6. Bubenreuther Literaturwettbewerb - Christoph-Maria Liegener - E-Book

6. Bubenreuther Literaturwettbewerb E-Book

Christoph-Maria Liegener

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Beschreibung

Dies ist die Anthologie zum sechsten Bubenreuther Literaturwettbewerb. Als ein Online-Wettbewerb konnte er auch in Corona-Zeiten stattfinden und die Beteiligung war großartig. So sind wieder eine ganze Menge guter Texte zusammengekommen, von denen die besten hier präsentiert werden. 336 Texte wurden ausgewählt, die eine bunte Vielfalt garantieren. Sie spiegeln den Wettbewerb treffend wider, wobei drei davon als Siegertexte ausgezeichnet worden sind. Persönliche Kommentare des Herausgebers zu vielen Werken runden das Bild ab.

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Seitenzahl: 503

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Christoph-Maria Liegener (Hrsg.)

6. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2020

© 2020 Christoph-Maria Liegener

Herausgeber: Christoph-Maria Liegener

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

Druck in Deutschland und weiteren Ländern

ISBN:

978-3-347-17503-7 (Paperback)

978-3-347-17504-4 (Hardcover)

978-3-347-17505-1 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Das Copyright der einzelnen Texte liegt bei den jeweiligen Autoren. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autoren und des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Vorwort

Die Siegertexte

Erster Platz: Gisela Verges

Zweiter Platz: Ralf Raabe

Dritter Platz: Angelika Lichteneber

Weitere ausgewählte Werke

Jutta v. Ochsenstein

Hans-Joachim Kuhn

Torsten Krippner

Roland Ruether

Wolfgang Rinn

Kurt Blessing

Lieselotte Degenhardt

Mona Ullrich

Werner Siepler

Christian Engelken

Thomas G. Vömel

Thees Schagon

Xenia Hügel

Herbert Glaser

Werner Krotz

Heiko Thomsen

Hermann Ruf

Jürgen Rösch-Brassovan

Ralf Hilbert

Frank Knollmann

Paul Fehlinger

Andreas Kircher

Timo Mezger

Tanja Wagner

Vivien Hagedorn

Siegfried Depre

Ulrike Tovar

Gisela Baudy

Svenja Volpers

David Freudenhammer

Bernd Großmann

Jan D. Stechpalm

Dörte Müller

Michael Kothe

Christiane Schwarze

Thomas Berger

Ulrike Grömling

Kurt Neumeyr

Heiner Brückner

Helmut Rinke

Christopher Lischka

Annemarie Aichele

Helmuth Schönig

Joshua Clausnitzer

Michaela Ortis

Doreen Jaafar

Jens-Philipp Gründler

Rainer Daus

Elisa Daniels

Regina Levanic

Josefine Kleine

Serena Popp

Aliena Schuler

Manuel Otto Bendrin

Stephan Richter

Vera C. Koin

Nina Felber

Ana Alamo

Sabine Reifenstahl

Georg Fox

Besim Xhelili

Nadine Buch

Jutta Gornik

Harry Krumpach

Peter Will

Wolfgang Wörz

Katarina Hirsemann

Claudia Poschgan

Katharina Hadinger

Rolf Blessing

Harsch Pit

Antje Pollok-Giese

Susanne Rzymbowski

Patrick Zarske

Damaris McColgan

Karin Posth

S.M. Syrch

Elisabeth Rosche

Franziska Dittert

Roland Rothfuß

Ingeborg Henrichs

Birgit Sonnberger

Lisa Bruckner

Christa Issinger

Arthur Haake

Erich Spöhrer

Florian Esser-Greassidou

Kevin Coordes

blume (michael johann bauer)

Marion Decker

Anne Florack

Lisa Deutschmann

Katharina Zanon

Sandra Brückner

Günther Peer

Sylvia Kaleta

Kerstin Fischer

Karsten Ricklefs

Helene Rose

Gertrud Scherf

Herbert Kuboth

Martina Körber

Jaqueline Kase

Carsten Stephan

Frauke Thimme

Yvonne Tunnat

Maxi Fiedler

Giuseppe Corbino

Andrea Schmidbauer

Ludmilla Pettke

Irmgard Wackerzapp

Elfi Pauli

Christian Heil

Jessica Pietschmann

Guido Blietz

Cindy Jegge

Karin Wüste-Sallouh

Jutta Schönberg

Ralf Penzkofer

Annerose Scheidig

Leonid Nisnevitsch

Jenny Schon

Franz Schart

Evelyn Langhans

Andrea Voigt

Michael Lehmann

Fritz Berger

Gernot Weise

Karin Leroch

Inge Jung

Laura Bruning

Syna Saïs

Anne Stolle

Lothar Nietsch

Florian Birnmeyer

Rüdiger Butter

Winfried Dittrich

Lena Elster

Rudolf Köster

Daniela M. Ziegler

Hannelore Futschek

Gerd Meyer-Anaya

Wolfgang Böhler

Sophia Fürst

Helga Licher

Laura Bormann

Karen Schröder

Mariella Köchl

Andreas P. Tauser

Angela Schwarz

Laura Schiele

Jeanette Overbeck

Sabine Gelsing

Renate Müller

Isabell Maria Herzog

Manuela Nimmervoll

Reinhard Strüven

Melek (Pseudonym)

Katharina Körting

Heinz-Helmut Hadwiger

Spunk Seipel

Luisa Sonkol

Jessica Hermann

Claudia Striedieck

Tankred Kiesmann

Marie Rohde-Terlinden

Julia Thandiwe Felder

Anna-Lena Brandt

Sylvia Bacher

Adalbert Alexander Stepien

Maria Reuber

Wolf Hamm (Wolfgang Hammer)

Sabine Reyher

Markus Soike

Lars Widmann

Franck Sezelli

Lean Malin Wejwer

Zilla Berg

Heinz Kröpfl

Nicole Leonas

Christine Roth

Stefan Mangold

Erwin Macher

Claire Walka

Kirstin Schwab

Alexander Paukner

Marita Kopfstein

Angela Ahlborn

Verena Stegemann

Gabriele Grausgruber

Harald Seredzun

Tom Reichelt

Yasemin Sezgin

Hanna Bertini

Daniel Mylow

Dagmar Dusil

Laura Prüfer

Yvonne Balg

Alexander Beer

Anna Baumhof

Claudia Bröcker

Barbara Braun

Ralf Preusker

Wolfgang Matschl

Clemens Schittko

Norbert Schäfer

Matthias Eck

Sophia Reidel

Christiane Weber

Sonja Kaboth

Claudia Windirsch

Falk Andreas Funke

Heinrich Dörflinger

Didi Costaire

Inga Adams

Hannes Garbe

Michael Köhler

André Riedl

Christina Schößler

Dyrk-Olaf Schreiber

Leonard Macovei

René Gröger

Sofie Morin

S. Graven

Christina Meyers

Fritz Herbst

Ingrid Reidel

Sophia Lucy Maine

Sigrid Wenzel

Monika Loerchner

Teresa Zwirner

Helen Hermens

Anke Goebel

Thyra Thorn

Kathrin Freder

Jochen Stüsser-Simpson

Jessica Wapenhensch

Harald Gesterkamp

Renate Wunderer

Andreas van Hooven

Florian Haider

Waltraud Zechmeister

Axel Schöpp

Sarah Herrmann

Michael Zagorec

Katherine Still

Manuela Ulrich

Claudia Dvoracek-Iby

Anja Pachali

Laura Edel

Saskia Heegardt

Andreas Köllner

Ekaterina Neff

Selina Kissmann

Stefan Hölscher

Brigitte Bohlscheid

Lukas F. Ziegler

David Schneider

Martina Kaesbach

Ernst-Diedrich Habel

Wolfgang Rödig

Karl-Martin Harms

Mateusz Gawlik

Martina Sens

Astrid Holzmann-Koppeter

Sabine Albert-Brady

Nina Waldkirch

Patrizia Finzel

Andrea Prem

Lavinia Plank

Günther Pilarz

Saskia Wyss

Michaela Schrimpf

Monika Gröger

Svetlana Sekulic

Eckhard Weise

Felix Buehrer

Lukas Knes

Christine Langer

Kathrin Lotkov

Angélique Duvier

Anke Stroman

Simon Bernart

Helmut Beushausen

Margit Günster

Thomas Maria Mayr

Christina M. Erdmann

Natascha Handy

Barbara Balbierz

Mona Ullrich

Nadja Felscher

Monika Hürlimann

Maximilian Fischer

Rieke Reimann

Nils Klinke

Robert Oertel

Iris Schoell

Micul Dejun

Luis Probst

Karolin Billing

Fiona Bennecke

Juliane T. Zimmermann

Gusto

Alina Rupp

Margarita Kinstner

Nicole Hettegger

Miriam Rürup

Jana Kretzschmar

Finn Lorenzen

Jasmin Schellong

Tina Ludwig

Elisabeth Ebenberger

Philine Galka

Frank Dietrich

Adrian van Schwamen

Janine Schröter

Saskia Bannister

Merle Beez

Ines Geishauser

Bernd Daschek

Inga Knörig

Stefanie Fechter

Elena C.M. Tüx

Tobias Grimbacher

Sabina Fudulakos

Ronald Zieger

Julia Jagoda

Erich Pfefferlen

Kaia Rose

Viola Rosa Semper

Aylin Ünal

Mirja Feyerabend

Petra Ottkowski

Vorwort

Dieses Jahr gelten besondere Umstände: Die Corona-Krise lähmt das tägliche Leben. Eigentlich sollte man dadurch mehr Zeit zum Schreiben haben, aber was, wenn einem die Eindrücke, die Anregungen fehlen? Andererseits treten neue Erfahrungen an die Stelle der alten. Was für eine Umstellung unseres Lebens! Was für ein Gemeinschaftserlebnis! Weltweit ziehen die Menschen an einem Strang, vereint im Kampf gegen das Virus. Natürlich gibt es auch die Leugner, aber die Resonanz der Mitmachenden ist gewaltig.

