Manchmal ist Weihnachten - Daniel Schaup - E-Book

Manchmal ist Weihnachten E-Book

Daniel Schaup

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Beschreibung

Jeder Augenblick unseres Lebens ist voller Zauber. Kinder spüren das. Und wir Erwachsene? Wir lassen uns nicht mehr verzaubern! Einmal im Jahr aber ist die Zauberkraft stärker als unsere Alltagsroutine und unsere Sorgen: an Weihnachten! Wir feiern die Geburt eines Kindes. Und um uns erwacht, was das Leben vor allem ist: ein großes Geschenk voller Wunder. In diesem Band sind Erzählungen versammelt, die nicht nur zur Weihnachtszeit das Herz berühren: Wenn ein Spielzeugladen ein Ort der Hoffnung ist, eine Familie alle Hindernisse überwindet oder eine Schildkröte zum Liebesboten wird. All das ist Weihnachten! All das ist der Zauber des Lebens! All das vermag nur die Liebe!

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Seitenzahl: 170

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Daniel Schaup

Manchmal ist Weihnachten

Erzählungen

Das Buch

Jeder Augenblick unseres Lebens ist voller Zauber. Kinder spüren das. Und wir Erwachsene? Wir lassen uns nicht mehr verzaubern!

Einmal im Jahr aber ist die Zauberkraft stärker als unsere Alltagsroutine und unsere Sorgen: an Weihnachten! Wir feiern die Geburt eines Kindes. Und um uns erwacht, was das Leben vor allem ist: ein großes Geschenk voller Wunder.

In diesem Band sind Erzählungen versammelt, die nicht nur zur Weihnachtszeit das Herz berühren: Wenn ein Spielzeugladen ein Ort der Hoffnung ist, eine Familie alle Hindernisse überwindet oder eine Schildkröte zum Liebesboten wird. All das ist Weihnachten! All das ist der Zauber des Lebens! All das vermag nur die Liebe!

Der Autor

Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg.

Daniel Schaup

Manchmal ist Weihnachten

Erzählungen

© 2022 Daniel Schaup

ISBN Softcover: 978-3-347-76250-3

ISBN E-Book: 978-3-347-76251-0

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

INHALT

Vorwort

Der Spielzeugladen

Frau Morgenschön

Gänsebraten

Manchmal ist Weihnachten

Hände wie Tauben

Besuch von einem Denkmal

Alte Liebe

Aushilfsengel

Sperlingsnacht

Vorwort

Die hier versammelten Erzählungen sind in den letzten Jahren entstanden. Immer in der Woche vor Weihnachten habe ich eine geschrieben. Am heiligen Abend las ich sie im Kreise unserer Familie vor. Wenn sie meinen Lieben gefielen, war es für mich das schönste Geschenk.

Warum hatte ich begonnen, Weihnachtsgeschichten zu schreiben? Der Anlass war sehr traurig: mein Großvater war gestorben und vor uns lag das erste Weihnachten ohne ihn. Damit der Abend nicht zu bedrückend wurde, verfasste ich die erste Geschichte.

Mit meinem Großvater verloren wir endgültig den persönlichen Kontakt zu einer ganzen Generation! Zu einer Generation, die sehr schreckliche Weihnachten erleben musste, sei es in von Bomben bedrohten Städten oder in den Schützengräben fern von Heimat und Familie.

Für meine Großeltern war Weihnachten ein besonderes Fest. Meinen wir es heute wirklich ehrlich, wenn wir sagen: Weihnachten ist das Fest des Friedens und der Liebe? Unsere Großeltern aber strahlten es mit ihrem ganzen Wesen aus!

All die seelischen und körperlichen Wunden des Krieges heilten, wenn ihre Enkel mit freudestrahlenden Augen um ihre Füße tobten.

Sie haben ihr ganzes Leben dafür eingesetzt, dass wir heute in diesem Wohlstand leben können. Aber all die bunten Dinge sind nichts gegen das größte Geschenk, was sie mir für mein Leben mitgegeben haben: die große Dankbarkeit, im Frieden leben zu dürfen!

Auf ewig sind wir mit unseren Lieben verbunden, auch wenn sie diese Welt bereits verlassen haben. Unsere Großeltern sind nicht einfach weg. Sie leben auch nicht einfach nur in unseren Erinnerungen weiter. Sie leben, denn die Liebe ist ewig! In der Liebe ist Frieden und allein im Frieden gedeiht die Liebe. Deshalb möchte ich dieses Buch meinen Großeltern widmen, ohne die ich nicht das geworden wäre, was ich bin. Danke.

