Februarmeer - Daniel Schaup - E-Book

Februarmeer E-Book

Daniel Schaup

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Beschreibung

Margarethe Hirsch feiert ihren fünfzigsten Geburtstag allein in Kühlungsborn. Sie ist eine erfolgreiche Managerin, die auf der Karriereleiter beständig vorangeschritten war. Doch jetzt erlebt sie zum ersten Mal eine schwere Niederlage. Sie zieht sich in das Haus am Meer zurück, das mit ihrer Familiengeschichte sehr eng verbunden ist. Der ehemalige Punk-Musiker Ronny Berger, aufgewachsen in einer kleinen Stadt in der ehemaligen DDR, singt in einer Partyband für Hochzeiten. Regelmäßig wirft ihn seine Melancholie aus der Bahn und jedesmal findet er nur mühsam zurück ins Leben, das ihm zusehends sinnloser erscheint. In Kühlungsborn, der schönen Stadt am Meer, treffen diese beiden so verschiedenen Menschen aufeinander. Oberflächlich betrachtet, gehören sie zu entgegengesetzten Welten, ihre Seelen aber scheinen sich anzuziehen. Sie verlieben sich. Schnell aber kollidieren ihre unterschiedlichen Lebenswelten miteinander. Die Geschichte von Margarethe und Ronny ist romantisch, bewegend und herzzerreißend, voller großer Gefühle und Tiefgang.

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Daniel Schaup

Februarmeer

Roman

Das Buch

Margarethe Hirsch feiert allein ihren fünfzigsten Geburtstag in Kühlungsborn. Sie ist eine erfolgreiche Managerin, die auf der Karriereleiter beständig vorangeschritten war. Doch jetzt erlebt sie zum ersten Mal eine schwere Niederlage. Sie zieht sich in das Haus am Meer zurück, das mit ihrer Familiengeschichte sehr eng verbunden ist.

Der ehemalige Punk-Musiker Ronny Berger, aufgewachsen in einer kleinen Stadt in der ehemaligen DDR, singt in einer Partyband für Hochzeiten. Regelmäßig wirft ihn seine Melancholie aus der Bahn und jedesmal findet er nur mühsam zurück ins Leben, das ihm zusehends sinnloser erscheint.

In Kühlungsborn, der schönen Stadt am Meer, treffen diese beiden so verschiedenen Menschen aufeinander. Oberflächlich betrachtet, gehören sie zu entgegengesetzten Welten, ihre Seelen aber scheinen sich anzuziehen. Sie verlieben sich. Aber ihre unterschiedlichen Lebenswelten kollidieren miteinander.

Die Geschichte von Margarethe und Ronny ist nicht nur romantisch, bewegend und herzzerreißend, sondern auch voller großer Gefühle und Tiefgang.

Der Autor

Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg.

Daniel Schaup

Februarmeer

Roman

© 2023 Daniel Schaup

ISBN Softcover: 978-3-347-82666-3

ISBN E-Book: 978-3-347-82670-0

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Prolog

Schlagartig spürt Ronny Berger die Kälte. Seine Hände sind rot und halberfroren. Er steckt sie in die Taschen seiner ausgebeulten schwarzen Jeans. Ein eisiger Windzug nadelt an seinen Ohren. Der dunkelgraue Rostocker Winterhimmel hängt schwer über seinem Kopf. Langsam trottet er die BahnsteigTreppe hinunter und schleicht zurück zur Eingangshalle. Er hat keine Eile. Niemand drängt ihn; niemand erwartet ihn in Berlin. Er gelangt zu den dicken weißen Säulen und betrachtet ungläubig die großen milchig-grünen Fliesen an den Wänden. Sie erinnern ihn an ein DDR-Krankenhaus. Fehlt nur das braune Linoleum, denkt er, und erreicht das Empfangsgebäude mit seiner Anzeigetafel. Dort liest er neben der Uhrzeit auch das Datum: Es ist heute der 27. Februar 2018. Übermorgen beginnt der März!

