Der Kairos - Christoph-Maria Liegener - E-Book

Der Kairos E-Book

Christoph-Maria Liegener

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Beschreibung

Gibt es ihn wirklich, diesen einen Augenblick, der das ganze Leben verändert? Wenn er es zum Guten verändert, spricht man vom Kairos. Markus erlebt einen solchen Kairos in einem Augenblick größter Verzweiflung. Schlimm nur, dass dieses Erlebnis gekoppelt ist an ein großes Unglück, das viele andere Menschen in den Tod reißt. Kann Markus damit leben?

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Inhalt

Die Jugend

Ein Pechvogel

Der Kairos

Besserung

Ein neues Leben

Schorsch

Martha

Daniel

Ben

Das Alter

Die Jugend

„Will auch buddeln. Gib mir das!“, motzte der kleine Roland den noch kleineren Markus im Sandkasten an und nahm ihm die Schippe weg.

„Ute, der Roland hat mit die Schippe weggenommen“, plärrte Markus los und die Kindergärtnerin Ute lief herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sie befragte Roland zu dem Vorwurf und der behauptete:

„Ich habe die Schippe zuerst gehabt.“

Damit umklammerte er das Corpus Delicti mit beiden Händen und drückte es sich an die Brust. Er machte klar: Kampflos würde er das gute Stück nicht wieder hergeben.

Ute, die keine Lust auf eine körperliche Auseinandersetzung mit dem Jungen hatte, beschränkte sich auf den Versuch, Markus zu trösten und ihn abzulenken. Roland lernte daraus, dass er Erfolg damit hatte, vollendete Tatsachen zu schaffen und diese dann zu verteidigen. In der Welt der Großen werden ganze Kriege auf diese Weise geführt.

Ute gelang es indes, Markus‘ Aufmerksamkeit auf ein Kaleidoskop zu lenken. Das faszinierte den armen Kerl und bald war er ganz darin versunken, bis Roland ihm auch das wegnahm.

Derartige kleine Rangeleien im Kindergarten trübten Markus‘ Alltag im Vorschulalter. In der Schule sollte es nicht besser werden.

Schon in der ersten Klasse begann Roland herumzuerzählen, dass keiner Markus mögen würde.

„Den kann keiner leiden“, erzählte er allen, die es hören wollten. Und das waren viele. In diesem Alter hören die Jungs auf das, was die anderen sagten, vor allem, wenn es die Stärkeren sind. Und Roland war der stärkste Junge der Klasse. Die Mitschüler wollten mit dem Mainstream schwimmen und hielten sich von dem gebrandmarkten Außenseiter fern. Rolands Behauptung erwies sich als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Markus kannte zwar den Grund nicht, warum alle ihn mieden, spürte jedoch, dass etwas nicht stimmte. Das beeinträchtigte sein Selbstbewusstsein und dadurch kam er tatsächlich nicht mehr so gut mit den anderen aus. Ein Teufelskreis.

Dann kam der Schwimmunterricht. Der Lehrer befahl den Schülern, auf einer Rutsche ins Becken zu gleiten. Markus, der ein Stück kleiner war als seine Mitschüler und noch nicht schwimmen konnte, bekam Angst.

„Was, wenn ich da nicht stehen kann“, fragte er Susi, eine Mitschülerin, die neben ihm stand. Er wollte sein junges Leben nicht jetzt schon verlieren.

Susi, ein nettes Mädchen, antwortete freundlich:

„Dann ziehe ich dich heraus.“

Markus stand unschlüssig am Beckenrand. Und während er noch überlegte, ob die kleine Susi wirklich in der Lage wäre, ihn zu retten, kam Roland vorbei und versetzte ihm einen derart kräftigen Stoß, dass er ins Wasser fiel.

Er konnte stehen und ertrank nicht.

„Problem gelöst!“, lachte Roland, sprang ebenfalls ins Wasser und tauchte Markus unter. Als der wieder hochkam, schrie er laut um Hilfe und Roland verdrückte sich, bevor der Lehrer etwas bemerkte.

So setzte sich das fort. Roland piesackte Markus immer wieder und nennenswerte Unterstützer fand Markus nicht.

Es wurde jedoch im Lauf der Jahre besser.

