8 x 8 Tage am Ende der Welt - Carlo Reltas - E-Book

8 x 8 Tage am Ende der Welt E-Book

Carlo Reltas

0,0

Beschreibung

Das Ende der Welt – Gibt es das? Wo ist der Anfang, wo das Ende auf dem Planeten Erde? Karl, der Reisende dieses Buches, sucht das Ende der Welt am Südzipfel Südamerikas. In Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, nimmt er an dem Wettlauf Carrera Fin del Mundo teil, dem Lauf am Ende der Welt. Doch er beschäftigt sich auch mit anderen Aspekten des "Weltendes" wie dem Klimawandel. Er stellt dessen Auswirkung insbesondere an den Gletschern in den patagonischen Anden fest. Patagonien ist die Landschaft, die Karl auf seiner Reise von Buenos Aires nach Ushuaia erkundet, sowohl auf argentinischer wie auf chilenischer Seite. Berühmte Andenorte wie Bariloche, El Chaltén und El Calafate zählen zu seinen Stationen, aber auch die Welterbe-Höhle Cueva de las Manos inmitten der Steppe und die ehemalige Boomtown Punta Arenas an der Magellanstraße. Die Politik von Argentiniens Präsident Milei und die Geschichte des Genozids an den Indigenen blendet er ebenso wenig aus. Doch letztlich überwiegt seine Begeisterung für die großartige Landschaft Patagoniens. 232 Seiten + 44 Bildseiten mit 114 Farbfotos

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carlo Reltas

8 x 8 Tage

AM ENDE DER WELT

Durch Patagonien von Norden nach Süden

Für Dalia und Viola 

Titelbild: 

Perito-Moreno-Gletscher  

bei El Calafate / Argentinien

Alle Fotos:  

© C. Reltas 

© Copyright by CARE of Sattler 2025ISBN 978-3-758485-40-4

Verlag:CARE of SattlerHauptstraße 21, 53604 Bad Honnef

[email protected]:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin,www.epubli.de

Carlo Reltas

8 x 8 Tage

AM ENDE DER WELT

-

Durch Patagonien 

 von Norden nach Süden

CARE

Bad Honnef

Content 

Cover

Widmung

Titel

Impressum

Vorwort: Wo ist das Ende der Welt?

         Am Río de la Plata

1-1  Bemvindo – bienvenido carajo!

1-2  Buenos Aires in 24 Stationen

1-3  „Von Kunst verstehe ich nichts“

1-4  Evita – die ewig strahlende Sonne

1-5  Legenden, ein Kuss und ein Gekreuzigter

1-6  Tänze in Recoleta und San Telmo

1-7  Uruguay – Porongos in aller Hände

1-8  Colonia – Perle am Río de la Plata

        Buenos Aires und Bariloche

2-1  Konsum, Kultur, Tango und Tabletten

2-2  Tristesse der Vorstädte, Zauber der Anden

2-3  Bariloche – Tor zu Anden und Patagonien

2-4  Ein Diktator und ein majestätischer See

2-5  Im mystischen Myrtenwald

2-6  Seen Sehen begeistert

2-7  Tronador  – Endlich am Donnerberg

2-8  On the road – Südwärts, immer südwärts

        Perito Moreno und El Calafate

3-1  Zwei-Länder-See und Schwanensee 

3-2  Hände voller Weltkulturerbe

3-3  On the road again – Welch ein Umweg!

3-4  All you need is a German Bakery

3-5  So lebten die Tehuelches

3-6  Lago Argentino: Türkis wie Tiefe

3-7  Wie ein Gletscher entsteht – und überlebt?

3-8  Wohl das berühmteste Eisfeld der Welt

        El Chaltén 

4-1  Nationale Trekking-Hauptstadt

4-2  Kondore, Adler und ein echter Pionier

4-3  Steigung, Schotter, Wind und Wetter

4-4  Cerro Torre, der „unmögliche“ Berg

4-5  Tristesse, Verdruss und Lichtblicke

4-6  Der Rauchende Berg spielt Verstecken

4-7  Aufstieg und Abschied

4-8  Zurück zum Argentino und zu La Zorra

        Nochmals El Calafate und Puerto Natales

5-1  Auf der Estancia – ein Blick zurück

5-2  Kampf mit dem unangenehmsten Patagonier

5-3  Auf nach Chile!

5-4  Von letzter Hoffnung und einer Entdeckung

5-5  Türme im Blau

5-6  Freunde des Winds und ein Eintonner

5-7  Aufstieg zum eisigen Gletschersee

5-8  Wiedersehen mit dem Karakara

        Puerto Natales und Punta Aremas

6-1  Besuch bei Sofía

6-2  Zu den „Baronen“ von Punta Arenas

6-3  Unter Pinguinen, Magellan-Pinguinen

6-4  Im Reich der Toten

6-5  Unter Patagoniern, den Großfüßern

6-6  Baum, Geheimnis, große Seefahrer

6-7  Auf zu den Königspinguinen

6-8  An Bord von Magellans „Kogge“ Victoria

        Punta Arenas, Río Gallegos und Feuerland

7-1  Abschied von der einstigen Boomtown 

7-2  Río Gallegos

7-3  Endlich auf nach Ushuaia

7-4  Die südlichste Stadt der Welt

7-5  Von Sträflingen und Schiffbrüchigen

7-6  Bei Robben, Seelöwen und Kormoranen

7-7  Heilloser Stilmix und Heldenverehrung

7-8  Die Schwestern, Sancho und Karl

        Ushuaia und zurück in Buenos Aires 

8-1  Am Río Pipo, wo einst Pipo verschwand

8-2  Bergauf, immer bergauf zum Gletscher

8-3  Nochmal Martial und die Yámana

8-4  Vorfreude

8-5  Raceday!!!

8-6  Fast eine Heimkehr … nach Buenos Aires

8-7  La Plata – Hauptstadt neben der Hauptstadt

8-8  Abschied

Nachwort: Ein Ende oder nur ein Dazwischen?