Was man von einem Literaturwettbewerb erwartet, ist allerdings Kontinuität. So ist von Corona in den Texten nur vereinzelt etwas zu lesen. Hier überwiegt die Sehnsucht nach der „heilen Welt“. Und letztlich hoffen wir doch alle, dass wir diese unsere Welt irgendwie erhalten können. Das ist gar nicht so einfach. Es gibt viele Bedrohungen, nicht nur Corona. Viel Unglück wird noch aus dem kommenden Klimawandel entstehen. Wenn wir da so zusammenstehen könnten wie gegen das Corona-Virus, hätten wir vielleicht noch eine Chance. Aber wahrscheinlich ist es sowieso zu spät.

Die Literatur sollte sich dadurch nicht beeindrucken lassen und sie tut es nicht. Im Gegenteil wünsche ich uns allen, dass wir in der Literatur Trost finden, dass wir sie genießen können. In der Vergangenheit ist es aus der Mode gekommen, dass Literatur „schön“ sein soll. Es ist an der Zeit, das wieder zu ändern. Für mich ist die Schönheit der Literatur wichtiger als jede noch so kunstvolle Wendung. Das muss ja kein Widerspruch sein. Kunstvolle, ja sogar „moderne“ Formen können auch schön sein. Letztlich kommt es immer auf die Prioritäten an. Dann gilt, was manchmal scherzhaft über Wein gesagt wird: „Es gibt nur zwei Sorten: ‚Schmeckt mir‘ oder ‚Schmeckt mir nicht‘.“ Darauf läuft es am Ende hinaus, auch wenn man noch so viel theoretisiert.

Ein praktischer Aspekt soll nicht unerwähnt bleiben: Zu „kunstvolle“ Texte sind anfällig für Übertragungsfehler. Wenn jeder Buchstabe hinterfragt und potenziell wichtig wird, wenn die Regeln von Syntax und Grammatik aufgebrochen werden, verschwindet die Redundanz, die für die Stabilität des Textes gebraucht wird. Es gibt nun einmal Druck- oder Tippfehler. Es wäre doch schade, wenn durch solch einen Fehler die Essenz des Werkes verloren ginge.

Davon abgesehen grenzt es schon an Narzissmus, jeden seiner Buchstaben für signifikant zu halten. Hinzu kommt, dass absichtliche Regelwidrigkeiten eine einzige Katastrophe für die Ästhetik darstellen. Nochmal: Es geht nicht um die Selbstdarstellung des Autors, es geht um den Leser.

Hier nun das Ergebnis des Wettbewerbs.

Wieder galt: Eine Vorschrift bezüglich des Themas oder der künstlerischen Form gab es nicht. Bis auf die Länge. Dazu gleich mehr. Lyrik und Prosa waren gleichermaßen erwünscht. Alles, was nicht offiziell verboten oder unanständig ist, durfte eingereicht werden. Das sollte keine Einladung zum Tabubruch sein. Die Zeiten, in denen die Erfolgreichen ihre Umgebung schockieren mussten, um Aufmerksamkeit zu erheischen, sind glücklicherweise vorbei.

So geht es denn in dieser Anthologie wieder einmal eher um ästhetische Aspekte als um theoriegeladene Experimente. Noch einmal: Die Texte sollen schön sein und gefallen. Sie dürfen es! Dies ist eine freie Welt. Dafür kann man dankbar sein.

Dementsprechend stellt die Prämierung in diesem Wettbewerb kein absolutes Qualitätsurteil dar. Schlechte Texte fallen schnell heraus, aber gerade bei den guten entscheiden manchmal ganz nebensächliche Aspekte. Die verschiedensten Kriterien spielen eine Rolle. Dazu gehört auch, dass unerfahrene Autoren/Autorinnen ihre Chance bekommen sollten.

Kann es so etwas wie ein Qualitätsurteil bei Kunst überhaupt geben? Shakespeare wusste: „Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Die Bewertung hängt natürlich vom Bewerter ab. So wird jeder ein vorgelegtes Stück Literatur anders beurteilen. Das ist wiederum für abgelehnte Einsender tröstlich. Sie können sich einfach sagen: „Es hat halt dem Herausgeber nicht gefallen. Mir gefällt’s trotzdem.“ Recht so.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass es eine wahre Kunst gibt, die (fast) alle überzeugt. Die Menschen erleben dabei etwas Zugrundeliegendes, Tieferes, das ihnen Perspektiven öffnet, die sie wiederzuerkennen glauben. Schon Plato vertrat diese Meinung. Wenn also der Herausgeber nach bestem Wissen und Gewissen seine Entscheidungen trifft, kann er eine gewisse nicht ganz unberechtigte Hoffnung hegen, dass andere seine Wahl billigen werden. Wenn auch nicht müssen.

Wie in den vergangenen Jahren bleibt die Verantwortung für die Texte allein bei den Autoren. Kleinere Korrekturen mögen in Einzelfällen vorgenommen worden sein, aber der ursprüngliche Eindruck sollte erhalten bleiben.

Es herrscht Meinungsfreiheit. Der Abdruck eines Textes bedeutet nicht automatisch seine Billigung.

Auch dieses Jahr wurde wieder die Zahl der Zeichen pro Einsendung auf 3000 inklusive Leerzeichen begrenzt. Das hat nicht allen gefallen, aber es war notwendig. Es hat sich bewährt.

Der Aufbau der Anthologie folgt dem bekannten Schema: Mit den Siegertexten wurde begonnen. Die weiteren ausgewählten Texte erscheinen in der Reihenfolge ihres Eingangs. Es ist nicht neu, dass nicht alle eingereichten Texte aufgenommen werden konnten. Es diesmal nicht geschafft zu haben, soll jedoch niemanden entmutigen.

Meiner Familie möchte ich für die fortwährende Unterstützung danken. Auch all den vielen Einsendern sei herzlich gedankt. Ihre Teilnahme machte diese Anthologie erst möglich.

Dr. Dr. Christoph-Maria Liegener

Die Siegertexte

Erster Platz: Gisela Verges

Septembermorgen

Die alte Sonne

Legt behutsam ihren Glanz

Auf meine Wiese

Recht müde wirkt sie

Am Septembermorgen

Das Licht scheint mild

Es gibt kein Gleißen

Die alte Sonne

Streichelt sanft das Gras

Und küsst so manches Blatt

Am hochbetagten Baum

Nimmt Abschied

Ohne Tränen

Auf ihrem Weg nach Süden

Ganz ohne Mitleid

Ohne Trauer

Sie weiß um ihre Wiederkehr

Die alte Sonne

Und sie lacht verstohlen…

Kommentar: Bildhafte, poetische Sprache, natürlicher Rhythmus. Auf Satzzeichen und Reime konnte verzichtet werden. Die Stimmung überträgt sich direkt auf den Leser.

Das ist nicht alles. Die ganze Symbolik einer scheidenden Jahreszeit wird aufgerufen und macht nachdenklich. Großartig!

Zweiter Platz: Ralf Raabe

Der Stau

„Mir ist heiß und ich muss zur Toilette“, entfuhr es meiner Mutter. „Es sind nur ein paar Meter bis zum Rastplatz und ich …“

Vater unterbrach sie, ohne den Blick vom Lenkrad zu lösen. „Und wenn sich der Stau plötzlich auflöst?“

„Wir stehen hier seit einer geschlagenen Stunde.“

„Von der linken Spur komme ich nicht auf den Standstreifen.“

„Mir reicht`s!“

Sie schlug die Tür hinter sich zu. Mit Schwung, weil Vater das hasste. Mühelos überwand sie die Leitplanke und verschwand im Toilettenhäuschen. In diesem Moment kam Bewegung in die Kolonne.

Meine Eltern stritten oft, was ich erst später begriff, als ich ihre Ehe mit der meinen verglich. Vater gehörte zu jener Sorte Mensch, die zu Terminen eine halbe Stunde zu früh erschienen, um dann bis zum verabredeten Zeitpunkt reglos im Auto zu verharren. Wann immer ich mit meinen Eltern auf die Abfahrt eines Reisebusses oder den Abflug eines Flugzeugs wartete, meldete sich bei meiner Mutter in allerletzter Minute ein menschliches Bedürfnis.

Vater trieb das zur Weißglut.

Jedes einzelne Mal.

„Na, großartig“, sagte er jetzt mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Von der Rückbank sah ich Schweiß seinen Nacken herablaufen. Hinter uns drängte das Hupkonzert. Endlich drehte Vater den Zündschlüssel, legte einen Gang ein und setzte den Wagen in Bewegung.

Das Toilettenhäuschen lag ruhig in der flirrenden Hitze. Aus dem Seitenfenster, später aus dem Heckfenster, blickte ich ihm nach.

Ich frage mich oft, was aus Mutter geworden ist.

Kommentar: Autsch! Knallharte Pointe. Erlebnisgeschichte: Man sieht das Ende kommen, kann es aber nicht verhindern.

Dritter Platz: Angelika Lichteneber

Neben mir sitzt Gott

Es ist kein Tag wie jeder andere. Ich bin allein in den Bergen unterwegs. In meinem Leben läuft es gerade nicht gut, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Wenn ich wüsste, was Gott von mir will, denke ich, dann wäre alles einfacher.

Ich gehe an einem kleinen See vorbei und setze mich auf eine Bank, die im Halbschatten am Ufer steht. Ich schaue auf den See, auf den Wald ringsum und die Berge dahinter, da bemerke ich, dass Gott neben mir sitzt.

Kein Donnern, kein Blitz, kein brennender Busch. Er sitzt einfach da und sieht mich freundlich lächelnd an.

Ich bin irritiert wegen des fehlenden Spektakels und der Einfachheit seines Auftritts.

Normalerweise folgt jetzt der Auftrag, denke ich, so wie in der Bibel mit den Propheten.

Ich schaue vorsichtig zu Gott neben mir. Er lächelt weiter, macht aber keine Anstalten, mich mit einem Auftrag zu betrauen oder mir besondere Mitteilungen zu machen.

Wir sitzen beide auf der Bank und schauen gemeinsam auf den See, auf den Wald ringsum und die Berge dahinter. Wir sitzen und schweigen und ich denke an mein bisheriges Leben und warte auf die Antwort, die sicher noch kommen wird und mein Leben grundlegend wandeln und ganz einfach machen wird.

Nach einer ganzen Weile des gemeinsamen Sitzens und Schweigens sagt Gott mit liebevoller und neugieriger Stimme: „Und jetzt? Wie soll es weiter gehen?“

Ich brauche eine Weile, bis ich verstanden habe.