In der fünften Klasse tobten die Schüler auf dem Pausenhof herum. Einmal gab es sogar ein Fußballspiel und Markus spielte mit. Die Gruppe Schüler hatte auf dem Pausenhof einen alten Ball gefunden und spielte damit. Genau genommen hatte Markus den Ball gefunden, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er hatte ein bisschen mit dem Ball herumgekickt, worauf Gerd ihn gefragt hatte, ob er mitspielen dürfe. Markus war einverstanden und immer mehr Jungs hatten sich angeschlossen. Roland als der beste Spieler dominierte bald das Geschehen.

Sie waren so in ihrem Element, dass sie das Klingeln überhörten, welches das Ende der Pause ankündigte. Es dauerte nicht lange, bis der aufsichtführende Lehrer auftauchte und sie aufforderte, das Spiel zu beenden. Er fragte, wem der Ball gehöre, und Roland, der ihn gerade hielt, antwortete:

„Mir.“

Markus protestierte und gab an, dass er es gewesen wäre, der den Ball gefunden hätte, worauf Roland behauptete:

„Nein, ich habe ihn gefunden.“

Der Lehrer hatte keine Lust, die Sache weiter zu verfolgen, da die Schulstunde begann, und verfügte:

„Der, der den Ball hat, behält ihn.“

Roland triumphierte und Markus wandte sich enttäuscht ab. So verfestigte sich das Schema in Rolands Verhalten: Er nahm sich, was er wollte, und kam damit durch. Der Trick mit den vollendeten Tatsachen funktionierte immer wieder.

Das war jedoch sofort vergessen, als Markus nach Hause kam. Seine Mutter hatte ein leckeres Mittagessen zubereitet und gemeinsam aß die kleine Familie. Hier hatte Markus seine sichere Zuflucht, hier störte ihn niemand. Seine Eltern liebten ihn und hier konnte er wunschlos glücklich sein. Freunde brachte er nur selten nach Hause. Erstens, weil er kaum welche hatte, und zweitens, weil er die innere Welt seines Heims nicht mehr als notwendig mit der äußeren vermischen wollte.

Trotzdem sollte auch diese idyllische kleine Welt erschüttert werden. Er bekam ein kleines Schwesterchen, Sandra, und freute sich darüber. Öfter ließen die Eltern die beiden Kinder im Kinderzimmer allein, Markus auf dem Fußboden mit seinen Autos spielend und Sandra in ihrem Bettchen schlafend mit eingeschaltetem Babyphon.

An einem dieser Tage geschah es, dass, als die Mutter nach ihrer Tochter sah, diese leblos in ihrem Bettchen lag. In Panik untersuchte die Mutter das Mädchen, nur um festzustellen, dass Sandra tot war. Sie konnte es nicht fassen. Das überstieg ihre Kräfte. Sie schrie laut auf. Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie brach zusammen. Als sie wieder zu sich kam, fragte sie Markus, was geschehen sei. Markus wusste es nicht. Er hatte beim Spielen die Welt um sich vergessen.

Damals war der plötzliche Kindstod noch weitgehend unbekannt. Sandras Eltern erfuhren erst durch die Ärzte davon. Sandra war einfach von allein gestorben. Markus hätte nichts tun können. Die Eltern hatten ihm auch bisher keine Vorwürfe gemacht, da sie die Vorkommnisse nicht verstanden hatten und ihren Sohn nicht zu Unrecht beschuldigen wollten. Jetzt hatten sie Klarheit und Markus hatte nichts damit zu tun.

Trotzdem blieb nicht aus, dass der Junge sich fragte, ob er eine Schuld trüge. Hätte er sich mehr um seine Schwester kümmern müssen? Kinder kommen auf die sonderbarsten Gedanken: War Sandra an fehlender Aufmerksamkeit gestorben? Er fühlte sich schuldig. Das blieb noch eine Weile so, bis er die Sache verdrängte.

In der Schule verhielt Markus sich unauffällig. Seine Leistungen genügten den Anforderungen, das schon – mehr aber auch nicht. Es war ihm genug. Er hatte nicht den brennenden Ehrgeiz, besser als andere zu sein. Die Themen, die ihn interessierten, verfolgte er intensiv, ohne allerdings damit anzugeben. Dazu gehörten unter anderem Physik und Mathematik. Was Markus interessierte, war allerdings nicht der Schulstoff, sondern die aktuellen Entwicklungen in diesen Disziplinen.