Er entdeckt einen Bäcker. Eine heiße Tasse Kaffee wird ihm guttun. Die füllige Verkäuferin mit halblangen schwarzen Haaren begrüßt ihn. Sie hat eine braune Schürze umgebunden und als sie zur großen Kaffeemaschine geht, entdeckt Ronny ihre pinken Clogs. Er legt einen Fünf-Euro-Schein auf ihre fleischige ausgestreckte Hand. Mit ihrer linken gibt sie ihm das Wechselgeld und mit ihrer rechten Hand reicht sie ihm eine große weiße Tasse über den Tresen. Mühsam rutscht er auf die Bank hinter einem kleinen mit Brötchenkrümeln und Eiresten übersäten Tisch. Lange Minuten sitzt er da. Vor ihm steht die dampfende Tasse. Er starrt auf die schwarze Scheibe mit ihrem Keramikrand.

Dann schlürft er den ersten Schluck. Ungewollt beginnen die Erinnerungsbilder der vergangenen Tage durch seinen Kopf zu tanzen. Sie tanzen Pogo, besser gesagt Wrecking, eine derbere Form des PunkTanzes, dem er in seiner Jugend mit Hingabe gefrönt hatte. Ihm fällt die Band The Meteors ein und er versucht sich an einen Song zu erinnern. Das war seine Zeit! Das war seine Jugend! Wild und rücksichtslos lebte er als gäbe es kein Morgen. Nun ist er in diesem für ihn damals so fernen Morgen angekommen. Er muss über sich selbst lachen: im Herzen ist er ein Punker geblieben, dabei sieht er aus wie das Paradebeispiel einer gescheiterten Existenz. Die er, in ehrlichen Minuten gestand er sich das auch ein, definitiv ist.

Wie hatte sich eine Frau wie sie nur für ihn interessieren können? Eine reiche Karrierefrau, die alles verkörperte, wogegen er in seiner Jugend rebelliert hatte! Dabei geht es nicht darum, dass sie reich ist oder eine Managerin, in erster Linie ist sie eine wundervolle und sehr schöne Frau, die nur leider in einer Galaxie lebt, die von der seinen Lichtjahre entfernt ist.

Sein Magen zuckt und pumpt ätzend heiß den Kaffee zurück in seine Speiseröhre. Er schluckt mehrmals hintereinander und ringt damit auch seine Angst vor dem nieder, was er seit mehreren Minuten ist: allein. So viele Jahre Alleinsein. Zur zweiten Natur ist es ihm geworden! Und jetzt? Der Gedanke, es in so kurzer Zeit verlernt zu haben, verwirrt ihn. Unverhofft gibt es da jemanden, zu dem er gehört, der zu einem Teil von ihm geworden ist. Sie fehlt ihm hier und jetzt, so sehr, dass es weht tut! Stechender wird sein Schmerz als ihm bewusst wird, Greta nie mehr wiederzusehen.

Ronny schaut sich um. Ein Pärchen betritt den kleinen Bäcker. Ihre Kleidung wirkt wie in einem RotKreuz-Laden erstanden. Beide sind Ende vierzig, vielleicht schon fünfzig. Die Frau tastet sich vor, an den Stuhllehnen vorbei - hinter ihren dicken Brillengläsern sind die Augen kleine Punkte. Der Mann strahlt vor Freude und geht behutsam hinter der Frau her, darauf bedacht, sie vor einem Sturz zu bewahren. Sie setzen sich an den Tisch neben Ronny.

Der Mann sagt: „Ich gebe einen aus“, wobei sein Stottern nicht zu überhören ist. Seine Stimme klingt nett und in seinen Augen blitzt die Freude auf, seiner Freundin einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu spendieren. Er geht zum Tresen und bestellt. Bedächtig nimmt er die Münzen aus seinem Portemonnaie, er bezahlt nicht mit einem Schein oder gar mit der EC-Karte. Vorsichtig jongliert er die gefüllten Kaffee-Tassen an den leeren Stühlen vorbei, dann die Teller mit dem Kuchen. Jetzt sitzen sie sich gegenüber. Er strahlt sie an. Kann sie seine Freude durch ihre dicken Brillengläser sehen?

