Der Fuchs in den Dünen - Daniel Schaup - E-Book

Der Fuchs in den Dünen E-Book

Daniel Schaup

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Beschreibung

Mit 45 lebt Peter Pokorny auf der Sonnenseite. Er hat alles, wovon er immer geträumt hat. Als erfolgreicher Wirtschaftsanwalt fährt er einen tollen Sportwagen und genießt das gute Leben. Während eines Ausflugs an die polnische Ostseeküste steht er plötzlich an einer Wegscheide: sein altes Leben endet abrupt. Auf der Suche nach sich selbst und nach der Liebe verstrickt sich Peter Pokorny in die kriminellen Machenschaften eines polnischen Oligarchen. Dabei vollzieht er eine innere Wandlung. Ist er mutig genug, sein altes Le-ben hinter sich zu lassen? Findet er die Liebe?

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Daniel Schaup

Der Fuchs in den Dünen

Roman

Das Buch

Mit 45 lebt Peter Pokorny auf der Sonnenseite. Er hat alles, wovon er immer geträumt hat. Als erfolgreicher Wirtschaftsanwalt fährt er einen tollen Sportwagen und genießt das gute Leben.

Während eines Ausflugs an die polnische Ostseeküste steht er plötzlich an einer Wegscheide: sein altes Leben endet abrupt.

Auf der Suche nach sich selbst und nach der Liebe verstrickt sich Peter Pokorny in die kriminellen Machenschaften eines polnischen Oligarchen. Dabei vollzieht er eine innere Wandlung. Ist er mutig genug, sein altes Leben hinter sich zu lassen? Findet er die Liebe?

Der Autor

Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg.

Daniel Schaup

Der Fuchs in den Dünen

Roman

© 2022 Daniel Schaup

2. Auflage, Vorgängerausgabe 2020

ISBN Softcover: 978-3-347-77144-4

ISBN E-Book: 978-3-347-77145-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Die Kanonenkugel

Ich bin wieder hergestellt. Die Schusswunde ist verheilt. Eine Narbe, klein und rund wird bleiben - als Erinnerung oder Markierung. Mein Knie und mein Knöchel zwicken noch, auch da sei alles gut, sagt der Arzt. Ich bin geheilt! Was ist Heilung? Die Operation, die Medikamente, die Physiotherapie - alles hat mich fit gemacht. Mein Körper funktioniert! Die Ärzte sind zufrieden. Alle Werte sind im Normalbereich. Ich bin geheilt! Dennoch fühle ich mich sonderbar. Es ist nachgerade so, als taumle ich durch die eingestürzten Kulissen meines Lebens. Seit Tagen nagen zwei Fragen an mir: Wer war ich? Wer bin ich?

Ich bin Peter Pokorny, ein erfolgreicher Anwalt in den besten Jahren meines Lebens. Von ganz unten habe ich mich hochgearbeitet. Eine eigene Kanzlei gegründet! Ich besitze alles, wovon ich als Junge träumte. Ich bin reich. Seit Jahren verdiene ich mehr als ich ausgeben kann. Die schönsten Dinge leiste ich mir. Ich lebe in einer wunderbaren Wohnung in der chaotischsten Stadt der Welt. Alles ist perfekt! Perfekt? Wie sieht ein perfektes Leben aus?

Ich bin Peter Pokorny. Ein erfolgreicher Anwalt, der zum ersten Mal nicht weiß, was all das soll. Es muss weitergehen wie es immer weitergeht. Das ganze Leben läuft Tag für Tag ab. Wir können nichts dagegen tun. Die Sonne geht jeden Morgen unweigerlich auf, ob wir es wollen oder nicht. Nach vierundzwanzig Stunden startet ein neuer Tag. Jeder Tag dreht das kleine Rädchen unseres Lebens ein Stückchen weiter - immer weiter.

Ich nehme ein Taxi zum Hotel. Gestern habe ich es vom Krankenbett aus gebucht. Ich kann nach all dem nicht sofort nach Hause fahren! Obwohl ich es müsste: meine Mailbox füllt sich beständig und mein Terminkalender ist ein rotes und blinkendes Chaos. Es ist mir egal. Nicht eine Minute habe ich in den letzten Tagen an meine Arbeit gedacht. Sie wurde verdrängt, verdrängt von ihr! In meinem Kopf ist nur noch Platz für sie! Wie gelang es dieser Frau, mich dermaßen in Besitz zu nehmen. Ich muss herausfinden, wer sie ist! Ich kann sie nicht vergessen! Ich muss sie wiedersehen! Das Erinnerungsbild von ihr ist schön, sehr schön. Es beruhigt mich. Ihre geistige Gegenwart half mir durch die Schmerzen.

Vor allem hilft sie mir, wenn dieses schreckliche Tier auftaucht. Es verfolgt mich in meinen Träumen. Beständig läuft es durch meine Gedanken. Es versetzt mich in Unruhe. Seit dem Schuss werde ich ihn nicht mehr los: den Fuchs! Ich rieche seinen widerlichen Atem!

Ich gehe zum Taxistand, ein wenig unsicher, aber die Schmerzen in Knie und Knöchel sind auszuhalten. Der Fahrer spricht ein wenig Deutsch und er kennt das Hotel. Während der Fahrt durch die Stadt, zum ersten Mal in meinem Leben bin ich hier, sehe ich Menschen den Sommer genießen: sie lecken an Eistüten oder lachen, ihre Augen hinter Sonnenbrillen verborgen.

