97% Himmel - Daniel Schaup - E-Book

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Daniel Schaup

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Beschreibung

Susann und Christian stehen vor einem Wendepunkt in ihrem Leben, ohne es zu wissen. Gescheitert an Alltag und Routine, hadern sie mit ihren Beziehungen und bemerken, wie ihre Träume und Sehnsüchte in immer weitere Ferne rücken. Zwischen Familie und Arbeit bleibt das Leben auf der Strecke. Sind beide dazu fähig, sich aus ihrer Starre zu lösen? Sind sie mutig genug, etwas Neues anzufangen? Ein scharf konturiertes Porträt zweier Menschen, die in ihren Existenzen gefangen sind. In der norddeutschen Provinz, irgendwo im Nirgendwo, werden Hoffnungen geweckt, Veränderungen in Betracht gezogen. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie vollkommenes Glück - wenigstens 97 Prozent?

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Daniel Schaup

97 % Himmel

Roman

Das Buch

Susann und Christian stehen vor einem Wendepunkt in ihrem Leben, ohne es zu wissen. Gescheitert an Alltag und Routine, hadern sie mit ihren Beziehungen und bemerken, wie ihre Träume und Sehnsüchte in immer weitere Ferne rücken. Zwischen Familie und Arbeit bleibt das Leben auf der Strecke. Sind beide dazu fähig, sich aus ihrer Starre zu lösen? Sind sie mutig genug, etwas Neues anzufangen?

Ein scharf konturiertes Porträt zweier Menschen, die in ihren Existenzen gefangen sind. In der norddeutschen Provinz, irgendwo im Nirgendwo, werden Hoffnungen geweckt, Veränderungen in Betracht gezogen. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie vollkommenes Glück - wenigstens 97 Prozent?

Der Autor

Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg.

Daniel Schaup

97 % Himmel

Roman

© 2022 Daniel Schaup

2. Auflage, Vorgängerausgabe 2019

ISBN Softcover: 978-3-347-77032-4

ISBN E-Book: 978-3-347-77033-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Kapitel 1

Christian geht ins Bad. In seinem Kopf hämmern die zwei Flaschen Wein des gestrigen Abends. Auch diese Nacht hatte er nicht auf seiner Seite des Ehebettes verbracht. Frisch geduscht und rasiert betritt er das Schlafzimmer. Vor ihm das gewohnte Bild: Die Betten ordentlich gemacht, das Fenster angeklappt, die Gardinen wohl drapiert. Alles perfekt. Wie er Barbaras Wahn hasste, die Oberfläche immer in perfektem Zustand zu halten. Die Oberfläche der Wohnung und die ihrer Ehe. Er öffnet den Kleiderschrank und zieht sich an. Als sein Kopf durch den Kragen des schwarzen T-Shirts ploppt, sieht er die Reisetasche auf dem Schrank. Er zerrt sie herunter. Ohne nachzudenken stopft er ein paar Klamotten hinein.

Wenige Minuten später sitzt er im Auto und fährt auf die Autobahn. Er tritt das Gaspedal ganz durch, wechselt auf die linke Spur. Gen Westen rast er auf dem Asphaltstreifen an strähnigen Äckern vorbei. Seine Finger liegen unordentlich über das Lenkrad verteilt. Die grauen Gesichter der anderen Autos starren ihn streng an. Marienborn! Ehemalige Grenze! Vom einen ins andere Deutschland. Oder gibt es die beiden nicht mehr? Doch, die gibt es noch! Er kennt nur das eine. Das andere kennt nur Bernd, sein alter Freund. Ein Freund, der ihn im Stich gelassen hatte!

Genau vor drei Jahren, acht Monaten und vier Tagen verschwand Bernd Helling aus seinem Leben. Bernd war sein Mentor und Lehrer gewesen als er vor fast zwanzig Jahren bei Recon anfing. Bernd ist sechs Jahre älter als er. Zusammen fühlten sie sich als unschlagbares Team. Christian versteckte sich manchmal bei ihm, wenn Barbaras samstäglicher Putzkoller unerträglich wurde. Als Bernds damalige Freundin Martina mit einem anderen Mann nach Bochum zog, wunderte sich Christian, wie gelassen sein Freund blieb. Fast ein Jahr lief alles normal weiter. Aber eines Morgens blieb Bernd weg. Der Chef sagte, er hätte gekündigt und sei nach Schleswig-Holstein zum großen Konkurrenten gegangen. Für Christian kam die Nachricht ebenso überraschend wie für die Kollegen. Erst Wochen später meldete sich Bernd bei ihm. Bernd erzählte ihm etwas von Flucht. Dass er sich festgelebt habe und wieder in Gange kommen müsse. Damals verstand ihn Christian nicht. Und jetzt?

Drei Stunden fährt er über die Autobahn. Hamburg kommt immer näher. Links tauchen die Kranungetüme des Hafens auf, rot und blau. Dann sieht er vor sich die scheunentorgroße Einfahrt des Elbtunnels. Ihm kommt seine Fahrt mit dem Hamburger Subunternehmer in den Sinn. „Achtung, wir passieren jetzt das Arschloch zur Welt“, hatte dieser Kollege damals gesagt als sie in die Röhre fuhren. Er muss grinsen. Gleichzeitig fragt er sich, auf welcher Seite dieses kilometerlangen Arschloches die Welt liegt? Fährt er in die Welt oder verlässt er sie?

Nach einer weiteren Dreiviertelstunde erreicht er Itzehoe. Er biegt auf die B5 ab: rechts und links Weiden mit einem Grün, irgendwie fetter, satter als in der Börde. Dithmarschen ist eine Insel, denkt er als er im fünften Gang den Scheitelpunkt der Brunsbüttler Hochbrücke erklimmt. Im Norden die Eider, im Osten der Nord-Ostsee-Kanal, im Süden die Elbe und im Westen: die Nordsee. Komplett von Wasser umgeben. Insellage! Bernd wohnt in Meldorf, fast mittendrin.

Nach Bernds Anruf damals klickte er gleich auf die Karte im Internet. Er wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es einen Landstrich namens Dithmarschen in Deutschland gibt. Der ganze Westen ist ihm fremd, da kennt er sich nicht aus. Woher soll er es auch wissen? In seinem Geografieunterricht war dieser Teil der Karte weiß! Keinerlei Neugierde hatte ihn bis jetzt gen Westen getrieben. Wenn sie irgendwo in Hessen ein Windrad montierten, interessierte er sich nicht für das Land. Auch nicht für die Leute. Er machte den ganzen Tag seine Arbeit und fiel Abends erschöpft ins Bett in irgendeiner Pension oder Ferienwohnung. Auch den Familienurlaub verbrachten sie nicht in Deutschland, weder im Westen noch im Osten.

