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Carlo Strenger

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Beschreibung

Staat der Juden, Land der Rätsel: Einerseits eine hochmoderne Gesellschaft mit einer lebensfreudigen, liberalen Kultur, geht Israel derzeit durch eine der schwersten Krisen seit seiner Gründung. Der Friedensprozeß liegt auf Eis, das Land ist isoliert, im Alltag leben Juden und Araber mit wechselseitiger Verachtung nebeneinander her, und der eskalierende Kampf zwischen religiösen und säkularen Juden bedroht die Grundfesten der israelischen Gesellschaft. Ausgehend von Beobachtungen und Szenen des Alltags, eröffnet uns Carlo Strenger Einsichten in den Alltag und die Mentalität Israels – engagiert und mit wacher Beobachtungsgabe, doch ohne Idealisierung und Dämonisierung. Strenger zeigt Israel als zerrissene Gesellschaft, die grundlegende Probleme der Identität noch nicht gelöst hat. Er versucht neue, zeitgemäße Antworten auf drängende Fragen des jungen Staates zu geben: Wie soll das Verhältnis von Staat und Religion, zwischen westlicher Weltoffenheit und nahöstlicher Tradition gestaltet werden? Wie können die Spannungen zwischen Einwanderungsgruppen aus grundverschiedenen Kulturen gelöst werden? Seine Betrachtung, die zugleich ein essayistischer Reisebegleiter ist, eröffnet einen umfassenden Blick auf die Widersprüchlichkeit Israels – aber auch auf die Möglichkeit einer Wahrnehmung des Landes jenseits von Schuld, Gegenschuld und dem Kampf der Monotheismen.

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Staat der Juden, Land der Rätsel: Einerseits eine hochmoderne Gesellschaft mit einer lebensfrohen, liberalen Kultur, geht Israel derzeit durch eine der schwersten Krisen seit seiner Gründung. Der Friedensprozeß ist auf unbestimmte Zeit vertagt, das Land ist isoliert, im Alltag leben Juden und Araber mit wechselseitiger Verachtung nebeneinander her, und der eskalierende Kampf zwischen religiösen und säkularen Juden bedroht die Grundfesten der Gesellschaft. Ausgehend von Beobachtungen und Szenen des Alltags, eröffnet uns Carlo Strenger Einsichten in die Mentalität des Landes, jenseits von Idealisierung und Dämonisierung. Der Autor zeigt Israel als zerrissene Gesellschaft, die auf grundlegende Identitätsfragen noch keine Antwort gefunden hat: Wie soll das Verhältnis von Staat und Religion, zwischen westlicher Weltoffenheit und nahöstlicher Tradition gestaltet werden? Wie können die Spannungen zwischen verschiedenen jüdischen Einwanderungsgruppen aus verschiedenen Kulturen gelöst werden? Seine Betrachtung eröffnet einen umfassenden Blick auf die Widersprüchlichkeit Israels – aber auch auf die Möglichkeit einer Wahrnehmung des Landes jenseits von Schuld, Gegenschuld und dem Kampf der Monotheismen.

Carlo Strenger, 1958 in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt für Israels führende Tageszeitung Haaretz.

Carlo Strenger Israel.

Einführung in ein schwieriges Land

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

Umschlagfoto: Ultraorthodoxe Juden am 6. November 2006 in Jerusalem bei Protesten gegen die bevorstehende Jerusalem Gay Pride Parade, Fotograf: Ronen Zvulun (Jerusalem)© REUTERS / Ronen Zvulun

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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eISBN 978-3-633-76450-1

www.suhrkamp.de

INHALT

Einleitung

Wunden des Krieges, Narben der Friedenssuche

Ist Israel ein unmögliches Land?

TEIL I • EIN ZERRISSENES LAND

Gruppenbild mit Radio

Die Juden und die Moderne

Der jüdische Universalismus und sein Schicksal in Israel

Die zionistische Rechte

Die nationalreligiöse Rechte – gnostische Politik

Die ultraorthodoxe Verwerfung der Moderne

Israels zerrissene Identität

TEIL II • ISRAEL UND DAS »JÜDISCHE PROBLEM«

Die jüdische Existenz in der Diaspora

Die Entstehung des »jüdischen Problems«

Die Psychodynamik der Todesverleugnung

Die Verwerfung des Anderen

Israel, die verspätete Nation

Sonderfall Israel

Israel und das europäische Schuldgefühl

Israel als Haßobjekt der Linken

Israel und der europäische Mainstream

Die enttäuschte Hoffnung auf den ewigen Frieden

Die Rückkehr der Geschichte

Israel und die Menschenrechte

Operation Shylock: War Israel ein Fehler?