Nach zehn Minuten betrete ich die Eingangshalle des Hotels. Ich nenne meinen Namen. Der Portier dreht sich zu einem Regal um. Ich erkenne meinen Autoschlüssel in seiner Hand.

„Ihr Wagen steht in der Tiefgarage“, sagt er in akzentfreiem Deutsch, „die Polizei hat ihn dort für sie abgestellt. Wir haben ihr Gepäck auf ihr Zimmer gebracht.“ Ich bedanke mich. Ob ich noch etwas brauche, fragt der Portier. Ich verneine und gehe zum Lift. In meiner Suite angekommen, überprüfe ich mein Gepäck. Alles da. Ich gehe zurück in die Empfangshalle und folge dem Schild Restaurant. Ich betrete die Terrasse. Vor mir entfaltet sich ein pittoreskes Bild: eine Komposition aus Platanen, Rosenbüschen und liebevoll gedeckten Tischen mit kleinen Lavendel-Sträußen. Ein Kaffee wird mir guttun. Die Kellnerin serviert mir eine dampfende Tasse zusammen mit einem Glas Wasser. Mein Handy klingelt. Bislang habe ich nur mit meiner Sekretärin gesprochen. Ich stelle mein Telefon aus. Der Kaffee schmeckt. Ich genieße die Sonne.

Ich weiß, ich müsste wenigstens eine Kleinigkeit essen. Seit Tagen habe ich keinen Appetit. Vielleicht ein Stück Kuchen? Der Kaffee genügt. Ich lehne mich zurück und strecke meine Beine aus. Ich spüre die Wärme der Sonne. Sie belebt mich. Ich schließe die Augen und lasse den Tag meiner Ankunft vor knapp drei Wochen in diesem Land Revue passieren: Frohgemut packte ich meine beiden Koffer und die Reisetasche in meinen Jaguar F-Type Coupé. Ich freute mich auf die lange Fahrt mit meinem neuen Wagen. Seit Kindertagen bin ich in diese Automarke vernarrt. Von meinem ersten Referendariatsgehalt hatte ich mir einen dunkelgrünen gebrauchten XJ 40 gekauft. Bis heute blieb ich der Marke treu. Ich setzte mich beschwingt hinter das Lenkrad: Endlich eine Woche Ruhe! Während der Fahrt hörte ich mich durch die Alben von Dinosaur Jr, um mich von dem weichgespülten Pop und dem grässlichen Hip Hop zu erholen, mit dem mich das Autoradio täglich anschreit. Anfangs war es nicht die Musik, die mich zu dieser Band führte, es war das Coverbild der Platte Green Mind aus dem Jahr 1991. Auf dem ist dieses Mädchen zu sehen mit der Kippe im Mund und diesem faszinierenden Blick. Wenn ich es sehe, bin ich von der Wahrheit des Satzes überzeugt, dass wer raucht, kaltblütig aussieht. Ich glaube, er ist von Brecht. Ich rauche gern!

Ich versuchte, mich ganz auf die Musik zu konzentrieren. Alle Gedanken an die Kanzlei und die bevorstehenden Termine schob ich weg, was mir von Minute zu Minute besser gelang. Nach einhundert Kilometern hielt ich auf einem Parkplatz, um ein Zigarillo zu rauchen. Ich schaffe es meistens ein halbes Jahr, nicht im neuen Auto zu rauchen. Um mich herum parkten die Familienkutschen, vorwiegend Volkswagen oder Renault, vollgestopft mit Koffern, Tüten und den obligatorischen Handtüchern, die auf den Gepäckstücken herumliegen.

Ich sah pubertierende Jugendliche, zum Familienurlaub gezwungen, auf ihre Handys starren. Eine Mutter schob einem Kleinkind vorgekaute Bananenstückchen in den Mund und ein verschwitzter Vater kontrollierte den Gepäckträger, auf dem drei Fahrräder wackelten. Ab und zu riskierte er einen Blick zu mir herüber, sicher nicht zu mir, sondern zu meinem weißen Jaguar. Ich ahnte den in seinen Augen aufblitzenden Neid. Entweder auf mein Auto oder auf mein Leben, das nicht die Last einer mit den Jahren anstrengender werdenden Frau und zwei Schlaf und Nerven raubenden Kindern mit sich herumtrug.

Ich warf mein Zigarillostumpen weg. Ich wählte den Titel Water und fuhr zurück auf die Autobahn. Der F-Type fährt sich super: sportlich und mit einer spitzenmäßigen Beschleunigung. Vielleicht kämpfe ich mit einer Midlife-Crisis, da ich mich zum zweiten Mal für ein sportliches Coupé entschieden habe? Wer die fünfundvierzig überschritten hat, schaut mit großen Augen auf den zweiten Teil seines Lebens: nochmal solange! Die Musik belebte mich, ebenso die 340 PS.

