Die Weihnachtsinsel - Daniel Schaup - E-Book

Die Weihnachtsinsel E-Book

Daniel Schaup

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Beschreibung

Jeder von uns nennt sie sein eigen, jeder zieht sich einmal im Jahr auf sie zurück: auf seine individuelle Weihnachtsinsel. Sie verändert sich mit den Jahren analog der Bedeutung, die wir Weihnachten beimessen. Setzen Sie die Segel! Reisen Sie auf den Wellen der hier versammelten zehn Geschichten zu Ihrer Weihnachtsinsel. Lassen Sie Ihr Herz berühren von einer kleinen Brise Wehmut oder lachen Sie mit der Sonne um die Wette.

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Daniel Schaup

Die Weihnachtsinsel

Erzählungen

Das Buch

Jeder von uns nennt sie sein eigen, jeder zieht sich einmal im Jahr auf sie zurück: auf seine Weihnachtsinsel. Sie verändert sich mit den Jahren analog der Bedeutung, die wir Weihnachten beimessen.

Setzen Sie die Segel! Reisen Sie auf den Wellen der hier versammelten zehn Geschichten zu Ihrer Weihnachtsinsel. Lassen Sie Ihr Herz berühren von einer kleinen Brise Wehmut oder lachen Sie mit der Sonne um die Wette.

Der Autor

Daniel Schaup lebt an der schönen Elbe in Magdeburg.

Daniel Schaup

Die Weihnachtsinsel

Erzählungen

© 2022 Daniel Schaup

ISBN Softcover: 978-3-347-75431-7 ISBN E-Book: 978-3-347-75432-4

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

INHALT

Vorwort

Die Heilige Barbara

Der Name

Der Liebeszettel

Der blaue Bote

Die perfekte Welle

Der geheimnisvolle Brief

Das Tor zur Welt

Der Hausgeist

Der Onkel

Die Weihnachtsinsel

Vorwort

Eine Weihnachtsinsel existiert tatsächlich. Im indischen Ozean gelegen, gehört die 135 Quadratkilometer große Insel zu Australien; ein realer Ort also, sehr weit entfernt. Ich kenne niemanden, der je auf diesem Eiland gewesen ist. Mehrmals im Jahr sehne ich mich nach einem Inselurlaub; besonders intensiv empfinde ich diesen Wunsch, je näher das Weihnachtsfest rückt, wenn die Tage dunkler werden und das Wetter schmuddeliger. Der alljährliche Fluchtreflex vor dem großen Fest! Wer kennt ihn nicht? Wo rührt er her? Liegt seine Quelle im Älterwerden? Während ich über diese Fragen nachsinne, verwandelt sich das Weihnachtsfest selbst in eine Insel, in eine Insel im Ozean der Zeit. Jeder von uns nennt sie sein eigen, jeder zieht sich einmal im Jahr auf sie zurück: auf seine kleine Weihnachtsinsel. Mit den Jahren verändert sie sich: es beginnt mit der kindlichen Aufregung, der Vorfreude auf die Geschenke, dann folgt das pubertäre Gefühlschaos. Im Ernst des Lebens angekommen, verliert Weihnachten seine Bedeutung, wird zu einem Pflichttermin mit der Familie bis, wo sind die Jahre hin, die eigenen Kinder um den Tannenbaum krabbeln. Die Kinder schenken dem Fest eine neue, tiefere Dimension.

Unaufhaltbar dreht es sich weiter das Rad der Zeit und allmählich schwinden die eigenen Kräfte. Wir ruhen uns aus auf unserer Weihnachtsinsel. Abermals hat sie sich verändert: wir bewundern den Sonnenuntergang und das Licht mischt sich mit Wehmut, vielleicht Trauer, dennoch fühlen wir uns geborgen auf unserer Insel und ein Hauch Glückseligkeit weht uns an!

Egal, in welcher Lebensphase Sie sich befinden, setzen Sie die Segel, fahren Sie zu Ihrer Weihnachtsinsel. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.

Daniel Schaup

Die Heilige Barbara

Miriam lag in ihrem Bett. In den vergangenen Tagen hatte es viel geregnet, dieser neue Tag jedoch begrüßte Miriam mit Sonnenschein, der scheibchenweise durch den Spalt zwischen den Gardinen in ihr Zimmer fiel. Es war Samstag; sie musste nicht in die Schule. Wundervoll! Sie liebte Samstagvormittage; Samstage starten langsam ohne die Hektik der Woche. Miriam schaute zu dem Weihnachtskalender, der auf ihrem Nachttisch stand. Heute war also das vierte Türchen dran - der vierte Dezember!

