätze. Wir bezahlten wie Studenten, jeder für sich, küßten uns zum Abschied dreimal wie die Russen, und Maria begann ihre Arbeit wie eine Verliebte.

 

»SERJOSCHA, komm heim! Serjoscha, hörst du, komm heim!« Valentina Sergejewna kniff die Augen zusammen. Noch eine Stunde, und sie sähe nicht einmal mehr die Hand vor der Nase. »Serjoscha!« Valentina klatschte in die Hände. Zwei Hennen äugten im Profil zu ihr herüber und pickten dann wieder.

»So geht das nicht weiter!« platzte Valentina heraus und setzte sich an den Küchentisch. »Seit Wochen höre ich kein Wort von ihm, kein Guten Morgen, kein Gute Nacht, er sieht mich nicht an, trinkt nur die Wasserleitung leer und legt sich schlafen, fällt völlig vom Fleisch, der Junge!«

»Besser, als wenn er nachts den Keller leer frißt«, erwiderte Pawel, strich dick Butter aufs Brot und schob es mit dem Daumen an ihren Teller.

»Los!«

Valentina griff nach der Teekanne und füllte beide Tassen. Das krause Haar ihrer Achselhöhlen drängte unter den kurzen Ärmeln der Schürze hervor.

»Wäre er dein Enkel, würdest du was tun!« sagte Valentina. Sie begannen zu essen.

»Ach was, jeder Fresser ist zu viel!«

»Faschist«, flüsterte Valentina.

Pawel schlug mit der Hand aus und traf sie am Kinn. Ein Gurkenstück flog auf Valentinas Schoß. Noch bevor sie zu weinen begann, war Pawel aufgestanden, drückte ihr die flache Hand gegen die Stirn und spuckte auf ihren halboffenen Mund. Er zögerte noch einen Moment. Valentinas Gesicht zog sich zusammen … An ihrer Oberlippe klebte Butter. Dann ging er hinaus.

Lange saß Pawel auf dem Holzklotz neben dem Schuppen. Die Zigaretten lagen in der Küche, seine Latschen noch unterm Tisch. Vor der Abendsonne färbten sich die Wolken blau. Pawel mußte nachdenken.

»In einer Stunde ist es finster wie im Arsch von Lenin«, sagte er zu seinen Fußspitzen.

Der entfernte Lärm von der Chaussee Petersburg-Nowgorod gehörte schon zur Stille. Nur wenn es hupte, war die Straße wieder da. Ohne vom Holzklotz zu rutschen, klaubte Pawel kleine Steine in die linke Hand und richtete sich wieder auf. Zwei Hennen pickten zwischen den Zaunlatten und reckten ihren Steiß empor.

»Feuer!« rief Pawel und schoß das erste Steinchen.

»Wuih!« Es knallte gegen den hellblauen Zaun, dessen Spitzen er weiß gepinselt hatte.

»Zwei Strich tiefer, drei rechts, Feuer!« Das Steinchen pfiff durch die Latten und verschwand lautlos im Feld dahinter.

»Feuer!« befahl Pawel.

»Zu tief, Feuer! Dauerfeuer!« Er zielte nicht mehr.

»Wuih, wuih, wuih, wuih, ureeeeeeh.« Die Hennen rannten, gackerten, flatterten den Zaun entlang, fanden aber keine Lücke, plusterten sich auf wie bei Unwetter – und wurden im nächsten Moment wieder klein und schmal, machten in der Ecke kehrt und wackelten zurück.

»Halt’s Maul!« Noch zwei Schuß, und Pawels linke Hand gab nichts mehr her. Die Hennen stoben auseinander.

»Mistviecher! Gegner vernichtet!«

Pawel hatte Hunger und Lust, irgend etwas zu töten. Aber selbst fünf Hennen legten nicht genug, und bald war Winter. Im Gemüsegarten von Valentina Sergejewna riß er einen Kohlrabi aus, brach die Blätter ab, wusch den Rest in der Regentonne und hieb ihn mit dem Spaten entzwei. Abwechselnd nagte er an den Hälften.

»Pfuuh!« Pawel spuckte aus und setzte sich wieder auf den Klotz. Hatte er etwas abgebissen, kaute er darauf herum, bis der Saft heraus war, streckte die Zunge mit dem holzigen Rest vor und wischte mit dem Handrücken über seine Lippen.

