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Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ist klar, dass das Ende der Geschichte weiterhin auf sich warten lässt. Stattdessen wirft ein anderes Ereignis aus dem Jahr 1989 lange Schatten: 26 Jahre nach der Fatwa gegen Salman Rushdie stellt uns der Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" einmal mehr vor die Frage, wie der Westen selbstbewusst für seine Werte eintreten kann – ob nun gegen Fundamentalisten, Populisten oder die antiwestliche Rhetorik eines Wladimir Putin. Während viele Linke und Liberale durch die Logik der politischen Korrektheit gleichsam gelähmt sind, schwingen sich Figuren wie Marine le Pen und Bewegungen wie Pegida zu Verteidigern des Abendlandes auf. In dieser Situation plädiert Carlo Strenger für eine Haltung der zivilisierten Verachtung, mit der das aufklärerische Toleranzprinzip wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird: Anstatt jede Glaubens- und Lebensform zu respektieren und diskursiv mit Samthandschuhen anzufassen, müssen wir uns daran erinnern, dass nichts und niemand gegen wohlbegründete Kritik gefeit sein darf: »Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.«
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Seitenzahl: 128
Veröffentlichungsjahr: 2015
Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall ist klar, dass das Ende der Geschichte weiterhin auf sich warten lässt. Stattdessen wirft ein anderes Ereignis aus dem Jahr 1989 lange Schatten: 26 Jahre nach der Fatwa gegen Salman Rushdie stellt uns der Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo einmal mehr vor die Frage, wie der Westen seine Werte selbstbewusst verteidigen kann – ob nun gegen Fundamentalisten, Populisten oder die antiwestliche Rhetorik eines Wladimir Putin. Während viele Linke und Liberale durch die Logik der politischen Korrektheit gleichsam gelähmt sind, schwingen sich Figuren wie Marine le Pen und Bewegungen wie Pegida zu Verteidigern des Abendlandes auf.
In dieser Situation plädiert Carlo Strenger für eine Haltung der zivilisierten Verachtung, mit der das aufklärerische Toleranzprinzip wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird: Anstatt jede Glaubens- und Lebensform zu respektieren und diskursiv mit Samthandschuhen anzufassen, müssen wir uns daran erinnern, dass nichts und niemand gegen wohlbegründete Kritik gefeit sein darf: »Wenn andere Kulturen nicht kritisiert werden dürfen, kann man die eigene nicht verteidigen.«
Carlo Strenger, geboren 1958, lehrt Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv und schreibt als Kolumnist für Haaretz und die Neue Zürcher Zeitung. Im Jüdischen Verlag erschien zuletzt Israel. Einführung in ein schwieriges Land.
Carlo Strenger
Zivilisierte Verachtung
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des edition suhrkamp Sonderdrucks 2015
© Suhrkamp Verlag Berlin 2015
edition suhrkamp
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-74132-0
www.suhrkamp.de
Vorwort
Das Eigentor der westlichen Kultur
Ein Testfall: Die Fatwa gegen Salman Rushdie
Die Geburt des Toleranzprinzips in der Aufklärung
Kolonialismus und zwei Weltkriege
Der Aufstieg der politischen Korrektheit
Verantwortliche Meinungsbildung: der Ärztetest
Wenn Ressentiment zur Tugend wird
Religion und zivilisierte Verachtung
Kränkungen ertragen
Die Leidenschaft für die Freiheit
Nachweise
Dieser Essay über das Recht und die Pflicht der freien Welt, ihre Grundwerte zu verteidigen, schwebte mir seit Jahren vor; den vorliegenden Text habe ich im Spätsommer 2014 geschrieben. Meine Motivation war, der relativistischen Tendenz der politischen Korrektheit, die glaubt, alle Positionen, Glaubenssätze und Lebensformen hätten den gleichen Respekt verdient, entgegenzuwirken. Dieser oft gedankenlose Respekt hat meiner Meinung nach vielen liberal eingestellten Menschen den Mut genommen, offensiv für die fundamentalen Werte der offenen Gesellschaft – Freiheit, Kritik und offene Diskussion – einzutreten. Die Gefahr, die ich sah und heute erst recht sehe, besteht darin, dass rechtsnationale Parteien und Gruppierungen die vakante Rolle der Verteidiger der freien Welt übernehmen, dabei aber die zu verteidigenden Werte der Aufklärung, die unsere Gesellschaften im Lauf der letzten Jahrhunderte humanisiert haben, durch Fremdenhass und das Schüren von Ängsten untergraben.
