Ansichten des Windes - Daniel Schaup - E-Book

Ansichten des Windes E-Book

Daniel Schaup

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Beschreibung

Der Band versammelt Erzählungen mit ungeheurer sprachlicher Intensität, durch die alltägliche Phänomene für den Leser zu neuem Leben erweckt werden. Für viele Figuren funktioniert der Alltag seit der Wende '89 anders oder überhaupt nicht mehr. Dargestellt werden die kleinen noch heute nachwirkenden Erschütterungen dieses Ereignisses. Meisterhaft werden auch über die ganz kleinen, zarten Momente des Lebens dargestellt, wie etwa die Erinnerung an die erste Liebe, die nur noch ein melancholischer Hauch ist. Jede hat ihren eigenen Klang, der im Leser lange nachschwingt. Zuerst erschien der Band im Jahre 2014.

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Daniel Schaup

Ansichten des Windes

Erzählungen

Das Buch

Hier sind Erzählungen versammelt mit ungeheurer sprachlicher Intensität, durch die Daniel Schaup alltägliche Phänomene für den Leser zu neuem Leben erweckt.

Für viele seiner Figuren funktioniert der Alltag seit der Wende ’89 anders oder überhaupt nicht mehr. Dargestellt werden die kleinen noch heute nachwirkenden Erschütterungen dieses Ereignisses. Meisterhaft erzählt er auch über ganz kleine, zarte Momente des Lebens wie etwa die Erinnerung an die erste Liebe, die nur noch ein melancholischer Hauch ist. Dann fesselt er den Leser wieder mit gewagten philosophischen Spekulationen.

Alle Erzählungen sind wohl komponiert: Jede hat ihren eigenen Klang, der im Leser lange nachschwingt.

Zuerst erschien der Band im Jahre 2014.

Der Autor

Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg.

Daniel Schaup

Ansichten des Windes

Erzählungen

© 2024 Daniel Schaup

2. Aufl.

ISBN Softcover: 978-3-384-12582-8

ISBN E-Book: 978-3-384-12583-5

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Halbe Titelseite

Das Buch

Der Autor

Titelblatt

Urheberrechte

Waschtag

Der Doktor und die liebe Wahrheit

Der optische Telegraf

Altenglühen

Ansichten des Windes

Die Baumschule

Raumduftorgasmus

Neuland

Ein Meter mal ein Meter

Anfangs Liebe

Der chinesische Schmetterling

Ansichten des Windes

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Titelblatt

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Waschtag

Der chinesische Schmetterling

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Waschtag

Ich höre das Drämmern des Eimers. Keine Zukunft, auch nicht die meine, streckt sich nach einem Fahrplan. Schritte schreien die Stufen herauf. Den Bahnsteig bedecken Pfützen aus vertaner Zeit. Ausharren: Der Frühe fängt das größte Huhn; goldene Morgenstunde im Gefieder. Stehen, sehen, warten, husten. Plötzlich kreischt die Luft, eine Stimme wirbelt. Weiß, roter Streifen, wind-schnittig: Züge von heute. Ohne Platzreservierung in der zweiten Klasse, das Geld bekomme ich zurück, erste Klasse sicher nicht, also zweite, ein Platz allein, Großraum-Wagon, gut. Es beginnt zu regnen. Tropfen schießen Scharten in die Scheiben; auch die Postmoderne hat dreckige. Ruhig bleiben, umsteigen nicht nötig, sitzen und sich beschäftigen. Die lange Fahrt vertreiben. Von Abfahrt zu Ankunft die Leine der Zeit: Von wem gespannt? Warum nimmst du das auf dich, eine Tortur das.

Niemand unterhält sich mit mir. Andere machen Bekanntschaften in Zügen. Zu viele Sitze im Wagon sind noch frei, als dass ein Einsteigender oder gar eine Einsteigende sich neben mich setzen müsste. Alle versuchen allein zu sitzen. Der Sommer ist noch weit, niemand schwitzt, keine Angst vor Gerüchen. Einige Menschen riechen ja immer nach ihrem Körper, auch mit sämtlichen Deodorants auf ihrer Haut. Geruchsmaschinen, ihre Poren kleine Zerstäuber-Kraftwerke. Klimaherrschaft: die Anlage schiebt kalte Luft an den Scheiben empor. Nicht dagegen lehnen! Achtung Halsschmerzen!