»Ein fetter Arsch, ein saftiger Arsch, ein weißer Arsch«, ermunterte er sich und preßte die Schenkel zusammen. Ohne Eile hob er den rechten Unterarm quer über den linken und zerdrückte eine Mücke. »Was turnst du da auch herum«, rügte Pawel. Langsam wurde ihm besser. Er rieb sich zwischen den Beinen. Der Kohlrabi klebte. Mit den Handrücken drückte er gegen seine Leisten und grätschte die Beine.

»Kommando zurück!« Wieder rieb er, wartete und schob mit den Händen seine Knie auseinander – sein Glied stieß gegen den gespannten Stoff der Hose. Pawel war mit sich zufrieden. Er stellte die Beine wieder nebeneinander, warf den Kohlrabirest gegen den Zaun, traf sogar den alten Hühnertopf und legte beide Hände an seinen Steifen. Pawel grunzte wie beim Einschlafen. Über dem Wald zog sich noch ein heller Streifen durch die Wolken. Im Grau des Himmels kreiste ein Bussard. »Beng, beng, beng, beng!« Pawel zielte und hielt seinen Lauf umschlossen. Bei jedem »beng« zuckten die Hüften. »Nicht entschärfen, Pascha, nicht entschärfen. Halt dich trocken, Pascha, beng, beng, beng, beng!«

Pawel staunte, daß er neben dem Holzklotz stand. Nun setzte er sich wieder, ohne loszulassen. »Bebebebebebebem.«

Vom Wald kam Serjoscha. Er rannte. Pawel sah die spitzen Knie wie einen Heuwender über dem hohen Gras auf- und abtauchen. Serjoscha war tatsächlich in den sechs Wochen seit seiner Ankunft abgemagert. Das Hemd hatte er ausgezogen und hielt es wie einen Sack in der Hand. Schon von weitem sah Pawel die Rippen des Jungen. Nur Serjoschas Kopf war gewachsen.

»Laufende Scheibe«, murmelte Pawel, kniff ein Auge zu und schlug sein rechtes über sein linkes Bein. So spürte er sich selbst warm und fest an den Schenkeln.

»Onkel Pascha!« krähte Serjoscha, winkte ihm zu mit dem freien Ärmchen und strich sich die Haare aus der Stirn. Im Lauf stieß er die Lattentür zum Hühnerhof auf.

»Onkel Pascha!« Serjoscha keuchte und rannte auf den Mann zu, der seit zwei Jahren bei seiner Großmutter untergekommen war. Pawel stand auf, den Oberkörper nach vorn gebeugt, und schob Serjoscha wieder von sich. Sie hatten sich noch nie umarmt.

»Onkel Pascha, ich hab’s, schau mal!«

Direkt vor Pawels knochigen Zehen breitete Serjoscha sein Hemd aus, in dem eine Handvoll groben Pulvers lag, dunkel, dazwischen Klümpchen. Serjoscha hustete.

»Ich werd dir alles erklären, Onkel Pascha, alles, die ganze Wahrheit!« sprudelte Serjoscha hervor, ohne den Blick von seinem Schatz zu wenden.

Pawel sah hinab auf den Haarwirbel des Jungen, auf seinen dürren Hals, die Schultern, den verschwitzten Rücken und das Stück Poritze über dem Gürtel.

»Onkel Pascha, setz dich doch, bitte setz dich, ich erkläre dir alles, die ganze Wahrheit, zehn Minuten, Onkel Pascha, fünf, bitte!«

Pawel nickte, blinzelte wie immer, wenn er etwas nicht verstand und setzte sich wieder.

»Probier mal, Onkel Pascha, es schmeckt, es schmeckt wundervoll!« Serjoscha hielt ihm ein kleines Krümelchen direkt vor die Lippen. Pawel nahm es zwischen die Finger, schob es in den Mund und kaute.

»Knusprig«, sagte er.

»Nicht wahr!« Serjoscha sah glücklich auf, »und süß, süß wie Zucker.«

Pawel kaute lange und schluckte mühsam.

»Ich erzähl’s dir, die ganze Wahrheit, Onkel Pascha, dir zuerst. Alles.« Serjoscha setzte sich vor das Hemd. Auf seinem Bauch erschienen zwei winzige Fältchen.

»Nimm dir, Onkel Pascha, bitte, bedien dich!«

Pawel klaubte sich zwei Bröckchen heraus und futterte sie aus der linken Hand.