Ronny spürt, etwas fürstliches ereignet sich neben ihm: Dieses ungewöhnliche Paar leistet sich heute einen Ausflug und sie beginnen ihn mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen! Diese kindliche Freude des liebenswürdigen Mannes neben ihm! Er trinkt einen Kaffee, den er nicht selbst gebrüht hat und das Stück Kuchen ist nicht beim Discounter gekauft - und all das zusammen mit seiner Freundin. Vielleicht fahren sie nachher mit dem Zug irgendwohin oder sie genießen nur die Atmosphäre des Bahnhofes und träumen zusammen von der großen weiten Welt?

Ronny ist gerührt von dieser Szene. Er ahnt wie aufgeregt der Mann ist, wohl auch Stolz, endlich seine Freundin auszuführen, sich zusammen mit ihr etwas zu gönnen. Kerzengerade sitzt er da und trinkt einen Schluck Kaffee.

„Schmeckt gut“, flüstert er ihr zu.

Sie nickt und schaut sich um. Ronny wendet sich ab, um nicht als Beobachter dieser berührenden Szene entdeckt zu werden.

„Der Kuchen ist lecker“, sagt sie.

Langsam richtet sie sich auf und schaut ihren Freund an. Jetzt lächelt sie und tastet vorsichtig nach ihrer Tasse. Mit ihren Tassen in der Hand sitzen beide sich gegenüber und schenken einander einen Blick, der Ronny beinahe das Herz zerreißt. Dieses kleine große Glück neben ihm potenziert seine Angst, sich falsch entschieden zu haben. Hat er die letzte Möglichkeit, in seinem Leben glücklich zu werden, ausgeschlagen?

Dabei scheint sich das Glück bereitwillig jenen zu schenken, die es in ihre Herzen einladen, ob nun arm oder fast blind. Ronny zwängt sich aus der Bank und stellt seine leere Tasse in das Rückgabe-Regal.

Eine graue Wolkenwand hat sich vor die Sonne geschoben - ein aus traurigen Gedanken gewobener Vorhang, mit dem das Schauspiel der vergangenen freudvollen Tage endet. Als er zu seinem Auto geht hat er das Gefühl, sterben zu müssen.

Mittwoch, 21. Februar 2018

Ronny liegt ausgestreckt in seinem Bett. Die schwarzen Vorhänge sind zugezogen. Ein schmaler Streifen lässt etwas Tageslicht herein, schließlich ist es bereits Mittag. Vor dem Fenster wütet der nasskalte graue Februar durch die Straßen Berlins. Seinem Dämon war es wieder gelungen, ihn auszuknocken. Nach einer Phase wilder Firmen-Weihnachtsfeiern, die er mit seiner Band The Onsprings beglückt hatte, stürzte er in das ihm seit vielen Jahren bekannte tiefe schwarze Loch, für einen kurzen Moment aufgehalten durch den Auftritt seiner Band bei der Silvesterparty im Grand Canyon. Nun war der Januar ins Land gezogen und der Februar neigt sich bereits seinem Ende. Mühsam hebt er die Bettdecke beiseite als wiege sie hundert Kilogramm.

Langsam und tief gebeugt schlurft er in seinen Pantoffeln ins Bad. Auf der Waschmaschine steht eine halb volle Weißweinflasche. Er zögert und ringt seinen ersten Impuls nieder, sie auszutrinken. Stattdessen sucht er in der Küche die Dose mit dem Kaffeepulver. Der bei seinem Kauf weiße Wasserkocher aus Plastik schimmert gelb-orange.

Als Ronny den Kippschalter drückt, passiert nichts. Mehrmals probiert er es, aber weder hört er ein Geräusch, noch leuchtet die Lampe. Das Gerät ist kaputt. In seinem Kopf leuchtet die Alternative auf: einen Topf aus dem Schrank nehmen, Wasser einfüllen, auf den Herd stellen. Den Gasherd anstellen und dann die entsprechende Flamme auf drei drehen, warten, bis das Wasser blubbert und es mithilfe der Topflappen in die Tasse schütten.