Karten

Über den Autor

Vom selben Autor

VORWORT

Wo ist das Ende der Welt?

   Die Erde ist rund – wo also ist ihr Ende, wo ihr Anfang? Die Geografen und Kartografen haben sich auf die Pole als End- und Schnittpunkte ihrer Längen- und Breitengrade verständigt. Die Pole sind die Durchstoßpunkte der Rotationsachse eines Himmelskörpers, der symmetrisch rotiert. Das trifft auch auf die Heimat der Spezies Mensch, den Planeten Erde, zu.  Seine Rotation um sich selbst definiert unseren Tag, in dessen Lauf mal die eine, mal die andere Seite der Sonne zugewandt ist.Aufgrund der zusätzlichen Wanderung auf einer Umlaufbahn um die Sonne erleben die Erdenbewohner die Jahreszeiten. Die Wölbung der Erde sorgt dafür, dass die Endpunkte ihrer Rotationsachse die geringste oder genauer die schwächste Sonneneinstrahlung erfahren. Eine Reise ans Ende der Welt ist also auch eine Reise in die Kälte.Die Vorstellung vom Ende der Welt ist landläufig ein schwer zugänglicher, einsamer, ruhiger Ort. Diesem Klischee entspricht aber auch ein Platz zur Meditation mitten in einer heißen Wüste wie der Sahara. Unser Reisender Karl hat dies im Süden Marokkos mehrfach erfahren, das Verlorensein in scheinbarer Unendlichkeit. Ein natürlicher Begleiter war jedoch auch dort mit aller Macht stets zugegen, dem er in Patagonien ebenfalls begegnen sollte, der Wind.Patagonien, die Landschaft im Süden Argentiniens und Chiles, kommt dem Pol auf der Südhalbkugel am nächsten. Karl wollte sich nicht unter die Polarforscher begeben, die zwar heute in unserer hochtechnisierten Welt nicht mehr ihr Leben riskieren wie die ersten Entdecker Roald Amundsen und der auf dem Rückweg vom Pol in der Eis- und Schneewüste umgekommene Robert F. Scott, die sich aber immer noch den Unbilden eines Extremklimas aussetzen müssen. Sein Ziel ist bescheidenerer Natur. Er will zur südlichsten Stadt auf dem amerikanischen Kontinent und somit der Welt. Denn Kapstadt an Afrikas Südende, dem Kap der Guten Hoffnung, liegt mehr als 20 Breitengrade weiter nördlich und Singapur, die südlichste Stadt auf dem asiatischen Kontinent, sogar noch knapp oberhalb des Äquators! Nicht besser steht es um Australien. Der Name steht zwar übersetzt für Südland. Aber mit dem Südzipfel Amerikas kann es in punkto Polnähe nicht konkurrieren.Seitdem sich die fixe Idee, einmal ans Ende der Welt zu reisen, in Karls Kopf entfaltet hatte, seitdem in ihm die Hoffnung reifte, an einem solchen Ort philosophische Tiefe zu erlangen, sich den Gedanken von Anfang und Ende, des Wohers und des Wohins zu stellen, seitdem war für ihn deshalb klar, dass seine Reise an die Südspitze Südamerikas führen sollte. Den konkreten Anlass bot dem passionierten Langstreckenläufer eine Nachricht über ein Rennen am Ende der Welt, die Carrera Fin del Mundo. Im Dezember wird in der südlichsten Stadt der Welt, in Ushuaia an der Südküste Feuerlands, die Carrera más Austral de Argentina, das südlichste Rennen Argentiniens ausgetragen. Bereits im März meldet er sich an. Und nachdem er die Startgebühr online bezahlt und die Zusage erhalten hat, beginnt er mit der Planung seiner Reisestationen.Ushuaia – dieser indigene Name klingt wie ein Schlachtruf. Auf nach Ushuaia! Aber wie? Karl will sich Zeit nehmen für die Durchquerung des sagenumwobenen Patagoniens, wo Schafzucht und Wollproduktion innerhalb weniger Jahrzehnte vom Ende des 19. bis in die 30er Jahre des vergangenen  Jahrhunderts gigantische Vermögen entstehen ließen. Natürlich soll aber seine Reise in der Hauptstadt Argentiniens beginnen, der Kapitale am Ufer der riesigen Mündungsbucht des Río de la Plata, des Silberflusses. Einen Abstecher auf die andere Seite dieses breiten Trichters, von dessen Ufern das Gegenüber nicht zu erkennen ist, nach Uruguay also, setzt er auch auf seine Reiseliste.Danach soll ihn nichts mehr aufhalten auf dem Wege nach Patagonien, dieser Großlandschaft, die den Süden zweier Länder bedeckt, auch nicht die Pampa mit ihren Rinderherden. Karl hat keine Ambitionen als Cowboy oder als Gaucho, wie sie dort heißen. Ihn zieht es vielmehr in die Berge, zu den Kordilleren, den Gebirgsketten der Anden. San Carlos de Bariloche gilt als das südamerikanische „Sankt Moritz“ am Fuß der Kordilleren. Dieser Ort, an dem sich auch viele deutsche Einwanderer niedergelassen haben, soll für ihn das „Tor zu Patagonien“ sein. Indes liegt dieses Tor so weit entfernt (über 1.500 Kilometer von Buenos Aires), dass er auf dem Weg in den Süden dieses einzige Mal in ein Flugzeug steigt.Auf seinem weiteren Kurs lässt er sich mangels eines Eisenbahnnetzes in Patagonien von bequemen Langstreckenbussen transportieren. Perito Moreno in der Nähe des Weltkulturerbes Cueva de las Manos und Los Antiguos am grenzüberschreitenden Buenos-Aires-See (auf chilenischer Seite heißt er Lago General Carrera) sind seine nächsten Stationen. El Calafate am größten argentinischen See Lago Argentino reizt ihn wegen des berühmten, ständig rumorenden und kalbenden Gletschers Perito Moreno, der mit seinen Durchbrüchen lange ein einzigartiges Naturspektakel bot. Am quasi benachbarten See Lago Viedma lockt ihn die „Wandererhauptstadt Argentiniens“ El Chaltén am Fuß des FitzRoy-Massivs. Danach will er eine niedere Kordillere überwinden und nach Chile zur Hafenstadt  Puerto Natales wechseln. Natales ist der Ausgangsort für Exkursionen in den wunderbaren Nationalpark Torres del Paine, dessen drei Türme Karl an die emblematischen Drei Zinnen in den Dolomiten erinnern.In Punta Arenas, seiner nächsten chilenischen Destination, zeugen die prächtigen Stadtpaläste aus der Zeit nach der vorletzten Jahrhundertwende vom binnen weniger Jahrzehnte erlangten Reichtum der Schaf- und Wollbarone Patagoniens. Von dort durchquert Karl den Südzipfel Amerikas von Westen nach Osten. In der Provinzhauptstadt Río Gallegos trifft er auf den Atlantik.Danach endlich erreicht er sein Ziel, Ushuaia, die südlichste Stadt Amerikas. Einst eine winzige Siedlung ist der Verwaltungssitz der argentinischen Provinz – Achtung langer Name – „Feuerland, Antarktik und Südatlantische Inseln“ heute eine sehr lebendige, moderne Stadt von ca. 82.00 Einwohnern. Der Name Ushuaia stammt aus der Sprache der indigenen Yámana und bedeutet „Bucht, die nach Osten weist“. Das Schicksal dieser Ureinwohner, die von eingeschleppten Krankheiten und mörderischen Siedlern quasi ausgemerzt wurden, wird Karl an diversen Erinnerungsstätten begegnen und zu Herzen gehen.Die Stadt am Ende der Welt wird der Ort in Patagonien sein, wo Karl am längsten verweilt. Denn schließlich muss er sich auf seinen Geländelauf, das Ushuaia Trail Race, vorbereiten, ein Rennen, das für ihn immerhin auf dem Podium endet. Zudem geht von dem Ort trotz seiner Modernität eine gewisse Magie aus, die durch das Erleben der Seevögel, Robben und Seelöwen im vorgelagerten Beagle-Kanal und die Einnerung an das tragische Schicksal der Yámana verstärkt wird. Denn sie führten in diesem unwirtlichen Klima ein kaum vorstellbares, angepasstes Leben, im kurzen Sommer fast nackt und in den kühleren Jahreszeiten nur von Seelöwenleder bedeckt.Am Tag nach dem „Sieg“ am Ende der Welt fliegt Karl zurück nach Buenos Aires. Nach der frischen Zeit in Patagonien genießt er in der ca. 3.000 Kilometer nördlich gelegenen Hauptstadt für zwei Tage endlich den südlichen Sommer. Er wird nach Erkundung ihres Endes in der Nähe des Pols diese runde Welt umrunden und dazu weiter westwärts reisen, genauer nordwestwärts. In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul wird er viele Freunde treffen, die er dort in der Runners Community während eines dreijährigen Auslandsaufenthalts im wahrsten Sinne des Worts gewonnen hat.

Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wird er 77 Tage rund um die Welt unterwegs gewesen sein, davon 64 Tage in Südamerika. Doch 64, das klingt für Karl, der eine Vorliebe für Zahlenspiele und Zahlendopplungen hat, zu prosaisch. Die Dopplung der Acht, 8 x 8 statt 64 Tage stimmt ihn schon im Vorhinein freudiger. Und deshalb lautet der Titel des Buches auch „8 x 8 Tage am Ende der Welt“.* 

* Die Zählung der Kapitel geht, dem Buchtitel entsprechend, deshalb auch nicht von Tag 1 bis Tag 64, sondern von Tag 1-1 bis Tag 8-8.

Bem-vindo – bienvenido carajo!

Dienstag, 08.10.2024, Tag 1-1,
an dem Karl einen unnützen Rat von Will Smith erhält, die Kiwi-Freunde verpasst und der Empanada-Sucht verfällt.
   Zwischenstopp um 3 Uhr morgen in Guarulhos, einem Vorort im Nordosten der brasilianischen Wirtschaftsmetropole São Paulo. Bem-vindo ao Brasil! Am späten Vorabend hatte Karl in der deutschen und europäischen Bankenstadt Frankfurt am Main seine Reise ans Ende der Welt begonnen. Nun mitten in der Nacht ist er am Internationalen Flughafen der Megalopolis, in der das ökonomische Herz Brasiliens schlägt, gestrandet. Der Herzrhythmus ist auf Minimalfrequenz heruntergefahren. Nichts los in Guarulhos! Nur wenige Nachtwandler wie Karl, der von seinem Ankunftsterminal hinüber zum Nachbarterminal mit seinem Flug nach Buenos Aires wandert, streifen durch die Gänge. In Terminal 3 marschiert er mitsamt seinem nicht leichten Handgepäck auf und ab. Mit Bedacht registriert er seine frühmorgendliche Aktivität und postet sie samt Bewegungsbild auf der Sportler-App Strava. Er braucht dies als Beweis seiner Anwesenheit in ihrer Stadt für seine Kiwis, die er mit diesem  kleinen Scherz überraschen will.    
Aber seine neuseeländischen Freunde Judith und Stephen schlafen wohl noch. Gerne hätte er die beiden Kiwis – so nennen sich Neuseeländer selber nach ihrem Nationalvogel – auf ihrem üblichen Morgenkurs in São Paulos Ibirapuera-Park begleitet. Aber sein Vogel nach Buenos Aires hebe schon um 6:55 Uhr ab, schreibt er ihnen. Judith antwortet ihm später mit einem Smiley, dass sie sich gefreut hätten, ihn dabei zu haben, und wünscht ihm viel Spaß in Argentinien. Die während der drei Jahre in Südkorea geknüpften Freundschaften wirken also erfreulicherweise fort, auch wenn die ehemaligen Laufkameraden vom Han-Fluss inzwischen auf ihren beruflichen Karrieren an einem anderen Weltende tätig sind, aber nebenher nach wie vor auch dort Lauf-Medaillen einheimsen.
Karl streckt sich auf den harten Sitzbänken der Flughafenhalle aus, macht Dehnungsübungen im Liegen und denkt dabei an das Aufwärmtraining beim Seoul Flyers Running Club, in dem er noch 15 Monate zuvor aktiv war. Dann ruht er sich ein wenig aus, bis der Flug LA8032 nach Argentiniens Hauptstadt aufgerufen wird. Er lässt dabei seine Blicke schweifen.
Das einzig ihm bekannte Gesicht in der hochmodernen chromglitzernden Lounge hängt von der Decke. Auf einem riesigen Plakat hält ihm Will Smith die gelbe Karte von „Nomad“ entgegen und verspricht, dies sei das internationale Konto, das die Sprachbarrieren niederreiße und freie Bahn für Karls Investitionen schaffe. „Aber Will, ich habe doch eine Master-Card. Die ist doch mindestens genauso international! Damit bin ich doch absolut auf der sicheren Seite“´, murmelt Karl im Halbschlaf. Er ahnt noch nicht, dass sich diese Einschätzung als verhängnisvoller Irrtum erweisen sollte.
Den Aeroparque Jorge Newbery trennt nur eine Schnellstraße vom Ufer des Río de la Plata. Die Buslinie in die nicht allzu ferne City von Buenos Aires hat sich Karl schon in der Lounge von Guarulhos ausgesucht. Er schleppt sich mit Reisetasche am Handgelenk und Umhängetasche über der Schulter aus dem Flughafengebäude und genießt als Erstes die freie Sicht auf die See. Der „Silberfluss“ ist hier so breit, dass Uruguay auf der anderen Seite des Mündungstrichters nicht zu sehen ist. An den Taxis vorbei trollt sich der deutsche Immigrant zur seitlich nach rechts versetzten Bushalte am Highway. Avenida Costanera, Küstenallee heißt er hier zu Recht. 
Dem Busfahrer nennt er sein Ziel in der City, fragt nach dem Preis und hält ihm einen frisch aus dem ATM im Flughafen gezogenen Schein hin. Der Conductor schüttelt den Kopf: „No tiene una tarjeta Sube?“ Karl schaut ihn einen Moment verständnislos an. Dann dämmert es ihm. Er ist ja nicht mehr im digital rückständigen Deutschland! Bienvenido a Argentina! Selbst in Argentinien – und eben nicht nur in seinen modernen „Heimatländern“ der vergangenen Jahre, Südkorea und den Emiraten am Golf, sondern auch zum Beispiel in der Türkei – pflegt man heutzutage elektronisch aufgeladene Wertkarten im Nahverkehr einzusetzen. „Nein, tut mir leid. Ich bin gerade erst aus Europa angekommen.“ Der Chauffeur hat’s eilig. „Kaufen Sie sich in der City eine Sube-Karte.“ Sagt’s, legt den Gang ein, winkt ihn durch und fährt los. „Muy amable. Sehr freundlich. Mach‘ ich“, verspricht Karl und ist erleichtert sowie zugleich recht erfreut über die pragmatische Großzügigkeit in seinem neuen Gastland. Anstatt freundlicherweise dem Neuankömmling einen Begrüßungsbonus zu gewähren, hätte ein miesepetriger ÖPNVler ihn ja auch abweisen können mit der Empfehlung: „Gehen Sie zurück in den Flughafen und kaufen Sie sich erst einmal eine Karte!“ Von langer Reise ermattet, ist Karl glücklich, dass Juan Manuel, wie er den Mann am Steuer nach Argentiniens Formel-1-Idol J.M. Fangio insgeheim tauft, die Dinge souveräner handhabt. Hochkonzentriert rast J.M. die Küstenstraße entlang. Gegen Mittag ist Karl endlich in seinem Hotel im Innenstadtbezirk San Nicolás. Er gönnt sich eine kleine Siesta, bevor er auf eine erste Erkundungstour geht. Davor gilt es aber noch einiges anderes zu erledigen. 