Wäre alles, ihr Leben, das ihres Bruders Oskar und auch das ihres Vaters noch genauso wie vor einem Jahr, stünde ihre Mutter jetzt in der Küche und schmierte Brote, denn nachher würden sie hinausziehen, um Barbara-Zweige zu holen. Ein kleiner Wandertag, auch wenn es kalt war. Sie würden sich zusammen auf eine Bank setzen, in eine Decke hüllen, in den Händen die dampfenden Tassen mit Tee und jeder würde mit großem Appetit ein Brot essen. Für Miriams Mutter war die Tradition der BarbaraZweige sehr wichtig - im ganzen Haus standen Zweige vom Apfelbaum oder von der Kirsche, auch Flieder und Pflaume waren immer dabei.

Die Augen von Miriams Mutter leuchteten jedes Mal, wenn einige Zweige zum heiligen Abend aufblühten. „Das wird ein tolles neues Jahr“, hatte sie dann immer gerufen und gelacht. Ihre Mutter hatte oft und viel gelacht. Miriam wusste, dieses Lachen wird sie nie wieder hören. Obzwar im vergangenen Jahr einige Zweige aufblühten, begann das schrecklichste Jahr ihres Lebens.

Ganz fest rieb Miriam sich mit ihren Händen das Gesicht. Heute wollte sie nicht weinen! Heftig drehte sie ihren Kopf hin und her, um die Tränen zu vertreiben. Auf ihrer rechten Seite blieb sie liegen und starrte auf ihren Schreibtisch. Da lag es! Dieses blöde Ding! Der Beweis ihrer Unfähigkeit. Worauf hatte sie sich nur eingelassen?

Papa wird mit ihr und Oskar nicht spazieren gehen und Barbara-Zweige abscheiden; sie wird sich den ganzen Tag mit diesem Ding herumquälen. Damit war von jetzt auf gleich aus einem vielversprechenden Morgen ein einziger Vorwurf geworden, der Miriam mutlos machte. Dreißig Euro hatte es gekostet und im Moment sah es aus wie Plastikmüll. Miriam stand auf, um das Ding eingehender zu betrachten, auch hoffte sie, aus der Nähe betrachtet sieht es nicht gar so schlimm aus. Dem war nicht so! Das Einzige, was entfernt daran erinnerte, was es einmal werden sollte, war die Plastikschale, in die sie alles einbauen musste. Aus dem Wirrwarr aus Kabeln, Schrauben und kleinen undefinierbaren Teilchen sollte ein Modellboot werden: Oskars Weihnachtsgeschenk!

Oskar wünschte sich ein Modellboot, das er auf dem See herumfahren lassen wollte. Papa hatte es ihm versprochen und Oskar war fest davon überzeugt, eines zu bekommen. Vor seinen Freunden in der Schule hatte er geprahlt, bald ein ferngesteuertes Boot zu besitzen. Nur dass sein Papa derzeit nicht fähig war, eines zu kaufen, geschweige denn eines zu bauen. Die meiste Zeit lag er auf der Couch oder in seinem Bett. Er war den ganzen Tag traurig und ging auch nicht mehr zur Arbeit. Vor einer Woche hatte Miriam versucht, mit ihm über Weihnachten zu reden, aber er winkte nur ab und küsste sie auf die Stirn.

„Versprochen ist versprochen“, hatte sie ihm nachgerufen und war enttäuscht in ihr Zimmer gegangen. Als sie vor einer Woche zufällig ein Gespräch ihres Vaters mit anhörte, beschloss sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen:

In der Küche hatte ein Mann gesessen. Miriam war verwundert, denn mit solchen Typen traf sich ihr Vater sonst nicht. Der Mann trug einen blauen Anzug mit rosa Krawatte und seine Haare waren gescheitelt. Papas Freunde sind witzige und flippige Leute, tätowiert und mit Bärten, die sich allerdings schon lange nicht mehr haben blicken lassen. Der Mann im Anzug hatte auf ihren Vater eingeredet, ihm in ruhigem Ton erklärt, wie notwendig es sei, wieder arbeiten zu gehen, ansonsten drohe der totale finanzielle Kollaps.

„Für dein Reihenhäuschen sehe ich schwarz“, sagte der Mann, was Miriam einen heftigen Stich verpasst hatte; beinahe wäre sie entdeckt worden, so laut hatte sie eingeatmet!

„Wir sind Schulfreunde, ich weiß, aber wenn das so weiter geht, kann ich nichts mehr für dich tun. Verstehst du mich?“

Ihr Vater hatte seinen Kopf in die Hände gelegt und laut geseufzt.