Einmal aber war die ganze Familie Düring quer durch die Republik gefahren, um mit Sascha einige Tage im Disneyland Paris zu verbringen. Ansonsten hieß Urlaub für sie immer Ägypten oder Griechenland, auch auf Mallorca waren sie und letztes Jahr in der Türkei. Barbara will immer ans Meer - am Strand liegen, den ganzen Tag, ab und zu die Füße ins Wasser halten, dann nochmals liegen und dösen. Nach mehreren Kurven und drei Traktoren liest Christian auf dem gelben Ortseingangsschild Marne. Links ein Autohaus, langgezogene Kurve, Supermarkt, Tankstelle, ein zweiter Supermarkt. Wie heißt der? Frauen? Er entscheidet sich, an der Ampel links abzubiegen. Nach mehreren Runden durch die Köge fällt ihm das funkelnde Dach eines neu gedeckten großen Bauernhauses auf. Er fährt langsamer. Direkt an der Hofauffahrt steht ein Schild: Ferienwohnung/ frei. Er biegt ab und parkt neben einem weißen Mercedes mit Stuttgarter Kennzeichen.

Er klingelt. Eine etwa gleichaltrige Frau öffnet. Ihr schmaler Körper steckt in einem roten T-Shirt und engen Jeans. Sie schaut ihn aus braunen Augen an. Auf ihrem Kopf kurze schwarze Haare. Das Gesicht, denkt er, passt auch zu einem Jungen. Damit steht es im Kontrast zu den sich unter dem T-Shirt abzeichnenden weiblichen Formen. Er sagt, dass er Christian Düring heiße und sich für eine Ferienwohnung interessiere. Sie stellt sich als Kathrin Claußen vor und bittet ihn herein. Er solle auf einem Stuhl am Küchentisch Platz nehmen. Sie hantiert am Herd mit zwei brodelnden Töpfen.

Sein Blick schweift durch den Küchenraum, dessen Größe der seines Plattenbau-Wohnzimmers weit übertrifft. An der Wand gegenüber des Tisches steht ein ungefähr sechs Meter langer Küchenblock, Eiche rustikal. Während Kathrin Claußen einen Blick in den Backofen wirft, sagt sie, dass der Preis pro Nacht dreißig Euro betrage. Das findet er angemessen.

„Wie lange wollen sie bleiben“, fragt sie und setzt sich zu ihm.

„Ich weiß noch nicht genau. Ein, zwei Wochen.“

„Die Wohnung ist zwei Woche frei. Das Pärchen nebenan reist übernächsten Samstag ab. Die Wohnung wäre dann drei Wochen frei. Sie können also so lange bleiben wie sie wollen. Sie müssten halt nur umziehen, wenn es mehr als zwei Wochen werden.“ „Gut. Kein Problem.“

„Machen sie Urlaub oder sind sie beruflich in der Gegend?“

„Beides.“

„Na, das ist ja ideal, wenn man das Nützliche mit dem Schönen verbinden kann. Was machen sie beruflich?“

„Ich bin Windkraftanlagenmechaniker.“

„Na, da haben sie bei uns ja viel zu tun!“

„Vielleicht.“ Sie mustert ihn.

„Nun aber genug geplauscht, sie wollen sicherlich die Wohnung sehen. Ich würde eine Woche als Vorkasse nehmen?“

„So machen wir das.“

Kathrin Claußen fischt einen Schlüssel aus einer Glasschale. Durch einen Flur, vorbei an der Heizungsanlage, an Waschmaschine und Trockner gelangen sie zu einem Treppenhaus. „Das ist der Eingang für die Ferienwohnungen“, sagt sie auf eine Tür links zeigend. Dann ersteigen sie mehrere Stufen. „Bei mir gibt es kein Frühstück, für Verpflegung müssen sie selbst sorgen“, erklärt sie ihm während sie die Wohnungstür aufschließt.

Es folgt ein Rundgang durch die Wohnung: Nach einem kleinen Flur sogleich das Wohnzimmer mit einer über die ganze Breite des Raumes gehenden Fensterzeile, zur Straße hinaus. Den Fenstern gegenüber steht ein Sofa. Die weiteren Räume liegen links, Bad, Küche und Schlafzimmer. Im Schlafzimmer bleibt sie stehen, dreht sich zu ihm um, fixiert ihn. „So, gefällt sie ihnen?“ Ihr Blick bündelt sich in seinen grünen Augen. „Ja, sehr hübsch. Ordentlich, sehr schön“, stottert er. Sie greift sich seinen rechten, herunterhängenden Arm, legt seinen Handrücken in ihre Handfläche und lässt den Schlüssel hineinfallen. Sie lächelt. Er bleibt wie angewurzelt stehen bis die Wohnungstür ins Schloss fällt.

Im Wohnzimmer setzt er sich auf die Couch. Vor dem Fenster wedeln die Äste einer Rotbuche ihm eine kleine Begrüßungsformel zu. Er fühlt sich komisch. Er sitzt tatsächlich hier und nicht zu Hause! Gestern Abend, erinnert er sich, hatte er sich zugeprostet und zu sich gesagt, dass er ab jetzt das Klischee seiner Generation erfüllen werde, in einer rekonstruierten Plattenbauwohnung sitzen und ein Jammerossi sein.

Aber heute Morgen wusste er, dass er so nicht weiter machen konnte. Wie sie ihn angeschaut hatte, als er ihr das Kündigungsschreiben gab! Die Szene vom Donnerstag wird in ihm lebendig. Als in Barbaras Bauch die Wutschlange erwachte, langsam durch ihren Hals kroch, hinauf zu ihrem Mund. Dann der Ausbruch: Was er sich nur dabei gedacht habe, diesen Gewerkschaftswisch zu unterschreiben, er sei ja nicht einmal Mitglied! Was ihn überhaupt die Angestellten der Subunternehmen interessierten. Wie er nur so blöd sein könne, da er doch wisse, wie Recon zu so etwas steht!

Wie ein Junge, der ein miserables Zeugnis nach Hause gebracht hat, stand er da. Mit leiser Stimme hatte er versucht zu erklären, dass eine außerordentliche Kündigung ohne vorherige Abmahnung eigentlich nicht rechtens sei. Sie lachte laut auf, was eher an ein Kreischen erinnerte. Mit einer ausladenden Geste warf sie das Schreiben in seine Richtung und verschwand in der Küche. Dann saß er da wie jetzt und starrte vor sich hin.

Er rafft sich auf und geht zum Auto, seine Reisetasche holen. An einem der oberen Fenster bewegt sich eine Gardine. Im Augenwinkel nimmt er die Bewegung wahr, schenkt ihr jedoch keine weitere Aufmerksamkeit. Die Tasche stellt er ins Schlafzimmer. Einen Moment verharrt sein Blick auf ihr. Er überlegt, ob seine Reise wirklich eine Mischung aus Urlaub und Arbeit ist. Weder noch, muss er sich eingestehen. Wenn er ehrlich ist, muss er seine Aktion eine Flucht nennen - vor Barbara und seinem Leben, das sie für ihn eingerichtet hat. Er packt seine Sachen aus. Legt sie ordentlich in den Kleiderschrank. Sein Magen meldet sich. Er entscheidet, einkaufen zu fahren. Und er weiß auch wo!