Ach so ist das, denke ich.

Ja, so ist das, sagt Gott.

Ich bleibe noch eine Weile sitzen. Dann stehe ich auf und gehe nach Hause. Am Waldrand drehe ich mich noch einmal um. Gott sitzt immer noch da. Er weiß, dass ich noch keine Antwort habe. Aber ich weiß jetzt, dass ich sie finden werde.

Kommentar: Gott als Protagonisten einzusetzen, mag für manchen die Ehrfurcht vermissen lassen. Trotzdem ein interessanter Gedanke, dass der wortlose Kontakt zu Gott alle Ratschläge ersetzen kann. Ich würde ja sagen, dass dies ein Beispiel für die weiblich werdende Welt ist, die ich schon mehrfach beschrieben habe. Aber es ist ja nur eine Geschichte.

Weitere ausgewählte Werke

Jutta v. Ochsenstein

Winter

das Nachtweiß deiner Augen

eine Handvoll Schneeflocken

die ich stahl

aus deinem Zeitbeutel

jeder Schritt leuchtet und tönt

weit in deiner Zustimmung

verwirf nun

den schweren Kristall

leicht verweht der frühe Schnee

auf Wimpern sinken Flocken

die Stille

flimmert in deinem Wort

Kommentar: Interessante Nominalkompositionen.

Hans-Joachim Kuhn

Nachtflug

Einst warf ich mich an Land aus jenen Teichen

ins Dunkel welches mich jäh eingesogen

da sich die Nächte in die Tage mischten

und Jahr um Jahr nichts weiter als ein Gischten

auf angefachten Wellen deren Wogen

mich in die Tiefen zogen sondergleichen

dort trieb ich lange wie ein Erdentferntes

gleich einer Insel die im Meer versunken

nur manchmal glaubt’ ich einen Streif zu sehen

der mich mit Händen griff um zu verwehen

gleichsam ein Traum in dem ich mich betrunken

kein Himmel weder Wolken noch Besterntes

war es nun Sommer Herbst womöglich Winter

wär ich ein Schwan der auf den Wassern reitet

blau beschmückt mit Rosen um den weißen Bug

ich stiege auf und höbe an zum Jungfernflug

wie läg die Welt so farbig hingebreitet

wohlan mein Herz es gibt ein Reich dahinter

Kommentar: Seltene Reimstruktur. Reizvoll.

Torsten Krippner

Winterregen

Rissig- welkes Laub am Boden

Vom Winterregen vollgesogen

Vor spiegelnd blinden Fenstern

Silhouetten gleich Gespenstern

Wo sich fest eingepackte Menschen stoßen

Vogelwolken die vom Sturm zerstoben

Ist der graue Himmel wie ein schweres Tuch

Nicht gereinigt von der Atmosphäre Fluch

Klingeltöne schallen grell

Flirrende Stimmen schneidend hell

Reden, reden im Gerenne

Fegen Worte aus der Tenne

Geschminkter Glanz in fremden Mienen

Fassaden mit Leuchtreklame dienen

Reiz der Belustigung, Reiz der Befriedigung

Rettung in seeliger Zerstreuung

Da eine Sperlingsfeder schwebend

Unendlich langsam tänzelnd drehend

Unerreichbar, höhnisch überwindend schon

Die Mauern meiner Interpretation

Roland Ruether

Ohne Titel (Super-8-Mörder)

»Ich merke wirklich, dass ich alt werde. Heutzutage werden Telefone dazu benutzt, um Fotos mit ihnen zu machen oder Filme damit zu drehen. Ich bin noch mit Super-8-Filmen groß geworden. Das war ein wirklich sinnliches Erlebnis! Anders als heute, wo man alles sofort sehen kann, musste man ein oder zwei Wochen warten, bis der Film entwickelt vom Labor zurückkam. Jeder schickte seine Filme zum Labor in Stuttgart, wo sie dann alle zusammengeklebt und gemeinsam entwickelt wurden. Wenn man den Film dann endlich zurückbekam, waren am Ende des Films immer noch drei oder vier Einzelbilder eines völlig fremden Films zu sehen. Einige davon habe ich immer noch. Ich habe mich immer gefragt, was passieren würde, wenn ich auf diesen fremden Bildern mal einen Mord finden würde, so wie David Hemmings in "Blow Up". Aber leider waren es meistens nur Familien, die durch Wiesen hüpften oder am Strand lagen…«

Kommentar: Nette Erinnerungen. Wie die Zeiten sich ändern!

Wolfgang Rinn

Grenzerfahrung

Mir war als träumte ich ein zweites Leben,

geführt von einer unsichtbaren Hand,

fast schien es so als würde mir gegeben

für kurze Zeit ein Blick in jenes Land

da Berges Rand und Himmel sich berühren,

sich öffnet uns ein heimatlicher Raum,

sehr zögernd nur, doch einmal darfst du spüren

wo deine Reise enden wird, und kaum

ist dir begegnet solch ein Augenblick,

bist du erwacht aus deinen tiefen Träumen,

der Abend naht, du sollst nun nicht mehr säumen,

den nächsten Weg zu gehn ins Tal zurück.

So nahe waren dir des Himmels Wesen,

als seien sie ein Teil von dir gewesen.

Kommentar: Ein tiefgreifendes Erlebnis in die Form eines Sonetts gegossen.

Kurt Blessing

Cha Cha Cha

Lesevorgabe 4/4 Takt

Tan.zen ge.hen, Spiel zu zweit,

hei.ße Klän.ge in der Zeit.

Ku.bas Bes.ter ist jetzt da,

bun.ter Rei.gen, Cha Cha Cha.

Flot.ter Rhyth.mus hält uns fit,

lang.sam lang.sam , quick, quick, quick.

Se.xy Klei.dung bunt bis schrill,

Schim.mer Glim.mer ist der Stil.

Schnel.le Dre.hung rechts und links

pres.to pres.to, guck, da ging‘s.

Haa.re wir.beln durch die Luft,

bla.nke frei.e Brust mit Duft.

Kur.zer Fum.mel, Po im Glanz,

wei.che Ar.me, schön beim Tanz.

Hüf.ten krei.sen um sich rum,

lan.ge Bei.ne, wird man stumm.

Stram.me Wa.den, rund und keck,

ho.he Schu.he, rot, fein, schick.

Wer.ben, bal.zen wie ein Pfau

Vol.ler An.trieb, nicht so lau.

Bei.de ge.hen aus sich raus,

tol.les Ge.fühl bleibt nicht aus.

Mu.sik-En.de, dann ist Schluss

Kur.zer Ab.schied mit ‘nem Kuss.

Lieselotte Degenhardt

Träumer

Ja, wir sind Träumer.

Am Rande der Dämmerung

kippen wir über Bord,

gezogen, geschoben, gesprungen,

wer weiß das schon.

Kurzweilig rudern wir

noch auf den Wellen,

krallen uns fest an Wassertürmen,

entgleiten uns,

vorbei an fliegenden Tümmlern

und wiegenden Lilien.

Pendelnd zum Grund

lösen wir uns auf,

sinken in unseren Traum,

treiben dorthin,

woher wir gekommen sind.

Mona Ullrich

Geschichte einer Kastanie

Jeden Morgen geht Stella aus dem Haus und spazieren. Da erlebt sie immer, was für ein Wetter gerade ist. Sie geht im Sommer im Schatten der vielen Alleen von Berlin, und sie geht im Winter um die gefrorenen Stellen herum.

Einmal im Herbst stürmte es sehr, und Stella hatte Angst, von einem losen Ast getroffen zu werden. Sie ging sehr schnell. Aber trotzdem fiel ihr etwas auf den Kopf und tat weh. Das war eine kleine Kastanie.

Stella bückte sich und hob sie auf. Sie hatte noch halb ihre Schale an und lugte frech und braunglänzend hervor.

„Du kleiner Bösewicht!“ sagte Stella. „Ich weiß doch auch ohne dich, dass jetzt Herbst ist!“

Sie steckte die Kastanie ein und brachte sie ihrem Mann mit, den eine Erkältung plagte. Sie legte sie neben sein Bett auf den Nachttisch.

Da blieb sie aber nicht lange. Der Mann legte ein aufgeschlagenes Buch darüber und schlief ein. Als er aufwachte, nahm er das Buch wieder in die Hand. An die Kastanie dachte er nicht mehr.

Die war unterdessen auf den Boden gefallen. Als Stella nach ihrem Liebsten schaute, rutschte sie darauf aus. Wieder hob sie die Kastanie auf. “Du kleiner Bösewicht! Hast du mich nochmal erwischt!“

Sie legte die Kastanie auf ein Fensterbrett. Sie vergaß sie wieder und bemerkte sie nur, wenn sie an dem Fenster vorbei kam.

Aber Kastanien werden nicht gerne vergessen. Sie wurde ganz hart und dunkel. Die Putzfrau steckte sie in ihre Schürzentasche, als sie an das Fenster wollte, und dann musste sie aufs Klo. Und die Kastanie fiel auf den Boden im Bad.

Da richtete sie erst recht Schaden an! Stellas Mann konnte am frühen Morgen noch kaum aus den Augen schauen, und als er das Fussbodenhandtuch vor die Wanne legte und da einsteigen wollte, rutschte er aus und tat sich am Wannenrand weh.

„Teufel nochmal, was soll das!“ rief er und hielt sich den schmerzenden Arm.

Stella war herbeigeeilt und entdeckte neben dem verrutschten Fussbodenhandtuch unsere Kastanie. „Du schon wieder!“ rief sie. „Jetzt passe ich aber auf!“

Sie legte die Kastanie in ihren Geldbeutel. Da blieb sie dann und störte nicht und wurde nicht gestört.

Und seither haben Stella und ihr Mann nie wieder Geldsorgen.

Kommentar: Nette Geschichte, auch für Kinder geeignet.

Werner Siepler

D r i n g e n d b e n ö t i g t e r P l a t z

Sie ist und bleibt sein geliebter Schatz.

Er nennt sie zärtlich: “Mein kleiner Spatz.“

Dieser hat trotz Hungerkur,

eine mollige Figur,

denn Schönheit benötigt nun mal Platz.

