Diese verdammten liberalen Eliten - Carlo Strenger - E-Book

Diese verdammten liberalen Eliten E-Book

Carlo Strenger

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Beschreibung

In der Debatte über den Aufstieg nationalistischer und illiberaler Parteien ist ein altes Gespenst wieder aufgetaucht – das Gespenst der liberalen Kosmopoliten: gut ausgebildete, international vernetzte Wissenschaftlerinnen, Journalisten oder Politikerinnen, die sich gegenseitig ihrer moralischen Überlegenheit versichern. Die Kluft zwischen Kosmopolitinnen und heimatverbundenen Kommunitaristen gilt als einer der zentralen Konflikte unserer Zeit.

Eine zutreffende Diagnose? Oder ist die Vorstellung von entwurzelten liberalen Eliten bloß ein Zerrbild? Der Psychoanalytiker und Publizist Carlo Strenger kennt diese Gruppe nur allzu gut: weil er selbst zu ihr gehört – und aus dem Alltag seiner therapeutischen Praxis. Anhand einschlägiger soziologischer Literatur verallgemeinert er seine Befunde. Ja, so die selbstkritische Einsicht, die liberalen Eliten sind oft zu arrogant. Und dennoch brauchen wir ihre Expertise. Strenger schließt mit einem doppelten Plädoyer: für mehr Bodenständigkeit unter den liberalen Kosmopolitinnen und eine liberal-kosmopolitische Grundausbildung für alle.

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3Carlo Strenger

Diese verdammten liberalen Eliten

Wer sie sind und warum wir sie brauchen

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Prolog.

Die Krise der liberalen Ordnung und die neuen Kosmopoliten

I

. Liberale Kosmopolitinnen: Wie sie ticken und wo sie stehen

1. Ein soziales und politisches Porträt

Die kreative Klasse

»Elsewheres«, »Somewheres« und »Anywheres«

Die neue Mittelklasse

Prekäre soziale Verortung

2. Liberale Kosmopoliten auf der Couch

II

. Fünf liberale Kosmopolitinnen in der Blüte ihres Lebens: Keine Verschnaufpause

1. Jeff: Das Hochstapler-Syndrom im globalen Maßstab

Ein Weg zur Selbstakzeptanz

Intelligenz und Schicksal

2. Naomi: Rebellion, Universalismus und Schuld

Untreue und Schuld

Zwischen Familie, Stamm und Menschheit

3. Dan: Erfolg ist nicht genug

Dans therapeutische Reise

Angst vor der Bedeutungslosigkeit

4. Mark: Mit Familientraditionen brechen

Eine therapeutische Achterbahnfahrt

Exkommunikation und der liberale Impuls

5. Ella: Der Versuch, die Vergangenheit in Ordnung zu bringen

Der Schatten des Holocaust auf der Psyche eines Mädchens

Die Identitäten und Werte der neuen Kosmopoliten

III

. Die neuen Kosmopoliten und die Politik: Errungenschaften und Versäumnisse

1. Die Ursprünge der neuen Kosmopolitinnen – und ihrer Fehleinschätzungen

Die neuen Kosmopolitinnen als Erben der Aufklärung

Was den liberalen Kosmopoliten vorgeworfen wird

Wo die neuen Kosmopolitinnen ihre eigenen Rezepte nicht befolgen

2. Liberale Kosmopolitinnen als Verteidiger der offenen Gesellschaft

Die offene Gesellschaft in der Praxis

3. Warum wir eine umfassende Erziehung zur Freiheit brauchen

Welche Eliten unverzichtbar sind

Warum sich eine moderne freiheitliche Bildung nicht auf geisteswissenschaftliche Fächer beschränken kann

Ist umfassende Bildung ein Privileg der Eliten?

Epilog.