Sollte ich jetzt beginnen, mich auf das Gespräch vorzubereiten? Nachher werden sie vor mir sitzen und mich fragen, was ich da genau machen wolle. Eine Doktorarbeit will ich schreiben!

Oder besser vielleicht: ich brauche euer Geld zum leben. Schöne Räume werden es wohl sein. Ein Schloss weckt Erwartungen. Frisch renoviert – dünner, dezent befarbter Teppichboden: Nicht kippeln!

Rechts unten der kleine Hebel. Mit ihm den Sitz in eine bequemere Position manövrieren. Kippeln aber ist nicht möglich. Anlehnen. Der Rücken rollt ab, Wirbel für Wirbel presst sich gegen die Lehne. Den Nacken entspannen. Ein kleines Kissen empfängt den abgeknickten Kopf. Wie viele Hinterköpfe lehnten schon dagegen? Nicht daran denken! Entspannen!

Kippeln, ein anderes Wort für Denken? Zwischen zwei Extremen hin und her, hin und her, still sitzen oder nach hinten umfallen, leben oder sterben. Der Erde verbunden. Im Gegensatz zum Schaukeln, das in der Luft hängt. In meiner Schule starb einer. Er kippelte und fiel nach hinten weg, wobei er mit dem Hinterkopf auf die Tischkante schlug und sich sein Genick brach. Und das Denken? Brach es nicht auch so manchem das Genick, besonders wenn es nach Verwirklichung drängte?

Zur Entspannung: In blauem Pappeinband die Tagebücher von Thomasmann. Im Roman desinfiziert der Kliniker des Wortes zuerst sein Material, dann schneidet er mit scharfem Schnitt die Wortlücken in das Satzgeflecht, protesiert mit Satzzeichen, lässt ein und verfugt mit Grammatik. In der täglichen Rechtfertigung des Tages aber verharrt er oft in der Rolle des Patienten. Lesen? Oder soll ich doch mein Exposee durchgehen?

Dreißig Seiten, von mir geschrieben. Der Sinn von literaturwissenschaftlichen Arbeiten ist mir völlig unklar, aber dem Tertiärschwall einen Quartärschwall entgegen zu schleudern, ist leicht verdientes Geld. Mir blieb ja nichts anderes, ich musste mich um ein Stipendium bewerben. Und natürlich fällt es leicht, im Jargon schon Bekanntes so zu sagen, dass es neu und vor allem wichtig klingt. ,Höheres Abschreiben’ nennt das unser aller Kliniker des Wortes. Im Spalt der Sitzlehnen vor mir, ein Gesicht: Frau, Mitte vierzig. Alt aber immer noch wahr der Gedanke, die Beobachtung, dass Frauen nur kurze Zeit blühen, dann langsam verwelken: mit dem zwanzigsten Lebensjahr beginnt ihr Sterben. Vor ihr Gesicht schiebt sich eine Zeitung. Ist auch besser so. Wie viel Zeitungen ich in den letzten Wochen lesen musste! Weil auch Aktuelles auf der Frageordnung steht. Aber, was bitte schön ragt aus dem Artikelwust als aktuell hervor? Sie blättert um.

Ich hasse Zugtoiletten. Nächste Station muss ich raus. Schlucken, Fäkalien-Hoffnung auf das Schloss gerichtet. Alles zusammenpacken: Papier, Buch, Wasserflasche. Am Bahnhof werde ich mir ein Taxi nehmen. Mit dem Bus fahre ich nicht. Wer die Tagebücher von Thomasmann liest, fährt Taxi. Jacke anziehen, im Gang stehen. Eine Frau vor mir wird von ihrem Koffer aus dem Zug gezogen, ich nehme Stufe für Stufe und spähe nach dem Ausgang. Der Taxifahrer erzählt unaufhörlich. Wieder höre ich das Drämmern des Eimers.