Kapitel 2

Sie liegt auf der Couch. Aus ihren Ohren zieht sie Kopfhörer. Das Klappen einer Autotür hallt durchs angelehnte Fenster. Sie steht auf und schaut hinaus: ein Mann mit einer Reisetasche geht vorbei. Für einen Moment hat er nach oben gesehen. Sie setzt sich, stützt ihre Ellenbogen auf die Knie und legt den Kopf in die Hände, fixiert das Muster einer der braunen Fliesen des Couchtisches. „Der Urlaub ist der totale Reinfall“, wispert sie in den Raum. Aber was hatte sie erwartet? Sicherlich nicht, dass sie allein in einer heruntergekommenen Ferienwohnung hockt, vollgestellt mit Omamöbeln, auf einem Bauernhof mitten in der Pampa.

Nebenan fällt die Wohnungstür ins Schloss. Sie geht abermals zum Fenster: Derselbe Mann geht zu seinem Auto, steigt ein und fährt davon. Ob er allein Urlaub macht, fragt sie sich und ist gleichzeitig davon überzeugt, dass jeder, der hier freiwillig seinen Urlaub verbringt, nicht ganz normal sein kann. Sie öffnet das Fenster. Draußen brütet ein wilder Sommer. Die vom Meer bewegte Sommerluft streichelt ihr Gesicht. Sie blickt zur Koppel, wo die Pferde unter den Pappeln Schatten suchen.

Alles scheint still zu stehen, nur die Windräder hinter der Pappelreihe bewegen sich im Takt der Meeresbrise. Auch in ihr steht alles still, denkt sie. Eine kleine Weile lauscht sie in den Sommer hinein. Schwalben streichen vorbei und zeichnen mit zarten Strichen einen Tagtraum in ihren Geist. Es dauert nicht lange, da wird er von Zweifeln durchlöchert. Ruckartig schließt sie das Fenster. Sie streckt sich auf der Couch aus und stöpselt sich die Ohrstecker ein. Die Stimme von Nina Persson stellt sich in ihren Kopf: „My animal heart is telling me to flee, I‘m done with dance, baby bail with me“.

Auch in ihr schreit alles nach Flucht! Sind das die Reste des Tieres in ihr? Die Musik kanalisiert ihre Empfindungen. Auch ihr Herz schlägt im Fluchtmodus. Flucht vor den Leuten hier, der öden Landschaft, platt und langweilig, nichts los, überall nur Dorf und Bauern. Sie denkt an Hamburg. Arne hatte gesagt, als sie den Urlaub planten, dass sie ein zwei Mal nach Hamburg fahren würden - Shoppen und Party. Sie war noch nie in Hamburg! Wie hat sie sich gefreut. Im Moment sieht es nicht danach aus, dass sie in den kommenden Tagen Hamburger Boden betritt.

Arne macht sein eigenes Ding. Und sie fühlt sich gefangen in einem Kaff am Arsch der Welt. So gut wie nichts haben sie bislang gemeinsam unternommen. Arne trifft sich mit seinen alten Kumpels und den Bauern aus der Gegend. My animal heart is telling me to flee! Soll sie abreisen? Ihm einen Zettel auf den Tisch knallen und ab und weg? Die Vorstellung gefällt ihr. Wie würde Arne reagieren? Ihr nachfahren? Einen langen Moment taucht sie ab in diese Fantasie: Sie sieht sich mit dem Taxi zum Bahnhof fahren. In den Zug steigen. Vielleicht ein Zwischenstopp in Hamburg, überlegt sie. Musical? Warum nicht! Am Ende ihrer kleinen Fantasiereise steigt sie in Stuttgart aus dem Zug. Das Taxi hält vor ihrem Haus. Sie schließt die Wohnungstür auf. Dann liegt sie auf der Couch und hört: „My animal heart is telling me to flee“!

Ihre Stirn meutert. Eine Spannung durchzuckt ihren ganzen Körper. Sie zerrt sich die Stöpsel aus den Ohren, springt hoch und tippelt barfuß ins Schlafzimmer. Sie zieht ihren Bikini an, greift nach dem bräunlichen Buch, auf dem eine Erdkugel zu glühen scheint - Das Ende der Natur steht in blauen Buchstaben darauf. Das Buch ist ein Geschenk von Claudia, die sie vor ein paar Monaten kennen gelernt hat. Claudia arbeitet bei einer Umweltschutzorganisation. Susann schiebt sich ihre Sonnenbrille ins Haar. Vorsichtig platscht sie mit ihren Flip-Flops die Treppe hinunter. Da öffnet sich die Haustür. Der Mann, den sie vorhin am Fenster beobachtet hatte, steht vor ihr.

Sein hellbraunes Haar, in dem es hier und da weißgrau schimmert, versucht sich in die Form eines Scheitels zu zwängen, bricht aber störrisch in alle Richtungen aus. Seine Stirn ist feucht. Unter den Augenbrauen lachen sie zwei grüne Augen an, bevor die Mundwinkel darunter sich heben. Sein Gesicht erscheint ihr sehr angenehm, harmonisch. Seine Schultern sind breiter als sein Becken. Das fällt ihr sofort auf. Sein Körper steckt in einem schwarzen T-Shirt und einer ausgewaschenen schwarzen Jeans.

Er grüßt freundlich. Mit seinem linken Ellenbogen hält er die Tür auf. Sie lacht und schiebt sich an den Tüten vorbei, die an seinen Händen baumeln. Sie dreht sich um, bedankt sich und wünscht ihm einen schönen Tag. Sie hört wie die Tür ihr Klack macht. Mit ihren Flip-Flops klappt sie über die Terrassenplatten. An der Kühlhalle lehnt die Liege. Die Sonne produziert eine mächtige Wärme. Sie stellt die Liege in eine günstige Position unterhalb der Rotbuche.

Ihr Interesse an dem Buch tendiert gegen Null. Dennoch versucht sie, ein paar Zeilen zu lesen. Hinter der Sonnenbrille klappen ihre Augenlider nach unten. Ihre Haut saugt die Sonnenstrahlen auf. In ihrem Körper verbreitet sich eine wohlige Wärme. Im Zeitlupentempo bilden sich kleine Schweißperlen auf Stirn, Kinn und Nase. Sie schaut tief in grüne Augen, um die sich unscharf eine schwarze männliche Gestalt abzeichnet. Die Nase passt genau in das Gesicht - nicht zu groß, nicht zu klein, vielleicht etwas breit an den Nasenflügeln. Jetzt bewegt sich der Mund, aber sie kann nichts hören. Ganz langsam öffnen sich die Lippen, schließen sich wieder. Kein Laut! Nur ein schöner Mund!