Wir müssen uns die Hände schmutzig machen

Literatur

Fußnoten

Informationen zum Buch

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Hinweise zum eBook

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7Prolog

Die Krise der liberalen Ordnung und die neuen Kosmopoliten

Während des Großteils des 20. Jahrhunderts gab es ziemlich eindeutige Paradigmen, anhand derer man die internationalen Beziehungen und die nationale Politik interpretieren konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg beherrschte der Konflikt zwischen drei rivalisierenden Weltanschauungen – Liberalismus, Kommunismus und Faschismus – die Weltpolitik. Nach der Niederlage Deutschlands und Japans blieben während des Kalten Kriegs nur noch zwei Konkurrenten übrig: Liberalismus und Kommunismus. Als die Berliner Mauer gefallen und die Sowjetunion implodiert war, schien der Triumph des Liberalismus festzustehen – in einer berühmten Formulierung sprach Francis Fukuyama vom »Ende der Geschichte« (Fukuyama 1989, 1992). Der sprunghafte Anstieg der Anzahl der Demokratien von acht zu Beginn des Jahrhunderts auf zwei Drittel aller anerkannten Staaten an seinem Ende untermauerte diese These eindrücklich (Fukuyama 1992, Teil I). Nach dem 11. September 2001 rückte dann der Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Rahmen des »Krieges gegen den Terror« erfolgten die Invasionen in Afghanistan und im Irak. Für etwa ein Jahrzehnt war es der von Samuel Huntington identifizierte »Kampf der Kulturen«, der es uns erlaubte, uns einen Reim auf die Welt zu machen (Huntington 1996).

In den letzten Jahren hat sich der Fokus erneut verschoben: Nun ist es der nationalistische Populismus, der die liberale Ordnung – und zwar von innen – bedroht.

Die Türkei ist nur noch dem Namen nach eine Demokratie und entwickelt sich zügig zu einer religiös verbrämten Auto8kratie. Putins Russland scheint nicht einmal mehr die Fassade einer liberalen Demokratie aufrechterhalten zu wollen. Innerhalb der Europäischen Union zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab. Ostmitteleuropäische Staaten wie Ungarn, Polen, die Slowakei und die Tschechische Republik bekennen sich stolz zu einem System, das Viktor Orbán als »illiberale Demokratie« bezeichnet hat. In Österreich und Italien sind rechtsradikale Parteien an der Regierung beteiligt. Deutschland, Frankreich und die Niederlande erleben einen dramatischen Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD), Marine Le Pens Rassemblement National, Geert Wilders' Partei für die Freiheit und Thierry Baudets Forum für Demokratie. Die United Kingdom Independence Party (Ukip) mobilisierte erfolgreich für den Ausstieg Großbritanniens aus der EU. Und vielleicht am bedrohlichsten: In den Vereinigten Staaten, die sich ein Jahrhundert lang als Führungsmacht der »freien Welt« verstanden, wurde ein unberechenbarer Demagoge ins Präsidentenamt gewählt, der aus seiner Verachtung für Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sowie die liberale Weltordnung keinen Hehl macht, im Gegenteil: Er protzt damit. Trump regiert via Twitter und hat das Weiße Haus in einen Zustand des totalen Chaos versetzt.

Wenn es überhaupt ein Paradigma gibt, mit dessen Hilfe man etwas Ordnung in dieses Durcheinander bringen kann, so ist es das eines Konflikts zwischen Liberalismus und Autoritarismus und, damit zusammenhängend, zwischen Universalismus und Nationalismus. Liberale sind der Ansicht, dass staatliche Herrschaft auf einem Vertrag gründet und dass Staatsbürgerschaft allein durch formale Kriterien bestimmt ist; Nationalisten wiederum wollen Staat und Zugehörigkeit auf eine gemeinsame (reale oder imaginierte) ethnische Herkunft zurückführen. Liberale glauben an eine internationale Ordnung, die auf multilateralen Verträgen und dem Völkerrecht basiert, das, insbesondere im Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen, Vor9rang hat gegenüber der nationalen Souveränität; Nationalisten wiederum halten dieses Verständnis des Völkerrechts für anmaßend und für eine Verletzung der Souveränität und des nationalen Selbstbestimmungsrechts. Liberale sehen in der EU das großartigste politische Experiment der letzten sieben Jahrzehnte; Nationalisten betrachten sie als expansives Projekt seelenloser Brüsseler Technokraten. Liberale sind überzeugt, dass Menschheitsherausforderungen wie Klimawandel und Migration nur durch globale Kooperation bewältigt werden können; Nationalisten halten all dies für Hirngespinste, die Liberale sich ausgedacht haben, um allen anderen ihre Ansichten aufzuzwingen.