Durch die Glastür des Eingangs schimmern schon beanzugte Gestalten: Uniformität aus Freiwilligkeit und Blödigkeit. SIND DENN DIR NICHT BEKANNT VIELE LEBENDIGEN? GEHT AUF WAHREM DEIN FUSS NICHT, WIE AUF TEPPICHEN? Nicht Schmerz, sondern Erfüllung von Erwartetem mauert meinen Schritt über der Schwelle fest.

Hinein! Eichenbohlen stemmen sich gegen frisch gewichste Absätze und quietschen unter meiner Gummisohle, irritiert erstarren die ledernen. Die Eichenbohlen winden sich gegenüber einem Kamin in das obere Stockwerk hinauf – das Wiehern der Stufen – aus ihren Poren hallen die Klänge geschlagener Mensuren.

Wieso haben die mich eingeladen? Anmeldungsbogen vom Tisch nehmen, daneben ein Glas mit Kugelschreibern. Stemme gleich fünf in meine rechte Tasche. „Guten Tag“, Name, ja, abkreuzen, bitte, fünfzig Euro. „Danke“. Der braune Schein verschwindet in verblüfften Fingern. Nicht die ganze Fahrt erstattet! Nur fünfzig, Fünf-Zig ! ! ! 50 ! – Gestraft dafür, dass unsereins von so weit drüben anreist. Wut hämmert sich in meinen schweifenden Blick. Sind auch Frauen hier? Auch sie haben sich uniform fein gemacht, dunkle Anzüge, Maskulinität ist die Voraussetzung für … Knabenliebe auf dem Vormarsch, der Hügel in der Hose aber von der Venus ist.

Allgemeiner Aufbruch! Alle in Raum 047 zur Begrüßung. Alle sind wir Freunde, niemand will was Böses. Ach, sind wir alle nett. Und schön wird es werden. Zum ersten Mal höre ich, dass jeder, der aufgenommen wird in die Gemeinschaft der Stipendienbezieher, einen politischen Kurs besuchen muss. Na klasse: Parteischule gibt’s auch hier. Aber was macht man nicht alles für den täglichen Lebensunterhalt.

Die Namen der Angereisten werden verlesen. Mit dem Zusatz, woher sie kommen. Mein Ohr lehnt sich konzentriert gegen die Worte, vernimmt nur einen aus dem Osten, nämlich meinen. Regentropfen meißeln Stäbe aus dem Glas der Fenster. Alibi-Ossi? Gefangen im Opportunismus. Begeistert warten sie auf die politische Züchtung. Die Demokratie bietet eben vielerlei Nischen, in denen sich die Diktatur verstecken kann.

Mein Gespräch findet im Raum 012 statt. Aber zuvor sind alle zu einer kleinen Kaffeepause im Salon (wo sonst!) eingeladen. Mein hellbraunes Jackett lehnt sich im Stuhl zurück. Mit an den Tisch platzieren sich verstümmelte Pinguine. Unter ihnen ein weibliches Wesen, das meine Fantasie langsam aus der Hülle des Widerwillens schält. Die am Tisch Versammelten krampfen sich ein Lächeln aus ihren Gesichtern, nur die Orientalin mir gegenüber nicht. Sie schaut mit ihren schwarzen Augen in den blattgold-verzierten Saal.

Die schwarzen Augen spiegeln den Wechsel von Hässlichkeit und Schönheit gekonnt, bei mir aber siegt immer die Nase, leider. Ihr zarter Körper umschmeichelt von einem Blazer, darunter eine Bluse mit endlosem Ausschnitt, nichts aber, was des Ausschneidens wert wäre. Ihr Anzug schwarz. Es gibt wohl nichts Paradoxeres als orientalische Frauen in Anzügen. Die lange Mauer ihres Nasenbeinknochens läuft zum Nadelstreif parallel.

Das Zimmer (012), indem sie mir ihre Liebe beweisen wollen, liegt im Keller. Gang durch die unbeleuchteten Flure, wo das Tageslicht abgestanden herumliegt. An der Tür die Liste mit den Namen, der meine an Position eins. Einige, die erst später gecheckt werden sollen, schauen trotzdem vorbei: Wie sicher fühlt sich das Schwein, wenn es den Weg zum Schlachter kennt.