Er weiß, was zu tun ist, ihm aber fehlen die Kräfte. Er schleicht zurück in sein Bett, stößt gegen eine auf dem Boden liegende Flasche, die geräuschvoll über die Dielen rollt. Mit letzter Kraft zieht er sich die Decke über den Kopf. Soll ihm diese scheiß Welt doch gestohlen bleiben, denkt er, wenn das alles so kompliziert ist! Er versucht einzuschlafen, kann es aber nicht. Unweigerlich denkt er an die halb volle Weinflasche im Bad, aber der Weg dorthin kommt ihm unendlich lang vor.

Er richtet sich auf und zieht eine Zigarette aus der Schachtel, die auf seinem Nachtschrank liegt. Der Aschenbecher daneben quillt über. Er raucht gierig als könne er damit seinen Durst und seinen Hunger stillen.

Plötzlich zerreißt ein unangenehmes Geräusch die Stille, in der er seit Wochen lebt. Das Geräusch kommt ihm bekannt vor, auch wenn er es so lange nicht gehört hat. Es schrillt in seinen Ohren. Sie will nicht enden, diese Qual. Doch, jetzt verstummt es, um, Sekunden später, erneut mit seinem auditiven Terror loszulegen. Ronny nimmt seine Zigarette in den Mund und hält sich die Ohren zu. Dabei rieselt Asche auf seine Bettdecke. Das Geräusch quält ihn weiter, was dazu führt, das in der hintersten Ecke seines Seelenapparates die Wutschraube angezogen wird, nicht viel, einen kleinen Millimeter nur.

Als nach einer zweiten kürzeren Pause, das Schrillen abermals einsetzt, hievt sich Ronny aus dem Bett und geht, ohne sich die Pantoffeln anzuziehen, in den Flur, um den Hörer vom Telefon zu nehmen. „Was ist denn los“, ruft er hinein.

„Nichts“, hört er eine Stimme erschrocken sagen, „ich bin’s Klaus.“

„Was willst du“, Ronnys Stimme klingt ungehalten, um richtig wütend zu sein, fehlt ihm die Kraft.

„Störe ich dich?“

„Nein“, Ronny beruhigt sich und kehrt mit dem Hörer am Ohr zurück ins Schlafzimmer, um sich aufs Bett zu setzen.

„Ich habe einen kleinen Gig für dich. Was hältst du davon für ein paar Tage oder wenn du willst auch länger zu mir zu kommen?“

„Einen Gig, was denn?“ Ronny reibt sich mit der linken Hand die Augen.

„Nichts großes, ein Auftritt im Baltic Sea, einem Restaurant am Yachthafen, kennst du vielleicht, sehr edel und lecker, jedenfalls zahlen die gut und ich vermute, du könntest eine Extraeinnahme gebrauchen.“

„Wieviel ist es denn?“

„Berti hat etwas von zweihundert gesagt.“ „Zweihundert?“

„Immerhin besser als nichts. Außerdem kannst du ein paar Tage an der Ostsee verbringen. Im Februar ist Kühlungsborn wie ausgestorben und wenn du Glück hast, ist der eine oder andere Sonnentag dabei.“

Ronny erhebt sich und streicht sich durch seine fettigen Haare. Durch die offene Schlafzimmertür gelangt genügend Licht in den Raum, damit er das Chaos in seiner Höhle betrachten kann.

„Du hast Recht“, erwidert Ronny, „zweihundert sind besser als nichts. Wann soll ich auftreten?“

„Am Freitag, also übermorgen.“

„Ok, ich packe ein paar Sachen zusammen und fahre los.“

„Super. Ich freue mich auf dich.“

„Bis nachher.“

Ronny legt auf. Klaus kennt er seit acht Jahren. Damals im Jahre 2010 hatte Ronny zum ersten Mal in Kühlungsborn gespielt. Seitdem tourt er jeden Sommer mit seiner Band durch die Touristenorte an der Ostsee. Klaus kämpft sich als freischaffender Tontechniker durchs Leben. Die beiden sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, zwei einsame Wölfe, von denen so viele über die Bühnen der Welt streunen. Die beiden telefonieren unregelmäßig. Mitunter hatte Klaus ihn in Berlin besucht, gleichwohl ihn die Großstadt verängstigt, er liebt es beschaulicher, ruhiger.