»Wie Sonnenblumenkerne«, murmelte er und wischte sich über die feuchten Lippen.

»Bei euch ist es schön, Onkel Pascha, aber wenn ich an meine Abfahrt, wenn ich an Petersburg denke, muß ich gleich aufs Klo. Das macht mich fertig, Onkel Pascha, kennst du das?«

Pawel starrte auf die Krümel zwischen ihnen. Heute früh hatte ihm Valentina, ans Waschbecken geklammert, ihren Hintern entgegengestreckt. Fast hätte sie den Bus nach Nowgorod verpaßt.

»Vor Kummer und Angst kann ich mich nicht rühren«, fuhr Serjoscha fort, »und dann wird die Kacke hart, und nach einiger Zeit ist sie kalt und wie ein Körper, der nicht zu mir gehört, aber mich berührt, Onkel Pascha, schrecklich ist das!« Serjoscha forschte in Pawels Gesicht. »Das wollte ich nicht mehr, Onkel Pascha«, begann Serjoscha wieder, »ich wollte nicht mehr kacken müssen! Dieses Gefühl kennt jeder, nicht wahr, jeder, aber niemand spricht darüber, keiner will es sagen, weil es so schrecklich ist, stimmt’s? Aber warum nur, fragte ich mich, habe ich, haben alle solche Angst davor? Es kommt doch von einem selbst, ist ein Stück von mir, also kann es doch nicht schlechter sein, als ich es bin!«

Pawel nickte.

»Das wußte ich schon lange«, strahlte Serjoscha, »aber heute habe ich von einem alten Haufen gekostet, er war von mir, und es schmeckt, Onkel Pascha, nicht wahr? Es schmeckt süß! Weißt du, was das bedeutet, daß es süß schmeckt? Ich muß keine Angst mehr haben, niemand muß mehr Angst haben, ist das nicht herrlich, Onkel Pascha?«

»Ich kenne das«, sagte Pawel und stand auf. »Komm!« Er wusch seine Hände in der Regentonne und rieb sie am Hosenboden trocken.

Serjoscha packte sorgsam sein Hemd zusammen. Noch einmal versuchte er, Pawel zu umarmen. Dann gingen sie ins Haus.

Valentina Sergejewna war schon im Bett. Pawel blieb an der Zimmertür stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.

»Is was?« fragte Valentina Sergejewna.

»Ich hab mit dem Jungen gesprochen, der ist in Ordnung.« Pawel löste den Gürtel und ließ die Hose an sich herabfallen.

»Morgen frühstücken wir zusammen.« Er stieg aus der Unterhose und trat ans Bett. Mit einem Ruck riß er die Decke weg. Valentina Sergejewna hockte auf dem Laken und streckte ihren weißen Hintern in die Luft.

»Komm, mein Hitler, komm«, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen.

WIE OFT hatten wir zu den Rundbogenfenstern aufgeschaut, deren samtene rote Vorhänge die Zimmer verhüllten wie ein kostbares Geschenk. Wie oft hatten wir versucht, uns den triumphalen Blick vom Balkon der zweiten Etage auf die Anitschkow-Brücke vorzustellen, oder, je nach Kopfwendung, den Newski hinab oder hinauf oder auf die Anlegestelle vor uns unter den Pappeln. Den flachen Schiffen wären unsere Augen bis zum Scheremetjew-Palais gefolgt oder, in entgegengesetzter Richtung, bis zur Fontanka-Biegung. Aus diesen Räumen an die schmiedeeiserne Balkonbrüstung zu treten, kam der Abnahme einer Parade gleich und würde unweigerlich die Huldigung der Menge hervorrufen, die hier, von Ampeln gestoppt, zu unseren Füßen verweilte. Es war nicht zu bestreiten: Wer an dieser Stelle der Stadt über den Köpfen der Menschen erschiene, besäße ein Charisma, wie es sonst nur die Geburt verleiht. Und von hier sollte die Tafel mit dem Schriftzug unserer Zeitung leuchten.

Die Besitzer der Wohnung hatten sich hinhalten lassen, sie hatten sich in unglaublicher Weise ein halbes Jahr hinhalten lassen, und es schien sich zu bewahrheiten, was ich immer geahnt hatte: Solche Gemächer betritt unsereiner nur im Traum oder als Gast. Dann aber waren die vierzigtausend Dollar gekommen, und Ende April zogen wir die Vorhänge von den Fenstern zurück.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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