Kommentar: Manchmal ist es so.

Christian Engelken

Corona

Für Bergamo und Umgebung

Ein Raubtier, weitaus kleiner als ein Panther,

Rund 140 Nanometer klein,

Ein wahrer Winzling, doch ein unbekannter,

Ein Virus, Killer, Hunter, SARS-Verwandter,

Rast um den Erdball und bedrängt das Sein

Und sperrt den Großen Satan Menschheit ein.

Es wütet überall und nirgendwo,

Als wäre es der Teufel in persona:

Ob Wuhan, Teheran, Madrid, Cremona -

Die Welt verwandelt sich in einen Zoo,

Doch kein Jardin des Plantes - o nein! Corona

Schafft`s ohne tausend Stäbe einfach so.

Und töten kann es: Im Vorüberschlendern

Fällt es den Menschen an - das war noch nie,

Für uns noch nie so schnell in allen Ländern…

Wie klein bist du, o Mensch, wie groß dies Vieh!

Die Wissenschaftler nennen`s Pandemie,

Doch es ist mehr: „Du musst dein Leben ändern.“-

20./22.3.20

Anmerkung: Geschrieben in Erinnerung an R. M. Rilke

anlässlich der COVID-19-Pandemie 2020. Nembro bei

Bergamo gilt als Hotspot der Pandemie in Europa. „Madrid“

kann auch durch „Seoul“ ersetzt werden.

Kommentar: Ein großes Thema. Dazu kann man sich äußern und es wird nie genug sein.

Thomas G. Vömel

Deine Haut glüht zurecht von der Ferne

und kleine Sonnen schwärzen dein Haar mit Rubin

Ich schenke den Wein und den Schatten

mit jedem Wort in dein Ohr

und schöpfe die Gischt aus den Augen

Tief knote das dunklere Schweigen

und gürte die Feste ins Herz

wenn der Wind an den Ufern uns traut

Kommentar: Gekonntes Spiel mit der Sprache, das jedes einzelne Wort bedeutungsschwer erscheinen lässt.

Thees Schagon

Stadtelegie

Betonbaum. Grauer Bau.

Im Haus aus einem Gusse

klaffen Risse wie Blitze.

Darin hängen andere Nester,

aus denen gerade eine Amsel kroch, noch

trägt sie, die stählerne Stütze.

Aus scheinbar bleibendem Stein treibt

eine feine Ulme durch eine Ritze.

Könnte sie doch später jemand seh’n…,

die Städte wär’n nur Witze.

Kommentar: Transportiert eine Message.

Xenia Hügel

REVOLUTION

Wir haben auf eine Veränderung gewartet,

hier ist sie – wir sind die Veränderung!

Wäre die Menschheit wach,

wäre diese Chance jetzt nicht da.

Du hast dies vielleicht schon tausendmal empfunden,

aber diese gemeinschaftliche Situation wird uns heilen.

Wenn wir hier durchgehen,

kommt etwas viel Schöneres!

Bringst du es hin, dich zu freuen?

Du bist nicht alleine!

Feiere das Leben, dich selbst und die Menschheit,

sei frei und in der Frequenz der Freude.

Die Veränderung ist Liebe.

Du bist schön,

du liebst!

Setze etwas positives ins Feld –

nutze es!

Es ist die positive Energie deiner Handlung!

Es geht um die Liebe.

Lebe diese Revolution der Liebe,

damit du wieder merkst, wie schön das Leben und die

Menschheit ist –

in ihrem Kern ist sie wunderschön.

Herbert Glaser

Reine Liebe

„Guten Tag meine Damen, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ist diese Rechnung aus Ihrem Laden?“, begann Tina.

Der Mann betrachtete aufmerksam das Papier.

„Die Quittung habe ich selbst ausgestellt.“

„Aber der Preis“, ergänzte Sabine, „das muss doch ein

Fehler sein!“

„Zehn Euro? Das ist absolut korrekt.“

Die jungen Frauen sahen sich verständnislos an.

„Erinnern Sie sich auch an die Kunden?“

„Gewiss, Maximilian und Katharina.“

Sabine verdrehte die Augen. „Unsere Kinder Maxi und Kathi.“

Sie zückte ein kleines, edles Etui und klappte es auf. „Wie können Sie Siebenjährigen so etwas verkaufen?“

Prüfend beugte sich der Verkäufer vor. „Ist damit etwas nicht in Ordnung?“

„Nicht in Ordnung?“ Tina schrie fast. „Das hier ist ein teures Schmuckgeschäft.“

„Ja, mit handgefertigten Einzelstücken in höchster Qualität versuche ich, gegen die Billigkonkurrenz aus dem Internet zu bestehen.“

„Da haben wir es! Das ist bestimmt echtes Gold.“

„Genau genommen handelt es sich um bicolore Ringe aus Weiß- und Gelbgold mit 18-karätiger Legierung, hochpolierter Oberfläche und drei Diamanten.“

Tina musste sich abstützen. „Und das verkaufen Sie an Kinder?“

„Die beiden haben sich für diese Ringe entschieden – eine gute Wahl.“

„Und der Betrag?“

„Sie hatten nur zehn Euro dabei, also musste ich den Preis anpassen.“

„Anpassen? Wollen Sie uns auf den Arm nehmen? Wieso verkaufen Sie sündteure Ringe für Erwachsene zu einem Spottpreis an Kinder?“

„Weil mich noch nie eine Liebesbekundung zweier Menschen so berührt hat. Die Gefühle füreinander sind rein und unverfälscht. Sie haben vor, zu heiraten, wenn sie erwachsen sind. Deshalb verlangten sie auch keine Kinderringe. Ganz ehrlich, wie hätte ich da Nein sagen können?“

Tina blies die Backen auf. „Nun mal halblang! Sie erzählen hier irgendwas über Liebe und Heirat. Glauben Sie wirklich, dass die beiden eine Vorstellung haben, was wahre Liebe ist. Wer weiß, ob sich ihre Wege nicht trennen.“

„Ich hatte von reiner und unverfälschter Liebe gesprochen, ein großer Unterschied zu Gefühlen zwischen Erwachsenen. Ob sich Ihre Kinder später tatsächlich ineinander verlieben - äußerst unwahrscheinlich. Es gibt angeborene psychologische Mechanismen die verhindern, dass man sich in die Menschen verliebt, mit denen man aufwächst, auch wenn man nicht blutsverwandt ist. Damit verhindert die Natur Inzest, denn in der Regel sind es eben Geschwister, die ihre Kindheit miteinander verbringen.“

„Dann ist mir erst recht unklar, warum Sie …“

„Weil mich dieser Moment so bezaubert hat. Zwei Kinder, die gerade mal so groß sind, dass sie über die Verkaufstheke sehen, gestehen sich ihre Liebe – oder was sie dafür halten.“ Er beugte sich vor. „Natürlich verstehe ich Ihre Skepsis. Ein Vorschlag von mir: Ich werde die Ringe im Safe verwahren, bis Ihre Kinder volljährig sind. Danach können die beiden entscheiden, was damit geschehen soll. Sind Sie einverstanden?“

Unschlüssig sahen sich Tina und Sabine an.

„Ich hoffe, das Wort, das Sie suchen, ist Ja.“

Kommentar: Bezaubernd. Und das, obwohl die Kinder gar nicht selbst auftreten!

Werner Krotz

das abendrot

am ganzen horizont

der flammende beweis

für nichts

Sahara, 12. 3. 2003

Kommentar: Kurz und paradox.

Heiko Thomsen

edgars POEsie

edgar war dafür bekannt,

dass er mädchen reizend fand

jungen mädchen schickte er

liebesbriefe hinterher

alten mädchen schrieb er nie,

die störten seine POEsie

Kommentar: Verspielt und humorvoll.

Hermann Ruf

Schöpferische Freiheit

Der Dichter schafft

ein Bild der Welt,

das wahre Fantasie

enthält.

Wer diese Freiheit

nicht erkennt,

des Dichters Weltbild

Trugbild nennt.

Kommentar: Wie wahr!

Jürgen Rösch-Brassovan

Isa in der Schlange

Isa Yang war nervös. Die Schlange vor ihr war viel zu lang, was allerdings auch am Sicherheitsabstand lag, jetzt in Zeiten des Virus. Was, wenn sie kein Toilettenpapier bekam? Sie hatte nur noch eine Rolle! Angespannt verlagerte die Frau mit den kurzen dunklen Haaren und dem Mundschutz immer wieder das Gewicht von einem Bein aufs andere, die Hände in den Taschen.

Wieso tat sich nichts? Zu Anfang war es doch noch schneller voran gegangen!

Außerdem gab es da dieses Kind, das Isa störte. Dunkelblonde, struppige Haare. Vielleicht elf, zwölf Jahre alt. Stand kaugummikauend herum, an einen Laternenpfahl gelehnt, und starrte ständig zu der Schlange hinüber. Was sollte das? Penetranter Typ! Ah, da tauchte ein weiterer Junge auf, mit einer schwarzen Mütze. Ein bisschen älter, schon ziemlich groß und kräftig, dem schloss sich der Blonde an.

Isa atmete tief durch. Ihr Blick fiel auf die rötlichen Haare ihres einen Nachbarn, eines Musikers. Der war schon am Ladeneingang. Ausnahmsweise ohne Gitarrenkoffer. Ein distanzierter Mensch. Grüßte im Treppenhaus nur nonverbal, mit einer Art Nicken. Jetzt durfte er in den Laden, der bekam sein Toilettenpapier. Im Gegenzug kam eine Rentnerin mit glücklichem Gesicht heraus, ihre Packung unter dem Arm, und ging an Isa vorbei.