Die wohlige Wärme verwandelt sich schlagartig in eine das Atmen erschwerende Hitze. Sie öffnet die Augen und steht auf. Mit jedem Klappen unter ihren Füßen zerstiebt das Bild des Mannes in alle Richtungen. An ihrer Hand klebt das Buch. Sie spürt wie ein Schweißtropfen an ihrem Innenschenkel herunterläuft. Als sie auf dem Treppenabsatz angekommen ist, verweilt ihr Blick einen Moment auf der Tür zur Nachbarwohnung. Sie schiebt die Sonnenbrille auf ihre feuchte Stirn - eine Strähne ihres hellblonden, fast rötlichen Haares fällt dabei in ihr Gesicht.

Als sie sich gerade unter die Dusche stellt, kommt Arne zurück. Beim Abtrocknen hört sie den Fernseher. Sie hüllt ihren Körper in ein Handtuch. Arne fläzt im Sessel. Sie stellt sich hinter ihn und schaut auf seinen Kopf. Er lässt die Fernbedienung in den Sessel fallen, reckt seine Arme nach oben, so, dass er die Finger hinter ihrem Hals verhaken kann. Langsam zieht er ihr Gesicht zu sich herunter. „Ich geh auch schnell duschen“, sagt er zwischen zwei Küssen. Arne verschwindet im Bad. Sie schaltet den Fernseher aus und huscht ins Schlafzimmer.

Nach wenigen Minuten steht Arne vor dem Bett. Über seinen nackten Körper rinnen Wassertropfen. Er ist groß und kräftig, seine Schultern so breit wie sein Becken. Warum fiel ihr das gerade jetzt auf, wundert sie sich. Nach diesem langweiligen Tag hat sie große Lust mit ihm zu schlafen, seinen schweren Körper auf ihrem zu spüren. Wie ein Raubtier krabbelt Arne zu ihr ins Bett. Sein Körper kühlt ihre Hitze. Als er über ihr kniet streicht sie mit ihren Fingernägeln langsam über seine Schultertafeln.

Sie erforscht seine dunkelgrauen Augen, die eng zusammenliegen, darüber das pechschwarze Haar, an den Seiten ausrasiert. Die spitz zulaufende Nase droht ihr, sich nicht in Gedanken zu verlieren, nicht jetzt. Sein schmaler Mund rast auf ihren zu und Arne treibt Brust auf Brust in ihren Teich. Sie verliert sich in seinen Berührungen, seinen Küsse, nimmt seinen Rhythmus auf, der ihr wohltut, sie durchpulst. My animal heart is telling me to flee, I‘m done with dance, baby bail with me. Nein! Nicht fliehen. Tanzen. Ja! Sie tanzt! Tanzt. Dreht sich. Ja! Tanzen. Sie! Er! Tanzt! Ja. Jetzt.

Arne dreht sich auf die andere Seite des Bettes. Ihre Körper liegen parallel. Die Finger seiner linken und ihrer rechten Hand nesteln ineinander. Arne grinst zur Decke. „Das war schön“, sagt sie mit geschlossenen Augen. „Heute Abend bleibe ich bei dir.“ „Kein Kumpelabend?“ „Morgen. Wenn es dir nichts ausmacht.“ Sie überlegt, ob sie ihm sagen sollte, dass es ihr etwas ausmacht. „Morgen bin ich den ganzen Tag mit Steffen in Itzehoe. Wir wollen uns einen neuen Hof anschauen, alles automatisiert bis ins Kleinste.“ Sie erwartet, dass einer seiner landwirtschaftlichen Referate beginnt. Aber er schweigt. „Und ich?“ Sie dreht ihren Kopf in seine Richtung. Er starrt weiter zur Decke. Sie sieht, wie seine behaarte Brust sich hebt und senkt. Sie löst ihre Finger aus seiner Hand. „Ich gehe unter die Dusche“, sagt sie und rollt sich aus dem Bett.

Arne steht in der Küche als sie mit nackten Füßen über den gefliesten Boden platscht. „Susann, du weißt, dass unser Ausflug nicht nur Urlaub ist?“ Sie nickt nur. „Langweilst du dich?“ Zum zweiten Mal nickt sie. „Morgen kannst du doch ins Watt gehen und im Pril baden. Was meinst du?“ Baden hört sich gut an, denkt sie und sie geht ins Schlafzimmer, um sich etwas anzuziehen. Vor dem Fenster sieht sie die Pferde und am Himmel verteilt sich das Schaumkraut der Wolken. Schwimmen.

Kapitel 3

Christian hievt die Einkaufstüten auf den Küchentisch - drei Plastikberge, spitz und kantig. Aus dem einen zieht er eine Pappplatte, darin ein feuchtkalter Diskus. Sein Kopf senkt sich Richtung Herd. Im Backofen geht das Licht an und ein leises Brummen beginnt. Er pellt die Plastikhaut von der Tiefkühlpizza und legt sie auf den glänzend sauberen Rost. Dann trägt er das Gebirge seines Einkaufes ab und deponiert die Teile im Kühlschrank. Die Tüten knüllt er zusammen und stopft sie zwischen Stuhl und Küchentisch. Aus seiner Hosentasche angelt er sich den Autoschlüssel und verlässt die Wohnung.

Nach wenigen Minuten kommt er mit einem Karton zurück. Er zieht eine der sechs Weinflaschen heraus. Er unterdrückt den Impuls, direkt aus der Flasche zu trinken. Hinter der dritten Schranktür findet er ein Weinglas. Im Wohnzimmer schaltet er den Fernseher ein. Ein junger Mann in einer Art dunkelsilbernem Anzug und bis zur Unkenntlichkeit gegelten Haaren verkündet die neuesten Boulevardnachrichten. Bunte Bilder von bunten Menschen flimmern vor ihm.

Als die Werbefilme beginnen schleicht er in die Küche. Die Pizza sieht unverändert aus. Er klappt die Tür auf. Nichts! Keine Hitze, nicht einmal Wärme schwappt ihm entgegen. Der Herd brummt aber, stellt er fest. Er entdeckt ein zweites Rädchen, an dem er die Temperatur einstellen kann. Mit einem tiefen Seufzer klappt er die Tür zu. Nicht einmal eine Pizza kann er ohne Barbara warm machen, denkt er. Die Nachrichten von den Stars und Sternchen nehmen kein Ende. Nach fünf Minuten überprüft er erneut den Ofen. Jetzt ist alles wie es muss. Also weiter im Alltag der Prominenten. In die Stimme aus dem Apparat schwingt sich ein Stöhnen, das klarer und deutlicher wird. Lag das Schlafzimmer der Nachbarn direkt nebenan, fragt er sich. Er drückt die Mute-Taste.