Auf der nahen Fußgängerzone in der Calle Florida ersteht er Wechselstecker für seine Geräte aus Deutschland und den Emiraten. In einer Nebengasse der Florida entdeckt er ein Empanada-Lädchen, eine gute Gelegenheit, seinen inzwischen heftigen Hunger auf die Schnelle mit etwas Warmem zu stillen. Am rechten Fenster gibt man Wünsche und Namen an, zahlt und geht zwei Schritte weiter nach links, wo man in die Backstube für die gefüllten Teigtaschen blickt. Karl wartet bis „Carlos“ ausgerufen wird und nimmt seine drei Empanadas zum Kombipreis von 2.100 Pesos statt zum Einzelpreis von 750 Pesos in Empfang. Frisch gebacken, warm, außen knusprig und innen die Füllungen, wie Karl/Carlos sie geordert hat: Käse, Spinat und Schinken. „Einfach köstlich!“ findet der deutsche Kunde. Er wird es bei diesen drei Sorten belassen, wenn er sich in den nächsten Tagen während der Mittagszeit zusammen mit Angestellten aus den umliegenden Büros und Passanten von der Shopping-Meile Florida vor dieser Empa-nada-Bäckerei in der Lavalle oder der in der Parallelstraße Tucumán anstellt. Nie wieder auf seiner ganzen Argentinien-Reise wird er so leckere und so preisgünstige Teigtaschen vertilgen. An den Touristenorten sind sie mehr als doppelt so teuer und es gibt auch keine Kombi-Angebote. Offenbar sitzt den Urlaubern der Peso lockerer in der Tasche als den einfachen Oficinistas in der Kapitale, die zudem mittags zwischen zahlreichen konkurrierenden Imbissläden wählen können.
Nach Technik-Kauf und Lunch-Imbiss hat Karl noch ein Drittes zu erledigen. Er hat es Juan Manuel im Bus versprochen. An jeder U-Bahnstation könne man sie kaufen, die Sube-Karte, hatte er an seiner Hotelrezeption erfahren. Er geht also den City-Hügel hinunter zur Alem-Avenida, wo nicht nur J.M. und seine Kollegen in ihren Bussen vorbeirauschen, sondern auch die nächste Metrostation ist. Allerdings heißt sie hier wie auch im benachbarten Uruguay schlicht Subte, eine Abkürzung von Subterraneo, die Unterirdische. Das Verb Subir kann auch Einsteigen bedeuten. Sube al subte ist also die Aufforderung, in die U-Bahn einzusteigen. Karl braucht gar nicht unter die Erde zu gehen. Auf der Rückseite des ehemaligen Postpalasts trifft er auf einen Kiosk, wo er seine blaue Sube-Karte ersteht.  
An der Vorderfront des mächtigen Palasts beginnt Karls eigentlicher „Tourismus-Tag“. Der klassizistische Bau wurde 1928 als Hauptpost eingeweiht, ist dies aber bereits seit 2005 nicht mehr. Anlässlich des 200. Jahrestags der argentinischen Revolution von 1810 sollte dort ein Kulturzentrum entstehen. 2015 war es soweit. Unter der Präsidentschaft von Cristina Fernández de Kirchner wurde das Centro Cultural Kirchner (CCK) eingeweiht, benannt nach ihrem Amtsvorgänger und verstorbenen Ehemann Nestor Kirchner. Argentiniens aktuellem Präsidenten Javier Milei war dieser Name offenbar ein Dorn im Auge. Ein solch prominentes Gebäude, benannt nach einem Politiker der konkurrierenden peronistischen Partei, das ging mit ihm nun mal gar nicht. Per Dekret ließ er das Haus der Kunst umbenennen. Palacio Libertad, Palast der Freiheit heißt es nun, passend zu seinem Wahlspruch. Die meisten seiner Reden, auch die bei seiner Amtseinführung im Dezember 2023 beendet er nämlich mit dem Ausruf: „Viva la libertad carajo! Es lebe die Freiheit, verdammt!“           
An die ursprüngliche Bestimmung des Baus erinnert die lebensgroße, aber unspektakuläre graue Figur eines Briefträgers. Die eigentliche „Herrin“ des weiten Vorplatzes indes ist Juana Azurduy, eine Freiheitskämpferin gegen die Kolonialmacht Spanien, die posthum noch zur Generalin Argentiniens und als letzte Steigerung zudem zur Marschallin Boliviens befördert wurde. Ihr Denkmal zeugt mit Pathos von ihrem Mut. Im Unterschied zur französischen Heldin Jeanne d’Arc stürmt sie nicht fahnenschwingend, sondern den Degen fest im Griff voran. „Juana Azurduy / Flor de Alto Perú, / No hay otro Capitán / Más valiente que tu“, (Juana Azurduy, / Blume von Hochperu, / Der tapferste Anführer / Von allen bist du) lautet die erste Strophe des Gedichts von Félix Luna auf dem Sockel.
 Casa Rosada an Ostseite der Plaza de Mayo
Vom Platz vor dem Palacio Libertad erblickt Karl im Süden schon die Seitenfront der Casa Rosada. Das Rosa Haus, der Präsidentenpalast, steht mehr als alle anderen Gebäude der Hauptstadt für Argentiniens Schicksal. Von seinem Balkon hatte Evita Perón – für Argentinien gleichsam eine Nationalheilige sowie durch Musical und Film eine Ikone der Weltkultur – zu „ihrem“ Volk gesprochen. Dieses Volk hat auf dem Vorplatz des Palastes, der Plaza de Mayo, unzählige Male gegen seine Herrscher demonstriert. Die himmelblaue Flagge weht am hohen Mast, als Karl den Platz betritt, unter teils dräuend grauem, rechts neben der Flagge jedoch ein sich aufhellender weißblauer Himmel, auf dem die Sonne durchzubrechen versucht. Der neue Präsident Javier Milei sieht sich wohl als diese Sonne. Seinen Kampfruf „Viva la libertad carajo!“ benutzte er bei jedem Wahlkampfauftritt und auch bei seiner Inaugurationsrede. Mit der Brachialgewalt des von ihm ausgerufenen Anarcho-Kapitalismus will er die Wirtschaft seines Landes wieder in die Spur zum Erfolg bringen. 
Pirámide de Mayo inmitten des Platzes