Seit der illiberale Backlash Fahrt aufgenommen hat, haben Wissenschaftlerinnen und Kommentatoren sich in der Regel auf jene Gruppen konzentriert, die populistischen Demagogen ihre Stimmen geben. Die meisten Erklärungen stellen auf die Globalisierung ab, die ähnlich wie die industrielle Revolution zu dramatischen Veränderungen geführt hat – allerdings im Schnellvorlauf. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Weltwirtschaft vollkommen verändert: Multinationale Konzerne verlagern die Produktion in Niedriglohnländer; in den alten westlichen Industrieländern verschwinden jene Jobs im verarbeitenden Gewerbe, die den Angehörigen der Arbeiterklasse einst ökonomische Sicherheit garantierten und das stolze Gefühl vermittelten, einen wertvollen Beitrag zum nationalen Wohlstand zu leisten. Viele von ihnen sind nun prekär in der Dienstleistungsbranche beschäftigt, während die oberen Klassen, denen sie zu Diensten sind, historisch beispiellose Vermögen angehäuft haben. Diese Tätigkeiten bieten ihnen (und ihren Kindern) keine sicheren Zukunftsaussichten mehr, von so etwas wie Produzentinnenstolz ganz zu schweigen.

Gleichzeitig haben viele Menschen den Eindruck, auch ihre kulturelle Identität sei bedroht: Angesichts zunehmender legaler wie illegaler Zuwanderung (in den USA meist aus Asien 10und Lateinamerika, in der EU aus Afrika sowie aus dem Nahen und Mittleren Osten) haben sie das Gefühl, am Ort ihrer Geburt nicht länger zu Hause zu sein; vielmehr sei ihr über die Jahrhunderte »organisch« gewachsener Lebensstil in Gefahr. Dies führt vermehrt zu Widerstand gegen Globalisierung sowie Migration und zu einer Betonung der ethnischen Wurzeln der Nation, oftmals mit implizit oder gar explizit rassistischen Beiklängen. Populistische Politiker sind sehr geschickt darin, entsprechende Ängste und Verunsicherungen zu instrumentalisieren; sie attackieren die »abgehobenen liberalen Eliten« dafür, die historische Einheit von Volk, Sprache und Staatsgebiet aufzulösen, die Nationen zusammenhält.

Doch wer sind eigentlich diese »abgehobenen liberalen Eliten«? Sie erhalten viel weniger Aufmerksamkeit als jene Bevölkerungsgruppen, die populistische Parteien unterstützen; in der öffentlichen Debatte herrscht bisweilen große Konfusion. Oft werden die »liberalen Kosmopoliten« umstandslos mit den Angehörigen jener kleinen Finanzelite in einen Topf geworfen, die einen wachsenden Anteil der weltweiten Vermögen auf sich vereint und einen disproportional großen Einfluss auf die Politik ausübt. Das gilt insbesondere für die USA, wo die Regeln für Wahlkampfspenden so verändert wurden, dass jene, die über ausreichende Mittel verfügen, Politikerinnen und Politiker praktisch nach Belieben manipulieren können.

Die vermeintlich »abgehobenen liberalen Eliten«, um die es in diesem Buch gehen soll, werden jedoch gerade nicht über ihren materiellen Wohlstand definiert, auch wenn es ihnen in der Regel finanziell durchaus gutgehen mag. Sie gehören meist zur (oberen) Mittelschicht, sind aber keineswegs reich. Sie haben so gut wie immer ein Hochschulstudium absolviert, sind in den Medien, der Kunstszene und der Wissenschaft überrepräsentiert und machen jene Gruppe der Meinungsführer aus, deren Ansichten aufgrund ihrer Ausbildung oder ihres Berufs besondere Autorität zukommt (vgl. Kapitel I.1 unten). Ihr Status 11beruht, mit Pierre Bourdieu (1982 [1979]) gesprochen, weit stärker auf ihrem kulturellen als auf ihrem sozialen und ökonomischen Kapital.