Am frühen Abend fand ich das Ferienhaus. Es liegt sehr versteckt und einsam. Endlich angekommen! Ich freute mich auf einen Schluck aus der Flasche Riesling, die in ihrer Kühlbox im Kofferraum auf mich wartete. Daneben hatte ich die Plastikbox mit der gemischten Sushiplatte gestellt, Nummer zwölf von meinem Lieblingsjapaner.

Der mir per Post zugesandte Schlüssel passte. Ich öffnete die Haustür. Auf einmal fühlte ich mich seltsam. Ich ließ mich nicht beirren. Ich freute mich zu sehr auf meine freien Tage. Vor mir lag ein gemütlicher Abend mit Riesling und guter Musik. Ich hatte mir vorgenommen, mich ganz dem Halbgott Liam zu widmen. Sicher, Oasis passt nicht unbedingt zu Weißwein und Sushi, aber Bier und Zigaretten mag ich nicht.

Mich empfing eine große Diele, ausgelegt mit polierten grauen Granitfliesen. Gegenüber der Eingangstür stand ein großes Sideboard aus Chrom und lackiertem schwarzem Holz. Es passte perfekt in diesen Raum mit seiner reduzierten Strenge. Rechterhand führte eine breite Treppe ins Obergeschoss. Links war eine Flügeltür offen und gab den Blick auf die Glasfront des Wohnzimmers frei. Ich sah ein Ensemble aus Gartenmöbeln auf der Terrasse. Ich betrat die Küche, die einmal um die Ecke mit einem Tresen ins Wohnzimmer überging. Ich war schwer beeindruckt von den schwarzen Marmorplatten und all dem Edelstahl. Der Kühlschrank hatte zwei Türen. An der einen leuchtete ein Display so groß wie mein Tablet. Dann entdeckte ich den Weinschrank, in dem sehr gute Weißweine lagen und exzellente Rotweine. Wenn ich den Besitzer des Hauses zu meinen engeren Freunden zählen würde, könnte ich mich bedienen, überlegte ich.

Wohnzimmer, Küche und Diele nahmen das gesamte Untergeschoss ein. Ich schätzte die Fläche auf gut hundert Quadratmeter. Bevor ich mir die Einrichtung genauer anschaute, auf den ersten Blick erkannte ich wunderschöne Designklassiker wie zwei hellbraune Exemplare des Egg Chair von Arne Jacobsen und Sessel und Sofa von Le Corbusier, ging ich nach oben, um mein Nachtlager zu begutachten. Die obere Etage war nicht so großzügig gestaltet. Die Atmosphäre glich eher einer Pension. An dem um die Treppe gewinkelten Gang sah ich fünf Türen. Für welches Zimmer sollte ich mich entscheiden? Nachdem ich das erste begutachtet hatte, hörte ich plötzlich leises Stöhnen und Wimmern. Es kam aus dem Zimmer gegenüber dem Treppenaufgang. Zuerst dachte ich, ich störe den Besitzer des Hauses beim Schäferstündchen mit seiner Freundin. Als ich genauer hinhörte, wurde mir klar, Geräusche der Lust sind das nicht.

Langsam ging ich zur Tür. Das Wimmern verstummte. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und schob die Tür auf. Ich erschrak. Vor mir saß eine Frau an einen Stuhl gefesselt, in ihrem Mund ein Knebel. Über das Gesicht der Frau hingen Strähnen schweißnasser schwarzer Haare, aus ihrer Nase rann Blut. Sie hatte ihr Gesicht von mir abgewandt. Sie drehte langsam ihren Kopf und starrte mich an. Sie versuchte, etwas zu sagen. Ich stand wie versteinert da. Ich überwand mich und zog ihr den Knebel aus dem Mund. Mit großen dunkelbraunen Augen schaute sie mich an.

Sie begann leise, mit etwas heiserer Stimme, zu sprechen. Ich verstand sie nicht, sie sprach Polnisch. In dem wie sie sprach, glaubte ich ein Flehen herauszuhören. Ich sagte ihr, dass ich kein Polnisch verstehe. Sofort wechselte sie ins Deutsche. „Helfen Sie mir“, rief sie und ich zögerte keinen Moment. Ich versuchte, ihre Fesseln zu lösen. Erst mithilfe meines Autoschlüssels gelang es mir. Befreit stand sie vor mir. Wir hörten die Haustür ins Schloss fallen. Sogleich dröhnte eine Männerstimme durchs Haus.

Wir schauten uns an, eine Sekunde nur, aber ich glaubte, in die Tiefen des Universums einzutauchen. Die Zeit stand still. Das Rad meines Lebens hörte auf, sich zu drehen. Nichts ging weiter - alles war gut, genau so wie es war. Ich wurde durchflutet von einer herrlichen Energie, einer Mischung aus Licht und Wärme. Ich ertrank in ihren dunklen Augen. Mehr noch: ich fühlte plötzlich keine Grenze mehr. Ich hatte mich aufgelöst. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich mich durch ihre Augen. Ich wusste nicht mehr, bin ich sie oder sie ich.

Der Klang von schnellen Schritten über die Fliesen in der Eingangshalle katapultierte mich zurück in meinen Körper. „Los, fliehen sie“, sagte sie und ohne zu überlegen hastete ich zu einer der anderen Türen. Ich stand in einem typischen Gästezimmer. Ich versuchte, meinen Atem zu beruhigen. Mein Auto! Ich hatte es direkt vor dem Haus geparkt. Wer auch immer gerade gekommen war, wusste von mir. Und wenn dieser Jemand derselbe ist, der die Frau nebenan so zugerichtet hat, musste ich schleunigst verschwinden. Gerade öffnete ich das Fenster, als sich hinter mir die Tür öffnete. Ich sprang.

