Abenteuer Freiheit - Carlo Strenger - E-Book

Abenteuer Freiheit E-Book

Carlo Strenger

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Beschreibung

Nachdem Carlo Strenger in »Zivilisierte Verachtung« gezeigt hat, weshalb es westlichen Gesellschaften heute oft schwerfällt, ihre Werte selbstbewusst zu verteidigen, wendet er sich in seinem neuen Buch der individuellen Seite dieser Verunsicherung zu: Warum leiden so viele Menschen unter Depressionen und einer erdrückenden Angst vor dem Scheitern? Warum boomen Heilslehren, die uns den Weg zum wahren Selbst weisen wollen?

All das hat laut Strenger, damit zu tun, dass es sich bei der Idee, es gäbe so etwas wie ein Grundrecht auf müheloses Glück, um einen Mythos handelt. Ausgehend von Denkern wie Spinoza, Nietzsche und Freud legt er dar, dass lange die Überzeugung vorherrschte, Konflikte und Scheitern gehörten zur menschlichen Natur. Daher, so schließt er aus den Biografien von Künstlern wie James Joyce, Pablo Picasso und Francis Ford Coppola, müssen wir wieder lernen, dass Freiheit ein lebenslanges Abenteuer ist: riskant, aber zugleich viel interessanter, als und die Massenkultur heute weismachen will.

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Nachdem Carlo Strenger in Zivilisierte Verachtung gezeigt hat, weshalb es westlichen Gesellschaften heute oft schwerfällt, ihre Werte selbstbewusst zu verteidigen, wendet er sich in seinem neuen Buch der subjektiven Seite dieser Verunsicherung zu: Warum leiden so viele Menschen unter Depressionen und einer erdrückenden Angst vor dem Scheitern? Warum boomen Heilslehren, die uns den Weg zum wahren Selbst weisen wollen?

All das hat laut Strenger damit zu tun, dass es sich bei der Idee, es gäbe so etwas wie ein Grundrecht auf müheloses Glück, um einen Mythos handelt. Ausgehend von Denkern wie Freud, legt er dar, dass früher die Überzeugung vorherrschte, Konflikte und Scheitern gehörten zur menschlichen Natur. Daher, so schließt er aus den Werken von Künstlern wie Egon Schiele oder Paul Thomas Anderson, müssen wir wieder lernen, dass Freiheit ein lebenslanges Abenteuer ist: riskant, aber zugleich viel interessanter, als uns die Massenkultur weismachen will.

Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt regelmäßig für Israels führende liberale Zeitung Haaretz. In der edition suhrkamp erschien zuletzt sein Essay Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit.

Carlo Strenger

Abenteuer Freiheit

Ein Wegweiser für unsichere Zeiten

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage 2017.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlagabbildung: Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk (1830), Öl auf Leinwand, Musée du Louvre, Paris

Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74522-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort Ist die westliche Kultur noch zu retten?

Teil I Die Illusion der Glücksberechtigung

Freiheit und Dschihad

Vom Ekel am Westen

Freiheit als Konsumgut

Glücksberechtigung und das wahre Selbst

Teil II Modernistische Tragiker: Freiheit als Disziplin

Moderne Tragiker von Baudelaire bis Lucian Freud

Superwomen und Normopathie

Innere Freiheit: Sigmund Freud und die kognitive Neurowissenschaft

Der Existenzialismus und die Flucht vor der Freiheit

Nicht nur Shakespeare: Größe, Tragik und Scheitern im Film

Freiheit als Disziplin

Anmerkungen und Nachweise

Vorwort Ist die westliche Kultur noch zu retten?