Die schaute ihr mit ihren dunkelbraunen Augen neidisch hinterher. Oh, da waren auch wieder diese beiden Jungen. Der Blonde vorweg, stellte sich der Seniorin auf einmal mit dreistem Grinsen in den Weg! Die mittelgroße, schlanke Isa in nächster Nähe kümmerte ihn dabei nicht. Die Oma hielt inne, man merkte ihrer Körpersprache förmlich die Angst an. Und dann stürzte sich der andere auf sie, zerrte an dem Toilettenpapier. Entriss es der Frau. Da schritt Isa ein! Schnell und vehement … Ein Schmerzensschrei, das Toilettenpapier fiel auf den Boden. Der Blonde taumelte zurück, stolperte. Doch er kam wieder auf die Füße und rannte davon. Der andere hielt sich zunächst den Arm, das Gesicht schmerzverzerrt; die sportliche Isa hatte ihn genau am Musikantenknochen getroffen. Dann suchte auch er das Weite, während Isa die Packung Klorollen aufhob und der alten Dame reichte. Da ertönte die laute Stimme einer Ladenangestellten. „Das Toilettenpapier ist ausverkauft! Tut mir leid, Sie müssen die nächste Lieferung abwarten. Das kann in drei, vier Tagen der Fall sein."

Isa stand wie erstarrt da, die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben, während die Schlange sich auflöste. Für eine kurze Weile nahm sie nichts mehr um sich wahr, auch nicht, dass die alte Frau einfach wegging, ohne sich zu bedanken. Doch dann stand auf einmal der Musiker vor Isa, schaute sie mit seinen kühlen grauen Augen an. Er hielt ihr die Packung entgegen, die er gerade erstanden hatte, und sagte: „Für 1,50 können sie die Hälfte der Rollen haben." Isa sah ihn einen Moment lang entgeistert an, dann lächelte sie erleichtert und entgegnete: „Sie sind meine Rettung! Und ich dachte schon, Sie würden nie mit mir sprechen!"

Kommentar: Das Leben in der Corona-Krise. Eine neue Welt.

Ralf Hilbert

Hölderlin im Stift

Auf die Furt gezwungen.

Das Dunkel hat ein Gesicht,

ein Scherben mit einem Stern

in der Nabe.

Ihren Ring

im Schuh versteckt,

auch die anderen

bergen rostige Schließen,

offene Schellen,

bronzene Fibeln,

chtonische Sore.

Sein Finger

beschreibt den Tagesbogen,

die Sonne

blüht ihm

zweifelnd im Aug‘

unter der einen

gesunden Hand

(Autenrieth steht oben

am Fenster),

nur Sommer, nichts sonst.

Beim Schein des Nachtlichts,

grüne Schatten, Tropfen wehen

zum Fenster herein,

Spiegel im Spiegel,

im Unendlichen

gelöster Blick.

Frank Knollmann

Schein

Elvira zupfte an meiner Krawatte und wischte eine imaginäre Fluse vom Jackett.

„Ich habe dir Schinkenbrote mit Gürkchen gemacht.“ Sie reichte mir die Aktentasche und küsste mich auf die Wange. „Schönen Tag, Schatz.“

„Danke, dir auch.“ Ich lächelte und trat durch die Tür, die Elvira mir aufhielt.

Draußen winkte ich meiner Frau zu und ging Richtung Bushaltestelle. Als ich außer Sichtweite war, verharrte ich und blies aus.

In der SB-Bäckerei war nicht viel los. Der Kaffee war heiß und günstig – es gab sogar einen Keks dazu–, und das WLAN war kostenlos. Ich nippte an der Tasse und fuhr das Notebook hoch, scrollte mich durch die Seiten und machte mir Notizen.

Am Kiosk verlangte ich die Börsen-Zeitung, die Frankfurter und das Handelsblatt und steckte sie so in das Seitenfach der Aktentasche, dass die Titel herauslugten. Ich nahm den Bus, biss einmal ins Brot, stieg am Hauptbahnhof aus und warf die Brote in den Mülleimer.

Mehrmals schaute ich mich um, bevor ich das Pfandhaus betrat. Eintausendfünfhundert Euro bekam ich für die goldene Uhr meines Großvaters. Reichen würde es für Elviras neuen Nerz zum Geburtstag nicht und viele Erbstücke besaß ich nicht mehr.

Das südliche Westend erreichte ich zu Fuß. Ich blickte auf die Hochhäuser. Weiter hinten befand sich der Glaskasten, drei Monate war es her. Näher als hierhin hatte ich es seitdem nicht mehr geschafft.

Auf einer freien Bank nahm ich Platz, studierte die Zeitungen und machte mir wieder Notizen.

Der Eintopf in der frei zugänglichen Kantine des Bankhauses schmeckte mir nicht. Aber ich schnappte ein paar interessante Gesprächsfetzen an den Nebentischen auf. Unterhaltungen über Kapital zu sanfter Musik aus den Lautsprechern und dem Geruch von Gemüse, Fett und verschwitzten Oberhemden.

Das Dessert holte ich mir später, damit ich am anderen Tisch wichtigen Leuten lauschen konnte.

Ich wiederholte das Ganze in einer anderen Kantine und an zwei Würstchenbuden, von denen ich wusste, dass die Anzugträger sie aufsuchten.

Den Rest des Tages fuhr ich die Aufzüge rauf und runter, gesellte mich zu den Leuten in den Raucherbereichen vor den Gebäuden, hörte da zu, lauschte dort hin, hielt Augen und Ohren offen, saugte alles in mich auf, nahm an den Debatten der Anzugträger teil, indem ich zustimmend nickte oder bloß ein paar gescheite Worte an passenden Stellen beitrug.

Es war gegen siebzehn Uhr, als ich heimkam.

„Na, wie war es heute? Harter Tag?“, fragte Elvira.

Ich nickte und wusste nicht, ob sie mich bemitleiden oder ohrfeigen würde.

Sie nahm mir Aktentasche und Jackett ab und ging ins Wohnzimmer vor, wo mich Josef auf der Chaiselongue erwartete.

Mein Cousin hatte sich angekündigt. Er wollte sein Gespartes investieren, einen mittleren fünfstelligen Betrag. Aktien, Optionen oder Neue Märkte, was jetzt halt so angeboten würde.

Er gierte nach den Tipps eines Profis, dem er vertrauen konnte, der seit dreißig Jahren tagtäglich weltweit Abermillionen bewegte, Geld vermehrte, Bescheid wusste, dazugehörte.

Kommentar: Satirischer Blick auf unsere Scheinwelt. Trifft ins Schwarze. Erinnert mich an einen gewissen Werbespot.

Paul Fehlinger

Gib dir die Blöße

Verwirrt lief ich durch die Stadt. Ich war halbnackt. Keine dumme Metapher - ich war wirklich halbnackt. Nur ausgeleierte, karierte Boxershorts hatte mir der liebe Gott gelassen. Wo war der ganze Rest geblieben?

Ohne Pause, fast im Sprint und dem Kreislaufkollaps so nahe lief ich durch eine verzweigte Seitenstraße, die aus dem Zentrum der Stadt führte, hin zur ihr und ihrem Haus. Dafür, dass man in dieser Gegend oft das trostlose Nichts findet, war alles maßvoll überfüllt mit Touristen, die alles, auch das letzte Elend der Stadt, für fotografiewürdig hielten.

Sie sagte vorhin, dass sie mich dringlichst brauche. Sie sagte, sie würde vergessen und verzeihen, und dieser Wortlaut zusammen mit ihrer Stimme betäubte mich am Hörer, zog mich erneut in ihren Bann und nahm mir jeden, eigenen Willen. Ich rannte los. Ich rannte einfach los. Ich rannte.

Ich will zu ihr. Unbedingt. Aber warum gebe ich mir die Blöße? Ich dachte nicht, ich denke nicht. Ich rannte einfach los, ohne Rücksicht. Ohne Rücksicht auf Körper, Kleidung oder Verluste…

Alle Menschen, deren Wege ich bei dieser Hetzjagd kreuzte, starrten mich entweder belustigt oder fassungslos an. Die meiste Scham fühlte ich besonders dann, wenn ich in diesem Getümmel jemanden erkannte. Sogenannte Bekannte und Freunde, denen ich aber nie richtig nahestand und vertrauen konnte.

Vielleicht hatte ich mich verhört.

Vielleicht hatte sie auch gesagt:

„Gib dir die Blöße.“

Ich weiß es nicht. Ich kam nie an. Ich verrannte mich.

Kommentar: Ein Alptraum.

Andreas Kircher

Ein Fischerleben

In Überlingen lebten in den vorherigen Jahrhunderten Generationen von Fischerfamilien von ihren alleinigen beruflichen Einkünften. Irgendwann gefährdeten Wirtschaftsveränderungen ein Fortbestehen von kleinen Fischereiunternehmen. Den geringeren Fangmengen, den sinkenden Einkommen folgten Pleiten von einheimischen Bodenseefischern.

Zeugen sichten an einstigen Anlagestellen von Fischerkähnen Segeljachten von betuchten Besitzern.

Den alteingesessenen Bewohnern kommen Erinnerungen an den unvergessenen Hermann Ellensohn, den in früheren Jahrzehnten in Überlingen beheimateten bärtigen Seebären.

Menschen mochten den Fischersmann, den zugänglichen, ungemein freundlichen, in breiten Gesellschaftskreisen willkommen geheißenen Alten von Herzen.

Pensionisten schwelgen in freudvollen Erzählungen von bemerkenswerten Zusammenkünften, unterhaltsamen Gesprächen, lustigen Anekdoten, gemeinsamen Erlebnissen. Begegnungen erfolgten in Hafenbereichen, an Uferabschnitten, Fischständen, in Verkaufshallen.

Hermann – sein Berufsleben begann in den Sechzigerjahren. Fischerjungen lernten in damaligen Zeiten von ihren vorbildhaften Vätern. Von nun an gehörten Hermann, Egon Ellensohn, von tiefen Wassermassen getragen, den schwäbischen Seefischern an.

Hermann, Egon verließen an arbeitsreichen Wochentagen.mitsammen den ruhigen Fischerhafen. Sonnenstrahlen erleuchteten den wunderschönen Bodensee in den Morgenstunden in hellen Farben. Naturgewalten verhinderten an stürmischen Schlechtwettertagen ein Auslaufen.

Hermann, Egon fingen an Spitzentagen in ausgeworfenen, prallvollen Netzen Unmengen an prächtigen Seewasserfischen.

Deren Bootsladungen an wohlschmeckenden Felchen, Barschen, Weißfischen, Hechten, Zandern füllten Mägen von tausenden schlemmenden Feinschmeckern.

Den geschäftstüchtigen Ellensohn brachten Fischlieferungen an Handelsunternehmen, Gaststätten, Haushaltskunden ein Vermögen ein.