Am 7. Januar 2015 stürmten Chérif und Saïd Kouachi in die Räume des Satiremagazins Charlie Hebdo und erschossen dort elf Menschen: Karikaturisten, Redakteure, Kolumnisten und einen Personenschützer. Auf der Flucht töteten sie zudem den Polizisten Ahmed Merabet. Zwei Tage später erschoss Amedy Coulibaly bei einer Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt vier weitere Menschen. Zu diesem Zeitpunkt war die Arbeit am Text des Essays schon sehr weit fortgeschritten, und genau wie meine Ansprechpartner im Verlag hatte ich das Gefühl, Zivilisierte Verachtung sei für solche Ernstfälle geschrieben worden: für Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit, aber auch für die schamlosen Versuche rechtsnationaler Politiker wie Marine le Pen und islamophober Gruppierungen wie Pegida, Tragödien wie das Charlie-Hebdo-Massaker für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Von den vielen Solidaritätskundgebungen, die in jenen Januartagen in Frankreich und anderen Teilen der Welt zu sehen waren, berührte mich am tiefsten ein Plakat mit folgender Aufschrift:
JesuisCharlie
JesuisAhmed
JesuisJuif
Diese Worte machen klar, dass die Freiheit sowie das Recht zur Kritik und zur Satire keiner Ethnie, keiner Nation und keiner Religion gehören, sondern der Menschheit als Ganzer.
Dieser Essay ist dem Andenken der Opfer der Anschläge von Paris gewidmet.
Spätestens seit dem 11. September 2001 ist der Westen wieder mit einer Frage konfrontiert, von der man bereits gedacht hatte, sie sei nicht mehr relevant: Wie soll und kann man die Grundwerte der freien Welt verteidigen? Das Ende des Kalten Krieges hatte bei vielen die Hoffnung geweckt, die Geschichte, verstanden als Schlacht der Wahrheiten und Ideensysteme, sei vorüber und die liberale Demokratie drauf und dran, den Globus gewaltlos zu erobern. Doch diese Prophezeiung, die der US-Politologe Francis Fukuyama nach dem Fall der Berliner Mauer ausgesprochen hatte,1 bewahrheitete sich nicht. Es brach keine Ära des ewigen Friedens an, stattdessen ging das Gemetzel weiter – wenn auch unter anderen Vorzeichen: Das auseinanderbrechende Jugoslawien wurde zum Schauplatz ethnischer Säuberungen, die sich fast zu einem Genozid ausgeweitet hätten, wie er sich dann schließlich 1994 in Ruanda ereignete – live übertragen auf dem Nachrichtenkanal CNN. Der Friedensprozess im Nahen Ostens, der sich 1993 mit den unter anderem von Jitzchak Rabin und Jassir Arafat unterschriebenen Oslo-Abkommen anzubahnen schien, scheiterte am Fanatismus israelischer Siedler, die keinen Zentimeter biblischen Landes aufgeben wollten, und am Eifer der Hamas, die auf keinen Zentimeter Groß-Palästinas verzichten wollte, und fünf Jahre später floss jüdisches und palästinensisches Blut in Strömen. Mittlerweile wird die islamische Welt von fundamentalistischen Bewegungen sunnitischer und schiitischer Prägung beherrscht; in furchtbaren Größenordnungen schlachten sich sowohl Syrer als auch Iraker ab. Das menschliche Bedürfnis nach klaren Identitäten und absoluten Wahrheiten spülte die Hoffnung auf ein neues, kosmopolitisches Zeitalter hinweg. Die Religionen erlebten ihre Rückkehr auf die Bühne der Weltgeschichte, und die Prognose des Politologen Samuel Huntington, an die Stelle des Kalten Krieges werde ein Kampf der (religiös geprägten) Kulturen treten,2 scheint um einiges realistischer als Fukuyamas These, die Geschichte der politischen Ideen sei an ihr Ende gelangt und die liberale Demokratie, der Inbegriff menschlicher Vernunft, werde triumphieren.