Empirische Studien, auf die ich im ersten Kapitel ausführlicher eingehen werde (Florida 2002, Goodhart 2017a), zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Angehörigen dieser Gruppe liberale und universalistische Ansichten vertritt; dass sie Bigotterie, Rassismus und Provinzialität verachten und versuchen, ihnen zu entkommen; dass sie sich eher um die Menschheit insgesamt sorgen als um ihre unmittelbaren Nachbarn oder ihre Landsleute. Und dass sie extrem mobil sind: Ihre Talente stehen überall auf dem Globus hoch im Kurs, es zieht sie in jene Länder und Städte, die zu ihrem verfeinerten Geschmack sowie zu ihrem liberalen Temperament passen. Die neuen liberalen Eliten sind wahrhaft davon überzeugt, dass sie ein tieferes und zutreffenderes Verständnis der Welt und ihrer Probleme haben als ihre weniger gebildeten Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie waren zutiefst verwirrt und schockiert, als sich herausstellte, dass »die Massen« ihre wohlmeinenden Handlungsempfehlungen zurückweisen und sie stattdessen für abgehobene Snobs halten, die auf alle herabblicken, die nicht zu ihrem Club gehören.

Natürlich schlägt ihnen auch Neid entgegen. Erstens weil es ihnen ökonomisch dann doch relativ gutgeht; in der Regel liegen sie mit ihren Einkommen im oberen Fünftel der Verteilung. Zweitens weil ihr sozialer Status (und ihre Selbstachtung) auf persönlichen Leistungen gründet, nicht auf ihrer nationalen oder ethnischen Identität, was jene, die ihren Selbstwert vor allem aus der Zugehörigkeit zu regionalen oder religiösen Kollektiven beziehen, als verletzend empfinden – deshalb halten Letztere die liberalen Kosmopolitinnen für »abgehoben« und unpatriotisch. Weil ihre Mobilität sie drittens relativ unabhängig vom Schicksal der Regionen oder Länder macht, in denen sie zu einem gegebenen Zeitpunkt leben. Und weil sie 12schließlich viertens eine Autorität ausstrahlen, die jenen Menschen, die nicht so gut ausgebildet sind und über weniger Wissen verfügen, das Gefühl gibt, ihre Ansichten seien schlicht nicht mehr relevant.

Genau das hat der populistische Nationalismus vielen Angehörigen sozioökonomisch schwächerer Schichten zurückgegeben: eine Stimme und ihren Stolz. Sie müssen sich nicht länger dem »überlegenen Wissen« der besser Gebildeten fügen. Dass populistische Politikerinnen wie Marine Le Pen, Nigel Farage, Boris Johnson oder Donald Trump, die ihren Sorgen, ihrem Zorn und ihren Ängsten Ausdruck verleihen, selbst zur ökonomischen und zur Bildungselite gehören, schert sie dabei nicht wirklich.

In diesem Buch möchte ich ein präziseres Porträt dieser neuen kosmopolitischen Liberalen zeichnen, als es in der entsprechenden Literatur derzeit üblich ist. Ich werde zu zeigen versuchen, dass es sich bei ihnen gerade nicht um einen Haufen selbstgerechter Snobs handelt und dass ihr Leben meist viel komplexer und schwieriger ist, als viele Stereotype implizieren: Ihre Identität, ihr Status und ihre Positionen in der Wissenschafts- oder in der Kunstwelt, in den Qualitätsmedien oder den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der großen Konzerne hängen von ihren persönlichen Leistungen ab, und gerade deshalb können sie sich ihrer nie wirklich sicher sein.