Ronny dagegen genießt es, sich in einer Masse wildfremder Menschen zu verlieren, sich einzuschmuggeln in die Touristenströme mit ihren fremden Sprachen. Obendrein liebt er die exzentrischen und skurilen Typen, die ihr unverwechselbares morbides Fluidum in der Stadt versprühen.

Umgeben von Egomanen schleicht er durch die Gassen, singt in halbverfallenen, zumeist illegal betriebenen Hinterhofkneipen seine Lieder, die er niemals in der frisch restaurierten Kurbühne in Kühlungsborn präsentieren würde. Seine dunklen Melodien wären Fremdkörper, ebenso seine Texte, die von Weltschmerz überlaufen, ganz zu schweigen von den Klageschreien seines kaputten Herzens.

Mit siebzehn war Ronny nach Berlin gekommen, mit großen Plänen und einem Koffer voller Träume.

Aus der Provinz in die Fußgängerzonen der Hauptstadt, wo er Gitarre spielte und sang. Damit hatte er sein Geld verdient, aber die Metropole sollte sein Sprungbrett sein für seine Karriere als Punk-Rockstar. Das Brett zersplitterte und seine Träume wurden vom Sand des Alltages zerrieben. Die ersten Jahre, die wilden Neunziger, waren übervoll mit Verheißungen und Hoffnungen, aber seit zwanzig Jahren lebt Ronny ruderlos dahin, ohne Träume, ohne Ziele. Die Stadien füllen andere Bands wie Rammstein, die wie er zur selben Zeit in Berlin ihre ersten künstlerischen Schritte wagten. Ihm ist der Durchbruch nicht gelungen. Er singt auf Hochzeiten oder Firmenjubiläen.

Es ist zwar offensichtlich, aber er gesteht es sich nicht ein, auf ganzer Linie gescheitert zu sein. Mühsam hält er die Fassade vom Künstler aufrecht, auch wenn sein Grufti-Punk-Style etwas aus der Zeit gefallen wirkt. Er krallt sich an dem Gewohnten fest, an seiner Jugend, an der Vergangenheit, die ihn keinen einzigen Schritt in eine Zukunft gehen lässt. Das mag durchaus der Grund dafür sein, weshalb regelmäßig ein Dämon seine Seele krallt und sie mit dunklen Gedanken infiltriert. Auf seine schmalen Schultern stapelt sich dann das Schlechte der Welt, für das er sich verantwortlich fühlt.

Woher weiß sein Freund von der Küste wie schlecht es ihm geht, fragt sich Ronny? Der Anruf hat ihn tatsächlich mit zusätzlicher Kraft durchströmt, die genügt, um zu duschen und einige Klamotten in seine Reisetasche zu stopfen. Oder ist es die Aussicht auf einen Soloauftritt? Egal, seine Hand liegt auf der Türklinke der Wohnungstür und er macht einen Schritt hinaus, den ersten seit fünf Wochen! Seine Straße in seinem Kiez liegt feucht in der Winterluft. Er blickt sich um und überlegt, wo er seinen alten Ford Focus geparkt hatte, schließlich war es fünf Wochen her. Zunächst sucht er in der falschen Richtung, findet ihn aber in einer Seitenstraße. Einstmals war es blau, sein Auto, jetzt schimmert es eher dunkelgrau mit einigen silberblauen Inseln. Seltsamerweise springt der Wagen sofort an. Ronny parkt aus und fährt in Richtung Autobahn. Das Leben pulst durch die Adern der Großstadt. Wie zu erwarten, sind einige verstopft. Geduldig harrt Ronny hinter dem Steuer aus, bis der Moloch ihn endlich freigibt und er auf die Autobahn beschleunigt. Wie in Trance erlebt er die Autofahrt.