Lauscht. Genüsslich schlürft er dazu einige Schlucke Wein. Die weibliche Stimme des Duetts klingt jung. Sofort denkt er an den orangen Bikini. Vor einer Stunde war er an ihm vorbei gewackelt. Schöne Proportionen, vorne und hinten. Gerade will er sich dem Film seines Kopfkinos widmen, als nach einem kurzen heftigen Anschwellen es nebenan schlagartig still wird. Er grinst. Für einen kurzen Moment denkt er an Barbara. An ihren bald fünfundvierzig Jahre alten Körper, mit den hängenden Brüsten, den zwei Hautwulsten über ihrem Becken und den Fettwellen, in denen ihr Bauchnabel schwimmt. Er versucht die Frage zu unterdrücken, wann er und Barbara das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Nicht das er sich nicht an den Sex mit Barbara erinnert, aber wann war das letzte Mal? Er drückt die Mute-Taste: Eine Wasserstoffblondine, übermäßig geschminkt, faselt darüber, wie sich ein Prominenter fühlt, dessen einziger Sohn sich gerade umgebracht hat.

„Die muss es ja wissen“, sagt er auf dem Weg in die Küche. Vor dem Herd geht er in die Knie und linst durch die Scheibe: Ja, das Unglück anderer und Sex, da schmelzen wir dahin wie Pizzakäse, fasst er die Fernsehbilder zusammen. Die Salamischeiben wellen sich. Der hintere Rand ist dunkelbraun. Fertig! Die Pizza schmeckt nach Vorabendprogramm und all den Meldungen von Verbrechen, Todesfällen, Krankheiten, Beziehungsproblemen, Scheidungen. Scheidungen? Das Wort war ihm bislang nicht in den Sinn gekommen. Ob Barbara daran denkt, fragt er sich. Sie müsste längst zu Hause sein!

Vielleicht denkt sie bereits länger an Trennung? Stellen die letzten Tage bereits ihre Ehe in Frage? Er überlegt, ob es eine Ehekrise sei oder das Finale vor der Scheidung. Er wirft das letzte Pizzaviertel auf den Teller und schüttet einen großen Schluck Wein in sein Glas. Auf dem Bildschirm tanzen Farben und Gestalten. Allmählich werden seine Augenlider schwer - er versinkt in einen dumpfen Schlummer. Das Klingeln seines Handys weckt ihn. Vor dem Fenster spielt die Rotbuche mit der lauen Luft des beginnenden Abends. Etwas benommen meldet er sich. Am anderen Ende hört er Barbaras Stimme. Wo er sei? Er erklärt ihr, dass er eine Auszeit brauche. „Wo bist du?“ Barbaras Stimme bekommt einen leicht aggressiven Unterton.

„Das ist doch egal.“

„Wie stellst du dir das vor. Du kannst doch nicht einfach so Urlaub machen.“

„Ich bin seit Donnerstag arbeitslos, da gibt es keinen Urlaub.“

„Eben. Meinst du, so findest du einen Job?“

„Ich kann nicht mehr.“

„Was soll das denn heißen? Du kannst nicht mehr? Wer war denn so blöd, diesen Wisch zu unterschreiben? Du kannst nicht einfach so abhauen!“

Er sagt nichts.

„Christian?“

„Ja.“ Jetzt schweigt Barbara einen Moment. „Kommst du zurück“, fragt sie und er hört, dass sie sich krampfhaft bemüht ruhig zu bleiben.

„Ich brauche ein bisschen Zeit.“

„Wie soll ich das alles allein schaffen?“

„Weiß ich nicht. Aber sonst hast du mich doch auch nicht gebraucht.“

„Was soll das denn heißen? Nicht gebraucht?“

„Barbara!“

„Du sagst, ich hätte dich nicht gebraucht! Ich habe dich gebraucht. Und du, wo warst du denn? Was blieb mir denn anderes übrig, als mich um alles allein zu kümmern?“

Schweigen. Er legt auf und lässt das Handy los. Es fällt von seinem Ohr aufs Sofa und von dort auf den Teppichboden. „Es ist kaputt“, murmelt er. Ihm fällt der Spruch ein, den irgendjemand auf eine Karte zu ihrer Hochzeit geschrieben hatte: Das Eheband wird geschmiedet solange es heiß ist. Der Spruch hatte ihm gefallen. „Und jeder verbrennt sich daran letztlich die Finger“, sagt er laut in die leere Wohnung. Er braucht frische Luft. Nach wenigen Minuten steht er gegenüber der Pferdekoppel. Es gefällt ihm, die kleine Betäubung des Weins zu spüren, alles um sich etwas gedämpft wahrzunehmen. In seinem Gesicht verfängt sich der Wind, er ist warm und ein bisschen salzig. Die Pappeln am anderen Ende der Weide blinzeln ihm zu. Ein zwei Pferde schauen herüber. Der Himmel kratzt sein Schädeldach. Seinen Mund verzerrt ein blödes Lächeln. Ein paar Ringelblumen luken durch Zaunspalten. Barbara ist weit weg, denkt er, sehr weit.

„Na, Abendrunde?“ Von hinten rechts fällt die Frage in sein Ohr. Er dreht sich um und Kathrin Claußen steht vor ihm. Sie hat die enge Jeans gegen eine grüne Latzhose getauscht. An ihrer rechten Hand hängt ein Eimer mit Möhren. Die zweite Frage rieselt auf ihn nieder:

„Bei dem Wetter ist es richtig herrlich hier, nicht?“ „Ich bin zum ersten Mal in dieser Gegend. Wirklich schön, ja.“ Sie grinst ihn an: „Wie gesagt, eine Woche Vorkasse!“

„Ach so ja, ich habe das Geld oben, soll ich es schnell holen?“

„Sie können es mir nachher vorbeibringen.“

„Gut.“ Ihre Köpfe drehen sich synchron zur Weide. „Reiten sie?“, fragt Kathrin Claußen.

„Nein.“

„Wollen sie mal reiten?“

„Also, ich, nein, eigentlich nicht.“

„Gut, wenn, dann brauchen sie nur zu fragen. Pferde sind genug auf der Weide.“

Er schaut sie an. Allmählich öffnet sich der Weinvorhang: „Ich saß noch nie auf einem Pferd.“

„Dann wird es aber Zeit! Ich kann es ihnen zeigen.“

„Vielen Dank. Aber.“

„Schon gut. Ich weiß, sie sind zum arbeiten hier. Sie wollen noch eine kleine Runde drehen?“

„Ja.“

„Sie können den Feldweg nehmen.“ Sie zeigt genau dorthin, wohin er gehen wollte.