Konflikte mit Repräsentanten anderer Weltanschauungen sind wieder hochaktuell: Wladimir Putins Expansionspolitik hat bisher seitens der westlichen Welt wenig Widerstand gefunden. Dschihadistische Organisationen wie al-Qaida und der Islamische Staat haben dem Westen offiziell den Krieg erklärt, und China scheint die Vorherrschaft über Südostasien anzustreben. Inzwischen gehen viele Politologen davon aus, dass wir einen Wettbewerb unterschiedlicher Regimetypen erleben werden.3 Als da wären: Autokratie à la Putin, Kapitalismus im Rahmen eines Einparteiensystems, von Clans dominierte theokratische Regimes wie in Saudi-Arabien und den Golfstaaten, gemäßigte Autokratien wie beispielsweise in Singapur, neosozialistische Varianten in Lateinamerika usw. – die immerhin alle dem totalen Chaos vorzuziehen sind, das große Teile Afrikas und Mittelamerikas erfasst hat, wo Warlords und mafiaartige Organisationen herrschen. Die liberale Demokratie und die Idee der universalen Menschenrechte, die unabhängig von Religion, Nationalität, Geschlecht und sexueller Orientierung Geltung beanspruchen, haben die Welt am Ende doch nicht erobert, auch wenn es in den neunziger Jahren so aussah, als sei der Dominoeffekt der Demokratisierung nicht mehr aufzuhalten.4 (Wobei man natürlich sehen muss, dass der Großteil der Menschheit jederzeit mit den ärmsten und machtlosesten Europäern, US-Amerikanern, Kanadiern oder Australiern tauschen würde, weshalb ja täglich Zehntausende ihr Leben riskieren, um aus Afrika nach Europa zu gelangen.)
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie schwer sich viele Vertreter der freien Welt (vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums) damit tun, ihre Lebensform ernsthaft zu verteidigen. Manchmal macht es beinahe den Eindruck, als bestehe das einzig mess- und vorzeigbare Verdienst des Westens darin, Entwicklungshilfe zu leisten und ein Pro-Kopf-Einkommen zu erwirtschaften, von dem der Rest der Welt, China eingeschlossen, auch weiterhin nur träumen kann. Hier und da kann man zwar Selbstverteidigungsversuche beobachten, diese sind aber ihrerseits häufig hochproblematisch, wie folgendes Beispiel zeigt.
Ich bin meistens recht stolz auf die politische Kultur der Schweiz, in der ich geboren und aufgewachsen bin und deren Staatsbürgerschaft ich keinesfalls missen möchte. Als die fremdenfeindliche Schweizerische Volkspartei (SVP) 2007 eine Volksinitiative gegen den Bau von Minaretten lancierte, konnte ich mir daher kaum vorstellen, dass die Schweizer (im Land standen zu dieser Zeit ganze drei Minarette) diese Initiative befürworten würden, was sie dann jedoch 2009 taten. Irgendwas musst da schiefgelaufen sein: Waren die Eidgenossen sich ihrer politischen Kultur und nationalen Identität wirklich so unsicher, dass sie sich von ein paar Minaretten (die auf den Plakaten des Initiativkomitees als Raketen dargestellt wurden) bedroht fühlten? Meine Überraschung war fehl am Platz. Ich hätte in Betracht ziehen müssen, dass die Schweizerische Volkspartei seit 2003 die größte Fraktion im Nationalrat stellte und das Land damit keineswegs ein Einzelfall war, immerhin hatte der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2002 in der ersten Runde den Sozialisten Lionel Jospin distanziert und es in die Stichwahl gegen Jacques Chirac geschafft. In dieser unterlag er zwar, aber er hatte bewiesen, dass seine Partei keine Randerscheinung mehr war – eine Entwicklung, die sich unter seiner Tochter Marine Le Pen, die mittlerweile selbst als ernsthafte Präsidentschaftskandidatin gilt, konsolidiert hat. Der Rechtstrend in Europa darf nicht unterschätzt werden: Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und eine tiefe Angst vor der Zukunft sind heute überall in Europa zu finden. Thilo Sarrazins 2010 erschienenes Buch Deutschland schafft sich ab,5 in dem der Autor unter anderem behauptet, in Deutschland werde es binnen weniger Jahrzehnte eine muslimische Mehrheit geben, wurde 2010 mit bis heute etwa 1,5 Millionen verkauften Exemplaren zu einem der erfolgreichsten Sachbücher in der Geschichte der Bundesrepublik. Sarrazins Ängste sind insofern nicht vollkommen unbegründet, als Deutschlands Bevölkerung (Ähnliches gilt für die meisten europäischen Staaten) konsequent schrumpft, was bedeutet, dass die Wirtschaft ohne Einwanderung gar nicht mehr funktionieren würde. Viele von Sarrazins Thesen (etwa zur genetischen »Inferiorität« der muslimischen Einwanderer, die dazu führe, dass sie es nie aus den unteren Schichten herausschaffen würden) wurden von Fachleuten jedoch als vollkommen haltlos zurückgewiesen.6 Sarrazin mag wichtige Punkte angesprochen haben, aber letztlich war der Erfolg von Deutschland schafft sich ab eher dem Spiel mit Überfremdungsängsten geschuldet als der Stringenz und Substanz seiner Argumentation.