Zeitungsabonnenten erfuhren von ihnen in ausführlichen Presseberichten: Den beiden Ellensohn wachsen Fischflossen. Hermann Ellensohn – ein Fischerleben. Fischerfamilien prägen den Hafen von Überlingen.

Wellenbewegungen schaukelten den abgenutzten Fischerkahn. Wogen klatschten an windigen Plätzen von allen Seiten dagegen. Wassergewalten schlugen von Sturmböen getrieben an den hölzernen Planken an. Fluten bewirkten ein Knarren, ein Knacken von biegsamen Brettern. Holzmaterialien trotzten den drückenden Einflüssen.

Schwappten in echten Gefahrensituationen Wassermengen herein, dann plagten den bedrohten, von starken Angstgefühlen durchdrungenen Seemann erzwungenermaßen Sorgen.

Mitmenschen wussten von den in größten Nöten überstandenen Seeabenteuern.

Hermann, Egon versanken, den Witterungsbedingungen unterlegen, in dunklen Seetiefen.

Deren Leichen blieben von Suchmannschaften ungefunden.

Unglücksnachrichten erschütterten Überlingen. Daraufhin errichteten Fischerkollegen einen klobigen Gedenkstein.

Kommentar: Wenn der Autor es mir nicht mitgeteilt hätte, wäre es mir gar nicht aufgefallen: Alle Wörter dieses Textes enden auf „n“. Das so hinzubekommen, ist sicher nicht leicht. Es erklärt andererseits manches Missgeschick in den Formulierungen. Ob sich allerdings daraus eine eigene Literaturform entwickeln wird, wage ich zu bezweifeln.

Timo Mezger

Blickwechsel

Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken.

Seine Makel empören mich. Immer wieder fällt er bei mir

in Ungnade.

Dieser mickrige, mittelmäßige Mensch!

Nichts gibt es über ihn zu sagen. Obwohl – eigentlich

doch:

Er trinkt viel. Er bewegt sich wenig.

Er labert viel. Er handelt wenig.

Er streitet viel. Er liebt wenig.

Er träumt viel. Er erreicht wenig.

Die Liste ist unendlich.

Er ist zu wenig. Ist zu viel Mensch.

Ich kann immer noch nicht aufhören, an ihn zu denken.

Schaue ihn an.

Entdecke immer mehr an ihm.

Finde ihn auf einmal besonders.

Auch er schaut mich an.

Doch jetzt ist sein Blick anders.

Fast gütig.

„Wollen wir`s noch einmal miteinander versuchen?“, frage ich leise.

Mein Spiegelbild deutet zaghaft ein Nicken an.

Tanja Wagner

Erfahrungen

Gerne möchte ich heute über die Erfahrungen im Leben schreiben.

Es gibt viele unterschiedliche Menschen, natürlich denkt und fühlt jeder einzelne von uns auch anders.

Ich bin der Meinung, dass das Älterwerden nicht nur seine Schattenseiten beinhaltet.

Wie es besonders oft von uns weiblichen Wesen betrachtet wird. Sondern auch durchaus positive Seiten mit sich bringt.

Weil man im Laufe der Jahre viele Erfahrungen gesammelt und Fehler gemacht hat, aus denen man gelernt hat und eventuell auch gewachsen ist.

Nehmen wir das Thema Liebe und Vertrauen.

Sind wir nicht in jüngeren Jahren ab und zu verliebt gewesen, jedoch mit der berüchtigt rosaroten Brille auf?

Naiv träumend, im Vertrauen zum Partner gutgläubig?

Und dann zutiefst enttäuscht und verletzt, weil alles doch nicht so perfekt war, wie wir es glaubten und erhofften?

Natürlich waren auch diese Zeiten oftmals schön, aber ich persönlich möchte nicht mehr zurück in die Vergangenheit und noch einmal alles erleben.

Heutzutage bin ich größtenteils dankbar für die Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich gewinnen durfte.

Oftmals spüre ich heute schon, wenn irgendetwas nicht stimmt oder ein Mensch es nicht gut mit mir meint.

Anfangs vorsichtiger und skeptischer als früher im Umgang mit den Menschen im Allgemeinen.

Diese Einstellung schützt mich davor, dass mich noch mal jemand so unvorbereitet verletzt und enttäuscht.

Irgendwann einmal habe ich einen passenden Spruch hierzu gelesen:

Sei vorsichtig, wem du vertraust und deine Probleme erzählst. Nicht jeder, der dich anlächelt, ist dein Freund!

Allen liebenshungrigen Menschen da draußen möchte ich gerne einen schönen Spruch mit auf den Weg geben: DON`T FALL IN LOVE WITH SOMEONE WHO SAYS THE RIGHT THINGS.

FALL IN LOVE WITH SOMEONE WHO DOES THE RIGHT THINGS.

Natürlich bin ich nicht gefeit davor, auch weiterhin unerfreuliche Erlebnisse zu haben.

Nun aber nehme ich es gelassener hin, bin nicht mehr so erschüttert darüber.

So ist das mit der Schule des Lebens: Man lernt nie aus, macht immer wieder neue Erfahrungen. Letztendlich lernt man daraus und wird weiser, auch wenn die Lektion hart war.

Ein kleiner Ratschlag zum Schluss: Nimm` das Leben so, wie es ist. Lass` Dich treiben und alles in Ruhe auf Dich zukommen.

Wenn ich in meinem bisherigen Leben etwas gelernt habe, dann ist es, dass man flexibel sein muss.

Träume zu haben, daran zu arbeiten und glauben, ist schön und wichtig, aber man sollte niemals etwas fest einplanen, denn dann kommt fast immer alles ganz anders.

Und somit gelingt es Dir auch viel leichter, Dich an neue Gegebenheiten anzupassen…

Kommentar: Wenn ein junger Mensch über Erfahrungen schreibt, sind das nur zum Teil eigene Erfahrungen. Vieles ist aus zweiter Hand. Und dennoch: Hier wird der Versuch unternommen, Schicksalsgenossinnen zu helfen. Das ist lobenswert.

Vivien Hagedorn

Liebgewonnene Dunkelheit.

Wohlige Wärme, du anheimelnde Stille und Versunkenheit.

Du nährtest mich, gabst mir Trost, warst mir Mutter und Heimat.

Ich vergesse dich nicht, du bist auch ein Teil von mir.

Du darfst leben, weil ich leben darf.

Aber ich möchte nun das Licht kennenlernen. In der klaren Helligkeit des Tages tanzen.

Du warst ich.

Es ist verlockend, bei dir zu bleiben, um in dieser dunklen Geborgenheit zu verharren.

Doch ich muss aufwachen und sehen, was es ausserhalb dieses nachtschwarzen Schatten-Universums gibt.

Das hier ist kein Abschied.

Es ist die Entscheidung, ich selbst zu sein.

Kommentar: Düster und expressiv, aber letztlich auch hoffnungsvoll.

Siegfried Depre

R. lebt in einer Stadt, welche sich im Würgegriff des demografischen Wandels befindet. Die Bürgermeisterkandidaten haben sich längst die Planung von Altersheimen und Friedhöfen auf die Fahne geschrieben. Niemand kann ihnen verübeln, dass sie Politik für die Übriggebliebenen machen. Die einzige stete Veränderung ist der Anstieg des Durchschnittsalters. Auch R. wirkt bei diesem Trend mit. Er ist in einem Alter, in dem man anfängt zu überlegen, ob man mit ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen beginnen soll oder nicht. Sein Körperbau wurde nicht durch Sportaffinität geprägt und sein Blick lässt keine überdurchschnittliche Intelligenz vermuten. Würde man R. auf der Straße begegnen, hätte man ihm kaum Beachtung geschenkt und ihn gleich vergessen. Angenommen man würde in einem Café in der Innenstadt sitzen und sich die Frage stellen, welchen Beruf er wohl ausübt, man würde schwanken zwischen Vertrauenslehrer, der einen Bibelkreis besucht oder Archivar, der bisher ohne Internet auskam. Angenommen man säße noch im Café und hätte bereits das dritte Getränk bestellt, man würde bemerken, dass R. schon zum fünften Mal um den Block schleicht und sich verdächtig oft umdreht. Als versierter Beobachter stellt sich nun die Frage, wie viele Umdrehvorgänge verdächtig sind. Wir empfinden alle 20 m als verdächtig. Durch diese Informationen sollte nun der Psychologe in uns aktiv werden. Wer fertigt denn nicht gerne fragwürdige psychologische Diagnosen seiner Mitmenschen an? Eben. Also fahren wir fort. Sie denken vielleicht, der Mann ist krank. Präziser, handelt es sich um einen Mann mit Verfolgungswahn? Um das seriös bestätigen zu können, müssen wir mehr über die Situation von R. wissen. Wird er tatsächlich verfolgt? Gibt es einen anderen Grund, der sein Verhalten erklärt? Da wir ihn natürlich nicht sofort für verrückt erklären wollen, wer würde so etwas tun, beschließen wir, ihm zu folgen. Da unser Beobachtungsplatz nur erdacht war, können wir schnell ohne Bezahlung verschwinden. Nach einigen Metern stellen wir fest, dass tatsächlich zwei mit Arztkitteln bekleidete Männer auf R. zulaufen. Bevor er merkt, wie ihm geschieht, haben sie ihm schon eine Spritze in den Arm gerammt. Kurz darauf hält ein Van, aus dem ein Mann aussteigen. Da wir vor lauter Aufregung die Inschrift des Wagens übersehen haben, welche Hinweise dafür geliefert hätte, dass der Wagen von einer psychiatrischen Einrichtung kommt, gehen wir kurzer Hand davon aus, das R. entführt wird. Was macht man in so einem Fall? Die Polizei anrufen oder selbst ermitteln? Wir entschließen uns für den Mittelweg und machen einfach gar nichts. War ja sowieso ein komischer Zeitgenosse. Plötzlich ertönt leise Musik. Wir können sie nicht lokalisieren und gehen in der Fußgängerzone umher. Nach einiger Zeit beginnt sich ein Haus nach dem anderem aufzulösen, während die Musik eine unangenehme Lautstärke erreicht. Bei der Musik handelt es sich um die Morgenshow von Channel 9, die mich unsanft in das hier und jetzt zurückholt.