„Gut, mache ich, danke.“

„Bis nachher.“

„Ja, gut.“

Er schaut ihr nach wie sie mit dem Eimer zur Weide pendelt. Mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen setzt er seinen Weg fort. Ihm gelingt es nicht mehr, den Weinvorhang vor seinen Geist zu ziehen. Die Welt, wie sie so platt und grün und abendsonnig vor ihm liegt, schlägt mit jedem Schritt heftiger bei ihm ein. Das Telefonat mit Barbara hämmert in seinem Kopf und bringt seine Gedanken in Aufruhr: Wie können sich nur diese blöden Felder so schamlos schön vor ihm ausbreiten? Interessiert sich die Welt nicht für ihn, für seine Probleme? Nein! Er ist bedeutungsloser als der wachsende Kohlkopf da. Aus dem wird mal Sauerkraut und aus ihm? Er schießt einen Stein vom Weg in den Feldgraben. Am Horizont drehen sich Windräder. Er zählt achtundzwanzig.

Jeden Tag drehen sie sich. Der Wind gibt die Geschwindigkeit vor. Ohne Wind stehen sie still. Da haben sie etwas gemeinsam, denkt er, ohne Arbeit steht auch er still. Völlig ausgebremst fühlt er sich. Die Arbeit ist sein Wind. Welcher Wind fehlt in seiner Ehe? Die Büsche am Feldrand schauen ihm schmunzelnd beim Denken zu. Warum konnte sich nicht alles weiterdrehen? Warum dieser Dämpfer? Als einer der ersten Stunde hatte er Recon mit aufgebaut und zu dem gemacht, was es heute ist!

Er wusste das alles bereits, was die drei Herren in ihren Anzügen am Donnerstag zu ihm gesagt hatten. Eine Einmischung seitens der Belegschaft in die Personalpolitik des Unternehmens verbitte sich der Unternehmensgründer. Das werde nicht geduldet und habe schon an anderen Standorten die Kündigung zur Folge gehabt. Offiziell wurde sein Rauswurf mit sinkenden Verkaufszahlen begründet und den dadurch erforderlichen Sparmaßnahmen. Sie ließen ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Nach fast zwanzig Jahren!

Am Freitag saß er beim Arbeitsamt. Sein Betreuer sagte, dass ihm eine Abfindung zustehe oder aber er gehe gegen die Kündigung rechtlich vor. Christian hörte nicht genau zu. Abfindung? Egal, wofür er sich entscheide, er brauche einen Anwalt. Das Wort Anwalt katapultiert ihn zurück auf den Feldweg und sein Grübeln über das Telefonat mit Barbara. Scheidung? Seine Schritte bekommen einen dunklen Rhythmus. Was, wenn mit der Arbeit und mit seiner Ehe, also alles, sein Leben, vorbei wäre. Schluss? Ganz gleich wie viele Jahre er noch auf diesem Planeten verbringt, sein Leben ist beendet, was kommt ist der Abspann, wie bei einem Film. Barbara hat sein Verschwinden bemerkt. Warum auch nicht! Er würde gern wissen, was sie jetzt denkt. Wie schätzt sie die Situation ein? Spürt sie auch, dass ihre Ehe kaputt ist? Oder gibt es eine Möglichkeit, dass sein Film weiter läuft? Hat ihr gemeinsamer Film noch einige Szenen?

Zurück in der Wohnung fingert er sein Portemonnaie aus seiner Jacke und geht zu Kathrin Claußen. Die Küchentür steht offen. „Kommen sie ruhig rein“, ruft sie ihm entgegen. Sie hat die Latzhose gegen die Jeans getauscht. Ihr rotes T-Shirt brennt im Raum. Während er an den Tisch tritt, öffnet er sein Portemonnaie und zieht die Geldscheine heraus. „Legen sie es da auf den Schrank. Wollen sie ein Glas Wein?“

Sie steht an der Küchenzeile und füllt ein Weinglas. Er zögert. „Ja, gern“, antwortet er. „Setzen sie sich“ und sie stellt das Weinglas vor ihn. „Prost!“ Sie hebt ihr Glas in seine Richtung. Er nimmt sein Glas, erwidert ihre Geste und beide trinken. Der Wein ist süß und schwer. Er spürt, dass er etwas sagen muss. Sie schaut ihm direkt ins Gesicht.

„Leben sie allein auf dem Hof?“ Sie lacht ihn an. „Nein, mein Mann ist zur Schicht. Der Hof ist nur Nebenerwerb.“

Also auch verheiratet, denkt er. Das Eheband wird geschmiedet, solange es heiß ist. Ob auch sie Verbrennungen spürt?

„Und sie sind hier, um Windräder zu reparieren?“

„Na ja, nicht direkt. Ich habe bis vor kurzem in einer großen Windradfirma gearbeitet.“ Was soll er weiter sagen, überlegt er. Weswegen ist er hier? „Und da will ich einen alten Freund besuchen, einen ehemaligen Kollegen.“ Er trinkt den süßen roten Saft.

„Sie suchen also eine neue Stelle?“

„Auch, zumindest halte ich ein bisschen Ausschau.“ „Da werden sie hier bestimmt etwas finden.“ Sie starrt ihn an. Er hält ihren Blick nicht lange aus. „Schauen sie sich um, überall stehen diese Dinger in der Landschaft. Wir haben auch so eine Mühle!“ Er will nicht mit ihr über Windräder reden, auch nicht darüber, dass er arbeitslos ist. Er will eigentlich gar nicht mit ihr reden. Ihre Augen schimmern hellbraun. Die kurzen schwarzen Haare stehen unangenehm streng vor ihm. Er will höflich bleiben.

„Ihr Hof ist wirklich sehr schön.“ Sie prustet kurz. „Ja, und sehr groß, viel Arbeit.“ Er nickt. Noch nie war er auf einem Bauernhof gewesen, von Landwirtschaft hat er keinen blassen Schimmer. Er hätte nicht vom Hof anfangen sollen, denkt er, sondern sie auf die Pferde ansprechen, die scheinen ihr sehr am Herzen zu liegen. Der süße Wein zieht sich wie ein schwerer dunkelroter Samtvorhang vor seinen Geist, legt sich auf seine Glieder, die gern in sich auf dem Stuhl zusammensacken würden.

Er überlegt, wie er die Sache beenden kann. Im braungebrannten Jungengesicht vor ihm tanzt das Glas: „Möchten sie noch einen Schluck?“ „Nein, vielen Dank.“ Für einen Moment hängt sein Blick auf den roten Stoffhügeln. „Ich werde dann mal wieder“, und er schiebt sich vom Stuhl.

„Ja, gut, wie gesagt, wenn sie reiten wollen, jederzeit gern.“

„Vielen Dank für das Angebot, aber ich schaue mir die Tiere doch lieber aus der Ferne an. Gute Nacht.“ „Gute Nacht.“ In der Tür dreht er sich um: „Danke.“ Sie lächelt.