Ich hatte vorher nicht nach unten geschaut. Das war gut. Als ich auf der Terrasse landete, wusste ich im selben Moment, im Bruchteil einer Sekunde würde ich mich vor Schmerzen krümmen. So war es auch. Ich stürzte in das Ensemble aus modernen Gartenmöbeln, wobei ich mir mein Knie verdrehte und den Knöchel stauchte. Direkt neben mir zersplitterte der Glastisch. Verzögert hörte ich einen Knall. Ich rappelte mich hoch. Ein heftiger, brennender Schmerz riss mich zur Seite. Ein zweiter Knall krallte sich in meinen Ohren fest. Als ich versuchte, zu laufen, überdeckte der Schmerz in meiner Schulter alles andere.

Ich schaffte es über die kleine Düne, die direkt hinter der Terrasse begann und ließ mich in den Sand fallen. Vor mir sah ich die Ostsee wie sie mit kleinen Gischtbergen an den Strand schwappte. Ich wusste, jemand hatte auf mich geschossen. Die Gefahr war nicht vorüber! Mein ganzer Körper bestand aus Schmerz. Ich konnte mich nicht bewegen. Für einen Moment hoffte ich, bewusstlos zu werden, um das, was unweigerlich folgen musste, nicht mehr mitzuerleben. Seltsamerweise passierte nichts. Kein Mann tauchte auf und hielt mir eine Pistole an den Kopf.

Nach einigen Minuten ließ der Schmerz nach oder mein Körper hatte sich an ihn gewöhnt. Ich lag im Sand, vor mir die Ostsee, über mir ein herrlich blauer Himmel. In meinem Kopf rasten die Bilder, die es mir unmöglich machten, meine Lage zu beurteilen. Als ich meinen Kopf leicht anhob, um zu meinen Füßen zu schauen, bemerkte ich ein kleines Rinnsal. Es floss von meiner Schulter über den Sand. Ich verfolgte das Rinnen meines Blutes bis zu einer kleinen Pfütze.

Über der Pfütze erkannte ich den Kopf eines Fuchses. Er musterte mich mit seinen rotbraunen Augen. Er schaute auf eine Art, wie ich noch nie angeschaut worden war und von der ich nicht glaubte, dass Tiere dazu fähig sind. Langsam schob er seine schmale Zunge heraus. Sie hob sich ab von dem weißen Fell um sein Maul. Vorsichtig tunkte er sie in die Pfütze aus meinem Blut, ohne seinen Blick von mir abzuwenden.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Wurde ich bewusstlos? Schlief ich vor Erschöpfung ein? Als ich zu mir kam, lag ich immer noch im Sand. Vor mir platschte die Ostsee in schönem Rhythmus. Der Fuchs war verschwunden. Vielleicht hatte diese Begegnung gar nicht stattgefunden, war es eine Folge meiner Nervenüberreizung? Eines stand jedoch fest: Ich lebte! Beim Versuch, mich aufzurichten, spürte ich nicht nur den Schmerz, sondern auch eine niederdrückende Schwäche. Dennoch, ich musste aufstehen und Hilfe holen, Hilfe für mich und für die Frau im Haus. Nach einem mehrminütigen Kampf mit mir selbst stand ich und konnte über die Düne hinweg das Haus sehen. Alles erschien ruhig und friedlich. Eine Idylle! Es war ein wunderschönes Haus: Die dunkelroten Dachziegel glitzerten in der Sonne und die hellbraune Fassade bot den richtigen Hintergrund für die mattgrünen Fensterrahmen.

Ich humpelte los. Nach drei Schritten fiel mir ein, wie lange ich mit dem Auto gefahren war, um zum Haus zu kommen. Ich konnte niemals die Strecke zu dem kleinen Ort in der Nähe schaffen. Sollte ich zurück zum Haus gehen? Hatte ich eine Alternative? Mein Handy lag im Auto! Vielleicht war der Mann mit der Frau geflohen? Oder hatte er sie getötet? Warum suchte er mich nicht? In welche gottverdammte Scheiße war ich da hineingeraten! Nur eines stand fest: ich brauchte dringend einen Arzt! Meine Schwäche zwang mich in die Knie.

Ich robbte über die Düne. Lange beobachtete ich die Terrasse. Ich kämpfte mit meiner Müdigkeit. Das Fenster, aus dem ich gesprungen war, hatte mein Verfolger geschlossen. Nur das Chaos auf der Terrasse bewies das von mir Erlebte. Niemand war zu sehen. Ich kroch weiter. Endlich konnte ich den Eingangsbereich überblicken. Ich musste versuchen, ins Haus zu gelangen. Meine Kräfte verließen mich zusehends. Ob ich überlebe, fragte ich mich. Meine Zweifel wuchsen. Die Vorstellung, hinterrücks erschossen zu werden, wurde realer. Sie bekam die wundersam angenehme Färbung der Erlösung. Da piepte es und alles wurde schwarz!