Ach sind sie alle nett, wollen mit mir reden, mich bedauern, dass ich der erste, aber ich habe nur Fetzen für sie übrig. Das antrainierte Grinsen in ihren Fressen ist deshalb so grade, weil sie Angst vor der Mensur haben. Ein Stipendium für ein Schwert, um diese Mäuler auszurichten! Aus der ehemaligen DDR? Staunen! Je weiter man gen Westen fährt, desto höher wäre der Eintrittspreis für die Ausstellung eines Ossis. Auch heute noch!

Ich kann nicht lächeln. Frage nach ihren Projekten, doch was zurückfällt an Wortschlamm sind Namen von Professoren, die jeden Inhalt erübrigen, oder der Glanz von Parteifreunden. Warum müssen die dann noch in den Keller? Ach ja, wir wollen ja immer hübsch demokratisch sein: auch der Schein einer Chance ist eine Chance. Gebt mir eine Chance, auch wenn es nur für die Akten ist: Öffnet die Arena!

Sie kommen, zwei Frauen und ein Mann. Sie entscheiden über drei Jahre meines Lebens, oder fiel die Entscheidung bereits im Hintergrund. Somit doch: Alibi-Ossi. Der Raum wird geöffnet: klein, in der Mitte ein runder Tisch. Oben eine Linie Fenster, durch die das faulende Laub hereinlugt. Papier ablegen, lächeln, ich warte, Manieren zeigen, da die Geste, dass auch ich mich setzen solle.

Die Tischkante amputiert die Unterleiber. Eine der beiden Frauen sitzt mir gegenüber. Vor ihr liegt ein Stapel Papier. Rechts von ihr Frau Nr. 2, vor ihr ein einzelnes weißes Blatt, ebenso vor dem Mann links. Daraus schließe ich, dass die Dame vor mir die Chefin vom Ganzen ist. Ihre Augen blitzen mich hellbraun an. Dünne Finger kramen im Papierstapel. Ihre Stirn furcht sich und schiebt das kurz geschorene graue Haar nach oben.

Gegenseitiges Vorstellen. Mir gegenüber Frau Professor. Sie glaubt, jeder müsse sie kennen. Ich kenne sie nicht, habe ihren Namen noch nirgendwo gelesen, aber vielleicht lese ich das Falsche. Der Mann links: Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Wahrscheinlich steckt sein Kopf gerade im Hintern eines für ihn Drittmittelanträge unterschreibenden Professors. Von rechts lächelt mich ein jüngerer Frauenmund an.

Die erste Frage von Frau Professor! Jetzt weiß ich eins: Mein Exposee hat diese Person nie gelesen! Ergo: Vorhaben erläutern. Es entwickelt sich eine Art Gespräch. Die nächste Frage wabert von rechts außen heran – der Mann darf erst reden, wenn die Frauen fertig sind (das ist in anderen Situationen durchaus richtig). Ich solle über mein Studium berichten, welche Schwerpunkte usw. (usw.!). Ich berichte ihnen, dass ich zum größten Teil Seminare nach Oxforder Modell besucht habe. Erstaunen glättet das Gesicht mir gegenüber. Ganz verwirrt fragt sie nach, ob es das denn wirklich an einer Uni im Osten gäbe. Mein Opportunismus zerbricht, zerspringt, platzt.