Dieser Essay geht davon aus, dass die große Unsicherheit des Westens – vor allem Europas –, die in der Stärkung von Rechtsparteien, der Islamophobie und der steigenden Fremdenfeindlichkeit zum Ausdruck kommt, einen tieferen Grund hat. Die meisten Europäer, so meine These, sind nicht mehr in der Lage, für ihre Kultur substanziellere Argumente vorzubringen als die Effizienz ihrer Volkswirtschaften und den politischen und sozialen Frieden, der im Westen und in der Mitte des Kontinents praktisch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufrechterhalten werden konnte. Wenn jedoch die Fähigkeit verloren geht, die eigene Lebensform und ihre Werte argumentativ zu verteidigen, ist der Weg frei für rückwärtsgewandte Rechtsparteien, deren Programm am Ende darauf hinausläuft, dass Deutschland den Deutschen gehört, Frankreich den Franzosen und die Schweiz den Schweizern. Ich möchte keinesfalls irgendjemandem das Recht bestreiten, seine Kultur zu lieben und für ihren Erhalt zu sorgen, gehe aber davon aus, dass der Nationalismus eben nicht das Wesen des Westens ausmacht, sondern dass er im Gegenteil eine seiner destruktivsten Erfindungen darstellt.
Der Begriff des Westens datiert aus der Periode, in der das Römische Reich in einen westlichen Teil mit dem Zentrum Rom und einen östlichen mit dem Zentrum Konstantinopel zerbrach, und hat von diesem Ursprung her sowohl eine religiöse als auch eine politisch-kulturelle Komponente.7 Mit dem Aufstieg des Islam, der sich in seiner Blütezeit auf ein mehr oder weniger durchgehendes Gebiet von Spanien über den Maghreb bis nach Zentralasien und Afghanistan ausdehnte, wurde der Begriff Westen praktisch zu einen Synonym für Christentum, und diese religiöse Konnotation des Wortes ist bis heute von großer Bedeutung. Der Begriff sowie das Selbstverständnis der damit bezeichneten Region haben seit dem 18. Jahrhundert jedoch eine tiefgreifende Transformation durchgemacht. Die Aufklärung, deren Wurzeln in der Renaissance zu finden sind, kristallisierte sich als Elitenphänomen während des 17. und 18. Jahrhunderts heraus. Ihr zentrales Motiv war, wie Kant es prägnant ausdrückte, die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Mit Ernst Bloch gesprochen, handelte es sich um einen Prozess, in welchem der Mensch die Angst vor und die Abhängigkeit von äußeren Autoritäten, ob religiös oder politisch, hinter sich ließ, seine Autonomie proklamierte und zum »aufrechten Gang« fand: Die Mentalität der Unterwerfung wurde durch den Geist der Kritik abgelöst. Das Elitenphänomen Aufklärung transformierte den Westen im 19. Jahrhundert vollständig: Ihr unbestreitbares Erfolgsgebiet, dem sie die stärksten Argumente für ihren Anspruch auf universale Gültigkeit verdankt, war die wissenschaftliche Revolution, die keinen Stein auf dem anderen ließ und es dem Westen dank seiner technologischen Überlegenheit innerhalb von zwei Jahrhunderten ermöglichte, den Status einer bedrohten Zivilisation hinter sich zu lassen und die weltweite Vorherrschaft zu erobern. Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten westliche Staaten über drei Viertel der globalen Landmasse, und ihre Hoheit über die Ozeane war uneingeschränkt. Noch 200 Jahre zuvor war dies äußerst unwahrscheinlich gewesen: 1683 belagerten die Truppen des Osmanischen Reichs Wien. Im Jahr 1798 mussten die Ägypter dann allerdings ohnmächtig dabei zusehen, wie Napoleon mit einer kleinen Streitmacht ihr ganzes Land erobern konnte, bevor britische Truppen drei Jahre später die Franzosen überwältigten, ohne dass die Ägypter selbst in diesen Ereignissen irgendeine Rolle gespielt hätten.8 Die technische und organisatorische Überlegenheit westlicher Armeen führte zu einer derartigen Dominanz, dass etwa die Briten in der Lage waren, mit ziemlich geringem militärischen und administrativen Aufwand den ganzen indischen Subkontinent zu kontrollieren.
Doch das Selbstbewusstsein des Westens basierte nicht allein auf technologischer und militärischer Überlegenheit. Rudyard Kipling sprach in seinem berühmten gleichnamigen Gedicht von der »Bürde des weißen Mannes«, der verpflichtet sei, dem Rest der Welt die Segnungen der Zivilisation zu bringen – eine Vorstellung, die alle europäischen Kolonialmächte teilten. Rückblickend mag dieses moralisch-zivilisatorische Selbstverständnis als Chimäre erscheinen. Man darf aber nicht vergessen, dass die Aufklärung ihrer Intention nach tatsächlich eine universale Geltung beanspruchte, sowohl was die Suche nach Wahrheit als auch das Streben nach einer gerechten politischen Ordnung betrifft. Wie ich noch genauer ausführen werde, ist dieses aufklärerische Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert angesichts der Katastrophe zweier Weltkriege und der Dekolonisation von vielen als durchsichtige Rationalisierung der imperialistischen Ausbeutung der Welt durch den weißen Mann interpretiert worden. Nach 1945 begann dann ein Prozess der Selbstkasteiung:9 Der universalistische Anspruch der Aufklärung wurde als grundlegende Kulturlüge diffamiert; der Westen solle seine Sünden nun abarbeiten, indem er nicht nur konkret für die Misere der dekolonisierten »Dritten Welt« die Verantwortung übernehmen, sondern auch jede Lebensform und jeden Glauben respektieren müsse, weil dieses oder jenes ethnische, religiöse oder kulturelle Kollektiv so nun mal denke, glaube und lebe. Das war die Geburtsstunde der politischen Korrektheit. Deren Grundprinzipien sind die Gleichberechtigung aller Kulturen, Glaubenssysteme und Lebensformen sowie das prinzipielle Verbot, andere Kulturen moralisch oder erkenntnistheoretisch zu kritisieren.10 Der westliche Mensch sei, so die These, bestenfalls aufgefordert, in Form von Entwicklungshilfe für die Sünden der Vergangenheit monetär geradezustehen. Kritik ist allenfalls an den eigenen Politikern erlaubt, aber auch dabei darf es nur um Managementfragen gehen. Grundsatzfragen lassen sich angeblich überhaupt nicht rational diskutieren, da alle Meinungen und Glaubensformen respektiert werden müssen. Die politische Korrektheit wurde bald zur Grundeinstellung vor allem der europäischen und zum Teil auch der amerikanischen Linken, was zu einer hochproblematischen intellektuellen Einschüchterung führte. An vielen sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten wurde die westliche Kultur nun routinemäßig als »phallogozentristische« Krankheit (von gr. phallus für Penis und logos für Vernunft) denunziert. Sie sei schlicht und ergreifend das Vermächtnis von »dead white men«, toten weißen Männern, die nicht nur andere Kulturen, sondern auch Frauen und nichtheterosexuelle Menschen dominieren wollten.11