Ein Abend in einem der zahllosen Multiplex-Kinos, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Boden geschossen sind, kann einen leicht auf den Gedanken bringen, der Westen sei hoffnungslos verloren – und der Rettung vielleicht gar nicht wert. Überlebensgroße Plastikfiguren von Filmstars, Fantasy-Helden wie Batman oder Shrek und Fastfood-Stände säumen die endlosen Korridore. Der Duft von Popcorn verleitet Hunderte dazu, riesige Packungen zu kaufen, bevor sie in den Kinosaal strömen, wo erst einmal zwanzig Minuten lang nur Werbung und Trailer laufen. Und nach dem Film fragt man sich dann meist, warum Dutzende Millionen für Effekte verpulvert wurden, die eigentlich nur verbergen, dass das Drehbuch der reine Humbug ist, trivial und voller logischer Fehler. In solchen Momenten liegt der Schluss nahe, die westliche Konsumgesellschaft sei dem Untergang geweiht. Kein Mensch, dem etwas an Kultur liege, könne ernsthaft ihr Ende – ob nun durch eine ökologische Katastrophe oder eine Serie von Terroranschlägen – betrauern. Ähnliche Gedanken mögen einem in den Shopping Malls, den Kathedralen des Konsums, durch den Kopf schießen oder wenn Apple mal wieder ein neues iPhone auf den Markt bringt und Tausende Jünger die ganze Nacht in der Kälte ausharren, als erwarteten sie die Wiederkunft Christi. Und tatsächlich mangelt es nicht an Schriftstellern und Intellektuellen wie Michel Houellebecq, David Foster Wallace oder John Gray, die den Untergang des Westens nicht nur voraussagen, sondern beinahe herbeisehnen.

In diesem Essay möchte ich eine Diagnose für diese Malaise des Westens anbieten. Die größte Leistung der westlichen Moderne besteht darin, es den Individuen ermöglicht zu haben, ihr Leben frei nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten, und ihnen ein breites Spektrum von Lebensformen und -stilen zur Verfügung zu stellen.

Diese Verwöhn- und Konsummentalität ist das Resultat einer höchst unwahrscheinlichen historischen Periode. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs genoss der Westen Jahrzehnte des wirtschaftlichen Wachstums und des technologischen Fortschritts, wie es sie in der menschlichen Geschichte nie zuvor gegeben hatte. In dieser Zeit sind drei Generationen herangewachsen, deren Angehörige die freiheitliche Ordnung als gegeben voraussetzen. Glück halten sie für etwas, auf das jeder Einzelne ein Anrecht hat, und wem es verwehrt wird, der wendet sich mit der Forderung nach einem besseren Leben an die Eltern oder »die Gesellschaft«. Und wenn schon kein neues Leben zu haben ist, so erwartet man zumindest, dass die Pharmakologie und die Medizin das Unglück, das von diesen Mängeln verursacht wird, heilen oder doch wenigstens mildern.

Eine der Grundthesen dieses Essays ist, dass diese Konsummentalität und der Mangel an bürgerlicher Verantwortung auf einen Mythos zurückzuführen sind, der von Jean-Jacques Rousseau am prägnantesten formuliert wurde: Die Menschen seien frei geboren und doch überall in Ketten. Gemäß dieser romantischen Freiheitskonzeption1 hat jeder Mensch ein unverdorbenes, wahres Selbst, dem nur Raum geschaffen werden müsse, um sein volles Potenzial auszuschöpfen. Rousseau ging davon aus, dass Menschen zu verantwortlichen, moralischen und freien Subjekten würden, wenn sie nur nicht von der Gesellschaft verdorben würden. Dieser Mythos des wahren Selbst, das angeblich in uns allen schlummert, hat die westliche Welt vor allem seit den 1960er Jahren entscheidend geprägt (einige Neuformulierungen dieses Mythos in der modernen Populärpsychologie werde ich unten ausführlicher behandeln).

Dem rousseauschen Mythos steht eine Position gegenüber, die seit der klassischen griechischen Philosophie in verschiedenen Varianten vertreten wurde: Freiheit als eine Errungenschaft, für die Menschen lebenslang hart arbeiten müssten.2 Die Disziplin, die eigene Natur zu verstehen, einzusehen, welche unserer Begierden notwendig sind und welche uns nur unfrei machen, müsse täglich trainiert werden und sei deshalb nur den wenigen zugänglich, die die Muße für diese Arbeit haben – und die dazu den Willen aufbringen. Diese Position wurde in der Renaissance von Montaigne in seinen berühmten Essais wiederaufgenommen und von Spinoza zu einem philosophischen System entwickelt. Sigmund Freud war der Denker, der diese klassische Freiheitskonzeption3 in der Sprache der modernen Naturwissenschaften neu formulierte und das geistige Training in der Psychoanalyse zu einer therapeutischen Praxis entwickelte. Wie ich im zweiten Teil dieses Essays zeigen werde, sind Freuds spezifische Thesen zwar von den modernen kognitiven Neurowissenschaften verworfen worden – nicht aber seine Grundposition, Freiheit und Glück seien keine Geburtsrechte. Wirkliche Freiheit sei bestenfalls eine Errungenschaft, die nur durch harte Arbeit erworben werden könne, eine These die auch ich hier vertreten werde. Gemäß dieser Auffassung sind persönliche und politische Freiheit überaus komplexe kulturelle Schöpfungen, die an die Mitglieder freier Gesellschaften hohe Ansprüche stellen. Die Dynamik des Erwachsenwerdens besteht darin, dass wir für uns selbst immer mehr Verantwortung übernehmen müssen und dass uns immer seltener, wenn überhaupt, vorgeschrieben wird, was wir zu tun haben, so dass unsere Freiheit zunimmt. Wir wählen unsere Verpflichtungen und den Grad, in dem wir ihnen nachkommen wollen, ob nun im persönlichen, gesellschaftlichen, beruflichen oder öffentlichen Bereich.

Dies ist auch für die klassische Position eine der wichtigsten Errungenschaften der freiheitlichen Grundordnung. Isaiah Berlin, der vielleicht bedeutendste liberale Denker des 20. Jahrhunderts, bezeichnete sie in seiner berühmten Vorlesung »Zwei Freiheitsbegriffe« als »negative Freiheit«: die Freiheit, vom Staat und von der Gesellschaft in dem, was wir tun wollen, nicht eingeschränkt zu werden.4 Er betonte, eine Gesellschaft sei nur dann liberal, wenn die negative Freiheit nicht stärker eingeschränkt wird, als notwendig ist, damit andere nicht zu Schaden kommen und damit die Gesellschaft auch weiterhin funktioniert. Die klassische Position geht jedoch davon aus, dass negative Freiheit allein nicht genügt; um wirklich frei zu sein, benötigten die Menschen auch das, was Berlin »positive Freiheit« nennt. Wo negative Freiheit als Freiheit von äußeren Zwängen definiert ist, besteht die positive darin, dass wir wirklich autonom sind. Wahre Selbstbestimmung erfordert Vernunft, Wissen und Disziplin: Mit negativer Freiheit ist durchaus vereinbar, dass wir zu Sklaven unserer Leidenschaften, Begierden oder auch äußerer Manipulation werden. Der Begriff der positiven Freiheit hingegen gibt einer starken menschlichen Intuition Ausdruck: Wahrhaft frei sind wir nur dann, wenn wir die negative Freiheit mit Inhalten füllen, für die wir uns bewusst entschieden haben. Deswegen betrachten wir es auch als unsere Pflicht, Kinder zu erziehen und sie daran zu hindern, Dinge zu tun, die ihnen schaden könnten. Und deswegen sind wir der Ansicht, dass Personen erst ab einem Alter mündig sind, in dem wirkliche Autonomie vorausgesetzt werden kann.

Isaiah Berlin betonte die große Gefahr des Missbrauchs des positiven Freiheitsbegriffs durch totalitäre Regimes. Die Geschichte des Kommunismus beispielsweise hat gezeigt, dass ein Regime behaupten kann, ganze Bevölkerungsschichten wie die Bourgeoisie seien nicht wirklich frei, da sie im »falschen Bewusstsein« lebten. Entsprechend müssten sie von der allwissenden Partei »neu erzogen« werden. Isaiah Berlins Mahnung, den positiven Freiheitsbegriff nicht zu missbrauchen, ist zweifellos nach wie vor relevant. Und doch zeigen die Zerfallsphänomene der freien Welt (die flache Konsummentalität oder der Umstand, dass viele Bürger darauf verzichten, sich politisch zu informieren), dass der Begriff der positiven Freiheit gerade heute eine wichtige politische Funktion hat. Wie wir sehen werden, sind sich viele Kulturkritiker darin einig, dass ein großer Teil der Bürger der freien Welt ihre Freiheit nicht ernst nimmt und nicht bereit ist, für die eigenen Ansichten und die politische Ordnung einzustehen.

Die Vertreter der klassischen Freiheitskonzeption haben immer wieder dargelegt, dass Rousseaus Vorstellung vom wahren Selbst nicht nur in der Annahme fehlgeht, Freiheit sei angeboren, sondern auch in der Vorstellung, das wahre Selbst sei grundsätzlich harmonisch: Wenn niemand sie in ihren Möglichkeiten beschränke, würden die Menschen wie von selbst zu den richtigen Ansichten, einer erfüllenden Lebensweise und einem dauerhaft konfliktfreien Dasein gelangen. Das ist wohl eine der tiefsten Illusionen unserer von Rousseau geprägten Kultur, und ich werde in diesem Essay die entgegengesetzte Position vertreten. Wie die großen existenzialistischen Denker der Vergangenheit bin ich der Ansicht, dass die menschliche Existenz grundsätzlich tragisch ist. Wir sind das unmögliche Tier, ein leibliches, verletzliches Wesen, das altert und irgendwann stirbt. Im Gegensatz zu allen anderen Tieren sind wir zum Bewusstsein unserer Freiheit und Endlichkeit verdammt, können mit diesem Bewusstsein aber nicht wirklich leben. Außerdem – hier kommt Freuds Einsicht ins Spiel – ist die menschliche Natur grundlegend von unlösbaren Konflikten geprägt. Dementsprechend ist Freiheit auch in liberalen Gesellschaften kein selbstverständliches Geschenk, sondern sie setzt permanente geistige und existenzielle Arbeit voraus.

Die Moderne hat zwei Gesichter: Einerseits hat sich unsere konkrete Verletzlichkeit enorm reduziert. Dank neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fortschritte ernähren wir uns gesünder, wir leben und bewegen uns in einer Umwelt, die mehr und mehr unseren physischen Bedürfnissen entspricht. Andererseits sind die metaphysischen Trostsysteme, mit denen unsere Vorfahren die existenzielle Unsicherheit und das Leid erträglich zu machen versuchten – allen voran die Religionen –, als Produkte des menschlichen Geistes und der menschlichen Vorstellungskraft entlarvt worden. Wir mögen die Schönheit der Gotteshäuser bewundern, aber ein großer Teil der Bewohner des Westens weiß – wenn auch manchmal nur am Rande des Bewusstseinsfelds –, dass der Glaube, in dessen Namen sie errichtet wurden, letztlich eine Fiktion ist. Hobbes, Kant, Nietzsche, Sartre, Foucault und viele andere haben uns schonungslos vor Augen geführt, welchen Platz wir in der Welt einnehmen und dass wir am Ende auf uns selbst gestellt sind. Wer heute noch von der absoluten Wahrheit eines dieser Trostsysteme überzeugt ist, muss schon eine gehörige Portion Selbstbetrug aufbringen.

Wie wir mit unserer neuen Freiheit umgehen, bleibt uns überlassen. Wir können den Verlust metaphysischer Gewissheiten betrauern und uns in Zeiten zurücksehnen, in denen alles noch seinen Ort hatte in einem von Gott speziell für den Menschen geschaffenen Kosmos. Wir können die Freiheit aber auch als Abenteuer erleben und die kulturellen Entwicklungen, die uns ein Bewusstsein von dieser Freiheit ermöglicht haben, sowie die zivilisatorischen Errungenschaften, die es uns erlauben, diese Freiheit in der Praxis zu leben, besser kennenlernen und zelebrieren. Doch leider ist dies alles andere als üblich. Lieber beklagen wir uns darüber, dass Freiheit schwierig ist. Mit großem Aufwand versuchen wir, die fundamentale Tragik der menschlichen Existenz zu verdrängen oder zu verleugnen. Wir investieren ungeheure Summen in die Forschung, weil wir hoffen, dass die nächste Erfindung diese Tragik endgültig zum Verschwinden bringen wird. Die Verleugnung dieser Tragik, so meine These, schwächt unsere westliche Kultur ungemein.

Dieser Essay ist ein Plädoyer dafür, der existenziellen Tragik unseres Daseins ins Auge zu sehen, das zwiespältige Geschenk der Freiheit anzunehmen und die westliche Kultur als etwas zu begreifen, das zu pflegen wir verpflichtet sind. Das sind keinesfalls neue Thesen: In den letzten Jahrhunderten haben zahlreiche Denkerinnen und Denker diese Ideen formuliert. Es scheint jedoch, als müsse sich jede Generation selbst vergegenwärtigen, was es heißt, frei zu sein, und wie schwierig Freiheit ist. In einer Kultur, die Glück und Freiheit als Grundrechte betrachtet, ist ein solcher Gedanke natürlich nicht populär; auch das humanistische Bildungsideal, das im Englischen mit dem treffenderen Titel »liberal education« bezeichnet wird, gerät zunehmend aus der Mode: Der Mythos, wir seien frei geboren, führt dazu, dass immer mehr Bewohner der westlichen Welt nicht begreifen, dass wir uns mit dem langen Prozess, der die freiheitliche Ordnung möglich gemacht hat, auseinandersetzen müssen, wenn wir die Freiheit wirklich schätzen und bewahren wollen.

Teil I: Die Illusion der Glücksberechtigung

Freiheit und Dschihad

Es gibt Momente, in denen die Bürger der westlichen Welt realisieren, dass sie in einem politischen und gesellschaftlichen System leben, für dessen Erhalt man kämpfen muss. Momente, in denen die leidigen Fragen, wer wie viel zur Finanzierung der Europäischen Union beitragen soll, wie die Staatsschuldenkrise Griechenlands bewältigt werden kann oder wie wir unsere Rentenkassen stabilisieren sollen, für kurze Zeit ausgeblendet werden. Einer der wohl prägendsten Momente der jüngeren Geschichte war der 11. September 2001. Sogar die Franzosen, die für ihre kritische Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten bekannt sind, fühlten sich an jenem Tag als New Yorker. Ein weiterer war der 7. Januar 2015. Nachdem die Brüder Chérif und Saïd Kouachi in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo ein Blutbad angerichtet hatten, bekundeten Menschen unter dem Slogan »Je suis Charlie« überall auf der Welt ihre Solidarität mit den Opfern. Und als am 13. November 2015 neun islamistische Terroristen in Paris 130 Menschen ermordet hatten, erstrahlten noch am Abend desselben Tages die wichtigsten Symbole der westlichen Welt – vom One World Trade Center in New York bis zur Oper in Sydney – in den Farben der Trikolore.

Bei diesen Momenten handelte es sich jedoch um Ausnahmesituationen, auch wenn zu befürchten steht, dass sie sich in absehbarer Zukunft wiederholen werden. Im Alltag spielt die Frage, was den Westen ausmacht und warum es wichtig ist, ihn zu schützen, meist keine Rolle: Die Kinder müssen in der Kita abgeliefert, ein Termin mit dem Elektriker muss vereinbart, das Auto in die Werkstatt gebracht werden. Oder es gilt, konkrete Entscheidungen zu treffen: Gehe ich zum Sport oder besuche ich lieber meine Freunde? Soll ich meinen sicheren, aber langweiligen Job für eine spannende, aber womöglich prekäre Stelle bei einem Start-up-Unternehmen aufgeben? Für viele fühlt sich das tägliche Leben weniger wie ein von der Marianne angeführter Marsch zur Freiheit und mehr wie ein Optimierungsprojekt an. Da bleibt verständlicherweise nicht sehr viel Energie für Sendungsbewusstsein.

Dschihadisten sehen darin einen Grund für die Schwäche des Westens. Die Menschen in Europa und Nordamerika seien nur noch mit sich selbst und ihren privaten Sorgen beschäftigt. Den Glauben an eine große Sache hätten sie längst verloren. Sie seien nicht länger bereit, Opfer zu bringen. Ja, nicht einmal ihre lasziven Frauen könnten sie in die Schranken weisen, was zeige, dass der Westen keine richtigen Männer mehr habe. Und tatsächlich haben sie mit diesen Annahmen nicht ganz unrecht. Im Namen einer Religion zu morden oder unsere Kinder zu Gotteskriegern zu erziehen betrachten die meisten von uns nicht als göttliche Pflicht, sondern schlicht als barbarisch. Frauen auf ihre Rolle als Mutter zu reduzieren und sie aus dem öffentlichen Leben auszusperren gilt der überwiegenden Mehrzahl der Menschen im Westen nicht als Akt der Reinheit, sondern als archaisch und inhuman. Dies ist das Resultat einer langwierigen und teils schmerzhaften Umwälzung, die zur Entstehung der liberalen Ordnung geführt hat: In der freien Welt ist das Individuum nicht länger dem Kollektiv untergeordnet. Die einzige legitime Funktion von Kollektiven – ob Stadt oder Nation – besteht darin, dem Wohlergehen der Einzelnen zu dienen. Daher wäre es logisch absurd und moralisch verwerflich, wenn ein Kollektiv (einmal abgesehen von Extremsituationen wie Naturkatastrophen) von den Individuen fordern würde, sich in seinem Namen zu opfern. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen, des Lebens, der Welt – nach dem Großen Sinn, wie ich ihn in diesem Essay nenne –, ist im Westen zu einer Privatangelegenheit geworden. Öffentliche Akteure, insbesondere der Staat und die Kirchen, sollen sich raushalten, wo es um diese Dinge geht.