Enttäuschte Universalisten

Die unerwartete Normalisierung der Juden

Jenseits des Jerusalemsyndroms

Apokalypse now!

Für einen neuen Realismus der Politik

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Übersicht

1. Das Judentum in der Moderne

2. Politische Gruppierungen in Israel

3. Ergebnisse der 18. Wahl zur Knesset 2009

Einleitung

Zu Beginn des neuen Jahrzehnts geht Israel durch eine der schwersten Krisen seit der Staatsgründung. Der Friedensprozeß liegt auf Eis, das Land ist außenpolitisch isoliert. Der überwiegende Teil der Staatengemeinschaft ist zu der Überzeugung gelangt, daß Israel zum Friedenschluß mit den Palästinensern schlicht nicht willens oder nicht fähig ist. Bereits der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon war für die internationale Öffentlichkeit ein willkommenes Haßobjekt, doch erst sein Nachfolger Benjamin »Bibi« Netanjahu hat in den letzten Jahren auf internationaler Ebene alles Porzellan zerschlagen, das es zu zerschlagen gab. Flankiert wird er dabei von Außenminister Avigdor Lieberman, der durch seinen glühenden Haß auf die Araber selbst bei guten Freunden Israels nur noch Kopfschütteln hervorruft und der außerhalb des Landes längst mit Slobodan Milošević verglichen wird. Selbst langjährige Bündnispartner wenden sich mit Grausen ab: Sechsundzwanzig führende EU-Politiker, darunter auch Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, riefen Ende 2010 in einem offenen Brief dazu auf, Israel durch Sanktionen unter Druck zu setzen. Nicht zu reden von den jüngsten Boykottaufrufen aus Großbritannien gegen israelische Wissenschaftler, die allerdings eher vom altbekannten antisemitischen Ressentiment getrieben zu sein scheinen.

Nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Europa weckt Israel hochintensive Gefühle. Viele Menschen, die dem Land gegenüber prinzipiell positiv eingestellt waren, sind in den letzten Jahren von der israelischen Siedlungspolitik und von Israels aggressiver Rhetorik zutiefst enttäuscht worden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem dieses kleine Land am Mittelmeer mit seinen kaum acht Millionen Einwohnern nicht in den Schlagzeilen der Weltpresse auftaucht. Jüdisch-liberale Intellektuelle wie Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut versuchen, zwischen dem Staat Israel und seiner Politik zu unterscheiden, sie geben ihrer Loyalität für Israel immer wieder Ausdruck, kritisieren aber seine Regierung. Andere sind pessimistischer. Der vor kurzem verstorbene britisch-amerikanisch-jüdische Historiker Tony Judt kam zu dem Schluß, daß das zionistische Experiment ein Fehler gewesen sei.

Aber nicht nur außerhalb Israels tun sich viele mit der Entwicklung schwer, die das Land durchläuft. Liberal orientierte Juden wie ich, die jahrzehntelang für ein weltoffeneres Israel gekämpft haben, sind seit Beginn der zweiten palästinensischen Intifada im Jahr 2000 politisch marginalisiert. Noch 1992, als Jitzchak Rabin zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, waren knapp die Hälfte der 120 Knessetmitglieder liberal eingestellt. In den Wahlen von 2009 waren es nur noch sechzehn – eine wahrhaft katastrophale Entwicklung. Wenn man von diesen sechzehn noch die dreizehn der Arbeitspartei abzieht, die für zwei Jahre Teil von Netanjahus Regierungskoalition war, verbleiben nur noch die drei Mandate der sozialdemokratischen Partei Meretz, die für eine dezidiert gemäßigte Position in der Knesset steht.