Kapitel 4

Susann fährt mit dem Fahrrad zum Deich. Kein Sand! Keine Nordsee! Nur Schafe. Sie geht von der Deichkrone hinab zum Watt. Ihre Flip-Flops baumeln bei jedem Schritt um ihre Ferse. Sie versucht, nicht in Schafscheiße zu treten. Nach wenigen Schritten gibt sie ihre Vorsicht auf. Mitten im Grün und Grau steht eine Duschvorrichtung auf einer Betoninsel. Sie zieht sich die Schuhe aus und stapft barfuß ins Watt. Anfangs ist es sehr fest unter ihren Füßen und warm. Allmählich wird es weicher und je tiefer sie einsinkt desto kühler.

Ab und zu bleibt sie stehen und schaut in Richtung Norden. Wie ein Lineal liegt der breite Priel unterhalb des Horizontes. Er hebt sich nur durch das Glitzern der Sonne auf den kleinen Wellen des Wassers ab. Vor ihr liegt eine braungraue Farbfläche. Im Priel könne sie baden, wenn sie wolle, hat Arne gesagt. Er habe als Kind immer im Priel geplantscht. Sie solle aber den Deich und die zwei Bänke darauf im Blick behalten. Unter ihr tanzen die Sonnenstrahlen über die kleinen Wellen des abfließenden Wassers. Sie hört Vogelgeschrei.

Während ihres Studiums hatte sie sich einige Monate mit Ornithologie beschäftigt. Ein Dozent sagte in einer Vorlesung, dass bei einer Gartenplanung die Vogelwelt mit einbezogen werden könne, um Schädlinge ganz natürlich in Schach zu halten. Daraufhin ist sie mit einem Vogelbuch durch die Parks von Dresden gelaufen, entdeckte aber nur Kohlmeise und Spatz. Ihre außergewöhnlichste Entdeckung war ein Buntspecht. Hier soll es Sichelstrandläufer geben, hatte sie im Internet gelesen. Vorsichtig geht sie weiter. Der graubraune Matsch spritzt ihre Oberschenkel hinauf. Einige Spritzer schaffen es bis zu ihrem Bikini.

Sie schaut zurück. Die zwei Bänke stehen nicht in gerader Linie hinter ihr, obwohl sie fest davon überzeugt ist, immer geradeaus gegangen zu sein. Dreht sich die Erde unter ihr schneller als sie geht, fragt sie sich. Seit einiger Zeit fühlt sich ihr Leben genau so an. Aus unerfindlichen Gründen beschleunigt sich ihr Leben, obwohl nichts mehr passiert. Seitdem sie mit Arne verheiratet, das Studium beendet und der Job alltäglich geworden ist, schrumpfen die Tage. Endet die Jugend genau dann, wenn einen die Beschleunigungswelle des Alltags erfasst?

In den letzten Tagen hat sie oft an ihre Studienzeit in Dresden gedacht. Es kommt ihr vor, als ob diese Zeit sehr lange her ist, dabei liegt ihr Abschluss erst sechs Jahre zurück. Erst sechs Jahre arbeitet sie in Stuttgart und fünf ist sie mit Arne verheiratet. Sie überlegt, ob während der Schulzeit die Jahre auch so schnell vergangen waren. Sie ist mit Arne genau so lange verheiratet wie sie gebraucht hat, ihr Studium abzuschließen. Aus dem Bauch würde sie sagen: Das Studium dauerte länger als ihre Ehe währt. Verändert eine Ehe die Zeitwahrnehmung oder beschleunigt sie das Leben, weil nichts mehr passiert, fragt sie sich. Das Studium hatte sie viel Zeit und Kraft gekostet. Ihr Ehrgeiz trieb sie voran. Zur Jahrgangsbesten reichte es dennoch nicht. Sie weiß nicht, ob es schöne Erinnerungen sind. Und Johannes? Ja, Johannes. Sie mochte ihn. Er war nett und sah gut aus. Sie unternahmen viel zusammen. Sie hatten viel Spaß miteinander. Aber für sie war das alles nichts ernstes. Erst als sie Dresden verließ, erkannte sie, dass Johannes sie wirklich geliebt hatte. Sie wusste längst, dass sie nach Stuttgart gehen wird. Ganze drei Bewerbungen hatte sie verschickt. Eine Zusage. Auch wenn sie sich täglich trafen, sie dachte nicht daran, mit Johannes darüber zu reden. Erst eine Woche vor ihrer Abreise, sagte sie es ihm, ganz nebenbei. Es war bedeutungslos für sie, er war ihr nicht wichtig. Aber sie für ihn. Die Nachricht traf Johannes wie ein Keulenschlag.

Seltsame Fragen huschen durch ihren Kopf: Hätte sie Johannes heiraten sollen? Den Elektrotechnikingenieur? Wie würde ihr Leben aussehen? In welcher Weltgegend wäre sie mit Johannes gelandet? Sie fragt sich, ob das auch zum Ende der Jugend gehört, sich alternative Lebensverläufe auszudenken? In den letzten Wochen hat sie häufiger darüber nachgedacht, wie ihr Leben aussähe, wenn sie an den Entscheidungsschnittpunkten das Gegenteil gewählt hätte.

Am Priel angekommen zeichnet sich am Horizont die Nordsee ab. Links sieht sie ein Containerschiff entlangfahren. Vorsichtig legt sie ihre Sonnenbrille ins Watt und steigt den Priel hinunter zum Wasser. An seinen Rändern ist der Schlick noch weicher. Sie sinkt bis über die Knie ein. Keiner sieht sie, wie sie da bis zu den Oberschenkeln in einer grauen Erdpampe steckt: ein orange glühender Pfahl mit rotblonder Spitze.

Vollkommen verschmiert, wie nach einem Heilerdebad, wirft sie sich ins Wasser. Es ist angenehm warm, aber an ihren Beinen pikt es als ob kleine Steine im Wasser schwimmen. Stehen konnte sie nicht. Sie versucht, allein mit den Beinschlägen über Wasser zu bleiben. Mit den Händen fischt sie unter sich nach dem, was piksend im Wasser treibt. Das graue Wasser schlingt sich um ihre Handgelenke. Nach zwei Versuchen gibt sie auf. Dann findet sie eine Stelle wo sie Boden unter die Füße bekommt. Wie ein Hüfttuch liegt das Wasser um sie. Halbiert steht sie mitten in der Nordsee.