Ulrike Tovar

Liebe Zeit

„Libba Sseit“ waren meine ersten Worte. Ich hatte sie von Großmutter gelernt, die bei den unterschiedlichsten Begebenheiten rief: “ Ach, du liebe Zeit!“ Sie sagte es, wenn ihr etwas herunterfiel, wenn sie etwas verschüttete, wenn der Schnürsenkel riss, wenn Tante Leni zu Besuch kam oder als die Nachbarin Zwillinge bekam.

Ich fragte Paul, der etwas älter war als ich, was die liebe Zeit sei. „Weiß nicht“, brummte er uninteressiert und spielte weiter mit seinen Bauklötzen.

Nach und nach lernte ich viele „Zeiten“ kennen und einige verstehen. Wenn Mutter „höchste Zeit“ rief, wusste ich, dass ich rennen musste. Bei „keine Zeit“ war klar, dass ich nicht das bekommen würde, was ich gerade wünschte.

Irgendwann begann ich Zeitbegriffe zu sammeln. Unglaublich spannend fand ich, dass Zeit rennen und still stehen konnte.

Mit ihr zu gehen war langweilig. Ich habe es ausprobiert, als ich mit stocksteifen Beinen und geradem Rücken mit ihr durch den Garten spazieren wollte.

Ich hörte Großmutter von der guten, alten Zeit erzählen – wie alt war die denn? – und dass man sie nicht mit der heutigen vergleichen könne, die Zeiten hätten sich geändert.

Sehr erschreckt hat mich, dass es möglich war, Zeit tot zu schlagen, zu stehlen und zu verlieren. Mir schwirrte der Kopf.

Mit Sommerzeit konnte ich inzwischen etwas anfangen; aber kurze Zeit, lange Zeit, Stille Zeit oder fehlende Zeit waren sehr rätselhaft. Ich erkannte allmählich, dass Zeit immer mit etwas anderem zusammenhing: Zeit zum Vorlesen, zum Essen, Bus erreichen, Uhrzeit.

Einmal glaubte ich, die Chance zu haben, Zeit zu sehen. Viola, meine große Schwester, hockte vor ihrer Lieblingssendung im Fernsehen: „gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Leider hatten in der Folge die Zeiten keinen Auftritt. Nur Max und Leon, Anne und Kathrin waren da. „Wie ist das denn mit der Zeit?“ Viola sah mich verständnislos an. „Na, all die vielen Zeiten?“ bohrte ich weiter. „Welche? Hochzeit, Freizeit, zeitlos, zeitnah, Zeitspanne, Tageszeit, Zeit vertreiben. Gibt doch eine ganze Menge. Sogar HerbstZEITlose!“ lachte sie. „Und verrückte Zeiten!“ Ich hielt mir die Ohren zu.

Ich begriff einfach nicht, was es mit all den Zeiten auf sich hatte. Bauklötze um mich werfend, tobte und brüllte ich in meinem Kinderzimmer. Vater kam herein und nahm mich in den Arm. „Was ist denn los?“ „Ach, Papa, ich habe so viele Zeits in meinem Kopf und kenn mich überhaupt nicht aus!“ Er verstand mich sofort.

„Pass auf! Zeit kann man nicht sehen, riechen, hören oder anfassen. Wenn du“, er überlegte „zum Beispiel einen Schneemann baust, brauchst du eine ganze Weile, um den Schnee zusammen zu tragen. Und diese Weile ist eine Zeit. Und Omas „ach, du liebe Zeit“ ist nur ein Spruch wie „ach, herrje“ oder „na, so was“. Verstehst du das?“

Ich nickte und sah durch das offene Fenster in den Garten. Vögel zwitscherten, Blumen blühten, die Sonne schien.

Ach, du liebe Zeit! Nun hatte ich ein neues Problem: was wollte er denn jetzt mit einem Schneemann?

Kommentar: Unterhaltsam geschrieben.

Gisela Baudy

Sonnenbär

Wenn es Nacht wird

geht die Sonne

nicht unter.

Sie schläft im Palast

unter der Erde

wärmt bärengleich

dein banges Herz.

Wenn es Tag wird

tanzt der Schelm

auf dem Berg

weckt

das Morgenrot

haucht Lächeln

und Liebe

über den Garten

deiner Seele.

Svenja Volpers

Weiße Decke

Allein im Bus, es ist 23: 40

der Kopf hämmert an die nasskalte Scheibe

so dass es fast wehtut

das Dröhnen übertönt meinen dunklen Gedankenstrudel

und macht mich müde

hinter mir ein Hund

ich kann ihn riechen

er winselt leise

ich dreh mich um

seine großen traurigen Augen starren mich an

ich zögere

dann erhebe ich mich langsam

und gehe auf ihn zu

er wird ganz still

ich setze mich zu ihm auf den Boden

und vergrabe mein Gesicht in seinem weißen Fell

ich spüre seinen gleichmäßigen Herzschlag

und sonst fühle ich nichts mehr

außer einer Ruhe

die mich einwickelt und wärmt

wir haben einander gefunden.

David Freudenhammer

Oneiroi

„Und jetzt sind wir einfach da?“

„Ja, und wir können alles sein.“

„Kann ich eine helle Stimme haben?“

„Jetzt hast du eine. Egal, ob du vorher eine tiefe Stimme hattest. Ich habe zum Beispiel eine tiefe, dunkle Stimme. So wie ein grimmiger Matrose.“

„Unfassbar. Das funktioniert wirklich!“

„Natürlich. Wir können uns sogar verändern. Aus einem Matrosen könnte auch ein n… nervöser kl… kleiner Mann w… w…. werden, der nur leise flüstert.“

„Wo sind wir?“

„Noch auf einem Blatt Papier–“

„Ist nicht wahr?!“

„Aber eigentlich sind wir auf dem Weg in die Köpfe der Leser.“

„Ist es deswegen so dunkel hier?“

„Schau genauer hin. Da sind einige helle Punkte, wenn du dich an das Dunkel gewöhnt hast.“

Tatsächlich leuchten immer mehr helle Punkte auf. Wie Sterne, wenn man Nachts in den Himmel schaut. Zuerst sind es nur wenige, aber nach und nach werden es mehr.

„Die Frage ist nur, was wir hier machen?!“ Man hört ein leises Kratzen. So, als würde ein Seemann über seine Bartstoppeln fahren, während er nachdenklich eine Karte studiert.

„Vermutlich“, fährt die Stimme des Seemanns fort, unterbrochen von einem Zug an einer klassischen Pfeife und dem dazugehörigen mmpfft-Geräusch, welches entsteht, wenn man an einer Pfeife zieht, „sind wir nur eine Spielerei.“

„Aber, aber“, die helle Stimme klingt jetzt eher dünn. Und leicht hysterisch. „Was soll das heißen?!“

„Nun ja, wir wurden auf ein Blatt Papier geschrieben“, durch das ständige an der Pfeife ziehen und dem belehrenden Ton erinnert die Stimme inzwischen eher an einen Detektiv aus London, „um etwas zu beweisen. Dass wir alles sein können. Aber die Geschichte ist danach noch nicht vorbei. Sie hätte enden sollen. Aber wir haben uns, bewusst oder nicht, in die Köpfe der Leser geschlichen. Wir sind ein Teil der hellen Sterne geworden.“ Die Stimme zeigt auf die Umgebung, die inzwischen tatsächlich nicht mehr dunkel ist, sondern von verschiedenen kleinen Lichtquellen erleuchtet wird.

„Und wie geht es weiter?“ Die helle Stimme klingt etwas beruhigt. Wenn auch nicht ganz so natürlich, wie vorher.

„Was denkst du, wie es weitergeht?“

„Wir können alles sein. Wir sind in den Köpfen aller Leser. Wir haben es zu einer gewissen Form von Existenz geschafft. Selbst wenn manche Leser uns schnell vergessen, wird er ein oder andere sich noch an uns erinnern. Über uns nachdenken. Vielleicht werden wir zu Insassen einer Psychiatrie-“

„Möglich.“

„Zwei Studenten der Philosophie, die Abends betrunken auf dem Balkon sitzen.“

„Ein großartiger Gedanke. Oder-“

Kommentar: „Oneiroi“ ist griechisch und bedeutet

„Träume“.

Bernd Großmann

Der Wolf und das Wildschwein

Ein betagter Wolf lebte mit seiner schönen, jungen Wölfin einsam im Buckenhofer Forst. Eines Tages klagte diese: „Du bist der Mann von uns beiden. Verlass' dein weiches Lager, mach' dich auf die Pfoten und such' uns was zu fressen. Ich hab' Appetit auf 'n saftiges Stück Fleisch.“ Da der Wolf aber alt und langsam geworden war, konnte er keine Wildschweine oder gar Rehe mehr jagen. Sie waren ihm entweder zu stark oder zu schnell. Und mit einer Maus, einem mageren Nager, brauchte er seiner verwöhnten Gattin erst gar nicht zu kommen.

Nachdem er die Lagerstätte verlassen hatte, kam er zu einer Lichtung und ließ sich besorgt nieder. In seiner Gebrechlichkeit fiel es ihm immer schwerer, seine Gefährtin zufriedenzustellen. So dachte er nach, wie er trotz diverser Beschwerden Beute machen konnte, und er besann sich auf seinen Verstand. „Ich muss ein Tier in eine Falle locken,“ sagte er zu sich und fing flugs an zu graben. Es dauerte, bis er unter Qualen ein Loch gebuddelt hatte. Dabei hatte er beim Wurzelzerbeißen einen weiteren Zahn verloren und sich die Vorderpfoten blutig gewetzt. Auch forderte seine Kurzatmigkeit ihren Tribut und er musste sich immer wieder erschöpft, nach Luft ringend an die Grubenwand lehnen. Als ihm das Loch tief genug erschien, um ein Wildschwein aufnehmen zu können, krabbelte er sich auf die arthritischen Vorderbeine stützend heraus, deckte es sorgsam mit Laub und Reisig zu und blickte zufrieden auf sein Werk. „Ja,“ sprach er zu sich, „meine Kräfte mögen geschwunden sein, aber mein wölfischer Verstand funktioniert noch famos.“ Seine Falle war perfekt.