In der siebten Klasse begann Roland, seine Mobbing-Clique aufzubauen. Sie tyrannisierten alle Mitschüler, auch Markus – besonders gern Markus. Der entzog sich zunächst, indem er öfter mal zu Hause blieb. Seine Mutter, der er sich anvertraut hatte, schrieb ihm die Entschuldigungen. Danach überlegte er sich Strategien für die Dauer. Dazu gehörte, erst zum Unterrichtsbeginn in der Schule aufzutauchen und in den Pausen in der Nähe des aufsichtführenden Lehrers zu bleiben.

Als braver Schüler bekam er nie Ärger mit den Lehrern – bis auf einen Fall. Die Klasse schrieb eine Klausur in Mathematik und die Lehrer hatten einen Hinweis erhalten, dass ein Schüler einer höheren Klasse einem Schüler aus Markus‘ Klasse Informationen per SMS mitteilen wollte. Welcher Schüler es war, wussten sie nicht. Da die Handys in der Schule abzugeben waren, beschloss man, die Schüler zu durchsuchen, um festzustellen, wer eines dabei hatte.

Als der Direktor mit einigen Kolleginnen und Kollegen den Saal betrat und alle aufstehen mussten, warf Roland plötzlich Markus das Handy zu. Dieser fing es instinktiv auf und hatte es noch in der Hand, als die Kontrolle begann. Alles sprach dafür, dass er der Schummler war. Er leugnete, konnte aber auch nicht erklären, wie er zu dem Handy gekommen war. Dazu hätte er Roland verpetzen müssen, was trotz aller erlittener Gemeinheiten die Kameradschaft verbot.

Zu seinem Glück konnte er in einer mündlichen Prüfung beweisen, dass er den Stoff beherrschte und einen Täuschungsversuch nicht nötig gehabt hätte. Der Fall wurde als ungeklärt zu den Akten gelegt.

Bei den Schulpartys – damals noch Feten genannt – hielt Markus Abstand zu Roland. Der gehörte nämlich zu jenen merkwürdigen jungen Männern, die sich besser fühlen, wenn sie anderen Schwierigkeiten bereiten. Auf diesen Events wurde viel Alkohol getrunken und es gab ab und zu mal eine Schnapsleiche. Roland machte sich dann einen Spaß daraus, eine Hand des hilflosen Opfers in ein Gefäß mit lauwarmem Wasser zu tauchen und wie blöd zu lachen, wenn der arme Kerl sich dann einnässte. Markus bekam derartige Vorfälle mit und verachtete Roland deswegen. Eingemischt hatte er sich nur ein einziges Mal. Damals hatte er kühn zu sagen gewagt:

„Mach das nicht!“

Darauf hatte Roland nur geantwortet:

„Halt dich da raus, altes Haus! Du willst doch keinen Ärger mit mir kriegen, oder?“

Der unerfahrene Markus hatte mutig seine Stellung behauptet und wiederholt:

„Mach das nicht!“

Nun hatte Roland sich ihm zugewandt und schulterzuckend bemerkt:

„Gut, da du es nicht anders willst …“

Mit diesen Worten hatte er Markus weggeschubst. Der hatte noch nicht aufgegeben und sich mit dem Mut der Verzweiflung auf Roland gestürzt. Kampferfahrung hatte er nicht gehabt und sich nach kurzer Rangelei einen Kinnhaken eingefangen, der ihn auf die Bretter geschickt hatte.

Zu jener Zeit war es noch üblich, einen Gegner, der am Boden lag, nicht mehr anzugreifen, und selbst Roland hielt sich an diese Regel. Er ließ Markus in Ruhe und malträtierte den betrunkenen Jungen wie beabsichtigt.

Markus dachte sich später, dass diese Eskalation wohl nicht notwendig gewesen wäre; denn die nasse Hose des ursprünglichen Opfers war sicher nicht so schlimm war wie seine eigenen Blessuren.

Seither hatte Markus sich bei solchen Gelegenheiten herausgehalten. Für sein Ego brauchte er es nicht, den Helden zu spielen.

Verpetzt hat er Roland trotzdem nicht ein einziges Mal. Davon hielt ihn ein ungeschriebener Verhaltenskodex unter Schülern ab. Der Kodex galt natürlich nur für die Opfer. Die Täter dagegen hatten keinerlei Hemmungen, in einer Notlage zu petzen.