Aufgrund der Schlagzeilen in der Presse halten viele Menschen Israel für einen düsteren Polizeistaat, wenn nicht für etwas Schlimmeres. Wenn Europäer erstmals Israel besuchen, sind sie meist überrascht. Sie treffen auf kommunikationsfreudige, weltoffene junge Menschen, eine Vielfalt kultureller Angebote, eine schwulenfreundliche Einstellung, ein lebendiges Nachtleben. Die Musikszene könnte kosmopolitischer kaum sein, man denke etwa an Idan Raichel, den so erfolgreichen und innovativen »Weltmusiker« mit seinen internationalen Kooperationen. Ebenso heben sich die Intellektuellen des Landes deutlich vom etablierten Bild des Landes ab. Schriftsteller wie Amos Oz, David Grossman und Etgar Keret werden in Dutzende Sprachen übersetzt und in hohen Auflagen gelesen. Sie vermitteln dem Leser ein ganz anderes Bild des Staates am Mittelmeer, moralisch und emotional differenziert, bedrückt von der Verrohung der israelischen Politik. Womöglich ist es, so könnte man fortfahren, nicht nur die Kunst- und Kulturelite des Landes, die dem negativen Bild Israels nicht entspricht. Die meisten Israelis sprechen sehr gut Englisch, viele haben die Welt bereist und kennen andere Kulturen. Auch in der israelischen Wirtschaft geht es liberal und fortschrittlich zu. Die das Land prägenden jungen Unternehmer im Hochtechnologiebereich (übrigens die neue Version des bisherigen Traums der jüdischen Mutter, vom Sohn als Anwalt oder Arzt1) sorgen nicht nur für gut ausgebuchte Flugzeuge zwischen Tel Aviv und Silicon Valley und dem großen Interesse an israelischen Startup-Unternehmen, sondern auch für viele neue kulturelle Impulse sowie intellektuellen und politischen Austausch.

Wie aber, so möchte man fragen, ist die Offenheit der Kultur und des intellektuellen Lebens und die damit verbundene Sehnsucht nach dem guten Leben mit der brutalen, machthungrigen Politik Israels und mit seiner apokalyptischen Rhetorik zu vereinbaren? Wie ist es möglich, daß ein Land, das in vielerlei Hinsicht den westlichen Staaten sehr stark ähnelt, in seinem politischen Verhalten so borniert und unbelehrbar ist?

Ich stelle diese Frage dem europäischen Leser nicht nur rhetorisch. Obgleich ich fast mein ganzes erwachsenes Leben in Israel verbracht habe, ist meine europäische Identität für mich zentral geblieben. Dem Europäer in mir fällt es oft schwer, Israel zu verstehen, doch muß man für dieses schmerzhafte Erstaunen nicht europäischer Herkunft sein. Die meisten meiner israelischen Freunde, ob in Israel, Casablanca oder New York geboren, teilen eine universalistischkosmopolitische Ethik, und auch sie stellen sich die Frage, warum Israel nicht der westliche Staat ist, der es zu sein behauptet und gemäß der Vision seiner Gründer von jeher hat sein wollen?2 In gewisser Hinsicht, so könnte man einwenden, ist Theodor Herzls Idee, man könne im Nahen Osten ein wärmeres Wien entwickeln, grundsätzlich unrealistisch gewesen. Israel ist von Staaten umringt, die allesamt problematische Regimestrukturen aufweisen, auch wenn diese in den unerwarteten Revolutionen und Unruhen seit dem Frühjahr 2011 ins Wanken geraten sind. Noch lassen sich keine schlüssigen Prognosen abgeben, ob dies zur Demokratisierung des arabischen Raumes oder zu einer Islamisierung und damit grundlegenden Destabilisierung führen wird.