„Wie soll ich für alle den gut gelaunten Kasper spielen? Sag es mir! Sag es mir“, hatte ihr Vater verzweifelt geschrien und war aufgesprungen. Dann war er ins Schlafzimmer gerannt ohne Miriam zu bemerken. Papas Schulfreund saß jetzt allein in der Küche, unentwegt hatte er den Kopf geschüttelt und langsam seine Papiere in seine Aktentasche gesteckt. Ebenso langsam hatte er sich von seinem Stuhl hochgekämpft. Miriam erkannte wie erschöpft der Mann war, denn unverhofft hatten sich ihre Blicke getroffen: er versuchte ein Lächeln, aber es sah schief aus und mit hängenden Schultern hatte er das Haus verlassen.

Den ganzen Abend hatte Miriam in ihrem Zimmer gesessen und an Oskar gedacht, wie er reagieren würde, wenn er kein Modellboot geschenkt bekommt. Das wäre eine Katastrophe, entschied Miriam, wusste aber nicht, woher sie ein Boot nehmen sollte. Dann hatte sie ihre Spardose aus dem Schrank genommen und alles ordentlich gezählt: dreißig Euro kamen zusammen. Am nächsten Tag war sie in den Spielzeugladen gegangen, um wenigstens ein kleines ferngesteuertes Boot für ihren Bruder zu kaufen. Entsetzt stellte sie fest: selbst diese waren zu teuer. Ein netter Verkäufer zeigte ihr den Bausatz, der nur dreißig Euro kostete. Ohne lange nachzudenken, hatte sie bezahlt und die vermeintliche Lösung des Problems nach Hause getragen.

An diesem Samstagmorgen, an dem sie eigentlich hinausgezogen wären, um Zweige zu schneiden, gestand Miriam sich ein, zu ungeschickt zu sein, um das Boot für Oskar zu bauen. Ihr Physiklehrer, der alte Herr Brunswik, hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg: Technik sei nichts für Mädchen. Er hatte wohl recht? Langsam kletterte Miriam aus dem Bett und zog sich an. Als sie hinunter in die Küche ging, hoffte sie für den Bruchteil einer Sekunde, ihre Mutter stünde in der Küche und packte den Picknickkorb. Sie schloss die Augen und schnupperte, aber es roch nicht nach dem Parfüm ihrer Mutter. Oskar saß mit einer Tüte Bonbons vor dem Fernseher und schaute einen Trickfilm. Miriam ging in die Küche und schüttete Cornflakes in zwei Schüsseln und Milch darüber. Sie setzte sich neben ihren Bruder auf die Couch und beide löffelten ihr Frühstück, während sie einem Fisch dabei zusahen, wie er mit einem Seestern und einem Hummer diskutierte.

Da klingelte das Handy ihres Vaters. Es lag auf dem Esstisch. Miriam stand auf. Es war Katharina. Sie rief fast täglich an. Katharina war eine Kollegin von ihrem Vater und bemühte sich seit dem Tod von Miriams Mutter sehr um ihn. Wahrscheinlich war sie in ihn verliebt. Miriam wusste, ihr Vater interessierte sich nicht für Katharina; er interessierte sich für gar nichts mehr, nicht einmal für Weihnachten! Sein Lachen hatte sie seit Monaten nicht mehr gehört, verstummt wie das ihrer Mutter.

„Hallo Miriam. Ist dein Vater nicht da?“

„Doch, er schläft noch.“

„Was haltet ihr davon, wenn wir zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen?“

„Hört sich interessant an“, sagte Miriam. Tatsächlich erschien ihr Katharinas Angebot sehr verlockend. Seit Wochen war ihr Vater nicht mehr aus dem Haus gegangen und es wäre auch für Oskar gut, nicht den ganzen Tag vor dem Fernseher zu sitzen.

„Ich würde mich freuen. Ich hätte große Lust dazu, mit euch dreien etwas zu erleben“, hakte Katharina nach.

„Ich frage Papa“, antwortete Miriam, aber da stand ihr Vater schon neben ihr.

„Wer ist das“, fragte er. Miriam hielt das Handy etwas von sich weg.

„Katharina, sie will mit uns auf den Weihnachtsmarkt.“

„Auf keinen Fall“, brummte ihr Vater und schüttelte heftig den Kopf.

„Er ist begeistert“, sagte Miriam zu Katharina, „du sollst uns um eins abholen.“

„Ok. Ich freue mich“, hörte Miriam gerade noch als ihr Vater nach dem Handy griff, aber Katharina hatte bereits aufgelegt.