Mich blendete plötzlich etwas. Es fiel mir schwer, meine Augen zu öffnen. Nach wenigen Millimetern knallte das Licht von Neonröhren auf meine Netzhaut. Ich musste Husten. Durch meinen gesamten Körper brandete eine heftige Welle des Schmerzes, die sich in meinem Kopf zu einer Springflut aufbäumte. Über mir begann ein Gesicht hin und her zu wackeln. Es war ein sehr zartes, aber männliches Gesicht.

Der Schmerz blieb, wurde dumpfer. Schlaglichtartig erinnerte ich mich an die Ereignisse im Ferienhaus.

Ich erschrak. Ruckartig schaute ich mich um. Der Schmerz schlüpfte aus seinem Mantel der Dumpfheit und riss Furchen in meine Eingeweide. Dennoch erkannte ich: im Ferienhaus lag ich nicht, sondern in einem Krankenhauszimmer.

„Es ist alles gut“, hörte ich das Gesicht über mir sagen. Die Stimmlage glich die einer Mutter, die ihr krankes Kind beruhigen will.

„Sie sind im Krankenhaus und in Sicherheit.“

Er legte seine Hand auf meine und streichelte sie sogar. In seinem Gesicht erwachte ein Lächeln und seine Augen begannen zu leuchten. Ich versuchte, mich zu entspannen. Das Gesicht über mir verschwand.

„Haben sie Schmerzen“, fragte mich die Stimme. Ich sah wie der junge Mann an einem kleinen Gerät neben mir drückte. Seine blonden Haare waren etwas zottelig, was zu seinem runden Gesicht passte. Er bediente ein Zaubergerät! Die Schmerzen ließen nach, weitere Sekunden später ebbten sie ab. Als ich ihm zusah wie er um mein Bett ging, trafen sich unsere Blicke.

„Ich bin Ireneusz. Ihr Pfleger. Die Operation ist gut verlaufen.“

Die Medikamente erlösten mich von den Schmerzen und ich schlief auf der Stelle ein. Ich erwachte als die Tür aufging und vier Männer in weißen Kitteln sich um mein Bett gruppierten. Hinter ihnen Ireneusz.

„Ich bin Prof. Wròbel. Herr Pokorny, sie haben sehr viel Blut verloren, die Operation war dementsprechend kompliziert. Wir konnten das Projektil aus ihrer Schulter entfernen und hoffen, dass alles gut verheilt. Außerdem haben wir ihren Meniskusanriss versorgt und den gestauchten Knöchel geschient.“

Ich hörte mir alles an und versuchte, nicht nur die Worte zu verstehen, sondern sie mit meinen Erinnerungsbildern zu verbinden. Es gelang mir nur mühsam. Einzig der Sprung aus dem Fenster zeichnete sich klar und deutlich ab. Erst im Laufe der folgenden Tage konnte ich alles bis ins Einzelne rekonstruieren: Ich war wohl zu meinem Auto gekrochen, um mit meinem Handy Hilfe zu rufen. Kurz danach verlor ich mein Bewusstsein und erwachte erst, nachdem meine Rettung und die Operation zwei Tage zurücklagen.

Eines Morgens standen zwei Kommissare vor meinem Bett. Sie baten mich, mir ein paar Fragen stellen zu dürfen. Ich willigte ein. Sie nannten ihre Namen: Herr Jankowski und Herr Wòjzik. Jankowski fragte mich, ob ich den Mann, der auf mich geschossen hatte, gesehen habe. Ich musste verneinen.

„Was haben sie im Haus gemacht?“

„Ich wollte eine Woche Urlaub machen.“

„Von wem hatten sie den Schlüssel?“

„Ein Klient hat den Kontakt vermittelt. Einem seiner Bekannten gehört das Haus.“

„Wie ist der Name des Bekannten?“

„Das weiß ich nicht.“

Er schrieb etwas in sein Notizbuch. Während er schrieb, quoll sein Überkinn hervor. Jankowski war nicht dick, er wirkte eher aufgequollen. Sein Gesicht glänzte rosa und sein dünnes graues Haar lag fettig auf seinem nahezu kahlen Kopf. Seine dunkelgrüne Cordhose passte durchaus zu dem braunen Jackett, wenn beides nicht abgegriffen und speckig gewesen wäre. Herr Wòjzik war unterdessen ans Fenster getreten und schaute hinaus. Er war das genaue Gegenteil von Jankowski: Sehr schlank, seine schwarzen Haare waren mit Gel streng nach hinten gekämmt. Um ihn flatterte ein hellgrauer Anzug, zu dem er ein schwarzes Hemd gewählt hatte. Die dunkelrote Krawatte war ein Fehlgriff!

Wòjzik schwieg. Wahrscheinlich sprach nur Jankowski Deutsch, obzwar mit einem sehr heftigen Akzent, dennoch fehlerfrei.

„Wie heißt ihr Klient“, bohrte Jankowski nach.

Ich zögerte. Warum wollte er das wissen?

„Sagen sie mir bitte den Namen!“ Seine Stimme ging in die Höhe. Wòjzik brummte etwas vom Fenster auf Polnisch.

Ich überlegte, ob ich mich auf meine anwaltliche Schweigepflicht berufen könne oder ob ich mit der Nennung des Namens etwas ins Rollen bringe, was auch mir Schwierigkeiten bereiten würde.