All dies schießt Karl durch den Kopf, als er den berühmten Mai-Platz beschreitet. An diesem wolkenverhangenen Tag hält sich die Zahl der Touristen in Grenzen. Unaufgefordert tritt ein hagerer Mann mittleren Alters an ihn heran, fragt ihn nach dem Woher und beginnt ihm zu erläutern, was es ringsum auf dem Platz sehen gibt: Die vielen Kieselsteine um das Reiterstandbild des Generals Belgrano, der im Unabhängigkeitskampf als erster die weißblaue Fahne benutzte - jene Steine repräsentieren die Desaperecidos, die Verschwunden der Militärherrschaft während der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Inmitten des Platzes ragt die Mai-Pyramide auf mit der Inschrift 25 Mayo 1810. An diesem Tag erklärten lokale Politiker den spanischen Vizekönig Baltasar Cisneros für abgesetzt und setzten eine von der Krone autonome Junta ein. 
Südseite des Platzes mit Cabildo
Das Cabildo, eine Art Stadtrat und Vorparlament, tagte im gleichnamigen Gebäude am anderen des Platzes und ermächtigte jene Primera Junta (Erste Junta). Der zweistöckige Bau mit je fünf Arkadenbögen auf beiden Ebenen und einem Turm über den mittleren Arkaden ist heute ein Museum und wichtiges Zeugnis der Unabhängigkeits- und Demokratiegeschichte des Landes. Er bildet städtebaulich und politisch quasi einen Gegenpol zur Casa Rosada am anderen langen Ende des rechteckigen Platzes. Eingerahmt ist er von Prachtbauten aus der „Goldenen Ära“ Argentiniens zu Anfang des 20. Jahrhunderts, links vom Cabilde sogar mit Glockenturm. 
Karls hagerer Cicerone weist noch auf die katholische Kathedrale in der Nordwestecke des Platzes hin, wo die Gebeine von General José de San Martin ruhen, der im südlichen Teil Südamerikas als der Befreier dieser Länder im bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht gilt. Das klassizistische Gebäude mit seinen zwölf Säulen an der Portalseite ähnelt äußerlich eher einem römischen Tempel als dem Bild einer langschiffigen europäischen Kathedrale. Bevor Karl das Gotteshaus betritt, entlässt er seinen „selbstlosen“ Führer mit einer Spende für ein Kinderhilfswerk, für das jener sammelt. Im Gegenzug erhält der Tourist einen Prospekt für eine Stadtrundfahrt durch die Hauptstadt, was immer eine gute Sache ist, um sich in einer Kapitale den Überblick zu verschaffen, und was er in der Tat für den nächsten Tag plant.
Als sich Karl dem Zebrastreifen nähert, über den er vom Platzinnenraum hinüber zur Kathedrale jenseits der Straße will, trottet vor ihm eine Horde halbwüchsiger Weißbekittelter einher, eine Schulklasse im Einheitslook, wie Karl auf dem Weg zu General San Martín. Später am Nachmittag nach dem Café-Besuch sollten ihm an gleicher Stelle sechs echte Uniformierte im Marschschritt begegnen – mit Degen, Tressen, Koppel, Litzen und Paradekasketten, die Ablösung der Palastwache an der Casa Rosada. In der heiligen Halle mit dem gold-schimmernden Deckengewölke und dem prächtigen Altar verweilt Karl nicht lange. Ihn lockt das „Pertutti“ an der anderen südwestlichen Ecke des Platzes. Trotz des volkstümlichen Namens („Für  alle“ auf Italienisch) ist es ein nobles Kaffeehaus. Karl lässt sich von seinem Charme einnehmen und wird es noch des Öfteren besuchen. An diesem Frühlingsdienstag, seinem ersten Tag in der Stadt, lässt er sich auf der Terrasse nieder, ganz nah an den Passanten, die vorbeihasten oder bummeln und zum Teil über die Treppe an dem gelben kreisrunden Schild mit der Aufschrift „Subte“ unter der Erde verschwinden.
Karl bestellt einen Darjeeling und einen Alfajor, eine echte Spezialität Argentiniens, ein schokoladenüberzogenes kreisrundes Gebäck, bestehend aus Schichten von Kuchen oder Keksen sowie der Milchcreme „Dulce de leche“ sowie feiner Marmelade. Der Deutsche auf kulinarischer Entdeckungstour und besonderer Liebhaber von Süßspeisen und Backwerk zelebriert den Genuss mit Messer und Gabel. Zwischendurch nimmt er kleine Schlückchen vom Darjeeling, der in einem hübschen schwarzen Metallkännchen heiß gehalten wird.  „Tiene un sabor celestial. / Es schmeckt himmlisch“, bescheinigt er  dem interessiert nachfragenden Kellner.
Nach dieser kleinen, aber feinen Nachmittagsmahlzeit fühlt Karl sich schon ein wenig argentinisch, denkt er und ein Grinsen huscht dabei über sein Gesicht. Als „Porteño“, als Hafenstädter, wie die Einwohner von Buenos Aires bezeichnet werden, sollte er noch einmal hinunter ans Wasser, beschließt er und wandert am Präsidentenpalast vorbei hinunter zum alten Puerto Madero, dem ehemaligen Holzhafen. Inzwischen ist er längst ein modernes Büro-, Geschäfts- und Ausgehviertel geworden. Karl überquert das alte Hafenbecken, wo jetzt nur noch das Museumsschiff Presidente Sarmiento und Yachten vor Anker liegen, auf der modernen Fußgängerbrücke Puente de la Mujer (Brücke der Frau). Dem alten Hafen und der neuen Hafenstadt vorgelagert ist das riesige Naturschutzgebiet Reserva Ecológica Costanera Sur. Erst dahinter fließt der Río de la Plata. So weit wird Karl an diesem Abend nicht mehr gehen. Er stoppt an der Ufermauer der Laguna de los Coipos, des Sumpfbiber-Haffs. Auf der anderen Seite der Lagune erblickt er ein grünes Paradies von Büschen und Bäumen, davor im flachen Wasser ein lange gelbgrüne Phalanx: Tausende von Sumpfschwertlilien. Auch auf einer kleinen Insel in der Lagune blühen sie.
Morgens nach seiner Landung auf dem citynahen Aeroparque war die scheinbar unendliche Weite des silbrig schimmernden Río de la Plata sein erster Eindruck. Abends im citynahen Naturpark Reserva Costanera Sur steht er vor einem großartigen Stück wiedergewonnener Natur. Als er sich später im Hotel zur Ruhe bettet, schaut er sich noch einmal die Pracht der fotografierten Sumpfschwertlilien an und attestiert seinen neuen Gastgebern: „Die Porteños haben’s gut, soviel renaturierte Küste vor ihrer Haustür zu haben!“