Über ihr breitet sich faltenfrei das Himmelstischtuch aus, sie zählt vier Wolkenteller. Hinter ihr, sie spürt ihre Kraft, die Sonne: Ein zu einem weißen Punkt geschrumpfter Hitzekreis. Mit drei Schwimmzügen gelangt sie zum Rand und steckt sofort bis zu den Knien im Schlick. Sie muss ihre Hände zu Hilfe nehmen. Wo ist ihre Sonnenbrille? Wo sind die zwei Bänke? „Was mache ich hier?“, ruft sie in die menschenleere Weite des Watts. An ihren Händen hängt der Schlick, die Oberschenkel hinauf hat er sich lüstern geschmiert. „Was mache ich hier! In diesem Dreck! Verdammt!“ Ihre verschmierten Hände greifen nach der Sonnenbrille.

Vorsichtig versucht sie, das Gestell auf ihre Nase zu balancieren ohne den Matsch in ihr Gesicht zu klecksen. Aber keine Chance: Auf Nase und Wangen klebt der Grund der Nordsee - grau und braun. Mit heftigen Bewegungen wischt sie sich die Finger an ihrer Badehose ab. Zwei Streifen rechts und links. In ihr wuchert Wut. Sie hätte toben können, losrennen, schreien. Warum tut sie es nicht? Sie ist ganz allein, niemand weit und breit. Alles herausschreien! Sie spitzt die Lippen, aber es kommt kein Ton. Ihr ganzer Oberkörper verspannt sich, krampft sich ums Brustbein.

Sie sucht ihre Fußabdrücke vom Hinweg. Eine Weile treibt sie das Spiel, genau in ihre Abdrücke zu treten. Sie spürt die Sonne auf ihrem Kopf. Ein Hut wäre gut gewesen! Um ihre Füße aufzuwärmen, bleibt sie ab und zu für einen Moment in einer kleinen Pfütze stehen. Sie dreht sich um ihre eigene Achse: Dreck, Dreck, graues Wasser, Dreck, Dreck, Grün, Schafe. Was macht sie hier? Sie erinnert sich an das vergangene Jahr: sie waren nach Ägypten gefahren, Strand und Pool, abends Party. Es hatte ihr Spaß gemacht. Eine Reise zu ihrem Hochzeitstag. Auch ihre Hochzeitsreise führte sie ans Rote Meer. Sie vermied es damals aber, von einer Hochzeitsreise zu sprechen. Für sie war es Urlaub, wie immer. Sie hatte sich sowieso dem ganzen Traditionsschnickschnack verweigert. Arne wollte beim Pastor heiraten, der ihn auch getauft hatte. Das konnte sie abwenden!

Trotzdem hatte sie versucht, der amtlichen Zeremonie einen heimeligen Anstrich zu geben. Mit Musik, die besonders ihrer Mutter gefiel und sie zusätzlich zu Tränen rührte. Während der kleinen Feier stichelte Elke, ihre Schwiegermutter, dass nur eine kirchliche Hochzeit eine richtige sei. Ihre atheistischen Eltern ließen das Gerede um des lieben Familienfriedens über sich ergehen.

Nach dem dritten Glas Sekt nahm sie ihre Schwiegermutter beiseite und tröstete sie damit, dass sie bestimmt bald kirchlich heiraten werden, bei ihnen, in Arnes Heimat, in Dithmarschen. Elke lächelte und schien vertröstet. Ihre Eltern scheinen mit Arne zufrieden zu sein. Ein guter Junge, der etwas aus seinem Leben machen will, der einen eigenen Hof in Aussicht hat. Nun ist sie seit fünf Jahren Ehefrau! Das Adjektiv glücklich erschien ihr im Moment unpassend.

Vollkommen dreckverschmiert langt sie an der Betoninsel mit Dusche an. Sie spült sich die Füße ab und die Beine. Allmählich wird ihre Badehose wieder orange. Sie überlegt, ob sie sich einen Moment ins Gras legen soll. Ihr Blick fällt auf die kleineren und größeren Kothaufen. Das wäre keine gute Idee, stellt sie fest und radelt zurück. Die Bäume am Straßenrand winken ihr zitternd und sehnsüchtig zu. Dann sieht sie die Pappeln am Rand der Pferdeweide. Die Sonne und der Fahrtwind trocknen sie. Als sie sich vom Sattel schwingt, bröckeln einige Kleckse Schlick von ihren Beinen.

Abermals steht sie unter der Dusche als Arne zurückkommt. Sie ist wütend auf ihn, auf sich, auf alles hier, auf den Dreck, der auch in ihren Haaren klebt. Warum hat der Kerl mich mitgenommen, fragt sie in ihrem kleinen Zornausbruch. Sie hätte allein nach Ägypten fahren können. Auch wenn Arne sich dagegen gewährt hätte, sie verdient doch ihr eigenes Geld, mit dem sie machen kann, was sie will! Einen Moment blickt sie an ihrer nackten Vorderseite herab, durch den Spalt zwischen ihren Brüsten. Eine Handvoll, wie Arne sagt. Schwarze Striche umranden ihre Fußnägel. Mit umgeschlungenem Handtuch tritt sie ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft nicht. Arne sitzt nackt im Sessel. Ohne sich zu ihr umzudrehen sagt er: „Na, mein Ehefrauchen. Hast du mich vermisst?“

Sie muss lachen. Immer, wenn Arne versucht, lasziv und männlich zu sein, muss sie lachen. „Lach nicht, schau lieber, was hier auf dich wartet!“ Grinsend geht sie um den Sessel und stellt sich vor ihn. Sie überlegt, ob sie mit ihrem Badetuch einen Striptease versuchen soll. Das Handtuch fällt zu Boden. Sie sieht, dass Arne nicht weiter von ihr animiert werden muss.

Sie baut sich vor ihm auf, öffnet ihre Schenkelzange. Ihre Hände greifen seine Schultern als Zügel, er drückt die Fingerkuppen in ihr Beckenfleisch. Ihr Atem stößt gegen seine Stirn, sein Mund fischt nach einer der vor ihm auf und ab wippenden kupfernen Spitzen. Unter ihrem Kinn beginnt Arne zu stöhnen, gebrummte Atemwellen schieben sich taktlos gegen ihr Brustbein. Ihr Kopf klappt nach unten, ein roter Samtfleck kommt aus Arnes Mund, sie angelt sich ihn, schlürft ihn zwischen ihren Lippen. Nach einer guten Strecke Wegs kommt ihr Körper zur Ruhe, Säfte perlen oben und unten.

Kapitel 5

Seit Stunden liegt überall ein Sommertag herum. Seine Hand gleitet von seinem Kopf und rutscht auf die Matratze. Von dort fällt sie seitlich herunter und trifft eine leere Weinflasche, die sich mit einem dumpfen Ton querlegt. Er presst sein Kinn auf die Brust, um nachzusehen. Aber diese kleine Bewegung verursacht ein grässliches Hämmern in seinem Schädel. Er stöhnt. Am Dienstag war er angekommen, rekapituliert er, gestern in all seinem Selbstmitleid ertrunken. Dann ist heute Donnerstag. Vor einer Woche bekam er die Kündigung!