Das Radio schweigt, nur das Brummen des in die Jahre gekommenen Motors liefert den Soundtrack seiner Flucht vor seinem Dämon. Seine Seele hofft auf einen klareren Blick und er freut sich auf Klaus, mit dem er nicht nur reden, sondern auch schweigen kann. Vier Stunden später biegt er in die Ehm-Welk-Straße ein und sieht im trüben Schein der Straßenlaternen den Neubaublock, in dem Klaus seit vielen Jahren wohnt.

„Mensch Ronny, du siehst ja grauenvoll aus“, begrüßt ihn Klaus. „Komm rein, ich habe extra für dich Wein gekauft!“

Klaus sieht nach Meinung von Ronny auch nicht viel besser aus, die halblangen einstmals schwarzen Haare sind dunkelgrau und der Vollbart wirkt ungepflegt und für Ronnys Geschmack viel zu lang. Durch die Wohnung schallt die Stimme von Johnny Cash, den Klaus wie einen Heiligen verehrt. Ronny hat ein paar Songs vom großen Cash drauf, doch für Klaus grenzt es an Blasphemie, wenn sich jemand an den Songs seines Heiligen versucht - herumstümpern nennt es Klaus, der die reine Lehre vertritt - Cash kann nur Cash!

Donnerstag, 22. Februar 2018

Am nächsten Morgen spaziert Ronny zum Strand. Der Himmel erscheint ihm als habe sich seine Seele nach außen gewölbt. Nein, er ist nicht schwarz, sondern dunkelgrau - ein Fortschritt!

Der gestrige Abend mit Klaus scheint seine Seele aufgehellt zu haben. Dabei hatten sie nur auf der Couch gesessen, den heiligen Cash gehört und einander die Ereignisse der letzten Monate erzählt. „Derzeit bin ich froh, eine Modenschau in Rostock zu machen. Das rettet mich bis April. Letztes Jahr, Ende September bin ich am Volkstheater in Rostock für einen kranken Tontechniker eingesprungen. Ich habe die Oper Der Liebestrank von Donizetti eingerichtet und die Premiere gefahren. War mal wieder interessant in der Theatermaschine. Kennst du Donizetti“, hatte Klaus ihn gefragt.

„Hört sich für mich an wie Barock“, hatte Ronny geantwortet.

„Ja, stimmt. Aber der lebte zur selben Zeit wie Rossini.“

„Oper ist nicht so mein Ding, weißt du.“

„Meins eigentlich auch nicht, aber das war wirklich ergreifend. Schöne Sache.“

„Und was sprang bei dir heraus?“

„Na ja, öffentliches Theater, da klingelt nicht unbedingt die Kasse. Wie lief es bei dir?“

„Nun, nach unserer Tour durch die Kurorte hatten wir einige Hochzeiten. Viele in Berlin und einige in der Uckermark.“

„Bist du auch Solo aufgetreten?“

„Du weißt doch, meine Lieder will keiner wirklich hören. Die Szene ist sehr klein geworden, auch in Berlin.“

„Der Punk ist tot, es lebe der Punk“, hatte Klaus laut gerufen und seinen Kopf in den Nacken geworfen, um einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche zu nehmen.

„Das kannst du laut sagen“, hatte Ronny lachend gesagt und sein Weinglas ebenfalls in einem Zug geleert. „Die Hochzeiten ermüden mich und vor allem die Weihnachtsfeiern. Letztes Jahr waren es fünf. Es ist unvorstellbar, was da abgeht.“

„Los erzähl, klingt schmutzig.“

„Das willst du nicht hören, geschweige denn sehen auf welches Niveau die Typen in ihren Anzügen und Krawatten sinken und wie gewöhnlich plötzlich die Frauen in ihren feinen Kostümchen werden.“

„Du bist doch nicht etwa zum Spießer geworden?“ Ronny hatte gelacht und Klaus gegen die Schulter geboxt.

Ungewollt war ihr Gespräch dann abgedriftet in ihre ferne Vergangenheit, in ihre goldenen 1990er Jahre. In ihre Jugend, wo sie vor Energie strotzten und auf den Schwingen ihrer Träume durch ihre kleine Welt geflogen waren. Ronny wähnte sich damals auf dem sicheren Weg zum erfolgreichsten Rockstar aller Zeiten und Klaus stand kurz davor, sein eigenes Plattenlabel zu gründen. Was sie damals alles für möglich hielten! Unglaublich!