Daniel Schaup

Der Spielzeugladen

Bei mir im Viertel, an einer wenig befahrenen Ecke, gibt es einen Spielzeugladen. Allein das wäre ein kleines Weihnachtswunder! Doch ich will von einem viel schöneren erzählen: Jeden Tag spaziere ich an dem Laden vorbei. Ich wohne nur wenige Straßen entfernt. Noch nie habe ich den Laden besucht! Aber ich freue mich jeden Tag über ihn.

Oft schaue ich mir die beiden Schaufenster an: die Holzautos, die Stofftiere, auch die Puppen, besonders schön finde ich die Brummkreisel. Ich weiß nicht, ob Kinder heute noch mit Brummkreiseln spielen? Ich finde sie jedenfalls schön. Mehr als einmal habe ich überlegt, in den Laden zu gehen und mir einen zu kaufen. Dann würde ich mich auf den Bordstein setzen und ihn in Schwung bringen. Versonnen schaue ich ihm dann beim Drehen zu und genieße sein Brummen. Wenn ich mich umsehe, stehen leider überall Autos am Straßenrand. Da ist kein Platz, um sich auf den Bordstein zu setzen! Kein Platz für einen Brummkreisel! Kein Platz für spielende Kinder!

Jeden Tag komme ich also am Spielzeugladen vorbei. Ab und zu habe ich sogar den Besitzer gesehen: ein kleiner alter Mann mit einem Jungengesicht, zu dem das volle weiße Haar nicht so recht passen will. Noch nie habe ich Kinder vor dem Laden entdeckt, geschweige denn sich ihre Nasen am Schaufenster platt drücken gesehen. In die Jahre gekommene Leute wie ich selbst einer bin, kommen aus dem Laden, aber kein Kind. Bestimmt sind es die Großeltern, die ihren Enkelkindern ein ihrer Meinung nach „richtiges Spielzeug“ schenken wollen, wie zum Beispiel einen Brummkreisel - mal nichts aus Plastik, mal nichts Elektronisches! Ein Spielzeug ohne Batterien! Ja, je älter der Mensch wird, desto wunderlicher sind seine Ansichten über das Leben.

Gestern, am 24. Dezember, ging ich meine übliche Morgenrunde und sah von weitem ein kleines Mädchen vor dem Schaufenster des Spielzeugladens stehen. Die Winterjacke formte aus ihrem Körper etwas kugelähnliches und ihr Kopf lugte aus einem dicken blauen Schal hervor. Ihre Bommelmütze strahlte rot durch die graue Straße. Der Tag hatte mit Nieselregen begonnen und die feuchte Kälte zwang mich, meinen Spaziergang abzukürzen. Erstaunt blieb ich stehen: Ein Kind am Schaufenster des Spielzeugladens! Sogleich fragte ich mich, wo seine Eltern sind? Kinder ohne Eltern sind eine absolute Seltenheit geworden in unserem Stadtbild!

Ich ging einige Schritte näher und beobachtete das Mädchen: In aller Ruhe betrachtete es die Auslage und tippelte dann zum anderen Schaufenster. Jetzt griff es in seine Manteltasche und zog einen Geldschein hervor und verzog den Mund. Hatte sie nicht genug für das, was sie sich wünschte? Sie betrat den Laden! Neugierig folgte ich ihr und ging ebenfalls in den Laden. Zum ersten Mal stand ich im Spielzeugladen. Ein bißchen fühlte ich mich, als ob ich eine Zeitmaschine betreten hatte. Es roch nach Holz und feuchtem Stoff, ein Hauch von geröstetem Kaffee lag in der Luft. Am hinteren Ende befand sich ein breiter Tresen aus massivem dunklem Eichenholz. In den Regalen an den Wänden stapelten sich Plüschtiere, Holzautos, Puppen - von der Decke hingen Flugzeuge aus Metall, Puppenwagen standen herum, auch altmodisch wirkende Roller.