„Was soll das denn“, schrie ihr Vater sie an.

„Wir müssen mal raus, schon wegen Oskar“, zischte Miriam zurück.

Oskar war unterdessen vom Sofa aufgesprungen und fragte, was los sei.

„Wir gehen auf den Weihnachtsmarkt mit Katharina“, sagte Miriam zu ihm.

„Das ist ja großartig!“ Oskar hüpfte auf und ab.

Ihr Vater saß auf einem Stuhl und fuhr sich mehrmals durch seine strubbeligen Haare.

„Also gut“, sagte er, „also gut.“

Einerseits freute sich Miriam, eine solche Abwechslung würde ihnen gut tun, andererseits mochte sie Katharina nicht besonders. Sie war eine sehr aufdringliche Person. Ihre Idee mit dem Weihnachtsmarkt war gut, so kam ihr Vater aus dem Haus. Sie brauchten alle drei eine Abwechslung. Alle drei? Miriam fiel der Plastikmüll auf ihrem Schreibtisch ein. Sie musste unbedingt daran weiterarbeiten. Vielleicht gelang es ihr, aus dem Wirrwarr ein Boot zu bauen? Sie durfte nicht aufgeben! Oskar musste zu Weihnachten ein Modellboot bekommen!

„Ich kann nicht mitkommen“, sagte Miriam als ihr Vater mit Oskar im Flur stand, nachdem Katharina ihre Ankunft mit einem kleinen Hupkonzert angekündigt hatte.

„Was“, fragte ihr Vater entsetzt, „erst machst du so eine Welle und jetzt kneifst du, warum?“

„Ich habe noch so viele Hausaufgaben. Das hatte ich ganz vergessen.“

Erneut hupte Katharina.

„Also gut“, sagte ihr Vater und zottelte mit Oskar an der Hand durch die Tür zu Katharina. Miriam beobachtete die drei vom Küchenfenster wie sie davonfuhren. Wäre sie gern mitgefahren, fragte sie sich. Vielleicht, aber das Boot war wichtiger!

Missmutig schlich sie in ihr Zimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie las die Anleitung drei Mal durch, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Dennoch tüftelte sie mit einigen Plastikteilen und Kabeln herum, ob sie vielleicht selber herausbekam, wie die vielen kleinen Dinge zusammengehörten. Nach einer Stunde ließ Miriam enttäuscht die Schultern hängen, gleichzeitig wurde sie so wütend, am liebsten hätte sie alles aus dem Fenster geworfen.

Sie war unfähig! Oskar wird kein Boot bekommen! Weihnachten wird für Oskar eine Katastrophe. Miriam stiegen Tränen in die Augen. Warum war sie so ungeschickt? Jeder halbwegs vernünftige Mensch kann so ein Boot zusammenbauen.

Was konnte sie überhaupt? In der Schule war sie Mittelmaß, im Sport keine Leuchte und sie gehörte auch nicht zu Lara-Maries Clique, zu der in ihrer Klassenstufe die schönsten Mädchen gehörten, jede mit einem eigenen Instagram-Kanal, auf dem sie Beauty-Tipps für Zehnjährige posteten.

Sie war ein Niemand, ein Mädchen, das seine Mutter verloren hat und unfähig war, ihrem kleinen Bruder mit einem super Weihnachtsgeschenk über diesen traurigen Verlust hinwegzuhelfen. Denn Oskar war sehr traurig. Vor ihrem Vater zeigte er das nicht, aber Miriam wusste, er weinte jeden Abend in seinem Bett. Unter seiner Matratze hatte er sogar ein Foto von Mama versteckt.

Das Modellboot, davon war Miriam überzeugt, würde ihn trösten und er könnte sich mehr mit seinen Klassenkameraden treffen. Aber sie war ein dummes, ungeschicktes, darüber hinaus hässliches Mädchen!

Mit von Tränen überlaufenden Augen rannte Miriam die Treppe hinunter, durch das Wohnzimmer und riss die Terrassentür auf, um in den kleinen Garten zu gehen. Sie brauchte frische Luft. Ihr ganzer Schmerz brach aus ihr heraus und sie stand schluchzend auf dem Rasen.

„Hallo“, sagte da plötzlich jemand. „Alles in Ordnung?“

Miriam drehte sich um; auf dem Nachbargrundstück stand eine Frau. Sie war schön, viel konnte Miriam aber durch ihre verheulten Augen nicht sehen. Das lange schwarze Haar der Frau wurde vom Wind ein wenig bewegt und sie blickte mitleidig zu Miriam hinüber.