Auf den folgenden Seiten wird das europäische Unverständnis gegenüber Israel immer wieder zur Sprache kommen, ebenso das Staunen und manchmal die Verzweiflung des Autors, der seit vielen Jahren Teil des israelischen Friedenslagers ist und sich aufgrund der Entwicklung des letzten Jahrzehnts oft deprimiert fühlt. Dieses Unverständnis kommt nicht von ungefähr. Es repräsentiert vielmehr die jüngste Phase der langen und oftmals leidvollen Geschichte Europas und seiner Juden, die auf beiden Seiten nachwirkt, in der kollektiven israelischen Psyche wie in der europäischen. Das Verhältnis zwischen Europa und Israel kann nicht außerhalb des historischen Rahmens des jüdischen Schicksals in Europa verstanden werden, und das heißt nicht ohne die Betrachtung des Judenhasses, der eine Konstante der europäischen Geschichte des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung war. Angefangen bei den Pogromen zur Zeit der Kreuzzüge über die spanische Inquisition bis zu den Pogromen im 17. und 19. Jahrhundert zeugt die europäische Geschichte von der Schwierigkeit und oftmals der Unfähigkeit, mit dem anderen menschlich umzugehen. Zu dieser Geschichte gehört ebenso, daß sich der traditionelle Antijudaismus seit dem 19. Jahrhundert zum rassistischen Antisemitismus wandelte und unter der Führung der Deutschen mit der Ermordung der europäischen Juden im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt fand. Diese komplexe und tragische Verflechtung der jüdischen und der europäischen Geschichte kann und soll nicht verschwiegen werden. Aber sie darf auch nicht zum politischen Druckmittel gemacht werden. Israel hat sich oft viel zu lautstark als Vertreter des jüdischen Schicksals nach der Shoah geäußert, und die Wahrnehmung der europäischen Öffentlichkeit, daß die israelischen Regierungen das europäische Schuldgefühl für ihre Sache instrumentalisierten, hatte ihre Berechtigung. Auf der anderen Seite gibt es jenen Teil der europäischen Öffentlichkeit, der Israel mit Blick auf die Palästinenser nur allzugern vorhält, es hätte im Gegensatz zu den einstigen Tätern die Lehren aus der Geschichte nicht gezogen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Israels katastrophale Siedlungspolitik und politische Inkompetenz für viele Europäer fast eine Erleichterung darstellt, weil sie sich dadurch endlich nicht mehr mit Europas komplexer und oft schrecklicher (jüdischer) Geschichte auseinandersetzen müssen. Aus diesem Grund wird dieser Essay Israel auch im Kontext der jüdischen Geschichte in Europa zu verstehen versuchen. Auch mit einer psychologischen Perspektive hoffe ich die gesellschaftlich-politischen Prozesse erhellen zu können, auch weil ich denke, daß Israels Politik nicht nur von der Geschichte des Judenhasses her begriffen werden kann.

Wunden des Krieges, Narben der Friedenssuche

Um Israel zu verstehen, muß man seine spezifische historische und politische Lage vor dem Sechstagekrieg 1967 bedenken, als die Kategorie »Palästinenser« im israelischen Diskurs nicht unabhängig von der generellen Kategorie der »Araber« verwendet wurde. Es ist beeindruckend, heute mit linksgerichteten Israelis zu sprechen, die damals noch junge Soldaten waren. Auch Menschen, die später das israelische Friedenslager anführten – wie zum Beispiel Jitzchak Rabin –, haben erzählt, daß sie damals kein moralisches Problem mit der Eroberung und Besetzung der Westbank hatten. Sie hatten das Gefühl, es gehe den Palästinensern nach der Eroberung um einiges besser als unter jordanischer Herrschaft, was wirtschaftlich sogar zutraf. Dazu kam, daß Israels Existenz in den ersten Jahrzehnten real bedroht war. Im Sechstagekrieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973 wurde noch vor dem Hintergrund der drohenden Vernichtung Israels gekämpft, sollten die arabischen Staaten siegen. Kriege zu gewinnen war eine Existenznotwendigkeit.3 Die meisten Israelis sahen in den Eroberungen des Sechstagekrieges einen Befreiungsschlag, der dem kleinen Land Sicherheit bringen würde. Rückwirkend stellen sich genau diese Eroberungen als ein Verhängnis heraus. Nur die wenigsten in Israel, darunter jedoch David Ben-Gurion, verstanden damals, daß die Besatzung der Westbank und des Gazastreifens zu einem ethischen und politischen Desaster werden würde. Die völkerrechtliche Anerkennung Israels war nach dem Sechstagekrieg noch prekärer als zuvor. Die arabische Welt akzeptierte »das zionistische Gebilde« von Anfang an nicht und drohte immer wieder, die Juden ins Meer zu treiben. In der Ölkrise zu Beginn der siebziger Jahre wurden sich die arabischen Länder ihrer Macht bewußt. Ohne Israels Existenz zu akzeptieren, griffen sie das Land auf internationaler Ebene an und isolierten es fast vollständig. Am 10. November 1975 stimmte die UNO-Generalversammlung mit 72 gegen 35 Stimmen für eine Resolution, die den Zionismus als Rassismus verurteilte. Zwar stimmten die meisten westlichen Länder gegen die Resolution, aber der Westen hatte nicht alle Mittel eingesetzt, um sie zu verhindern.4