Selbstverständlich gibt es diese Seminarform auch ‚im Osten’. Wir haben auch Strom seit wir endlich von ihnen befreit wurden und, Kohl sei Dank, auch eine Kanalisation. Sie nicken langsam ein ernstes Ja. Die Ironie haben sie nicht verstanden. Die Demontage beginnt! Jetzt darf der Mann auch mitmachen. Er fragt, wie man sich verhalten solle in einem diktatorischen System, das menschenfeindlich agiere. Ich denke an Heinrich Düring. Er wartet keine Antwort ab, sondern meint, dass es doch die Pflicht eines jeden Menschen sei, gegen ein solches System sich aufzulehnen. Mein Blick sucht weiterhin sein Gesicht. Ich antworte nicht, frage nur, wie er diesen Begriff von Pflicht begründen wolle. Und außerdem, der weiß doch, dass ich damals erst dreizehn war. Diese Witzfigur. Frau Professor bricht ab, bedankt sich für das Gespräch. Verabschiedung und Nicken. Ausgraben aus dem Keller, in den Teppichen der Duft unzähliger Amputationen. Vor der Tür ein Taxi. Das nenn ich Glück: das erste heute. Nur fort von hier! Der Motor läuft noch. Gut! Ich reiße die Beifahrertür auf. Schnell rein. „Bahnhof.“ Er nickt und fährt los. Ich lausche auf das Drämmern des Eimers. Da, ein schwarzer SIS mit weißen Gardinen fährt an mir vorbei. EINE GRANNE, NICHT ZUGEWEHT VOM SOMMER, STACHELT SICH FEST IN MEINER KEHLE.

Der Doktor und die liebe Wahrheit

1.Fürstliches Leben

Auf Sizilien und darüber hinaus herrschte über dreißig Jahre ein Pate namens Michele; vor wenigen Tagen war er selig entschlafen und sein erster Sohn mit gleichem Namen folgte ihm auf dem Familienthron. Der Name blieb derselbe, aber die Führung der einflussreichen Familie änderte sich grundlegend!

Michele der Ältere hatte die Familie gut zusammengehalten, die Geschäfte international ausgebaut und in Frieden mit den anderen Familien gelebt; sein privates Glück fand er in großen Festen, auf denen er glanzvoll Hof hielt. Eher einem barocken Hof glich auch das Familiengut am Rande des kleinen Dorfes: Es wimmelte von Bediensteten, Bittsteller gingen ein und aus, manche blieben als Günstlinge vor Ort; alle glichen sie dem Zierrat und den Gipsstatuen, mit denen das Anwesen aufgeplustert war.

Seit Jahren verwitwet, blieb für Michele dem Älteren die Ehe ein heiliges Sakrament, dennoch umschwirrten ihn Zeit seines Lebens Konkubinen; insbesondere bei Gästen, mit denen er schwierige Verhandlungen zu führen hatte, waren sie ein nicht zu unterschätzender Trumpf. Außerdem gehörten sie zu einer wahrhaft fürstlichen Hofhaltung.

Der Sohn aber, welcher dieses Treiben all die Jahre schweigend mit anschaute, die Last des prunkvollen Gehabes ertrug und das altertümlich anmutende Zeremoniell, riss alles bei seinem Regierungsantritt nieder: Der halbe Hofstaat wurde entlassen, die Feste eingestellt, alle Günstlinge entsorgt. Selbst in seinem näheren Umfeld räumte er auf: Ein ganzes Dutzend von sogenannten Vertrauten flüsterten einst in das Ohr des Paten, um das Ohr des neuen Michele wurde geschwiegen. Von Anfang an nahm er die Geschäfte selbst in die Hand! Niemand, auch sein Consigliere nicht, konnte sich irgendeines Einflusses auf seine Entscheidungen rühmen.

Die Menschen waren so daran gewöhnt, dass der Pate und seine Familie zu ihnen gehörte, mit ihnen und unter ihnen lebte, dass ein sich abschottender, nur mit sich selbst alles abhandelnder, keine Einflüsterungen zulassender Pate schon etwas Außergewöhnliches, ja Unheimliches an sich hatte. Der Palast schien verwaist. Der neue Michele duldete nur wenige Menschen um sich. Er war noch unvermählt, seine Mutter längst gestorben, die Schwester auswärts verheiratet: in dem großen Haus gab es keine Frau. Kein Wunder, dass es im Haus sehr still wurde und alle nunmehr von einem Kloster als von einem Palast sprachen. Der Vergleich mit einem Kloster war durchaus richtig, Michele war ein sehr gläubiger Mensch: Jeden Morgen zog er sich für eine Stunde in die kleine Kapelle zurück; jeden Sonntag besuchte er die Messe im Dorf.