„Alles gut“, schniefte Miriam.

„Das sieht aber nicht so aus“, antwortete die Frau.

„Ist etwas passiert? Kann ich dir helfen?“

Ihr helfen? Wer sollte ihr helfen? Dennoch beruhigte Miriam die Gegenwart der Frau und allmählich hörte sie auf zu weinen.

„Ach, im Moment ist alles ein bisschen schwierig, wissen sie.“

„Schwierig, so so. Es sieht mehr nach einer mittelschweren Katastrophe aus.“

„Sie haben Recht. Es kann eine Katastrophe werden, wenn Oskar sein Boot nicht bekommt.“

Die Frau schaute Miriam fragend an.

„Oskar ist mein kleiner Bruder und er wünscht sich zu Weihnachten ein Modellboot. Aber Papa kann ihm keins bauen, er ist viel zu traurig.“

Es tat Miriam gut, sich auszusprechen und deshalb erzählte sie weiter.

„Meine Mama ist vor einem halben Jahr gestorben. Wir haben auch nicht mehr viel Geld, sonst könnte Papa ein Boot kaufen. Oskar ist sehr traurig und das Boot würde ihn trösten. Aber ich bin viel zu ungeschickt, verstehen sie?“

Die Frau lächelte Miriam an und lächelte.

„Ich habe nur soviel verstanden, dass es um ein Boot geht, richtig?“

„Ja, ich bin zu blöd, um dieses Mistding zu bauen.“

„Du willst ein Boot für deinen Bruder bauen?“

„Ja, ich habe mein ganzes Geld für den Bausatz ausgegeben.“

„Ach, jetzt verstehe ich. Du kriegst es nicht zusammengebaut!“

„Ja, ich bin eben nur ein Mädchen und Mädchen können so etwas nicht.“

„Wer sagt denn so etwas? Dein Vater?“

„Nein, mein Physiklehrer.“

„Also, wie du siehst, bin ich eine Frau und wenn du willst, helfe ich dir, was meinst du?“

Miriam schaute die Frau ungläubig an. Wo kam sie plötzlich her?

„Würden sie das machen?“

„Sicher. Lass uns deinem blöden Physiklehrer zeigen, was Frauen alles können!“

Miriam lächelte und ihre Traurigkeit war ebenso verschwunden wie ihre Wut.

„Ich bin Annabel“, sagte die Frau und reichte ihr über den kleinen Zaun die Hand.

„Ich bin Miriam.“

„Dann komme ich mal zu dir rüber.“

„Super, ich mache die Tür auf.“

Annabel und Miriam saßen eine Stunde zusammen und bastelten an dem Modellboot. Ruhig und sehr liebevoll erklärte Annabel, was zu tun war und ließ Miriam alles selbst zusammensetzen. Plötzlich erschien Miriam alles leicht und einleuchtend. Sie versank vollkommen in ihrem Tun.

„Das macht ja richtig Spaß“, sagte Miriam, nachdem das Boot fast fertig war und nur noch der kleine Motor fehlte.

„Sag ich doch“, gab Annabel zurück, der es auch viel Spaß machte, mit Miriam an dem Modellboot zu basteln.

„Was machst du eigentlich hier“, fragte Miriam.

„Ich habe mir das Reihenhaus nebenan angesehen.“ „Willst du dort einziehen?“

„Vielleicht?“

„Das musst du unbedingt! Du bist großartig.“

Annabel schmunzelte.

„Nur weil ich basteln kann?“

„Nein, auch so. Willst du was trinken?“

„Ja, gern.“

Die beiden gingen hinunter in die Küche. Miriam zeigte Annabel alles und sie kochte sich eine Tasse Kaffee und für Miriam zauberte sie einen Kakao.

„Lecker“, schwärmte Miriam und schlürfte den heißen Kakao.

Annabel schaute Miriam an. Sie war ein hübsches Mädchen, dachte sie, mit ihren kurzen braunen Haaren und der kleinen Stupsnase. Wenn sie lächelte, leuchteten ihre grauen Augen. Sie wird eine wunderschöne Frau werden! Annabel ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.

„Du kannst toll Kakao kochen. Machst du das für deine Kinder auch“, fragte Miriam und Annabel schaute sie versonnen an.

„Ich habe keine Kinder“, antwortete sie und versuchte zu lächeln.