Buenos Aires in 24 Stationen

Mittwoch, 09.10.2024, Tag 1-2,an dem Karl zu Messi und Maradona wallfahrt und im Viejo Almacén Tango in höchster Perfektion erlebt.
   Ob in Dublin oder Abu Dhabi, für Karl hat es sich immer als sehr effektiv erwiesen, einen Hop-on-hop-off-Bus zu benutzen, um sich in einer völlig fremden Stadt einen Überblick über die Sehenswürdigkeiten zu verschaffen und auf dieser Basis eine Wahl für die nächsten Tage zu treffen. Sein dürrer Don Quijote hatte ihm auf der Plaza de Mayo ein Infoblatt der Gray Line überreicht, die mit 24 Stationen rauf und runter am Río de la Plata und durch die City aufwartet. Kurz entschlossen hat er noch am selben Abend online ein Ticket erstanden. Nun spaziert er von seinem Hotel in der Tucumán-Straße an den Galerías Pacífico vorbei zur Station No. 11 an der Südecke der Plaza San Martín. Von dort geht die Gray Line auf Nordkurs.Karl nimmt auf dem Oberdeck des offenen Doppeldeckers Platz, setzt die Kopfhörer auf, stellt statt Japanisch doch lieber Deutsch ein, entspannt sich und genießt die milde Frühlingsluft. Die Bäume am Straßenrand sind teils nach kahl, teils schon ergrünt. Es ist 9:20 Uhr. Wenige Minuten später legt der City Cruiser vom Rand des Boulevards ab. Die Szenerie erinnert tatsächlich ein wenig an Paris. Viele Gebäude hier im vornehmen Norden der Stadt wurden in Argentiniens Goldener Ära errichtet, sie sind geprägt vom historistischen Beaux-Arts-Stil, wie er in Paris zur Zeit der Belle Époque vorherrschte. Doch schon bei der Umrundung der Plaza San Martín weist der Sprecher des Bordfunks auf einen modernen Kontrapunkt in der urbanen Architektur hin, das Edificio Kavanagh. Da Karl nur von einem Bürgersteig getrennt daran vorbeifährt, kann er dieses lange Zeit höchste Gebäude Lateinamerikas mit seinen Augen gar nicht voll erfassen. Er wird zu Fuß zurückkehren müssen. Vorher wird er mehr über die wahrlich fabulöse Vita der Bauherrin, der steinreichen Witwe Corina Kavanagh lesen, auf die ihn der Bordsprecher neugierig macht.
Floralis Genérica
Der Bus unkurvt den ikonischen Glockenturm am Retiro-Bahnhof und beginnt seinen Nordkurs auf der Avenida del Libertador, der Allee des Befreiers. Die breite Straße zu den „besseren“ Vierteln von Buenos Aires ist gesäumt von Parks, aus denen hinter der monumentalen Rechtsfakultät die Floralis Genérica hervorsticht, sozusagen die „Mutter aller Blumen“, eine 23 Meter hohe Skulptur aus Edelstahl- und Aluminumteilen des argentinischen Architekten Eduardo Catalano.

Christopher-Kolumbus-Säule

Ganz vornehm trotz des schlichten Namens wird es im Club de Pescadores, im Fischerverein, dessen Clubhaus aus den 1930er Jahren auf einem ehemaligen Pier weit draußen im Wasser steht. An der nächsten Station entlang der Uferstraße am Río de la Plata steigt Karl aus. Dem Entdecker Amerikas will er seine Reverenz erweisen. Auf einem hohen Sockel inmitten der Plaza Puerto Argentino stehend, schaut er hinaus auf die Weite des Río, Cristóbal Colón. Rings um den Sockel ist auf dem Platz zu Ehren des Seefahrers eine riesige Windrose mit 16 Himmelsrichtungen gezeichnet, vom Norden über den Süden bis Nordnordwest. Die Figur schaut nach Nordosten in Richtung seines Herkunftslands Spanien. Karl folgt seinem Blick und hofft, etwas von Uruguay auf der anderen Seite der scheinbar unendlichen Weite der Trichtermündung zu erkennen. Vergeblich!Er steht in der Frühlingssonne unter strahlend blau-weißem Himmel, die Haare vom Wind zerzaust, mit Blick auf die von niedrigen Wellen bewegte Oberfläche des Río und auf den Horizont, wo sich Argentiniens Nationalfarben am Himmel und der silbrige Schimmer des Wassers begegnen. Kein Land dazwischen. Karl genießt diesen meditativen Moment. Er muss daran denken, wie oft Christopher Kolumbus auf seinem Weg zu dem neuen Kontinent den Horizont nach Anzeichen von Land abgesucht haben mag.
Am Río de la Plata, dem Silberfluss
Wieder an Bord des Busses steuert Karl ein ganz modernes Ziel am nördlichen Wendepunkt der Tour an, das Monumental, das größte Stadion Südamerikas. Ursprünglich in den 1930er Jahren erbaut, macht es nach den Renovierungen seit 2020 bei seiner Umrundung im Bus einen hochmodernen Eindruck. Es ist nicht nur Spielstätte von Argentiniens Fußballrekordmeister River Plate mit Platz für 84.000 Zuschauer. Bei Konzerten von Weltstars wie den Rolling Stones feierten dort 100.000 Fans.
Sportlich sind auch weitere Attraktionen des Reichenviertels Belgrano, der Golfplatz, das Polo-Feld, das Hippodrom, alles Upper-Class-Treffpunkte. Das Museum der Schönen Künste und das Kulturzentrum Recoleta, die Karl auf seiner Rückfahrt in die City außerdem noch passiert und die er an den Folgetagen noch gesondert aufsuchen wird, passen ebenfalls in dies großbürgerliche Ambiente. Bevor der Bus in der Innenstadt den Ausgangsort für die Südtour erreicht, fährt er noch an dem weltberühmten Opernhaus Teatro Colón vorbei und nur 400 Meter weiter auch an dem 67 Meter hohen weißen Obelisk, der mitten auf dem Platz der Republik in etwa den Mittelpunkt der Stadt markiert.Der Obelisk steht gleißend in der Mittagssonne. An dem Ausgangspunkt der Südschleife der Gray Line hingegen beschatten zu Karls Erleichterung Laubbäume am Straßenrand sein Oberdeck, wo er auf die Fortsetzung der Tour etwas zu warten hat. Im Süden kommen die deutlich volkstümlicheren Viertel San Telmo und La Boca an die Reihe. Der City Cruiser beginnt indes mit den Zentren der Macht, der Plaza de Mayo mit dem Präsidentenpalast und am anderen Ende der Avenida de Mayo mit dem Kongresspalast. Das Parlamentsgebäude, großenteils aus weißem Marmor, mit seiner imposanten Kuppel ist zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts im neoklassizistischen Stil errichtet worden. Der Vorplatz mit seinen goldenen Laternen, den Bäumen, Rasenflächen und Spaziergängern wirkt an diesem sonnigen Oktobertag im südlichen Frühling geradezu idyllisch. Wie sollte sich die Szenerie ändern, als im März 2025 hier Rentner gegen Präsident Mileis Austeritätspolitik und ihre gekürzten Altersbezüge demonstrieren und gewaltbereite Hooligans die Forderungen der Großelterngeneration unterstützen. Die Protestierenden schleudern Steine. Als Antwort fliegen Gummigeschosse der Bereitschaftspolizei über die Plaza del Congreso. Davon ahnt Karl nichts, als sein Doppeldecker friedlich über die Plaza kreuzt und weiter zum historischen Viertel San Telmo gleitet.Dort erregen nach Einbiegen auf die Avenida Independencia zwei niedrige Gebäude mit der altertümlichen Aufschrift „El Viejo Almacén“ seine