Da ist aber noch etwas anderes, das diese neuen Eliten auszeichnet: Sie sollen nicht nur hart arbeitende Nerds oder freudlose Anzugträger sein, wie sie in den fünfziger Jahren die großen, hierarchisch geführten Unternehmen prägten (Sloan Wilson zeichnet in seinem Roman Der Mann im grauen Flanell aus dem Jahr 1955 ein brillantes Porträt dieser Gruppe). Die liberalen Kosmopoliten von heute sollen vielmehr kreativ sein und einen individuellen Lebensstil pflegen. Zwar kennen sie dank der modernen Kommunikationstechnologien keinen Feierabend (Conley 2009), ihre Kinder (wenn sie welche haben) 13wollen sie aber dennoch so umsichtig erziehen, wie ihre Werte es verlangen. Sie machen sich viele Gedanken um das Wohlergehen ihres Nachwuchses, haben ein sehr gut ausgebildetes soziales Bewusstsein und stellen auch an sich selbst hohe moralische Ansprüche. Da sie nicht in einer lokalen Gemeinschaft verwurzelt sind, erfahren die neuen Kosmopolitinnen selten jene Sicherheit, die mit dieser Form der Zugehörigkeit häufig einhergeht. Außerdem haben auch sie selten das Gefühl, ihre oft beträchtlichen beruflichen Leistungen würden als wichtiger Beitrag wahrgenommen, aus dem sie so etwas wie Gelassenheit oder gar Stolz ziehen könnten.

Aus Gründen der Transparenz möchte ich Folgendes nicht verhehlen: Ich bin in dieser Geschichte nicht unparteiisch. Ich kenne die neuen Liberalen, ihre Leben, Hoffnungen, Unsicherheiten und Sorgen vor allem deshalb so gut, weil ich qua Beruf und Lebensstil selbst zu ihnen gehöre und weil ich mich sowohl in meinem professionellen als auch in meinem sozialen Leben inmitten dieser Gruppe bewege. Wie sie identifiziere ich mich mit universalistischen Werten. Der Aufstieg des Illiberalismus, Nationalismus und religiösen Fanatismus macht auch mir große Sorgen. Zugleich bin ich jedoch davon überzeugt, dass wir liberalen Kosmopoliten einige schwerwiegende Fehler gemacht haben, die zu dem illiberalen Backlash beitragen, den wir derzeit erleben – ein Punkt, auf den ich unten noch ausführlicher eingehen werde.

Dieses Buch versteht sich insofern nicht nur als intime Beschreibung der liberalen Eliten, sondern auch als eine Verteidigung ihrer von den Werten der Aufklärung geprägten Weltsicht (vgl. Strenger 2015, 2017). Anders als Richard Florida, der diese neue Klasse schon früh analysiert hat (mehr dazu in Kapitel I.1), möchte ich die neuen Kosmopoliten allerdings nicht idealisieren. Ja, ihre Sicht auf die Welt ist unerlässlich, wenn wir die Herausforderungen bewältigen wollen, vor denen die Menschheit steht. Ja, sie leisten enorm wichtige Beiträ14ge zum wirtschaftlichen Wohlergehen und zum kulturellen Leben. Doch wir sind allzu oft zu arrogant gewesen, wo es darum geht, anderen unser Weltbild und unsere Werte zu vermitteln. An dieser Stelle ist ein persönliches Mea culpa angebracht, schließlich habe auch ich in meiner Rolle als öffentlicher Intellektueller solche Fehler gemacht. Wir alle haben Menschen, die unsere Ansichten nicht nachvollziehen können und/oder nicht teilen, von oben herab behandelt und sie als dumm, begrenzt oder provinziell abgestempelt. Es ist daher wenig überraschend, dass viele Angehörige der Unter- und unteren Mittelschicht, die nun von Populisten agitiert werden, etwas empfinden, das Sozialpsychologinnen als »upward contempt« (Miller 1995), als »nach oben gerichtete Verachtung« bezeichnet haben, ja, dass sie uns liberale Kosmopolitinnen geradezu hassen.

Im dritten Teil des Buches werde ich daher einerseits argumentieren, dass wir Liberalen unser Wertesystem, dem ich mich leidenschaftlich verbunden fühle, keinesfalls ändern oder gar aufgeben sollten. Andererseits werde ich aber auch ein paar Überlegungen zu der Frage anstellen, was wir falsch gemacht haben und wie wir unsere Standpunkte in Zukunft so formulieren können, dass andere soziale und politische Gruppen dadurch nicht vor den Kopf gestoßen oder verletzt werden, sondern erkennen, dass es uns aufrichtig um das Wohlergehen der Welt insgesamt zu tun ist und nicht allein um unsere eigenen Interessen.