Doch während er sich emsig grabend im Loch befunden hatte, hatte er nicht bemerkt, dass er von einem Waldbewohner beobachtet wurde. Das Wildschwein erkannte die böse Absicht und dachte: „Du hinterlistiger Gesell'. Du willst es nicht mehr im fairen Kampf aufnehmen. Warte nur. Dich werd' ich mit deinen Mitteln schlagen.“ Es lief zur anderen Seite der Grube und versteckte sich im Dickicht. Dann fing es schrecklich an zu stöhnen und ganz jämmerlich zu quieken, als ob es schwer verwundet wäre. Der Wolf, dabei, sich selbst in Deckung zu begeben, vernahm das Wehklagen und dachte: „Das kommt ja wie gerufen. Ein verwundetes, vielleicht sogar sterbendes Wildschwein. Welch' leichte Beute!“ Und bereits beim Gedanken an den Wildschweinbraten lief ihm das Wasser im zahnlosen Maul zusammen. Er setzte sich sofort in Richtung der Klagetöne in Bewegung. Dabei vergaß er jedoch, wie oft in letzter Zeit, dass er arg unter Altersdemenz litt, und damit, dass er kurz vorher eine Grube gegraben hatte. Die Erinnerung an sie war verflogen und sie, die Grube, lag nun direkt vor ihm. Und diese Falle war perfekt.

Als er rücklings auf deren Boden lag, schaute das Wildschwein herab und rief dem mit Blattwerk und Geäst übersäten Wolf zu: „Wer Schweinen eine Grube gräbt, ist selbst ein Schwein.“

Merke:

Solange du andere zu täuschen versuchst, solltest du nicht unter Vergesslichkeit leiden.

Kommentar: Eine Fabel zum Motto: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.

Jan D. Stechpalm

Versunkene Stadt

Tempel der Kindheit,

von Algen und Tang umrankt

fern am Grunde schimmernd.

Taumelnd erreicht Euch gleissendes Licht

und schmilzt Schneeflocken gleich

an den gefallenen Säulen.

Strassen der Jugend,

von Sand und Salz verwaschen

flau am Boden flimmernd.

Korallig treiben Eure Kanten Triebe

zum gurgelnden Glucksen

der alles schluckenden Meere.

Lass mich hinab zu Dir steigen

in Deine graufeuchte Kälte,

bunten Sommern nachspüren,

Mädchen Lachen und Jungen Haschen

im farblosen Rauschen Deiner Brühe erahnen,

wo Fische kreisen und Krebse sich verkriechen.

Lass mich Silbermünzen und Goldringe finden

zwischen Nixen-berauschten Scherben

und Muschel-verhangenen Trümmern.

Lass mich verschollene Schätze bergen

und aus luftlosem Dunkel ans atmende Ufer bringen,

zum feurigen Feste Deines Unterganges.

Dörte Müller

Das schwarze Heft

Es hat keinen Zweck, es zu leugnen. Das schwarze Heft liegt vor mir, jemand hat es mir gerade hingeworfen. Ich fange an zu schwitzen, mir wird etwas schwindelig.

Ich sitze da wie versteinert. Schaffe es nicht, das Heft zu öffnen. Mein Herz rast wie nach einem Marathonlauf. Ungeöffnet stopfe ich es in meinen Rucksack.

„Was hast du?“ Mein Kumpel Alex sieht mich fragend an. Er hat keine Ahnung. Wie auch! Ich rede mit ihm nicht über meine Noten. Aber von dieser Englischnote hängt alles ab. Mr. Morris hat mich vorhin so seltsam angesehen und gesagt, dass es leider auch Fünfen geben würde. Ich bin mir sicher, dass ich eine davon habe.

Ich kann das nicht. Ich kann nicht mit diesem Heft nach Hause kommen.

Nach der Stunde lasse ich alles stehen und liegen und laufe zum Parkplatz. Dort steht mein Mofa, das ich zum 16. Geburtstag bekommen habe. Seit ich es habe, bin ich wer. Ich trage meinen Helm mit mir herum und viele Mädels wollen mit mir ausgehen. Fast jedes Wochenende habe ich eine Verabredung, ich bin cool. Aber es ist nicht nur das. Wenn ich Mofa fahre, fühle ich mich unendlich frei. Ich kann alles hinter mir lassen und lebe im Hier und Jetzt.

So auch in diesem Moment. Ich setze mir den Helm auf und gebe Gas. Im Rückspiegel wird die graue Schule immer kleiner und kleiner und verschwindet schließlich ganz. Ich fahre raus aus der Stadt, bin schnell auf der Landstraße. Die Landschaft zieht an mir vorbei wie in einem Film. Es riecht nach frisch gemähtem Heu. Ich fahre schneller. Ein Trecker tuckert langsam vor mir her. Was soll das? Er nervt. Ich drehe noch mehr auf. Wer weiß, wie lange ich noch Mofafahren darf! Meine Eltern werden mich sicher zum Lernen verdonnern und mir alles wegnehmen, was Spaß macht. Ich lege mich in die Kurve, lasse den Trecker hinter mir. Schmetterlinge tanzen in meinem Bauch, ich kenne die Straße wie im Schlaf, so oft bin ich hier schon gefahren. Eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich hinwill. Ich fahre einfach drauflos. Zwei enge Kurven nehme ich mit links, was bedrückt mich noch die Fünf! Sie kann mir nichts mehr anhaben. Nur eine rote Zahl in einem schwarzen Heft!

Plötzlich stockt mir fast der Atem und mein Herzschlag setzt für einige Sekunden aus. Ich sehe alles wie in Zeitlupe.

Vorne stehen zwei Polizeiautos. Ich bremse ab, werde langsamer. Ein Motorrad liegt quer auf der Straße, etwas weiter hinten ein Mensch. Sanitäter, Krankenwagen, das volle Programm. Ich werde vorbeigelotst. Mir wird schlecht, meine Knie zittern. Viel langsamer als vorher fahre ich weiter. Doch dann kann ich nicht mehr. Das Freiheitsgefühl, die unendliche Freude, alles weg. Ich fahre an den Straßenrand, halte an, ziehe den Helm ab.

Meine Hände zittern und können gar nicht mehr aufhören.

Eine kleine Stimme flüstert: „Das hättest du sein können! Das hätte dein Unfall sein können!“

Ich setze mich unter eine Trauerweide und starre ziellos in die Landschaft.

Irgendwann wird es kalt und ich fahre zurück. Zurück zur Schule und zurück in mein altes Leben. Zurück zu meinen Eltern.

Der Hausmeister kommt mir entgegen und hält mir etwas vor die Nase.

„Ist das dein Rucksack?“

Ich nicke unmerklich, bedanke mich und fahre weiter. „Du kommst spät!“, sagt meine Mutter und blickt mich vorwurfsvoll an.

„Wir haben Englisch zurück!“, sage ich kaum hörbar. Dann hole ich das Heft aus der Tasche und schlage es auf. Vier minus

Das zweite Mal Glück gehabt an diesem Tag.

Michael Kothe

Enkelfragen

Was soll ich meinen Enkeln sagen –

ich hab´ davon nur zwei –,

wenn sie mich nach der Erde fragen?

Mir ist´s nicht einerlei.

»Ihr habt sie uns kaputtgemacht!«

Den Vorwurf hör´ ich häufig.

»Habt ihr euch nichts dabei gedacht?«

Auch das ist mir geläufig.

Wir sehn die Meere leergefischt,

täglich sterben Arten aus.

Märchen werden aufgetischt,

denn lernen wollen wir nichts draus.

Wir doktern fleißig an Symptomen.

Wir kennen die globale Not

und feiern doch Lokalaktionen.

Und unsre Erde ist bald tot.

Nicht Ozonloch, Klimawandel,

Benzin und Kohle sind´s Problem!

Viel schlimmer ist damit der Handel,

die Firmen wollen Profit seh´n!

Wir brauchen Regenwald? Wozu?

Wir brauchen Raps für Biosprit.

Wir töten unsre Welt, auch du!

Denn wir machen alle mit.

Wenn ich mich nicht ernähren kann,

vermehre ich mich redlich.

Ein Kind wir überleben dann.

Für mich ist das nicht schädlich!

Es gibt mir Nahrung, gibt mir Zuflucht,

wenn ich gebrechlich, alt und schwach.

Hätt´ ich nur eins, hätt´s selber Zukunft.

So aber hungern alle acht.

»Gehet hin und mehret euch! «

sprach einer vor Äonen.

Nicht »Geht nun hin und nähret euch«?

Das war vor Gen´rationen,

drum weiß das heute niemand mehr,

und nach so langer Zeit

beten wir das Erste her.

Wir sind nicht recht gescheit!

Die Erde sträubt sich, will sich wehren,

erfindet Ebola und Pest.

Doch was mach ich? Lass sie gewähren?

Da lieber geb ich ihr den Rest!

Mit einer neuen Medizin

rette ich fast jeden.

Doch wo führt das letztlich hin?

Zurück zum Garten Eden?

Wir sind doch jetzt schon viel zu viele

für eine heile Welt!

Doch sind auch heute nur die Ziele

noch mehr Wachstum, Macht und Geld.

Wir geben Anreiz zur Vermehrung,

weil es zwar falsch, doch günstig scheint.

Die Erde siecht, schreit vor Entbehrung.

Doch keiner hört´s. Mein Enkel weint.

Kommentar: Es gibt viele Bedrohungen für die Zukunft der Menschheit. Hier wird die Überbevölkerung ins Visier genommen. Auch darüber muss nachgedacht werden.

Christiane Schwarze

Die Prinzessin und der Wassermann

Inas Suppenteller ist der Bodensee. Die Pfeffermühle ein Leuchtturm.

Vater schüttelt den Kopf: „Leuchttürme gibt es nur an der Meeresküste.“

Als Mutter noch lebte, erzählte sie ihr vor dem Einschlafen manchmal von Süddeutschland. Ina behält für sich, dass in Lindau sehr wohl ein großer Leuchtturm steht.

„Widersprich gefälligst nicht“, schreit Vater sonst.

Vater sagt, ihrer besten Freundin Cora wäre etwas Schreckliches angetan worden. Im Wald, wohin sie sich mit dem Pferd verirrt hätte. Und hebt den Zeigefinger: „Geh ja nicht alleine in den Wald!“