1977 kam Menachem Begin, der Vorsitzende der rechten Likud-Partei, an die Macht. Die israelische Arbeitspartei, die das Land über dreißig Jahre hinweg regiert hatte, war gegenüber der Besatzung der palästinensischen Gebiete noch ambivalent gewesen, Pläne für den Rückzug wurden immer wieder diskutiert. Für Begin aber war es gar keine Frage: Dies war das Land der Urväter des jüdischen Volkes, auf ewig den Juden versprochen.5 Er hatte nicht das geringste Verständnis oder irgendwelche Sympathie dafür, daß Europa und die Vereinigten Staaten die Sprache des Nationalismus allmählich durch die Sprache der Menschenrechte ersetzten, daß die Dritte Welt zu einem zentralen Faktor der Weltpolitik geworden war und der Antikolonialismus auf immer mehr Akzeptanz stieß.

Sein Verteidigungsminister, der spätere Ministerpräsident Ariel Scharon, kannte wie Begin nur ein Prinzip: Sicherheit für die Juden um jeden Preis. 1982 leitete Scharon als militärischer Oberbefehlshaber Israels den Libanon-Feldzug, der bis in die Vorstädte Beiruts geführt wurde. Scharons Plan umfaßte mehrere Ebenen. Er wollte Jassir Arafats PLO aus dem Libanon vertreiben, das haschemitische Königshaus in Jordanien stürzen, um dann den Palästinensern ihren Staat im Westjordanland sozusagen auf dem silbernen Tablett zu servieren. Scharon dachte wie Kissinger in Schachbegriffen, es ging ihm schlicht darum, die Brettposition für Israel richtig zu organisieren. Die Dissonanzen zwischen Israel und der westlichen Welt, der es zugehörig zu sein glaubte, wuchsen von nun an beständig. Und doch schien es, als wäre Israel durch die erste Intifada in den Jahren 1987 bis 1989 aus seinem messianischen Traum erwacht. Der palästinensische Widerstand wurde zu einer Massenbewegung. Zwar bestanden die Waffen nur aus Steinen und Schleudern; aber der Irrglaube, daß Israel die Besatzung zu einem niedrigen politischen und militärischen Preis fortsetzen konnte, war gebrochen. Der damalige Verteidigungsminister Jitzchak Rabin reagierte zuerst mit dem verärgerten Befehl an die Armee, den Palästinensern Arme und Beine zu brechen. Aber dann realisierte er, daß die Okkupation beendet werden müsse.

Als er 1992 erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, waren die geheimen Verhandlungen zwischen Israel und der PLO schon weit fortgeschritten, und Rabin erklärte den Oslo-Friedensprozeß zur offiziellen Politik. Am 13. September 1993 schien die Geschichte des Nahen Ostens auf immer verändert. Auf dem Rasen des Weißen Hauses standen Jitzchak Rabin, Schimon Peres und Jassir Arafat zusammen mit Bill Clinton, um das Oslo-Abkommen zu unterzeichnen. Wie Europa nach dem Krieg schien Israel aus der nationalistischen Illusion, in die es versunken gewesen war, zu erwachen.

Das aber war ein Fehlschluß, denn Israels Rechte ruhte nicht. In Demonstrationen, an denen der damals junge Führer der rechten Likud-Partei Benjamin Netanjahu teilnahm, wurden Plakate geschwenkt, auf denen Rabin in Naziuniform dargestellt war. Viele Israelis sahen in einem möglichen Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen nicht einen Schritt zur politischen und moralischen Konsolidierung Israels, sondern Hochverrat.