Er hing jetzt öfter mit Gerd und ein paar anderen Jungs ab. Sie hatten nichts als Unsinn im Kopf. Im Treppenhaus ihrer Schule stand eine ziemlich große Statue aus Bronze, die einen früheren Direktor der Schule darstellte, der wohl sogar die Schule gegründet haben sollte. Er sah genauso aus, wie man sich einen Pauker aus der alten Zeit des Kaiserreichs vorstellt: einfach nur blöd. Die Jungs beschlossen, ihn mit bunten Farben anzumalen, damit er nicht mehr so ernst wirken möge. Damit die Farben nicht so leicht abzuspülen sein mögen, nahmen sie Lacke.

Sie legten die Aktion auf den Nachmittag, weil da die Flure leer waren. Sie hatten trotzdem Pech: Der Hausmeister erwischte sie und konnte sie, auch wenn sie zunächst geflohen waren, später alle identifizieren. Jeder von ihnen erhielt einen Tadel, verbunden mit einer Stunde Arrest. Außerdem mussten die Eltern der Übeltäter für die Beseitigung des Schadens aufkommen.

Roland lachte Markus aus, als er ihn das nächste Mal sah, und meinte:

„Wie kann man sich nur bei sowas erwischen lassen? Jedes Mal, wenn ich so einen Idioten wie dich sehe, muss ich lachen.“

Worauf Markus antwortete:

„Wie kannst du dir dann vor dem Spiegel die Haare kämmen?“

Roland dazu:

„Immerhin bin ich noch nie erwischt worden.“

Inzwischen interessierte sich Markus auch für Mädchen. Die Tochter seines Zahnarztes hatte es ihm angetan – eine niedliche Blondine in seinem Alter. Gundula hieß sie und arbeitete bei ihrem Vater als Sprechstundenhilfe. Später wollte sie Zahnarzthelferin werden.

Als Markus die Praxis betrat, fragte er Gundula:

„Du machst doch hier die Termine. Könnte ich da nicht auch einen privaten Termin bei dir ausmachen?“

Ihr Vater, Herr Dr. Schinder, der gerade den Raum betrat, meinte amüsiert:

„Um was für einen Termin soll es sich denn dabei handeln?“

„Och, gar nichts. Ist nicht so wichtig“, stammelte der ertappte Markus und errötete.

„Na gut. Dann kommen Sie mal gleich mit mir ins Behandlungszimmer!“

Verwirrt folgte Markus dem Zahnarzt und nahm im Behandlungsstuhl Platz.

„Wo tut’s denn weh?“, fragte Dr. Schinder harmlos.

Markus bezeichnete den schmerzenden Zahn und Dr. Schinder begann sofort zu bohren. Es tat höllisch weh.

„Autsch!“, schrie Markus.

Warum hatte der Zahnarzt ihm denn kein Lokalanästhetikum gespritzt, wenn es derart weh tun würde. Das war doch so üblich! Gerade wollte er ihn darauf ansprechen, als der Zahnarzt plötzlich fragte:

„Sind Sie außer Gefahr?“

Markus kannte diesen Satz.

Jeder, der den Film „Der Marathon Mann“ gesehen hat, kennt diesen Satz. Dort sagte ihn der böse Nazi-Zahnarzt immer wieder, während er sein Opfer auf dem Behandlungsstuhl mit dem Bohrer folterte.

Markus hatte den Film mehrmals gesehen und erinnerte sich gut an den Satz.

Drohte ihm jetzt auch Folter mit dem Zahnarztbohrer, weil der Zahnarzt sich über seinen Annäherungsversuch an seine Tochter geärgert hatte? Es gab offenbar keine andere Erklärungsmöglichkeit. Und eine erste Kostprobe von den Schmerzen, die ihm drohten, hatte er ja schon bekommen. Panik ergriff Markus. Er war nicht dazu geschaffen, solche Schmerzen zu ertragen. Kreischend wie am Spieß sprang er aus dem Stuhl und ergriff mit weiten Sätzen die Flucht.

Was hatte bloß Gundulas Vater geritten, diese Show zu veranstalten. Das, was passiert war, konnte doch nicht bloß Zufall gewesen sein?! Schließlich hatte er Markus tatsächlich Schmerzen zugefügt. Und den sinnlosen Satz hatte er doch nicht einfach so dahingesagt! Oder doch? Oder hatte der Vater testen wollen, aus welchem Holz der Bewerber um die Gunst seiner Tochter geschnitzt war? Ob er bereit war, für seine Liebe zu leiden?