Das Mädchen hatte seine Mütze abgenommen und schlich um das Regal mit den Puppen. Der Laden war zwar klein, aber groß genug, um mich hinter dem Regal mit den Springseilen und Rollschuhen zu verbergen ohne aufzufallen. Der alte Mann mit dem Jungengesicht kam hinter dem Tresen hervor und fragte das Mädchen, wonach es denn suche. Sie antwortete nicht gleich, denn wie gefesselt starrte sie auf das oberste Regalfach, wo eine Puppe saß, die nicht sehr hübsch aussah, eher ein wenig altbacken, würde ich sagen: sie trug ein Dirndl und ihre braunen Haare lagen wild um ihren Kopf herum.

„Was kostet diese Puppe“, fragte das Mädchen und ihr kleiner Finger am ausgestreckten Arm zeigte auf das unscheinbarste Exemplar des ganzen Ladens. Der Ladenbesitzer strich sich mit der flachen Hand über den Kopf.

„Du meinst die Liesl“, fragte er.

Jemand, der einen Spielzeugladen betreibt, muss etwas komisch sein, aber den Puppen Namen zu geben, erschien mir wirklich merkwürdig.

„Ja, die Liesl. Was kostet sie?“

„Nun, sie lebt schon sehr lange bei mir im Laden. Ich weiß nicht, ob sie umziehen will, weißt du.“ „Doch, ich weiß es. Sie will mit mir und meiner Mama Weihnachten feiern!“

„So. Woher weißt du das?“

„Schau doch wie sie mich anguckt!“

Der kleine alte Mann zog eine Leiter heran und nahm behutsam die Liesl vom Regal.

„Schau, sie ist ganz staubig“, sagte er.

„Das macht nichts. Seitdem Mutti nicht mehr putzen kann, ist es bei uns auch staubig!“

Jetzt reichte er dem Mädchen die Puppe. Sie strahlte über beide Ohren und ihre kleinen Zähne glitzerten durch das Grau des Tages. Der alte Mann nickte versonnen.

„Tatsächlich. Wer hätte das gedacht. Die Liesl wird ausziehen. Und mit einem lieben Mädchen Weihnachten feiern“, sagte er in feierlichem Ton.

„Wieviel kostet sie?“ Bei aller Rührung hatte sie nicht vergessen, in einem Geschäft zu sein.

„Nun, wieviel Geld hast du denn?“

„Meine Mama hat mir zwanzig Euro gegeben. Das ist viel Geld! Ich soll mir etwas schönes zu Weihnachten kaufen. Im Schaufenster sind die Preise an den Puppen aber viel größer als zwanzig. Sind die so wertvoll?“

„Das sind ja auch die Schaufensterpuppen! Die sind etwas Besonderes.“

„Nein, die Liesl ist etwas Besonderes.“

„Da hast du ganz recht. Die Liesl war von Anfang an in diesem Laden. Weißt du wie lange sie schon bei mir lebt?“

„Nein.“

„Seit fast sechzig Jahren.“

„So lange!“

„Das ist sehr lange, nicht wahr. Und all die Jahre wollte sie kein Mädchen haben. Sie hat schon die Hoffnung aufgegeben, einmal in einem Kinderzimmer zu sitzen. Wie heißt du denn?“

„Ich heiße Sandy.“

„Sandy. Das ist ein schöner Name.“

Allmählich fühlte ich mich an meinem Regal unwohl. Ich wollte die Szene nicht stören und vertiefte mich so unauffällig wie möglich in die Betrachtung der Metallflugzeuge, die neben meinen Schultern hingen.

„Und wie heißt du“, fragte Sandy.

„Meine Name ist Ferdinand.“

„Das ist ja ein komischer Name.“ Sie kicherte. „Findest du?“

„Ich kenne keinen Jungen, der so heißt.“

„Jetzt kennst du einen.“

Sandy wog Liesl behutsam in ihrem Arm, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und rückte die Rockfalten zurecht.

„Was kostet die Liesl? Ich muss nach Hause. Mama ist heute besonders traurig.“

„Warum ist deine Mama denn traurig?“

„Das weiß sie ja selber nicht. Sie muss halt immer weinen.“

„Und dein Vater?“

„Der ist schon lange weg! Hat sich einfach verpisst.“ „Ist deine Mama deshalb traurig?“

„Sie nennt ihn immer Scheißkerl.“

Ich musste unwillkürlich lachen, was die Aufmerksamkeit von Ferdinand auf mich zog. Aber dieses schöne Wort aus dem Mund des kleinen Mädchens, mit exakt derselben Betonung ihrer Mutter, es hörte sich zu komisch an.