Am 4. November 1995 fuhr ich auf meinem Motorrad zum Kikar Malchei Israel (Platz der Könige Israels), dem traditionellen Ort für Großkundgebungen des Friedenslagers, um dort mit Freunden an einer Demonstration für den Frieden teilzunehmen. Das Motorrad war das einzige Verkehrsmittel, um nahe an den Platz heranzukommen, da einige hunderttausend Demonstranten erwartet wurden und die Sicherheitsvorkehrungen enorm waren.

Kurz nach Rabins Rede und nachdem das Friedenslied verklungen war, verließ ich den Platz, um vor dem drohenden Verkehrschaos in den Norden der Stadt zu gelangen. Als ich zu Hause ankam, erfuhr ich, daß Rabin gerade von einem jungen, rechtsextremen nationalreligiösen Attentäter angeschossen worden war. Vierzig Minuten später wurde sein Tod bekanntgegeben. Eine Woche später waren wir wieder auf dem Platz, der bald in »Kikar Rabin« (Rabinplatz) umbenannt werden sollte. Vierhunderttausend Menschen waren wir, die schworen, daß Rabin nicht umsonst gestorben sein sollte.

Aber sein Erbe wurde fast von allen Seiten ausgeschlagen. Die Palästinenser trugen viel zum baldigen Ende des Oslo-Friedensprozesses bei,6 im März 1996 etwa töteten zwei Terroristen der Hamas durch Selbstmordanschläge Dutzende Israelis. Das Resultat war, daß Schimon Peres, Rabins Nachfolger, der dem Friedensprozeß verpflichtet war, einige Monate später die Wahlen gegen den rechtsgerichteten Vorsitzenden des Likud Benjamin Netanjahu verlor und die alte Politik der Härte und der Vergeltung erneut Einzug hielt. 1999 schien sich der Gang der Geschichte noch einmal zum Guten zu wenden. Der frühere Generalstabschef Ehud Barak gewann haushoch die Wahlen gegen Benjamin Netanjahu, und zwar mit der Versprechung, die Armee nach achtzehn Jahren aus dem Südlibanon abzuziehen und mit Syrien und den Palästinensern Frieden zu schließen. Dann aber scheiterte ein Jahr später das Gipfeltreffen zwischen Clinton, Barak und Arafat in Camp David. Die Historiker werden wohl noch lange streiten, wer die Hauptschuld daran trug. Am Ende des Prozesses jedenfalls stand der Beginn der zweiten Intifada, die im Herbst 2000 begann und das bis dahin blutigste Kapitel im israelisch-palästinensischen Konflikt darstellte. In vielen Städten Israels wurden Menschen durch Selbstmordattentäter in Stücke gerissen, und Ariel Scharon, Symbolfigur des israelischen Militarismus, gewann mit dem Likud in den Wahlen des Jahres 2001 mit großer Mehrheit gegen Barak. Die blutige Auseinandersetzung der Intifada, die bis 2003 dauerte und Tausenden von Israelis und Palästinensern das Leben kostete, war, wie der heutige Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas im Jahr 2010 einräumte, einer der schwerwiegendsten Fehler der Palästinenser. Für viele Israelis waren diese Jahre des Terrors der Beweis, daß mit den Palästinensern kein Friedensschluß möglich sei. Selbst einst überzeugte Anhänger des Friedensprozesses wählten ab 2000 die ihnen eigentlich verhaßte Likud-Partei und befürworteten eine Politik der harten Hand.

Mitten in der zweiten Intifada wurden für März 2003 Parlamentswahlen angesetzt. Avraham Burg, damals eine zentrale Figur in der israelischen Politik, bat mich, im Strategieteam der Avoda, der Arbeitspartei, mitzuarbeiten. Vier Monate lang analysierte ich Daten, hörte israelischen Bürgern zu und nahm an Strategiesitzungen teil. Ich sah, wie stark die Angst war vor den ständigen Terrorattacken, was die israelischen Wähler dazu trieb, Ariel Scharon als Ministerpräsidenten zu bestätigen, da er ihnen ein Sicherheitsgefühl vermittelte, wenn auch ein illusorisches. Diese Wahlen waren denn auch der Anfang vom endgültigen Ende des israelischen Friedenslagers, das sich von dieser Niederlage bis heute nicht erholt hat. Die israelischen Wähler haben seinen Fürsprechern nie verziehen, daß sie versprochen hatten, ein großzügiges Friedensangebot könnte den Konflikt beenden. Selbst unter linken Israelis wird heute nur noch mit Sarkasmus vom Oslo-Friedensprozeß gesprochen.