„Nein, warum nicht?“

„Nun“, sagte sie und atmete tief ein und aus, „es sollte eben nicht sein.“

„Wenn du nebenan einziehst, kochst du mir dann Kakao?“

„Ich weiß nicht, ob ich das Häuschen nehme.“

„Du musst unbedingt dort einziehen!“

„Ich werde auf jeden Fall darüber nachdenken. Besonders weil ich eine so tolle Nachbarin bekommen würde.“

Annabel strich Miriam über den Kopf. Miriam strahlte sie an.

„Es tut richtig gut, mit dir zu reden“, sagte Miriam, „ich fühle mich so super, wie lange nicht.“

„Das freut mich. Ich fühle mich auch sehr gut.“

Miriam schlürfte ihren Kakao und beide schwiegen einen Moment.

„Manchmal vermisse ich sie sosehr, dass es wehtut, weißt du“, sagte Miriam leise und stellte ihre leere Tasse ab.

Annabel biss sich auf die Lippen, um nicht loszuheulen. Sie kannte den Schmerz, einen geliebten Menschen zu verlieren. Wie groß musste er bei einem Kind sein, das seine Mutter verloren hat!

„Du bist ein sehr tapferes Mädchen.“

Miriam nickte und schaute Annabel mit großen Augen an.

„Wenn Papa nur nicht mehr traurig wäre“, sagte sie, „früher war er immer lustig und hatte nie schlechte Laune.“

„Was arbeitet dein Vater?“

„Du kennst ihn vielleicht. Er ist Radiomoderator bei FMN.“

„Etwa René Michel?“

„Ja, aber er arbeitet nicht mehr.“

„Das habe ich schon bemerkt. Er ist wirklich ein cooler Typ.“

„Wollen wir weiterbauen“, fragte Miriam, „es fehlt nur noch der Motor.“

Annabel schaute auf ihre Uhr.

„Oder musst du weg?“

„Naja, eigentlich bin ich heute Nachmittag verabredet, aber den Motor müssen wir noch einbauen, oder?“

„Ja, das machen wir!“

Miriam rannte vor und Annabel ging langsam hinter ihr her. Zusammen beugten sie sich über das Boot. Als sie gerade die Batterie an den Motor anschlossen, hörten beide die Haustür ins Schloss fallen und sogleich drang Oskars Stimme durch den Flur.

„Miriam“, rief Oskar und da stand er auch schon in ihrem Zimmer. Annabel hatte schnell ihre Strickjacke über das Boot geworfen und jetzt stellten sich Miriam und sie vor den Tisch und starrten Oskar an. „Wer sind sie denn“, fragte der verdutzt und blickte zu Annabel.

„Das ist Annabel, meine neue Freundin“, sagte Miriam.

Jetzt kam Miriams Vater ins Zimmer und schaute noch ungläubiger als Oskar.

„Guten Tag“, sagte er.

„Hallo. Entschuldigen sie, aber ich habe nur kurz ihrer Tochter geholfen.“

„Geholfen? Du bist eine Zauberin“, insistierte Miriam.

Annabel strich ihr über den Kopf. Dabei schaute sie etwas verlegen zu René.

„Geholfen? Wobei denn?“

„Das ist ein Geheimnis“, sagte Annabel.

„Ein Geheimnis, aha.“

„Ich will es wissen“, rief Oskar.

René nahm seinen Sohn auf den Arm und schaute Annabel unentwegt an.

„Ich will nicht weiter stören“, begann Annabel, „wir sind auch soweit fertig. Die paar Kleinigkeiten kannst du allein.“

„Moment“, sagte René, „Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig. Wollen sie etwas trinken?"

„Annabel hat mir schon einen leckeren Kakao gekocht“, mischte sich Miriam ein.

„Kakao, Kakao! Ich will auch einen Kakao“, rief Oskar und sprang vom Arm seines Vaters.

René schaute Annabel fragend an.

„Ich mache dir einen Kakao“, sagte Annabel.

„Dann nehme ich auch einen“, warf René ein.

„Ich auch“, rief Miriam.

Sie gingen in die Küche und Annabel kochte für alle Kakao. René schaute ihr ungläubig dabei zu, wie sie am Herd stand und die Milch in die Tassen goss. „Mhm, der schmeckt aber lecker“, rief Oskar laut durch die Küche, „den musst du Weihnachten auch kochen und mit zum See kommen!“

„Zum See“, fragte René.

„Damit ich mein Boot fahren lassen kann.“

René schaute zu Miriam, die zusammen mit Annabel verschwörerisch lächelte.

„Ich muss zugeben, ich bin gespannt auf dein Boot“, sagte Annabel und stieß Miriam mit dem Arm an. „Ja“, warf Miriam ein, „ich auch, sehr sogar.“ „Welches Boot“, fragte René.