„Sein Name ist Sperling.“

„Wie der Vogel?“

„Ja.“

„Und der Vorname?“

„Thomas.“ Er schrieb alles in sein Notizbuch.

„Was wissen sie über Herrn Sperling?“

„Er ist ein Klient. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Sie verstehen.“

„Was macht er beruflich?“

„Er ist Unternehmer. Den Rest müssen sie selbst herausfinden.“

Jankowski schrieb lange und viel. Dann klappte er sein Notizbuch zu und sagte etwas zu Wòjzik.

„Sie wollten Urlaub machen, Herr Pokorny?“, fragte Jankowski mit ironischem Tonfall.

„Ja“, antwortete ich etwas irritiert, „ich bin zum ersten Mal in Polen.“

„Dürfen wir sie in den kommenden Tagen noch einmal besuchen?“

„Selbstverständlich“, antwortete ich. Jankowski öffnete die Tür und trat hinaus. Wòjzik blieb vor meinem Bett stehen. Sein Blick drückte unverhohlene Verachtung aus. Dennoch winkte ich ihn heran.

„Darf ich ihnen eine Frage stellen“, sagte ich, ohne zu wissen, ob er mich verstand.

„Bitte.“

„Was ist mit der Frau?“

Denn genau diese Frage beschäftigte mich ununterbrochen. Sie dominierte meine mühsam wiederhergestellte Erinnerung.

„Welche Frau“, fragte Wòjzik irritiert.

„Da war eine Frau, die an einen Stuhl gefesselt war. Ich habe sie befreit. Konnte sie auch fliehen?“

Wòjziks Gesichtszüge fielen in sich zusammen. Seine blaugrauen Augen starrten an mir vorbei.

„Da war keine Frau. Sie waren allein im Haus“, sagte er in akzentfreiem Deutsch und so langsam als musste er während er sprach seine Gedanken sortieren. Bevor diese Information von mir verarbeitet werden konnte, begann neben mir einer der Apparate wild zu piepen. Im selben Moment sprang Ireneusz ins Zimmer. Er rief etwas auf Polnisch und der Kommissar verschwand. Ireneusz drückte am Zauberkasten und ich schlummerte ein. Allerdings mit dem Bild der gefesselten Frau in meinem Kopf. Wo war sie? Wer war sie? Und am stummen Ende meines Schlafes empfing mich der Fuchs!

Während der darauffolgenden Tage ging es schnell aufwärts mit mir. Die Schmerzen ließen nach. Ich brauchte den Zauberapparat nicht mehr. Auch die Ärzte waren zufrieden und gaben grünes Licht: ich könne aufstehen. Aber wie? Es war mir unmöglich, mit meinem Krankhauslaibchen und der Windelhose über den Gang zu humpeln. Ich hatte die Kommissare nicht nach meinem Wagen und meinen Sachen gefragt. Ireneusz telefonierte für mich. Eine junge Polizistin brachte mir am Nachmittag meine kleine Reisetasche. Darin befanden sich eine Jeans und ein Pullover nebst Unterwäsche.

Zwei blaue Krücken halfen mir, mich zu bewegen, was vor allem bedeutete, vor der Tür ein Zigarillo rauchen zu können. Meine Lieblingsmarke hatte mir Ireneusz besorgt. Ich gab ihm ein stattliches Trinkgeld dafür. Endlich konnte ich, eine Woche nach dem Vorfall, umgeben von Tabakrauch alles in Ruhe durchdenken. Ich sortierte die Informationen und versuchte, mir einen Reim auf die ganze Sache zu machen.

Nun sitze ich hier, zwei Wochen später, auf der Terrasse dieses Hotels und bin keinen Millimeter vorangekommen! Irgendwie erscheint alles irreal, wäre da nicht diese innere Unruhe, die mich sehr real quält. In der Sonne wird es zu warm. Ich will keinen Sonnenbrand riskieren. Außerdem muss ich mich umziehen. Ich frage die Kellnerin, ob ich für heute Abend einen Tisch reservieren könne. Sie bittet mich, einen Moment zu warten.

Ich stehe auf. Wir treffen uns in der Terrassentür. Die Kellnerin sagt mir, es sei bereits auf meine Zimmernummer ein Tisch reserviert, für zwei Personen um neunzehn Uhr. Wer hat den Tisch bestellt? Wer will mich treffen? Einer der Kommissare? Vielleicht sie? Meine Gedanken schweifen ab: Ich stehe im Haus vor ihr und mit ihr zusammen im Mittelpunkt des Universums. Ein seliges Gefühl durchströmt mich, ein Gefühl wie ich es noch nie bei einer Frau empfunden habe.

Selbst bei Melanie nicht, die alle nur Mel nannten. Mit ihr war ich zusammengezogen. Ein Experiment, das am Ende scheiterte. Unsere Beziehung dauerte sensationelle zwei Jahre! Seitdem bin ich für absolute räumliche Trennung. Jeder soll seinen Spaß haben, zu viel Nähe aber macht alles kaputt. Davon bin ich überzeugt. Zurück in meinem Hotelzimmer stelle ich mich unter die heiße Dusche und taste beim Einseifen nach meiner kleinen Narbe in der Schulter. Ich überlege, ob das sexy wirkt? Vielleicht kompensiert sie meine ergrauenden Haare?