Ich kenne die neuen liberalen Kosmopolitinnen allerdings noch aus einer ganz anderen Perspektive: Seit drei Jahrzehnten praktiziere ich als Psychoanalytiker, und in den letzten zwanzig Jahren haben sie die überwiegende Mehrheit meiner Patientinnen gestellt. Als neue Kommunikationskanäle wie Skype, Facetime oder Google Hangouts aufkamen, habe ich diese zunächst genutzt, um die Therapie nicht unterbrechen zu müssen, wenn israelische Patienten verreisten oder umzogen. Doch schon bald 15kontaktierten mich Menschen aus dem Ausland, vor allem aus Europa und den USA, die sich von mir via Skype behandeln lassen wollten – eine Form der Therapie, die mittlerweile für viele meiner Kolleginnen etwas ganz Alltägliches darstellt. Auf diesem Weg habe ich viel über die Gemeinsamkeiten gelernt, die meine englischen, US-amerikanischen, französischen, deutschen oder israelischen Patienten auszeichnen; diese Erkenntnisse führten wiederum zu einer Reihe von Publikationen (eine gute Zusammenfassung bietet Strenger 2016 [2011]), in denen ich mich mit den typischen psychologischen und existenziellen Schwierigkeiten, den Freuden, Ambitionen und Sorgen der neuen liberalen Kosmopolitinnen befasst habe.

Angereichert werden meine persönlichen Eindrücke im Folgenden mit Überlegungen sowie empirischen Erkenntnissen aus den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie, Politikwissenschaft und der Kulturkritik. Wo ich die charakteristischen Psychodynamiken der neuen liberalen Kosmopoliten interpretiere, stütze ich mich immer wieder auf Einsichten der Existenziellen Psychologie, die in den letzten Jahrzehnten zu einer respektierten empirischen Disziplin geworden ist, insbesondere auf das Konzept der nur allzu menschlichen Angst vor der Bedeutungslosigkeit (Strenger 2016 [2011]). Nach allem, was wir aus anthropologischen Untersuchungen (Becker 1976 [1973], 1975; Atran 2002) und aktuellen experimentellen Studien wissen (Greenberg/Koole/Pyszczynski 2004), ist diese Angst, irgendwann spurlos von der Erdoberfläche zu verschwinden, tatsächlich eine Konstante der menschlichen Natur. Zudem gibt es viele überzeugende Indizien, dass ein Weg, mit dieser Furcht umzugehen, zu allen Zeiten und in allen uns bekannten Kulturen darin bestand, Teil einer Zivilisation, Nation oder Glaubensgemeinschaft zu sein, welche das Individuum mit großer Wahrscheinlichkeit überlebt (Becker 1976 [1973]). Wenn einzelne Menschen einen signifikanten Beitrag zu diesem größeren Ganzen leisten, haben sie das Gefühl, das zu erreichen, was 16der kanadische Sozialanthropologe Ernest Becker als »symbolische Unsterblichkeit« bezeichnet hat. Soweit wir wissen, gilt das für die Angehörigen afrikanischer Stämme genauso wie für die alten Griechen oder leidenschaftliche Anhänger bestimmter Fußballvereine in der Gegenwart. Die neuen liberalen Kosmopoliten unterscheiden sich von ihnen nun insofern, als sie die ganze Menschheit als ihre relevante Bezugsgruppe betrachten, was es umso schwieriger macht, das Gefühl zu haben, sie hätten etwas Bedeutendes erreicht – ein Thema, auf das ich in Teil I ausführlich zurückkommen werde. Ich hoffe, dass der interdisziplinäre Ansatz kosmopolitischen Liberalen helfen wird, sich selbst besser zu verstehen; und dass andere nach der Lektüre ein Verständnis dieser Gruppe haben, dass über die derzeit verbreiteten Stereotype hinausgeht.

Bevor ich mit meiner Analyse der neuen Kosmopolitinnen beginne, möchte ich zunächst klarstellen, was ich mit jenem Liberalismus meine, den ich in diesem Buch verteidigen möchte. Unglücklicherweise hat der Begriff seine Konturen und seine Eindeutigkeit verloren. In Europa wird er oft als Synonym für »Neoliberalismus« verwendet, also eine Weltsicht, laut der unregulierte Märkte der beste Weg sind, um moderne Gesellschaften zu steuern – eine Haltung, die ich ganz und gar nicht teile. In den USA bezeichnet »liberalism« eine Kombination aus sozialer Demokratie und maximaler Entfaltungsfreiheit in der Privatsphäre, insbesondere im Hinblick auf Fragen der Religion, der sexuellen Orientierung, des bevorzugten Familienmodells usw. – eine Haltung, mit der ich in vielerlei Hinsicht sympathisiere, die ich jedoch nicht als Gesamtpaket unterstütze. Was ich hier verteidigen will, ist weder der Neoliberalismus noch der liberalism im US-amerikanischen Verständnis, sondern etwas, das häufig als »klassischer Liberalismus« bezeichnet wird. Lassen Sie mich kurz erläutern, was ich damit meine.

In den frühen vierziger Jahren lebte Karl Raimund Popper, 17einer der bedeutendsten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts, wegen seiner jüdischen Abstammung in Neuseeland im Exil. Dort schrieb er sein epochales Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (2003 [1945]), in dem er seine Überlegungen auf den Bereich der Politik übertrug. Im Anschluss an Gedanken des französischen Philosophen Henri Bergson argumentierte Popper, allein eine offene Gesellschaft könne die Freiheit und Würde ihrer Bürgerinnen und Bürger sowie eine halbwegs rationale Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten gewährleisten. Im Gegensatz zu traditionellen oder Stammesgesellschaften zeichneten sich offene Gesellschaften durch die Möglichkeit aus, jeden Aspekt zu diskutieren und zu kritisieren. Faschismus und Kommunismus basierten auf einer fehlerhaften Epistemologie, die davon ausgehe, dass eine Partei oder ein charismatischer Führer über eine geheime Wahrheit verfüge, der es Folge zu leisten gelte. Offene Gesellschaften entwickelten hingegen Institutionen wie eine freie Presse, Forschungsfreiheit und eine unabhängige Justiz. Damit hatte Popper einen Weg gefunden, die grundlegende Idee der Aufklärung neu zu formulieren, nämlich dass nur eine Epistemologie, die keine heiligen Kühe kennt, den Fortschritt des Wissens und der Menschheit garantieren und totalitäre Katastrophen wie jene verhindern könne, deren Zeuge er zu seinen Lebzeiten wurde.

Das Konzept der offenen Gesellschaft existiert nun seit über sieben Jahrzehnten. Es bildet die Grundlage der liberalen Demokratie und bringt das Verständnis von Liberalismus auf den Punkt, das auch ich in diesem Buch vertrete. Zugleich handelt es sich dabei um einen zentralen Wert, dem die liberalen Kosmopoliten der Gegenwart anhängen: Sie wollen jene Tyrannei der Mehrheit verhindern, vor der Alexis de Tocqueville in seinem bahnbrechenden Werk Über die Demokratie in Amerika (1986 [1835/40]) gewarnt hat und die John Stuart Mill in seinem ebenso epochalen Buch Über die Freiheit (2009 [1859]) 18als größte Gefahr für die Massendemokratie beschrieb. Vom Standpunkt der Gegenwart aus klingen Tocqueville, Mill und Popper wie Propheten. Zu Tocquevilles Lebzeiten gab es kaum Demokratien; dasselbe gilt auch für Mill, dessen Kritik sich vor allem gegen die erstarrte viktorianische Gesellschaft richtete.