2. Ein Mann ein Wort

Micheles einziges Vergnügen war der Waldlauf: Der einsame Kampf in der Stille des Waldes mit den eigenen physischen Grenzen – immer wieder steigerte er sein Pensum. Sein Körper passte sich diesem Kampf immer besser an; jeden Tag lief er bis die Beine nichts anderes mehr wollten als weiter, im Gehirn das Denken aufhörte: alles miteinander verschmolz. Nun geschah es, dass der junge Pate an einem Spätherbstabend statt einer neuen meditativen Erfahrung eine Erkältung mit nach Hause brachte. Seit seinen frühen Kindertagen war er nicht krank gewesen; er galt als ein zäher, vor Gesundheit strotzender junger Mann. Für ihn war eine Krankheit etwas ganz aus der Reihe stehendes; Krankheit kam in seiner Lebensplanung nicht vor. Kein Wunder, dass er bei seinem Regierungsantritt neben allen anderen auch den Leibarzt seines Vaters entlassen hatte. Er könne selbst auf sein Wohlbefinden achten, die tägliche Arbeit, das Gebet und das Laufen sorgten schon dafür.

Nun war er dennoch krank geworden! Und wie erschreckte ihn das, welch Strich durch seine Rechnung machte dieses für andere so kleine Ereignis! Da gelang es seinem Sekretär, einem Überbleibsel der vormaligen Hofhaltung, dem augenblicklich besonders stark von Fieberschüben gebeutelten Paten das Versprechen abzuringen, ärztliche Hilfe zu rufen; um die Sicherheit des werten Patienten zukünftig gewährleisten zu können, auch wieder einen Leibarzt einzustellen.

Es kostete Michele eine ungeheure Selbstüberwindung seinem Sekretär zuzustimmen und ihn zu beauftragen alles Notwenige zu veranlassen. Dieser Entschluss aber wirkte Wunder: Unmittelbar nachdem er seinem Sekretär den Auftrag gegeben hatte, brach ein heftiger Schweiß aus, worauf er in einen tiefen Schlaf fiel und am nächsten Morgen als vollkommen gesundet erwachte!

Wie teuer erkauft schien ihm seine Genesung im Angesicht des gestern getroffenen Beschlusses: Aber ein Mann ein Wort! Er bestätigte dem Sekretär die Einstellung eines Leibarztes, da er ein Hintertürchen sich öffnen sah. Denn während der Sekretär seinen Freunden bereits triumphierend mitteilte, dass in Bälde das neue System gebrochen sei und der alte Hofstaat wieder erstehe, sann Michele, wie er durch die Person des Arztes selber den leibärztlichen Posten in Frage stellen könne.

Zwei berühmte italienische Ärzte schienen die einzig möglichen Kandidaten. Der Pate aber wählte einen dritten, einen, den niemand kannte. Das ganze Dorf, die ganze Region fiel aus allen Wolken über diese Wahl, aber noch mehr als alle anderen fiel der Gewählte selbst aus eben diesen! Der neue Leibarzt war blutjung, gerade so hatte er sein Studium geschafft, und nur durch die Beziehungen seiner zukünftigen Schwiegereltern trug er den Doktorhut. Nie hatte er sich um sein Studium geschert: Von Fest zu Fest getaumelt, ein immer gern gesehener Gast in allen lustigen Gesellschaften. Niemand hatte ihn bisher an ein Krankenbett gerufen, ausschließlich nur zu Trinkgelagen.

Sein Name nun gibt Aufschluss sowohl über sein Äußeres, besonders seinen Haarwuchs, als auch über sein bisheriges Leben, er hieß David Kraus. Der Name verrät aber noch mehr: Sein Vater war ein in Italien Geschäfte machender Deutscher, seine Mutter aber gebürtige Sizilianerin. Und diesen Doktor David Kraus berief nun der Pate zu seinem Leibarzt! Diese Doppeldeutigkeit: War doch Michele des Doktor Kraus’„erster“ Patient!

3. Die Wahrheit ist ein Rätsel