Das Unangenehme an Hotels heutzutage ist das Rauchverbot. Selbst in meiner Suite! Das zwingt mich, etwas früher hinunterzugehen. So kann ich das Restaurant beobachten. Ob es sie ist, die mich sehen will? Nach dem zweiten Zigarillo entdecke ich einen Mann mit grauroten Haaren, die er in einen Igelschnitt gebändigt hat. Ich finde Menschen mit roten Haaren nicht schön, vor allem bei Männern wirkt es befremdlich. Rothaarigen Frauen wird zwar einiges nachgesagt. Ich finde aber die weiße Haut und die Sommersprossen nicht erotisch.

Der Mann trägt einen braunen Anzug und ein dunkelgrünes Hemd. Ein Kellner führt ihn zu einem Tisch und als er sitzt, blickt er sich um. Er wird es wohl sein, der mich treffen will. Ich bin enttäuscht, trotzdem neugierig! Ich gehe hinein. Ich wirke sehr sportlich mit meiner bequemen dunkelblauen Chino-Hose und dem eng geschnittenen weißen Hemd. Als der Mann mich erblickt, steht er auf und winkt mir zu. Er kennt mich also! Ich ihn nicht.

„Herr Pokorny, ich freue mich, sie in so guter Verfassung zu treffen. Setzen sie sich.“

Ich halte seine Hand fest, um zu signalisieren, dass ich noch eine Information brauche, bevor ich mich zu ihm setze.

„Ich bin Andresz Przewosnik. Der Besitzer des Ferienhauses und guter Freund von Herrn Sperling.“ Tatsächlich hatte ich mit einigem gerechnet, damit jedoch nicht. Um ehrlich zu sein, hatte ich auf sie gehofft, ansonsten war mein Denkapparat blockiert.

„Ich will nicht, dass es unhöflich klingt. Mein Nachname ist für deutsche Zungen etwas schwierig, deshalb schlage ich vor, sie nennen mich Andresz.“

Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, um eine bequeme Position zu finden. Liegt es wirklich nur am Namen, oder will er Nähe aufbauen? Es spricht nichts dagegen.

„Nennen sie mich Peter.“

„Sehr schön. Du bist mein Gast. Ich habe einiges wieder gutzumachen. Was willst du trinken. Einen Aperitif?“

Wir wägen die Vorteile eines Martinis gegenüber einem Glas Champagner ab. Andresz besteht darauf, auf mein Überleben und meine Genesung gebührend anzustoßen. Das Restaurant füllt sich. Mehrere Kellner huschen an unserem Tisch vorbei, bevor wir unsere Gläser bekommen.

„Auf die Gesundheit“, ruft Andresz für mein Empfinden etwas zu laut und wir stoßen an.

„Woher kennst du Thomas Sperling“, frage ich, um nicht direkt mit dem Vorfall im Haus zu beginnen.

„Ach, wir kennen uns schon sehr lange. Dreißig Jahre. Wir haben viele interessante Geschäfte gemacht.“

Ich sehe die Perlen in einem Champagnerglas aufsteigen und überlege, was er wohl von mir will.

„In welcher Branche bist du“, frage ich.

„Nun, es klingt komisch, ich habe in so gut wie alle investiert. Die größten Erfolge habe ich in der Bau- und Immobilienbranche eingefahren. Derzeit interessiere ich mich für die Möglichkeiten der digitalen Welt.“

Ich nehme einen Schluck des sehr trockenen Champagner. Andreszs Eröffnung verheißt einen lockeren Abend mit Gesprächen über geschäftliche Erfolge. Ich schaue mich um und sehe wohlgekleidete Menschen an den Tischen sitzen, umsorgt von bemühten Kellnern. In dieser Atmosphäre fühle ich mich wohl. Ich streiche langsam über meine blütenweiße, gestärkte Serviette.

„Lass uns bestellen“, sagt Andresz und schlägt die Karte auf. Ich entscheide mich für ein Menü. Er stellt sich aus den einzelnen Speisen ein eigenes zusammen.

„Ich hätte dich im Krankenhaus besucht, aber ich war drei Wochen in Südkorea. Gestern bin ich zurückgekommen.“

„In Südkorea. Das klingt interessant.“

Ich trinke einen Schluck und es perlt in meinem Mund. Interessiert mich Südkorea? Nein! Ich will wissen, was im Ferienhaus passiert ist! Dennoch höre ich zu, wobei ich das Pärchen hinter Andresz beobachte, wie es eng zusammensitzt und Händchen hält. Ich vermute, dass die beiden etwas zu feiern haben. Zwar sind sie herausgeputzt, aber ihr Kleid sieht nicht sehr teuer aus. Sie küssen sich und ich wende meinen Blick diskret ab.

„Nun, Südkorea ist uns in so vielem weit voraus. Wenn wir in Europa nicht aufpassen, verlieren wir den Anschluss. Ich habe da ein paar interessante Kontakte geknüpft.“

Er holt sehr weit aus und erzählt von technischen Raffinessen, die in Südkorea bereits selbstverständlich sind. Endlich serviert der Kellner meine Tomatensuppe und die Lachskrönchen mit Forellenkaviar für Andresz. Wir bleiben beim Champagner. Ich überlege, ob es an der Zeit wäre, das Thema zu wechseln.