Heutige Sorgen um die liberale Demokratie klingen wie ein Echo der Warnungen von Tocqueville, Mill und Popper – allerdings auf eine Weise, die diese nicht vorausahnen konnten. Die Kommunikationsrevolution der letzten Jahrzehnte hat viele Verbesserungen mit sich gebracht, insbesondere verfügen nun beinahe alle Menschen über unbegrenzten Zugang zu Wissen. Zur Bestürzung aller liberal Gesinnten hat diese Revolution jedoch auch unvorhergesehene Nebenfolgen, die heute die liberale Demokratie unterminieren. Eine dieser Folgen ist jener »Echokammereffekt«, den der Jurist und Obama-Berater Cass Sunstein als einer der Ersten beschrieben hat (Sunstein 2001). Die liberale Demokratie basiert auf der idealen Annahme, dass es so etwas gibt wie eine Agora, den zentralen Versammlungsort antiker griechischer Stadtstaaten, wo über wichtige Fragen debattiert und wo unablässig unterschiedliche Standpunkte ausgetauscht werden. Das Internet hat jedoch nicht zur Entstehung einer virtuellen Agora geführt, sondern im Gegenteil zu jener katastrophalen Situation, in der die meisten Individuen nur noch jene Sender, Kanäle und Websites nutzen, deren politische Linie sie ohnehin bereits teilen. Liberale kucken CNBC, lesen die New York Times oder die Washington Post; Konservative schalten Fox News ein, lesen das Wall Street Journal und hören Radiosendungen, in denen Kommentatoren sich unablässig über liberals lustig machen oder vor ihnen warnen. In den USA hat dies zu einer historisch einmaligen Polarisierung der Öffentlichkeit und politischen Landschaft geführt. Es gibt keinen Dialog mehr zwischen den unterschiedlichen Lagern, stattdessen adressiert jede Seite nur noch die 19eigenen Anhänger. Andersdenkende werden dämonisiert. Darüber hinaus prämiert die Aufmerksamkeitsökonomie jene Stimmen, die mit provokanten Zitaten und Tweets aufwarten und die Gegenseite besonders aggressiv kritisieren. Das Resultat ist ein regelrechter Kulturkrieg, in dem vernünftige Diskussionen kaum noch möglich sind. Dasselbe gilt für den US-Kongress, wo es selbst bei existenziellen Fragen keine parteiübergreifende Zusammenarbeit mehr gibt. Der Brexit und der Aufstieg rechtspopulistischer Politikerinnen und Parteien sind ebenfalls eine Folge dieser Entwicklung. Eine der zentralen Fragen dieses Buches lautet daher, was liberale Kosmopoliten, die sich nach wie vor zu einer offenen Gesellschaft bekennen, dieser bedrohlichen Entwicklung hin zu einem autoritären Populismus entgegensetzen können.

21I. Liberale Kosmopolitinnen: Wie sie ticken und wo sie stehen

231. Ein soziales und politisches Porträt

Die Veränderungen, die wir gewöhnlich mit dem Begriff »Globalisierung« assoziieren, haben nicht zuletzt damit zu tun, dass durch politische Deregulierung und die technische Möglichkeit, in Millisekunden Myriaden von Transaktionen abzuwickeln, ein globaler Markt entstanden ist. In dieser interdependenten Weltwirtschaft können multinationale Konzerne ihre Aktivitäten und Wertschöpfungsketten überall auf dem Globus verteilen. Die Firmenzentrale, die Forschungsabteilung und die Produktionsstätten müssen nicht länger im selben Land, ja nicht einmal mehr auf demselben Kontinent liegen (vgl. Friedman 1999).

Doch auch die kulturelle Sphäre wurde früh von der Globalisierung erfasst. Dieser Prozess begann mit der Entstehung von TV-Sendern wie CNN und MTV in den Achtzigern und beschleunigte sich exponentiell, als das Internet ab Mitte der Neunziger von einem Werkzeug einiger Hightechspezialisten zu einem globalen Netzwerk wurde, an dem die Mehrheit der Menschen in den westlichen Industrieländern partizipiert. In seinem dreibändigen Opus Magnum Das Informationszeitalter (2001 [1996-1998]) zeichnet der spanische Soziologe Manuel Castells nach, welche strukturellen Transformationen damit einhergehen: Für alle, die in dieser neuen Ökonomie Karriere machen wollten, war die Fähigkeit, sich in dieses globale Netzwerk einzuklinken, nun wichtiger als ihre nationale oder ethnische Identität.