„Jetzt sitze ich hier und freue mich, den Ton bei einer Modenschau zu machen, damit ich meine Miete bezahlen kann“, hatte Klaus resigniert gesagt.

„Ich spiele auf Hochzeiten Schlagerschnulzen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist!“

Die feuchte Morgenluft vertreibt die Erinnerung und Ronny beschleunigt seinen Schritt. Die Kälte kriecht durch jede Ritze seines Mantels.

Wir sind zwei resignierte alte Säcke, denkt er.

Er geht an der gelben Villa vorbei, über deren Eingangstür Sorgenfrei steht. Vor dem kleinen Denkmal für den Schriftsteller Ehm Welk hält er kurz inne. Wie oft war er daran vorbeigegangen?

Jedes Mal hatte er sich vorgenommen, den Roman Die Heiden von Kumerow zu lesen. Er weiß, auch diesmal wird er es vergessen, sobald er zurück in Berlin ist. Als er die Strandpromenade erreicht, sieht er das Meer; auf seinen blaugrauen Wellen ruht der Granitblock des Himmels. Der Sand ist gefroren. Langsam wandert Ronny in Richtung Seebrücke. Seltsam taktlos branden die Wellen neben ihm an Land. Hinter ihm streiten einige Möwen miteinander.

Die Kulisse passt zu seinem Seelenzustand - überall Grau, eisiger Wind, er allein am Strand, vor ihm liegt das weite Meer wie flüssiges Blei. Irgendwo hatte er gelesen, man solle zum Horizont blicken, damit die Seele wachse. Er versucht es und kippt seinen Kopf in die Wagerechte. Der Granitblock des Himmels löst sich auf, das Meer verweist ihn auf seinen Platz. Alles wirkt tatsächlich aufgeräumter, klarer, ob aber seine Seele zu wachsen beginnt, kann er nicht glauben. Er blickt sich um. In einiger Entfernung betritt eine Frau den Strand und beginnt, ihm entgegenzugehen. Ihre dunkelgrüne Mütze und ihr hellbrauner Mantel heben sich wie auf einem Aquarell vom Himmel ab.

Langsam geht er weiter, kämpft gegen den Wind an, der um seinen schwarzen Mantel pfeift. Die Frau nähert sich Schritt für Schritt. Sie geht ungefähr in der Mitte des Strandes, wohingegen er über den feuchten Sand unmittelbar am Wasser läuft. Als sie an ihm vorübergeht, lächelt sie, schaut sogleich zu einer kreischenden Möwe auf, wobei sich der zur Mütze passende Schal über ihr Kinn schiebt. Ihr Profil schenkt Ronny den Blick auf gerötete Wangen und eine zierliche Nase, an deren oberen Ende sorgfältig gezupfte Augenbrauen ruhen.

Vielleicht hat sie Angst, der Vogel könne ihr auf ihren schönen Mantel scheißen, denkt Ronny. Er grinst in sich hinein.

An der Seebrücke angekommen, verliert er die Lust am Spazierengehen und kehrt um. Ungefähr an der selben Stelle sieht er die Frau abermals auf ihn zukommen. Diesmal geht auch sie direkt am Wasser. Als sie unmittelbar vor ihm ist, tritt Ronny einen Schritt beiseite und sie gehen so dicht aneinander vorbei, ihre Schultern hätten sich berühren können. Sie schauen einander an und die Frau schenkt ihm ein bezauberndes Lächeln. Ronny unterdrückt den Impuls ihr nachzusehen, kann dann allerdings nicht anders und blickt ihr über die Schulter hinterher. Genau in diesem Moment wendet sich auch die Frau zu ihm um und er hört sie lachen.

Ronny bleibt stehen. Mühsam versucht er, sich eine Zigarette anzuzünden; er dreht und wendet sich, aber die aufzuckende Flamme seines Feuerzeuges löscht der kalte Wind sofort. Erst auf der Promenade gelingt es ihm, der allzu gesunden Meeresluft den Tabakrauch