Im Jahre 2005 beschloß Ariel Scharon, Israels Truppen aus dem Gazastreifen abzuziehen und die jüdischen Siedlungen zu räumen. Da er dafür in der Likud-Partei kein Mandat hatte, gründete er die neue Partei Kadima, die links vom Likud und rechts von der Arbeitspartei eine zionistische Mainstream-Position einnehmen sollte. Ihr schlossen sich bald führende Likud-Politiker wie Ehud Olmert und Zippi Livni sowie der frühere langjährige Vorsitzende der Arbeitspartei und heutige Staatspräsident Schimon Peres an. Der Rückzug erfolgte im August 2005, aber das Resultat war ein Desaster.

In den palästinensischen Wahlen des Jahres 2006 gewann die islamistische Hamas die Mehrheit im Parlament. In einer Serie von Umstürzen wurde die palästinensische Autonomiebehörde de facto in zwei Teile geteilt: Die Hamas beherrscht seitdem den Gazastreifen, die Fatah die Westbank. Vom Gazastreifen ausgehende Raketenangriffe auf den Süden Israels wurden eine fast tägliche Realität, von denen man in der europäischen Presse nur selten etwas las. Die meisten Israelis folgerten daraus erneut, daß es keinen Wert habe, mit den Palästinensern Frieden schließen zu wollen. Ein weiterer Rückzug aus der Westbank kommt seit dem Rückzug aus dem Gazastreifen für viele nicht mehr in Betracht, würde dies doch nur bedeuten, daß die Kassam- und Katjuscharaketen nunmehr nicht nur auf südliche Städte wie Aschdod oder Beer Scheva fallen, sondern auch auf den einzigen Großflughafen Ben-Gurion und auf Tel Aviv. Israel reagierte bis zum Winter 2008 nicht systematisch auf die Raketenangriffe, begann dann aber die Militäroperation »Gegossenes Blei«, um die Attacken langfristig zu unterbinden. Nach tagelangen Luftangriffen folgte der Einsatz am Boden. Nach drei Wochen waren vierzigtausend Wohnungen zerstört und vermutlich über 1200 Palästinenser tot. Israel hatte nochmals verdeutlicht, wie überwältigend stark und effizient seine Armee ist. Gleichzeitig war das Land heftigster internationaler Kritik ausgesetzt. Eine UNO-Untersuchungskommission, geleitet vom jüdischen Richter Richard Goldstone, klagte Israel verschiedentlicher Kriegsverbrechen an.

Heute liegen Ariel Scharon und der Friedensprozeß im Koma. Das israelische Parlament steht weiter rechts denn je, Netanjahu ist wieder Premierminister, und Israel hat mit dem ultrarechten Avigdor Lieberman einen Außenminister, der von den meisten Diplomaten der Welt soweit wie möglich gemieden wird. Innerhalb des Landes werden die isolationistischen Tendenzen immer stärker, und in nationalreligiösen Kreisen wird ernsthaft diskutiert, ob Israel überhaupt eine Demokratie sein müsse. War nicht der historische Judenstaat eine Monarchie? Sollte Israel auf dem Weg in die messianische Zeit nicht wieder nach biblischem Recht leben? Die Anzahl der Israelis, die in diesen Begriffen denken, ist mittlerweile erschreckend groß geworden.

Ist Israel ein unmögliches Land?