Aufmerksamkeit. Der Bordfunk klärt auf, dass dies eine Keimzelle der Tangokultur mit jahrzehnte-langer Tradition sei. Augenblicklich entschließt sich Karl, dorthin am Abend zurückzukehren und nicht der Einladung zu einem Tangopalast in der City zu folgen. Der Bus schlägt noch vier Haken durch das Quartier San Telmo, das Karl beim Stadtteilfest am Sonntag zu Fuß „erobern“ will, und kommt im südöstlichsten Teil der Tour zu einem ihrer Höhepunkt, dem malerischen Kleine-Leute-Viertel La Boca (die Mündung), das so heißt, weil hier der Riachuelo in den Río de La Plata fließt. Weltberühmt ist es durch seine Fußballer, die Boca Juniors und ihren allerbekanntesten Protagonisten, den „Fußballgott“ Diego Maradano. Kein Wunder also, dass der Bus nach dem Kunstzentrum in einem schönen alten Fabrik-Klinkerbau am Rande Bocas danach im Herzen des Viertels als erstes vor der Bombonera vorfährt. Diese in den Vereinsfarben Blaugelb gestrichene Betonschüssel ist das Heim der Juniors. Das Stadion selber und darin das Museum des Club Atlético Boca Juniors sind eine Pilgerstätte der CABJ-Fans. Der Zulauf ist so stark, dass Karl sich vornimmt, nachmittags wiederzukommen.
Plaza del Congreso mit Parlamentsgebäude 
Dank seines Hop-on-hop-off-Tickets hat Karl kein Problem damit, nach der Mittagspause in seinem City-Hotel nochmals in La Boca aufzukreuzen. Diesmal springt er vor der Bombonera, der Pralinenschachtel ab, die wegen ihrer rechteckigen Form so bezeichnet wird. Das Stadion ist in ein Straßengeviert quasi hineingepfropft. Es blieb so wenig Platz, dass nur an drei Seiten halbwegs normale Tribünen geschaffen werden konnten. An der Ostseite steigen nur wenige Reihen schräg an. Darüber sind auf vier Etagen vertikal übereinander V.I.P.-Kabinen eingerichtet. Auf den anderen drei Seiten gehen die   Sitzreihen ganz nach oben, aber sie sind außergewöhnlich steil angelegt. Hinter den Toren sind die ersten Reihen weniger als zwei Meter vom Spielfeldrand entfernt. Diese enge Bauweise potenziert die Wirkung der Fan-Gesänge. Romário, der brasilianische Fußballweltmeister von 1994, sagte einmal: „Ich habe in allen großen Stadien der Welt gespielt, aber ich war niemals der Hölle näher als in der Bombonera.“ Und Karl hat seine liebe Mühe, aus den engen Gassen von La Boca ein Foto zu schießen, das die Pralinenschachtel ganz erfasst. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ihre Steilheit fängt er ein!
Die Bombonera der Boca Juniors
Durch einen schmalen Pfad wandert Karl von der Fußballschüssel dorthin, wo das einst von italienischen Einwanderern gegründete Armenviertel La Boca noch bunter ist als nur Blaugelb. Zu letzterer Farbkombination kam es übrigens, weil bei der Gründung des Club Atlético gerade ein Schiff mit schwedischer Flagge in den Hafen einfuhr. Auf der Plazoleta Bomberos Voluntarios de La Boca, dem Kleinen Platz der Freiwilligen Feuerwehr von La Boca, erlebt der Stadtbummler geradezu eine Farbexplosion. Vor allem die italienischen colori Grün und Rot kommen auf den Häuserwänden hinzu. Viele der bunten Häuser wurden mit dem Blech abgewrackter Schiffe verkleidet und mit Schiffslack übermalt. Noch heute sind Wellblechhäuserfronten zu sehen.Von einem der Balkone am Feuerwehrplatz grüßt eine lebensgroße Puppe des neuen Fußballgotts Lionel Messi, kein Sohn La Bocas, aber nicht erst seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft von 2022 der neue Nationalheld. Auf dem Eckbalkon wenige Meter weiter breitet sein Vorgänger Maradona jubelnd die Arme aus, mit Engelsflügeln am Rücken. Er ist ja schon im Jenseits, aber für Argentinier unsterblich.
Nationalhelden Maradona und Messi
Karl lässt sich in einem Straßencafé am Caminito nieder, dem Kleinen Weg, der vom Platz der Feuerwehrleute zur Bucht von La Boca führt. Zu einer heißen Schokolade genießt er dos medialunas, zwei Halbmonde, die etwas weichere argentinische Version der knusprigen französischen Croissants. Während er an dem Süßgebäck des Café Alberto knabbert, unterhält auf dem Platz davor eine Trommlertruppe die vielen Touristen.