„Europa muss sich bewegen. Wer wie ich viel in der Welt unterwegs ist, der sieht das mit ganz anderen Augen. Wenn ich nicht so ein Patriot wäre und die Mitte meines Lebens bereits überschritten hätte, ich müsste Polen, ich müsste Europa verlassen, um so erfolgreich zu werden wie ich es bin.“

Die Tomatensuppe schmeckt mir, obwohl der Thymian zu dominant ist. Die Konsistenz ist perfekt. Auch das Liebespaar löffelt eine Suppe. Jeder eine andere, denn sie tauchen ihre Löffel in den Teller des anderen. Oft gehen die beiden nicht so luxuriös essen. Andresz redet weiterhin von Südkorea und ich beschließe, das Thema zu wechseln.

„Woher kannst du so gut Deutsch?“

„Ach, dazu war ich gezwungen. 1989 baute ich mein Geschäft auf. Meine ersten Partner waren Deutsche. Nur wer die Sprache seiner Geschäftspartner spricht, kann gutes Geld verdienen. Das habe ich damals gelernt. Heute ist das anders, überall wird Englisch gesprochen. Aus Erfahrung weiß ich, es ist immer besser, die Sprache des anderen zu sprechen.“

„Wieviel Sprachen sprichst du denn?“

„Ach, nicht viele, die Wichtigsten, nur wenige so gut wie Deutsch. Englisch, ja, das muss man ja heutzutage. Ein bisschen Spanisch und Italienisch, Russisch auch, aber nicht so gut. Wir Polen haben eine genetisch bedingte Aversion gegen das Russische.

Du als Anwalt musst auch einige Sprachen beherrschen?“

„Eher nicht. Bislang habe ich hauptsächlich mit Deutsch zu tun, obwohl sich in den letzten Jahren die englischsprachigen Verträge häufen. Viele Klienten sprechen kein Deutsch, sie investieren nur hier.“ „Ja, ja, ich weiß. Ich habe mich über dich informiert. Du bist ein richtig guter Wirtschaftsanwalt. Solche Leute sind sehr wertvoll. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.“

Mitten in sein Lob, das ich genieße, wird der Hauptgang serviert. Andresz zerschneidet ein Entenbrustfilet à l’orange und ich lasse mir eine Mafaldine mit Steinpilzen schmecken. Dazu trinken wir einen Chianti. Während ich den Wein im Glas schwenke und daran rieche, überlege ich, was Andresz von mir will. Sich nach meinem Befinden erkundigen? Die paar Informationen, die er mir gegeben hat, reichen, damit ich weiß, um welche Sorte Mensch es sich bei ihm handelt. Nicht selten sitzen solche Leute bei mir in der Kanzlei. Es erfordert all mein Können, um sie vor dem Gefängnis zu bewahren. Dafür lasse ich mich angemessen entlohnen. Unweigerlich denke ich an die gefesselt Frau im Ferienhaus. Kennt er die Frau?

Vor drei Wochen hätte ich mich gefreut, die Bekanntschaft mit Andresz zu machen. Seit der Begegnung mit ihr, ist alles anders. Wie mich das Gespräch langweilt! Seine Geschichten über die tollen Geschäfte, die er gemacht hat, die großen Coups und Deals. Nach außen wirkt er kultiviert, wie er sein Besteck hält, sich mit der Serviette den Mund abtupft, bevor er einen Schluck Wein trinkt. Spricht er aber über sich, wirkt er primitiv und protzig. Ein reich gewordener Prolet, könnte man vermuten. Dabei sieht er gar nicht so aus - eher gediegen und bescheiden, auf den ersten Blick ginge er als Beamter durch.

„Ich will dir nicht den Appetit verderben“, sage ich, „mich interessiert durchaus, was in deinem Haus passiert ist. Die Polizei hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“ Es klingt genauso ungeduldig wie es gemeint ist.

Er tupft sich mit der Serviette über seinen Mund. Dann nimmt er einen kräftigen Schluck Wein. Hinter ihm erhebt sich die junge Frau. Das Kleid ist tatsächlich nicht sehr teuer, aber es schmückt sie. Ihre langen dunkelbraunen Haare trägt sie offen, sie fallen leicht gelockt über ihre freie Schultern. Ich bemerke, wie sie sich bemüht, vornehm zu wirken. Ich lächele, obwohl dieser Gesichtsausdruck nicht zu meiner gestellten Frage passt.

„Ich verstehe“, antwortet Andresz, „und es tut mir leid, was da mit dir passiert ist und ich will versuchen, es wieder gut zu machen. Also“, er legt sein Besteck ordentlich zusammen auf seinen Teller und schiebt ihn einige Zentimeter von sich. Ich rieche die Parfümwolke der jungen Frau, die unterdessen an mir vorbeigegangen war. Sehr süß, ihrem Alter angemessen.

„Du hattest Pech. Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort. Wir haben hier in Polen derzeit viele Probleme mit Einbrüchen. Ich habe bereits eine bessere Alarmanlage einbauen lassen. Das ich das bislang nicht getan habe, ist unverzeihlich!“