„Keine Ahnung“, sagten Miriam und Annabel gleichzeitig.

„Na, mein Weihnachtsgeschenk“, rief Oskar.

Alle vier tranken einen Schluck Kakao und schauten sich an. Auf einmal brachen sie in ein großes Gelächter aus, denn jeder hatte einen Kakaobart auf der Oberlippe. Am lautesten lachte René. Miriam schaute ihn ungläubig an und wusste nicht, ob sie weiter lachen oder vor Freude weinen sollte - ihr Papa lachte wieder! Ihr Papa lachte! Das ist ihr schönstes Weihnachtsgeschenk!

Der Name

Was für ein seltsames Jahr, resümierte Maximilian. Er stand in seiner Metzgerei. Der Heilige Abend brach gerade an und er putzte. Die Brät-Reste der letzten Charge Würste verfingen sich in seinem gelben Lappen; Fettstreifen bildeten sich und ein Muster entstand aus runden Linien und spitzen Winkeln auf der Edelstahlfläche des Zerlegetisches. Putzen war Brigittes Aufgabe, aber die hatte Maximilian nach Hause geschickt. Auf ihn warteten keine drei Kinder und eine festlich geschmückte Tafel. Trotzdem, er freute sich auf die freien Tage.

Das Weihnachtsgeschäft war sehr gut gelaufen, die letzten Würste ausgeliefert, die Gänse und Enten, selbst die Sonderwünsche hatte er abgearbeitet: neben Straußensteaks organisierte er Wasserbüffel von einem Züchter in der Uckermark. Ein sehr exotischer Wunsch war dabei gewesen: ein junger Mann, der unter seinem Wintermantel einen Schlafanzug trug, fragte nach Känguru-Gulasch! Doch Maximilian verarbeitet nur Fleisch, das er frisch, nicht gefroren geliefert bekommt - ein Metzger mit Prinzipien! Dabei wollte er kein Metzger werden, es war ihm nicht in die Wiege gelegt, was nicht nur sein Nachname beweist, sondern auch seine schwächliche

Konstitution. Er kann so viel Fleisch essen wie er will, ein Muskelprotz wird er nie, zu drahtig ist sein ganzer Körper; manchmal wird er gefragt, ob er Marathon laufe. Erschwerend zu seinem Nachnamen kommt hinzu: Fleisch und vor allem Wurst schmeckten ihm nicht. Definitiv nicht die perfekte Basis für seinen Job, dennoch läuft sein Laden seit fast zwanzig Jahren sehr gut.

Wäre da nicht sein blöder Name, durch den er sich gehemmt fühlt. Hieße er anders, könnte er expandieren, eine Filiale in Berlin eröffnen oder sogar in München. Aber mit diesem Namen! Er hat ihn versteckt im Schriftzug über seinem Laden, auch wenn er dafür die ortsübliche Bezeichnung Metzger aufgeben musste und sich gezwungenermaßen für Fleischerei entschieden hatte: Fleischerei Krautwurst. Krautwurst! Das störende Kraut war von Fleisch und Wurst eingerahmt und stach somit nicht gleich ins Auge. Dennoch ein Metzger der Krautwurst heißt, etwas schlimmeres kann es nicht geben.

Maximilian wusch den gelben Lappen aus und desinfizierte sich die Hände. Die schwere weiße Schürze hing er an den Haken neben seine neue Stechschutzschürze aus Aluminium. Dann löschte er das Licht und stellte sich vor wie er es erst in zwei Tagen anschalten werde, um die Bestellungen für Silvester und Neujahr abzuarbeiten. Seit einigen Jahren ist das Grillen am Jahresende Mode geworden, wofür er einige Kisten Bratwürste produzieren muss. Langsam ging er zum Kühlraum, um die Tür und die Temperatur zu kontrollieren. Alles war in Ordnung und Maximilian stieg die kleine schmale Treppe ins Obergeschoss hinauf in seine Wohnung.

Es gab zwar eine Wohnungstür, die über einen kleinen Hausflur vom Hinterhof zu erreichen war, aber die benutzte Maximilian selten, noch seltener öffnete er sie für Gäste. Ab und zu kam Florian vorbei, der seinem Namen treu bei der Feuerwehr arbeitete. Sie schauten Fußball zusammen oder saßen in der Kneipe am Ende der Straße und spielten mit Gottfried Skat.