„Nun Sandy, dann hör mir mal gut zu. Die Liesl ist etwas ganz Besonderes. Und du bist auch ein ganz besonderes Mädchen. Ich weiß, du wirst immer gut auf die Liesl aufpassen und ihr alles erzählen, damit sie dir helfen kann, wenn du mal traurig bist.“

„Ich darf nicht traurig sein“, sagte Sandy mit fester Stimme, ein wenig Trotz lag sogar darin. „Es reicht schon, wenn Mama traurig ist.“

„Du bist wirklich ein starkes Mädchen. Gibst du mir die Liesl noch einmal, ich muss mit ihr etwas besprechen, weißt du.“

Sandy schaute ihn ungläubig an. Dann reichte sie ihm die Puppe. Ferdinand nahm sie und ging mit ihr hinter den Tresen und verschwand dort durch eine kleine Tür. Sandy schaute sich nicht um, sondern starrte voller Erwartung auf die kleine Tür. Es dauerte einige Minuten bis der alte Mann zurückkam. In seinem rechten Arm lag die Puppe und an seiner linken Hand hing ein kleiner Koffer.

„So, Sandy, schau. Die Liesl hat mir gesagt, dass sie sich sehr freut, jetzt bei dir zu leben. Sie freut sich auf das Weihnachtsfest mit dir und deiner Mama.“ Er gab ihr die Puppe und Sandy drückte sie ganz fest an ihre Brust. „Und das sind ihre Kleider“, er überreichte ihr den Koffer. „Sie muss sich ja ab und zu umziehen, nicht wahr.“

Der Mund des Mädchens öffnete sich und die etwas schiefen Zähne kamen zum Vorschein: Eine Mischung aus breitem Lächeln und Staunen. Unweigerlich schwang sich mein Mund auch zu einem Lächeln auf.

„Aber das kostet doch mehr als zwanzig Euro“, rief Sandy und eine tiefe Sorgenfalte bildete sich auf ihrer Stirn.

„Nein, nein. Weil du ein ganz besonderes Mädchen bist und die Liesl auch etwas ganz besonderes ist, musst du nichts bezahlen. Die Liesl zieht zu dir um, das ist kein Verkauf.“

„Das heißt“, Sandy zögerte, „du schenkst sie mir?“ „Die Liesl kommt zu dir, damit du nicht länger alleine bist. Und damit deine Mama wieder fröhlich wird.“

Sandy machte einen kleinen Luftsprung. „Danke“, rief sie, „danke!“

„Kommt ihr beide mich einmal besuchen“, fragte der alte Mann.

„Na klar!“

Ferdinand strich ihr über den Kopf und schaute zu mir herüber. Wir lächelten uns an, in allem einig, was das Leben ist. Sandy rannte Freude strahlend aus dem Laden.

„Wie kann ich ihnen helfen“, fragte Ferdinand mich als ich nunmehr der einzige Kunde war.

„Nun“, sagte ich, „ich glaube, sie haben mir schon sehr geholfen. Aber wovon leben sie, wenn sie alles an die Kinder verschenken?“ Er lachte.

„Wissen sie, in den letzten Jahren läuft der Laden erstaunlich gut. Die Großeltern kaufen das Spielzeug ihrer Kindheit und langweilen damit ihre Enkel, die lieber ein Smartphone wollen oder ein neues Computerspiel. Es sind Wehmutskäufe. Davon lebe ich. Von Wehmutskäufen.“

„Und die Liesl?“

Sein Gesicht verklärte sich ein wenig. Seine Erinnerung schien ihn fortzureißen.

„Die Liesl ist wirklich etwas ganz Besonderes! Wenn ein Mädchen sie aussucht, dann weiß ich, dass die Welt noch nicht verloren ist.“

Mehr gab es zwischen uns nicht zu sagen. Ohne ein Wort nahm ich einen blauen Brummkreisel und reichte ihm einen Fünfzig-Euroschein. Dann trat ich wieder auf die Straße.

Ich stellte mir vor, nein, ich wünschte es mir inständig, dass die kleine Sandy nach Hause kommt und vor Freude platzend ihrer Mutter die Liesl zeigt. Und genau in diesem Augenblick lächelt Sandys Mutter zum ersten Mal seit Monaten wieder. Sie lässt sich anstecken von der kindlichen Freude ihrer Tochter. Dann öffnen sie zusammen den Koffer und schauen sich die Kleider an. Vorsichtig probieren sie alle aus und entscheiden sich für das festliche, denn: es ist Weihnachten! Und nur wenige Minuten später stehen Mutter und Tochter zusammen vor dem Spiegel und probieren auch ihre schönsten Kleider an.

Sandys Herz macht kleine Luftsprünge als sie sich zum ersten Mal schminken darf. Ihre Mutter hilft ihr dabei.

„Du bist meine kleine hübsche Prinzessin“, sagt ihre Mutter zu ihr und schaut sie lange an. Eine Träne rollt ihr über die Wange.

„Nicht weinen, Mama, nicht jetzt“, ruft Sandy entsetzt aus.

„Ist schon gut“, sagt ihre Mutter, „ich bin nicht mehr traurig. Ich weine vor Freude!“

Und Sandy lacht und holt Liesl. Alle drei stehen vor dem Spiegel und betrachten sich. Dann tanzen sie mit der Liesl Hand in Hand durch die Wohnung.

Ja, das wünsche ich mir!

Frau Morgenschön

I

Frau Morgenschön räumte den Tisch im Lehrerzimmer ab. Gerade hatte sie ihre Geburtstagsrunde gegeben. Wie immer waren alle Kollegen sehr freundlich zu ihr. Ein großer Blumenstrauß stand auf dem Tisch. Die Ruhe des Lehrerzimmers war angenehm. Alle waren zurück in ihren Klassen. Sie stapelte das Geschirr in einen Plastikkorb, um alles in die Küche zu bringen.

Da verweilte ihr Blick auf dem Blumenstrauß: in seiner bunten Pracht aus Sommerblumen steckte eine Zahl! Sie erstarrte, denn die Zahl schaute sie an, nein, sie hypnotisierte sie. Fünfunddreißig! Eine große rote drei und eine große rote fünf! Ihr wurde etwas flau in der Magengegend. Bin ich wirklich schon so alt? Beinahe wäre sie der Versuchung erlegen, sich zu setzen. Aber die ersten Zeugnisse mussten geschrieben werden. Alles strebte mit rasendem Tempo auf die Sommerferien zu und sie war nunmal die Anlaufstelle für alle Probleme.

Seit fünfzehn Jahren arbeitete sie als Sekretärin an dieser Schule. Hochgeachtet von allen Kollegen und auch von der Rektorin erledigte sie ihre Arbeit sehr gewissenhaft. So manche Stunde verbrachte sie zusätzlich an ihrem Computer, wenn noch dieser Brief unbedingt geschrieben oder jene Statistik dringend abgeschickt werden musste. Geduldig hörte sie sich alle Sorgen an, von Schülern und von Kollegen. Derzeit gab es viele Verwerfungen in den Ehen um sie herum. Manchmal fühlte sie sich wie der Mittelpunkt eines Karussells. Denn in ihrem Leben bewegte sich nichts! Ihr Leben war diese Schule und dieser Schreibtisch.

Sie ließ den Blumenstrauß mit seiner bedrohlichen Zahl im Lehrerzimmer stehen. Der Tag würde noch lang werden und den wollte sie nicht unter der Beobachtung, unter der Bedrohung dieser beiden roten Ziffern verbringen.

Erst kurz nach fünf holte sie ihn: vorsichtig hob sie den Blumenstrauß aus der Vase, wickelte Küchentücher um die feuchten Stengel und machte sich auf den Heimweg. Die Wärme des Sommers begleitete sie und ihr begegneten viele junge Pärchen: Hand in Hand spazierten sie lachend vorbei. Auch das noch, dachte Frau Morgenschön, die rote Zahl schien nicht genug für heute! Mussten auch noch überall Liebespaare herumlaufen?

Denn Frau Morgenschön lebte allein. Schon immer. Nicht das sie hässlich war. Wie bei allen Frauen hatte sie ihre kleinen Schönheiten. So strahlten zum Beispiel ihre grünen Augen in ihrem Gesicht, das sich allerdings etwas zu schief um ihre leicht gekrümmte Nase formte. Ihre Brüste waren klein, dafür aber hatte sie wunderschöne Hände, zart und wohlgeformt. Ihre grazilen Beine mit angenehmer Länge wurden von ihrem etwas zu breiten Becken beschattet. Alles in allem waren ihre körperlichen Vorzüge voneinander zu weit entfernt und die störenden Elemente traten bei einem flüchtigen Blick zu stark hervor. Dennoch, wenn sie jemand länger betrachten würde, wäre er ihrer Schönheit innegeworden.

Genau wie bei ihr verhielt es sich auch mit dem schönen Sommerstrauß: Seine froh strahlenden Blüten wurden überschattet von der roten Zahl. Einzig die beiden Ziffern konnte Frau Morgenschön sehen als der Strauß vor ihr auf dem Couchtisch stand. Zur Feier des Tages lag eine kleine Flasche Sekt im Kühlschrank und etwas Räucherlachs. Sie schaltete den Fernseher ein und stellte das Sektglas und den Teller mit den zwei Toastscheiben neben die Vase. Fünfunddreißig, dachte sie. Der Sekt perlte vor ihr im Glas und sie roch den Lachs, aber in ihrem Kopf schlugen ihre Gedanken Purzelbäume: Was, wenn es zu spät ist? Bin ich jetzt zu alt dafür?

Denn Frau Morgenschön hegte einen Traum in ihrem Herzen! All die Jahre dachte sie fast jeden Tag an ihn, malte ihn sich Abends im Bett aus oder hing ihm nach, wenn sie spazieren ging. Frau Morgenschön wünschte sich von ganzem Herzen ein Kind! Oft trat sie zu einer fremden Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob, um mit ihr kurz zu plaudern, aber um vor allem in den Wagen zu schauen und das kleine Wesen zu betrachten, das da tief unten in seiner schützenden Höhle lag.

Manchmal fühlte sie sich selbst als eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt. Wenn sie zum Beispiel mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt ging. Ihre Einbildung nahm sie oft sosehr gefangen, dass sie die von einer Geburt geschwächten Knie spürte oder es in ihrem Rücken schmerzte, wegen der Anstrengungen sei es durch das tägliche Stillen oder durch das Wäschewaschen. Solche Dinge stellten sich von Zeit zu Zeit ein. Wenn sie einen kleinen Wurm in seinem Kinderwagen betrachten konnte, war sie sehr glücklich. Gleichzeitig zerriss es sie, weil das von ihr Ersehnte so nah war.

Der Fernseher brüllte seine Parolen von den Schlechtigkeiten des Weltgetriebes in ihre Wohnung, aber Frau Morgenschöns Gedanken kreisten um die beiden roten Ziffern. Plötzlich sah sie in den beiden Ziffern keine Bedrohung mehr. Sie sind ein Befehl, dachte sie, ein Befehl, jetzt endlich zu handeln! Ich verdiene gut, rechnete sie sich vor. Ich habe eine schöne Zweiraumwohnung und, was das wichtigste war: die große Sehnsucht nach einem Kind in meinem Herzen, die sich, sei es einmal da, in tiefe Mutterliebe verwandeln wird. Ja, ein Kind wollte sie haben! Und zwar so schnell als möglich! Sie griff nach dem Sektglas und trank es in einem Zug leer.

II

Frau Morgenschön lag die ganze Nacht wach. Sie schmiedete einen Plan. An Heirat dachte sie nicht. Hatte sie bislang keinen Mann davon überzeugen können, warum sollte es ihr jetzt gelingen. Die Jugend lag definitiv hinter ihr, was die Zahl im Blumenstrauß schmerzlich bewies. Außerdem lebte sie schon so viele Jahre allein, dass all die angenommenen Eigenheiten wohl nicht mehr abzustreifen seien, was einer Ehe, also einem Zusammenleben mit einem anderen Menschen, durchaus abträglich war. Außerdem: Warum alles komplizierter machen als es ohnehin schon ist?

In dieser Nacht ließ Frau Morgenschön eine Anzahl von Männern vor ihrem geistigen Auge vorbeidefilieren. Männer, die sie kannte und die im zeugungsfähigen Alter waren. Sie machte sich einen Spaß daraus, sie in den Kulissen jener Casting-Show auftreten zu lassen, in der ein Topmodell gesucht wird. Drei Favoriten kristallisierten sich heraus: Herr Schumacher, der Biologielehrer, Herr Berg, der Sozialkundelehrer und Herr Link, der psychologische Mitarbeiter. Herr Link war etwas jünger als Frau Morgenschön und die beiden anderen älter. Von Herrn Schumacher wusste sie, dass er frisch geschieden war. Über den Beziehungsstatus von Herrn Berg fehlte ihr der aktuelle Stand. Sie wollte auf keinen Fall eine Ehe zerstören oder eine Lebensabschnittsbeziehung!