Ein Buch, das Israel und seinen Platz in der Welt verstehen will, kann nicht an der Frage vorbeikommen, die in der westlichen Welt meist nur hinter vorgehaltener Hand gestellt wird. Die Frage »War Israel ein Fehler?« ist heute offiziell verpönt. Nichtjuden, die sie stellen, setzen sich dem Antisemitismusvorwurf aus, Juden, die sie stellen, werden als sich selbst hassende Nestbeschmutzer verunglimpft.7 Dennoch liegt die Frage in der Luft, im Gespräch mit nichtjüdischen Europäern ist sie als Subtext oft spürbar, meist schon dann, wenn Israel wohlmeinend das Existenzrecht zugestanden wird (und dieses nicht als selbstverständlich akzeptiert wird). Wenn ich meine Gesprächspartner dann frage, ob sie das Gefühl hätten, diese Frage sei in Europa relevant, ist die Antwort meist positiv, obgleich die meisten davor zurückschrecken, den Gedanken wirklich weiterzuverfolgen. Daher werde ich diese oft unausgesprochene Frage ganz offen verhandeln. Wäre die Welt ein weniger komplizierter Ort, wenn der Staat der Juden nicht gegründet worden wäre? Dieser Staat schaffe ja nur Probleme, sagen sich viele Nichtjuden. Er mache zuviel Lärm. Er benimmt sich nicht so, wie sich ein westlicher Staat benehmen sollte. Auch viele Juden haben diese Fragen gestellt: Der Historiker Tony Judt kam zu dem Schluß, daß Israel ein Anachronismus sei. In einer Zeit, da die Welt den Nationalstaat langsam hinter sich lasse, sei Israel mehr denn je eine Ethnokratie. Ironisch weist er darauf hin, daß Israel, das den Juden endlich Sicherheit hätte bringen sollen, der einzige Ort auf Erden sei, an dem die Juden systematisch bedroht seien.8 Der jüdisch-amerikanische Historiker und Psychoanalytiker Joel Kovel zieht weiter gehende Konsequenzen.9 Das ganze zionistische Projekt habe von Anfang an auf rassistischen und kolonialistischen Ideen beruht. Die Idee eines jüdischen Staates sei im Zeitalter der Menschenrechte untragbar und müsse zum Verschwinden gebracht werden. Während Kovel noch räsoniert, ist man in Teilen der islamischen Welt schon einen Schritt weiter und verkündet ganz offen, Israel militärisch vernichten und die Juden ins Meer treiben zu wollen. Kaum eine Woche vergeht, ohne daß der iranische Präsident Mahmud Achmadinedschad, sein Protegé Hassan Nasrallah, von der Hisbollah, oder der Vorsitzende des Hamas-Politbüros Khaled Meschal flammende Reden halten, in denen sie den Gläubigen versprechen, das »zionistische Gebilde« von der Landkarte zu streichen.

Bei soviel Ablehnung sollte man darauf hinweisen, daß Israel ein vom internationalen Recht sanktionierter Staat ist, der genau soviel Existenzrecht besitzt wie jeder andere auch. Ich werde zu zeigen versuchen, daß die Gründungsgeschichte des Landes sich nicht sonderlich von der der meisten Nationalstaaten unterscheidet, deren Anfänge meist außerordentlich gewalttätig waren. Bleibt die Frage, was dazu geführt hat, daß der Staat der Juden ein solcher Ausnahmefall geworden ist, gibt es doch außer Israel keinen Staat auf der Erde, dessen Existenzrecht schon derart lange und vehement in Frage gestellt wird, mag ein solcher auch Menschenrechtsverletzungen begehen, denen gegenüber diejenigen Israels verblassen. Es ist verführerisch, aber nutzlos, diesen Ausnahmestatus Israels religionsphilosophisch oder ontologisch zu deuten, vor allem, wenn der Antisemitismus als eine unheimliche, fast metaphysische Gewalt aufgefaßt wird.10 Deshalb muß rational geklärt werden, warum Israel auch heute noch im europäischen und im arabischen Raum derart heftige Reaktionen weckt. Im zweiten Teil werde ich daher eine Erklärung anbieten, die sowohl den Antisemitismus als auch Israels Sonderstatus über die gängige Vorurteilsforschung hinaus vermittels der Existentialpsychologie besser zu erklären versucht.11 Diese zeigt, wie tief verankert das menschliche Bedürfnis nach absoluten Sinnsystemen ist. Der Nahe Osten ist zudem, Schicksal der Geschichte, der Brennpunkt der drei abrahamischen Religionen, und Israel scheint seit seiner Gründung zum Großlaboratorium für das