Maximilian führte ein sehr geruhsames Leben, das wohl eher zu einem Mann um die sechzig passen würde, als zu ihm mit seinen vierzig Jahren. Florian war zehn Jahre älter und Gottfried bereits Rentner, zu mehr sozialen Kontakten hatte es Maximilian nicht gebracht, geschweige denn zu einem Netzwerk, wozu ihn neuerdings die Handwerkskammer in ihren Newslettern aufrief: „bilden sie Netzwerke“ hieß es dort und er könne Networking-Seminare buchen via Zoom oder auch hybrid. Was das alles bedeutete, wusste er nicht, Florian wollte er nicht fragen.

Und sein Beziehungsstatus? Seit fünf Jahren lief er als Single durchs Leben. Obwohl durchaus die eine oder andere Frau in sein Leben getreten war. Maximilian fühlte sich nicht einsam, er vermisste nichts. So auch an diesem Heiligen Abend nicht, als er nach einem anstrengenden Tag eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank nahm und sich in seinen Sessel vor dem Fernseher fallen ließ.

Er schaltete den Flimmerkasten nicht ein, zu sehr hatte sich sein Traum in seinem Geist verfangen, dem er nun selig grinsend nachhing. Maximilian träumte davon, nicht nur eine Filiale in Berlin oder München zu eröffnen, er wollte einen Fleisch-und-Wurst-Konzern erschaffen. Nur edle Produkte sollten im Sortiment sein, vielleicht sogar Känguru. Alles, was die Kunden wollen!

Maximilian phantasierte sich in ein schickes Büro: vor seinem Schreibtisch stand ein großer Beratungstisch, an dem seine Filialleiter regelmäßig Platz nahmen und er seine Anweisungen gab. Vielleicht werde ich mir das Zigarre-Rauchen angewöhnen, überlegte Maximilian. Auf jeden Fall fahre ich einen Porsche, nein, ich fahre einen großen Geländewagen! Er überlegte, was besser zu ihm passte, Sportwagen oder Geländewagen? Derzeit fuhr er einen weißen VW-Transporter inklusive Kühlung im Laderaum!

Als er den letzten Schluck Bier trank, zerplatzte sein Traum an den spitzen Kanten seines Namens. Wie sollte er ein Fleisch-Delikatessen-Imperium aufbauen, wenn er Krautwurst hieß! Das war unmöglich. Maximilian holte sich ein zweites Bier aus dem Kühlschrank und musste an ein Gespräch mit Florian denken, nachdem er ihm seinen Traum erzählt hatte.

„Das hat keine Zukunft“, hatte Florian gesagt. Sie saßen in der Kneipe und warteten auf Gottfried. „Warum nicht“, fragte Maximilian empört, „weil ich Krautwurst heiße?“

„Nein“, erwiderte Florian und klopfte seinem Freund auf die Schulter, „weil Fleisch bald das neue Rauchen ist.“

„Wie meinst du das?“

„Schau dich doch um, überall vegan oder vegetarisch, weiß Gott, was da der Unterschied ist.“ „Vegan?“

„Ja, also mit ohne Fleisch.“

„Ich weiß, ich lebe nicht hinterm Mond.“

„Also, wenn weniger Leute Fleisch essen, wie willst du ein Imperium aufbauen? Dafür bist du zu spät geboren.“

Maximilian hatte auf seinen Bierdeckel gestarrt und an seine vollen Auftragsbücher gedacht und die vielen Stammkunden. Ein Leben ohne Fleisch konnte er sich nicht vorstellen, auch wenn er selbst nicht viel davon aß. Gerade hatte er Florian fragen wollen, ob er Fleisch esse, da er seit geraumer Zeit nicht mehr in seinem Laden gewesen war, als Gottfried auf den Tisch klopfte und schwungvoll seine Cordjacke auszog.

An dieses kurze Gespräch musste Maximilian denken. Es war Heiliger Abend. Er glaubte nicht an eine Welt ohne Fleisch. Dennoch zerhackte sein Name alles, von dem er träumte. Da konnte er geniale Würste und Pasteten erschaffen, unter dem Namen Krautwurst werden sich diese Delikatessen niemals durchsetzen. Da morgen ein freier Tag war, beschloss Maximilian, ein drittes Bier zu trinken.

Drei Bier waren seine absolute Grenze, zusammen mit Florian und Gottfried begnügte er sich grundsätzlich mit zwei, zum einen weil Gottfried mindestens einmal gewann und deshalb einen Kurzen ausgab, und zum anderen zu viel Alkohol seine Zunge löste. Maximilian linste auf das Flaschenetikett. Er war allein. Wie seit Jahren am Heiligen Abend. Dennoch fühlte er sich nicht nur wohl, sondern selig. Der kleine Bierrausch befreite eine in ihm schlummernde Sehnsucht: