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Petros Markaris

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Beschreibung

Griechenland, 2014: Der Staat liegt am Boden, die Drachme wird wieder eingeführt. Sind die Helden von einst verantwortlich für die Misere von heute? Vierzig Jahre nach dem Aufstand gegen die Militärdiktatur will sich einer holen, was die klingenden Parolen der Studentenbewegung damals versprachen: »Brot, Bildung, Freiheit«. Und geht dabei über Leichen.

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Petros Markaris

Abrechnung

Ein Fall fürKostas Charitos

Roman

Aus dem Neugriechischen vonMichaela Prinzinger

Titel der 2012 bei

Samuel Gavrielides Editions, Athen,

erschienenen Originalausgabe:

›Ψωμί, παιδεία, ελευθερία‹

Copyright © 2012 by Petros Markaris

und Samuel Gavrielides Editions

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2013 im Diogenes Verlag

Covermotiv:

Copyright © picture alliance/TIPS-Images (Ausschnitt)

Bildagentur-online/TIPS-Images

Dieser Band wurde für die deutsche Fassung

in Zusammenarbeit mit dem Autor

nochmals durchgesehen

In Memoriam

Theodorus Angelopoulos

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24303 3 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60340 8

[5] »Sie verteilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Gewand.«

Johannes 19, 24

[7] 1

Adriani hält ihn in der linken Hand und streicht ihn mit der anderen glatt. Ihre Hand zittert bei der Berührung.

»Ob ihr es glaubt oder nicht, er hat mir gefehlt«, flüstert sie.

In der Hand hält sie einen zerknitterten alten Tausend-Drachmen-Schein mit der Abbildung von Myrons Diskuswerfer.

»Mama, mit dem Tausender kannst du morgen nicht mal mehr einen Kaffee bezahlen«, sagt Katerina.

Mit »morgen« meint sie den 1.Januar 2014. Heute, am Silvesterabend des Jahres 2013, schneiden wir mit Katerina, Fanis und dessen Eltern Sevasti und Prodromos den Neujahrskuchen an.

»Der Wirt ist bestimmt froh, für einen Kaffee statt nur drei Euro tausend Drachmen zu bekommen«, entgegnet Adriani.

»Ja, aber tausend Drachmen sind nicht mehr als zwei Euro wert.«

»Mach ihr das Herz doch nicht so schwer«, wispert ihr Fanis zu.

»Ab morgen wird auch sie der Tatsache ins Auge sehen müssen.«

»Dann eben morgen«, erwidert Fanis entschieden.

»Katerina, wir haben das alles schon einmal erlebt. Wir [8] sind abgehärtet«, mischt sich Sevasti ein. »Weißt du, wie viele Drachmen meine Mutter für ein Kilo Reis nach dem Bürgerkrieg bezahlen musste? Prodromos, erinnerst du dich, wie viel ein Kilo Reis nach der Abwertung unter Markesinis gekostet hat?«

»Gleich fragst du mich, wie viele Kanonen der Panzerkreuzer Averoff hatte«, antwortet Prodromos.

Damit ist das Gespräch beendet, da Adriani in die Küche geht, um den Neujahrskuchen und die Trockenfrüchte zu holen. Und Katerina eilt ihr hinterher, um ihr zur Hand zu gehen.

Ich beteilige mich lieber nicht an der Diskussion, da mir selbst noch nicht klar ist, wozu ich tendiere. Ich kann Katerinas Angst vor der Rückkehr zur guten alten Drachme verstehen. Doch auch Adrianis und Sevastis abgeklärte Haltung kann ich nachvollziehen: Mit der Drachme haben wir schlimme Zeiten durchgemacht und überstanden, argumentieren sie. Ja schon, nur jetzt steht uns der Umzug von einem Einfamilienhaus in eine Einzimmerwohnung bevor, und so ein Schritt fällt schwer.

Adriani und Katerina bringen – ganz wie die Bedienung in einem feinen Restaurant – zu zweit die Speisen herein.

Als sie die Servierplatten abstellen, klingelt es, und Sissis steht vor der Tür. Wir hatten alle gemeinsam beschlossen, ihn am Silvesterabend nicht mit der düsteren Aussicht allein zu lassen, dass sein so schon dürftiges Einkommen ab morgen noch weniger wert sein würde. Was ihn nicht daran gehindert hat, uns eine gläserne Obstschale mitzubringen.

Das veranlasst uns dazu, zum allgemeinen Austausch der Neujahrsgaben überzugehen.

[9] »Diesmal haben sie besonderen Symbolcharakter«, bemerkt Adriani. »Es sind die letzten Geschenke, die wir in Euro bezahlt haben.«

»Deshalb habe ich etwas für dich, das du gut gebrauchen kannst«, sagt Katerina, während sie ihrer Mutter ein Päckchen überreicht.

Als Adriani das Papier aufreißt, kommt ein dickes Portemonnaie zum Vorschein.

»Das ist eins mit vielen Fächern, damit du die guten alten Drachmenscheine fein säuberlich einsortieren kannst«, sagt Katerina amüsiert.

»Soso, jetzt kommen die leeren Brieftaschen mit den vielen Fächern wieder in Mode«, kommentiert Adriani.

»Warum sagst du nichts?«, frage ich Sissis.

»Was soll ich sagen?«

»Dass man auch mit wenig auskommt. Du beherrschst doch diese Kunst.«

»Um das Gesicht zu wahren, tut man so, als ob es einem nichts ausmache. Man kommt zurecht, aber leicht fällt es einem nicht.«

Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, deutet Lambros an, wie schwer er es hat.

Die übrigen Geschenke sind die klassischen Neujahrsgaben: Pullover, Hemden, T-Shirts und Krawatten. Doch dann kommt Katerina mit einer großen Plastiktüte und stellt sie vor mich hin.

»Das ist für dich, von Fanis und mir.«

Ich mustere die Plastiktüte und versuche zu erraten, was sich darin verbergen könnte. Dabei fällt mir auf, wie sich Fanis und Katerina heimlich zulächeln. Als ich sie öffne, [10] kommt ein Laptop zum Vorschein. Nachdem das Geheimnis gelüftet ist, rufen alle im Chor »Alles Gute zum neuen Jahr!«. Doch ich starre nur den Computer an.

»Was soll ich denn damit?«, wundere ich mich.

»Es wird Zeit, dass du bei deinen Recherchen von Koula unabhängig wirst.«

»Und dafür habt ihr eure letzten Euros ausgegeben? Damit ich mich von Koula emanzipiere? Ich habe doch keine Ahnung von Computern. Ich kann ja nicht mal eine Schreibmaschine bedienen. Ich war immer mehr der Handwerker als der Kopfarbeiter.«

»Es ist nicht schwer, Koula bringt dir alles bei«, meint Katerina.

Der Computer lässt mich daran denken, dass ich als Kriminalrat einen Dienst-PC bekommen hätte. Doch weder ich noch Gikas sind befördert worden, denn ein Regierungswechsel kam dazwischen, und da wurden die Posten gleich an die eigenen Leute verteilt.

»Jetzt stehen wir dumm da, Kostas. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht mit Neuwahlen. Ich verheimliche nicht, dass ich so meine Beziehungen habe. Aber hier bei uns muss man bei allen Parteien den Fuß in der Tür haben. Und das ist praktisch unmöglich«, sagte Gikas deprimiert, während ich mich fragte, wen er mehr bedauerte: mich oder sich selbst. Jedenfalls hat sich wieder einmal der alte Spruch meines Vaters bewahrheitet: »Je hochfliegender die Hoffnung, desto übler die Bruchlandung.« Nicht, dass ich mir wegen der fehlgeschlagenen Beförderung graue Haare wachsen lasse, aber ein Bündel Drachmenscheine mehr im Monat hätte mich auch nicht gestört.

[11] Dann schiebe ich die unangenehmen Gedanken beiseite und trete an den Tisch, wo schon alle versammelt sind, um den Neujahrskuchen anzuschneiden. Während die traditionellen Neujahrslieder aus dem Fernseher ertönen, schlage ich das Kreuzzeichen und verteile die Süßigkeit. Vorsichtig befingert ein jeder sein Stück, um die im Kuchen versteckte Münze zu finden.

»Hier, ich hab sie.«

»Glückwunsch, Onkel Lambros! Das wird ein gutes Jahr für dich!«, sagt Katerina unter den Hochrufen der anderen.

»Das Glück kommt spät, aber es kommt«, erwidert Sissis heiter und nimmt die guten Wünsche aller mit einem schüchternen Lächeln entgegen.

»Mein Gott, was ist denn da los?«, ruft Adriani plötzlich aus.

Auf dem Fernsehbildschirm ist vor lauter umherschwirrendem Konfetti fast nichts mehr von der Silvesterparty auf dem Syntagma-Platz zu sehen.

»Das sind ja Drachmen!«, ruft Sevasti aus.

Tatsächlich, die Papierfetzen sind Spielgeldscheine: Hunderter, Tausender und Fünftausender.

»Es regnet Drachmen vom Himmel«, verkündet der Moderator überschwenglich, während das Publikum auf dem Syntagma-Platz jubelt und klatscht.

»Die sind verrückt! Die feiern unseren Untergang«, bemerkt Prodromos.

»Wollen wir uns das nicht aus der Nähe anschauen?«, schlägt Sevasti vor.

»Ja, unbedingt«, stimmt Adriani begeistert zu.

»Wir haben ja genug Platz in unseren beiden Autos«, [12] sagt Fanis zu mir, und an seiner Miene kann ich ablesen, dass auch er Lust hat, das Spektakel aus der Nähe zu verfolgen. Die Frage ist weniger, ob wir genug Sitzplätze haben, sondern ob wir überhaupt zum Syntagma-Platz durchkommen.

Doch entgegen meinen Befürchtungen rollt der Verkehr flüssig. Als wir nach links in den Vassileos-Konstantinou-Boulevard einbiegen, um über die Rigillis-Straße möglichst nahe ans Geschehen zu kommen, hält uns ein Verkehrspolizist beim Offiziersklub an.

»Fahren Sie lieber nicht weiter, Herr Kommissar. Der Vassilissis-Sofias-Boulevard ist ab der Koumbari-Straße gesperrt.«

»Können wir die beiden Wagen hierlassen, meinen und den von meinem Schwiegersohn?«

»Natürlich, ich habe ein Auge darauf. Eine kleine Gefälligkeit unter Kollegen«, fügt er augenzwinkernd hinzu, um mich daran zu erinnern, dass Bestechungsgeld unsere nationale Währung bleiben wird, unabhängig davon, ob es in Drachmen bezahlt wird oder nicht.

Wir marschieren los. Als wir uns der Kurve zur Solonos-Straße und dem Hotel Grande Bretagne nähern, ist jedoch kein Durchkommen mehr. Wir schaffen es bis zum Hoteleingang und sehen, wie erneut ein Bündel Spielgeld wie ein Taubenschwarm am Himmel flattert.

»Das sind Peseten«, erläutert der Moderator von der Bühne. »Als kleine Hommage an unsere spanischen Freunde, die heute zusammen mit uns feiern.«

Die Kapelle spielt ein spanisches Stück, zu dessen Rhythmus ein paar junge Frauen auf dem Bürgersteig ausgelassen [13] tanzen, während sie zu den oberen Etagen des Hotels hinaufblicken.

»Na, ihr amüsiert euch ja prächtig, Mädels«, meint Adriani zu ihnen.

»Da oben, auf der Hotelterrasse, steht ein deutsches Kamerateam und filmt uns«, erklärt ihr eine Blonde Anfang zwanzig. »Die mit ihrem Euro können uns den Buckel runterrutschen. Die haben ja keine Ahnung, wie man sich auch ohne Geld vergnügt.«

»Nicht zu fassen! Sogar in dieser Misere finden wir noch einen Grund zum Feiern«, murmelt Katerina.

Sissis fasst sie am Arm.

»Als unsere Leute damals nach dem Bürgerkrieg zusammen mit den traurigen Überresten der Demokratischen Armee emigriert sind, haben sie schon vor ihrer Ankunft ihre baldige Rückkehr gefeiert«, flüstert er ihr zu, damit ihn die anderen nicht hören. »Erst als sie in Taschkent ankamen, wurde ihnen klar, dass ihnen noch harte Zeiten bevorstehen.«

»Das hier ist keine Feierlaune, sondern Hass, Onkel Lambros«, meint Fanis. »Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg macht sich in Europa wieder blanker Hass breit.«

Noch eine Fontäne aus Banknoten steigt hoch in den Nachthimmel. »Das sind Lire für unsere italienischen Freunde. Um ihnen zu zeigen, dass wir ihnen beistehen und an sie denken.«

Nun spielt die Kapelle eine italienische Melodie.

»Darf ich was fragen, Mister?«, meint ein Schwarzer, der zusammen mit seiner Frau neben mir das Schauspiel verfolgt.

[14] »Nur zu.«

»Ich und mein Frau zahlen fünftausend Dollar, um in Land mit Euro zu kommen. Und jetzt wir haben Drachme. Fünftausend Dollar nur für Drachme?«

»C’est la vie«, bemerkt die Frau an seinem Arm.

Ich frage Katerina, die am Französischen Kulturinstitut Unterricht genommen hat, was »C’est la vie« bedeutet.

»So ist das Leben«, übersetzt sie.

Genau. So ist das Leben, heute. Aber morgen, wie sieht es da aus?

[15] 2

Um Sissis’ Vergleich weiterzuspinnen: Das Exil in Taschkent hat für uns alle genau am ersten Januar begonnen. Nicht einmal eine Gnadenfrist wurde uns gewährt, damit wir uns in unserem neuen Zuhause einrichten können, das nicht mehr ist als ein Auffanglager. Nur gibt hier nicht, wie zu Sissis’ Zeiten, die Parteileitung den Ton an, sondern die modernen Einpeitscher: die Massenmedien mit den Fernsehsendern an vorderster Front.

Adriani hatte sich seit dem frühen Morgen in der Küche verbarrikadiert, um das Neujahrsessen vorzubereiten, zu dem die ganze Familie eingeladen war. Prodromos und Sevasti hatten wie immer, wenn sie in Athen waren, in Katerinas altem Zimmer übernachtet.

Wenn Adriani am Kochen ist, gehe ich ihr lieber aus dem Weg, da sie sich dann leicht aufregt und das an mir auslässt. Also machte ich es mir im Wohnzimmer vor dem Fernseher gemütlich. Ich stand immer noch unter dem Eindruck der Silvesterereignisse mit den durch die Luft tanzenden Banknoten, dem Jubelgeschrei, den Freudentänzen und dem frenetischen Applaus.

Vielleicht hoffte ich, dass die Party auf dem Bildschirm weitergehen würde. Als ich auf den Einschaltknopf drückte, erschienen anstelle der Drachmenscheine zwei vierzigjährige Journalisten vor mir, die den Vizefinanzminister in [16] die Mangel nahmen. Und was sie nicht alles wissen wollten – wie lange die Banken geschlossen bleiben würden, ob die Spareinlagen der Griechen sicher seien und ob der Staat Löhne und Renten zahlen könne. Obwohl die Fragen nicht auf mich, sondern auf den Vizeminister niederprasselten, hatte ich das Gefühl, man dresche auf mich ein, bis mir schwarz vor Augen wurde.

Prodromos hatte neben mir Platz genommen und schweigend mitgeguckt. Doch anscheinend war seine Geduld schneller erschöpft als meine, denn er packte die Fernbedienung und wechselte den Sender. Da musste man mit ansehen, wie ein Paar Anfang siebzig mit zwei Holzstöcken im Müll wühlte. Als sie die Kamera bemerkten, verbargen sie ihre Gesichter und wandten sich ab.

»Das sind nun die ersten Bilder des Jahres 2014«, bemerkte der Reporter.

Zum Glück trafen kurz darauf die Kinder ein, und die Stimmung hellte sich wieder auf. Adriani hatte im Ofen geschmorten Lammbraten mit Backkartoffeln zubereitet, Sevasti ihre Spezialität Krautrouladen beigesteuert und Katerina den am wenigsten aufwendigen Teil, den Salat.

»Schau mal, Fanis, auch wenn unsere Taschen leer sind, gefülltes Gemüse gibt’s im Überfluss«, lachte Katerina. »Die Tomaten und Paprika von meiner und die Krautrouladen von deiner Mutter. Da muss ich mir ein Beispiel nehmen, sonst krieg ich noch Komplexe.«

»Du solltest besser lernen, wie man Wildkräuterpitta oder Risotto zubereitet«, meinte Sevasti. »Zu mehr reicht’s jetzt nicht mehr.«

»Hör bloß auf, Sevasti. Die Fernsehbilder deprimieren [17] uns schon genug«, erwiderte Prodromos, worauf Sevasti verstummte.

Nun, um zehn Uhr morgens am ersten Arbeitstag des neuen Jahres, sitze ich allein in meinem Büro. Koula unterzieht meinen Laptop einer Generalinspektion, und inzwischen überbringt mir Vlassopoulos, der heute spät dran ist, seine Neujahrswünsche.

»Alles Gute! Viel Vergnügen mit dem neuen Laptop, Herr Kommissar!« Er macht eine Pause und fügt dann belustigt hinzu: »Jetzt kenne ich Sie schon so lange, aber Sie sind immer für eine Überraschung gut.«

»Was ist denn daran so originell, wenn meine Tochter und mein Schwiegersohn mir einen Computer schenken, von dem ich nicht mal weiß, wie man ihn aufklappt?«

»Kommen Sie schon. Während wir jetzt alle zum guten alten Kopierstift zurückkehren, den man mit der Zunge anfeuchten muss, wie damals mein Großvater am Polizeirevier Arachova, sind Sie uns mit dem Laptop um Lichtjahre voraus.«

»Richtig, aber eigentlich müsste ich bei den Kindern noch ein Geschenk bestellen, nämlich einen Generator.«

»Wieso?«, fragt er baff.

»Ja, wie soll denn der Computer funktionieren, wenn uns der Strom abgedreht wird?«

»Mit dem Akku natürlich, Herr Kommissar«, erläutert er mit einem nachsichtigen Lächeln.

»Tja, wenn der Stromausfall dann über fünf Stunden dauert, nützt der schönste Akku nichts.« Damit habe ich ihn zum Schweigen gebracht. Gleichzeitig geht mir durch [18] den Kopf, dass mich die gestrigen Fernsehbilder stärker beeindruckt haben als die Silvesterparty mit dem Spielgeld-Konfetti.

Unser Gespräch wird durch Koulas Eintreffen unterbrochen, die meinen Laptop mitbringt und an die Steckdose anschließt.

»Hier geht er an«, sagt sie und drückt auf einen Tastaturknopf. »Normalerweise müssen Sie ein Passwort eingeben, aber ich habe es gespeichert, so dass er jeweils automatisch startet.« Sie zieht einen Notizzettel aus ihrer Hosentasche und drückt ihn mir in die Hand. »Hier ist das Passwort. Heben Sie es gut auf, weil es vielleicht mal vom Betriebssystem angefordert wird.«

Ich stecke den Zettel in meine Jackentasche, und Koula beginnt mit dem Unterricht. Sie zeigt mir, wie die Maus funktioniert, und deutet auf ein Piktogramm auf dem Bildschirm.

»Das sagt mir nichts. Da müssen Sie Katerina fragen. Alles andere habe ich Ihnen notiert. Versuchen Sie einfach, das Gerät spielerisch kennenzulernen. Je mehr Zeit Sie damit verbringen, desto schneller können Sie damit umgehen. Und noch etwas: Ein Computer ist der klügste Idiot, den man sich vorstellen kann. Es hängt von Ihnen ab, ob er schlau wird oder dumm bleibt.«

Wenn das von mir abhängt, dann gute Nacht. Dann bleibt er auf demselben Niveau wie sein Kollege, der in Gikas’ Büro steht und schöne Landschaften zeigt.

Als Koula geht, schnappe ich mir die Maus und versuche, das Pfeilchen auf dem Bildschirm festzuhalten, das mir jedoch jedes Mal entwischt. Zwischen uns entwickelt sich [19] eine Art Katz-und-Maus-Spiel. Die Jagd wird erst unterbrochen, als das Telefon läutet. Gikas ist dran.

»Termin beim Minister.«

»Was will er gleich am ersten Arbeitstag des Jahres? Uns ein frohes neues Jahr wünschen?«, frage ich Gikas, als wir in seinem Wagen sitzen.

»Wenn ich an unsere einzige Begegnung bisher denke, kaum. Gehen Sie es vorsichtig mit ihm an, am Anfang wird er noch den starken Mann geben. Wenn er dann ein paarmal auf die Schnauze gefallen ist, wird ihm das schon vergehen.«

Aus Gikas’ Antwort schließe ich, dass die Stimmung ähnlich frostig wie im Kalten Krieg sein wird. Und meine Ahnung bestätigt sich auch gleich.

Die Sekretärin des Ministers führt uns in den Konferenzraum, wo – wie ich feststelle – unsere Truppe vollzählig versammelt ist: Lambropoulos von der Abteilung für Computerkriminalität, Peressiadis von der Drogenfahndung, Esperoglou von der MAT-Sondereinheit und Gonatas, der neue Leiter der Antiterrorabteilung und Nachfolger von Stathakos, der glücklicherweise in Rente gegangen ist.

Wir schütteln Hände, tauschen gute Wünsche aus, an deren Erfüllung kein Mensch glaubt, setzen uns und warten. Kurz darauf taucht der Polizeipräsident mit seinem Stellvertreter auf, ruft »Gutes neues Jahr!«, und die Warterei beginnt von neuem.

»Das macht er absichtlich, um uns den Schneid abzukaufen und zu zeigen, wer der Herr im Haus ist«, bemerkt Lambropoulos. »Hoffentlich täusche ich mich, aber ich fürchte, das dicke Ende kommt noch.«

[20] Als der Polizeipräsident und sein Stellvertreter keinen Kommentar dazu abgeben, sagen wir anderen auch nichts mehr.

Unsere Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Ab und zu lässt jemand eine Bemerkung fallen, dann herrscht wieder Schweigen. Endlich erscheint der Minister in der Tür. In geschäftsmäßigem Ton erklärt er: »Ich wünsche Ihnen allen ein glückliches neues Jahr!« Dann nimmt er seinen Platz ein und inspiziert die Runde.

»Ich komme gerade vom Ministerrat, deshalb habe ich mich verspätet«, rechtfertigt er sich und verfällt gleich wieder in den offiziellen Tonfall. »Meine Herren, der Ministerrat hat eine dreimonatige Gehaltssperre beschlossen.«

Er verstummt und blickt uns an, um unsere Reaktion zu sehen. Doch welche Reaktion kann man von Leuten erwarten, die gerade vom Schlag getroffen wurden und keinen Finger rühren können? Die bisherigen Gehalts- und Rentenkürzungen waren halbwegs zu verkraften gewesen, doch der Gehaltsstopp trifft uns hart. Zum Glück muss ich keinen Baukredit abstottern, sage ich mir. Zwar bin ich die beiden letzten Raten für mein Auto noch schuldig, aber welcher Händler nimmt einem schon den Wagen wegen zweier fehlender Ratenzahlungen weg? Mit dem Geld, das ich noch auf der Bank habe, kommen wir drei Monate durch. Zur Not könnte ich auch mit der Miete im Rückstand bleiben. Wer aber garantiert mir, dass der Zahlungsstopp nur drei Monate dauert? Die Vorhersagen des griechischen Staates sind so viel wert wie die Prophezeiungen einer Wahrsagerin. Die Frist von drei Monaten kann leicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verlängert werden.

[21] Katerina und Fanis werden Probleme haben, ohne unseren Zuschuss über die Runden zu kommen. Ausschließlich Fanis’ Gehalt wandert in die Haushaltskasse, und ich weiß nicht, wie sie nach all den Kürzungen drei Monate durchhalten. Katerina verdient kaum etwas, und das wenige teilt sie noch mit Mania. Das von ihnen gegründete gemeinsame Büro für die psychologische und juristische Unterstützung von Drogenabhängigen steckt noch in den Kinderschuhen. Aber das alles bespreche ich besser mit Adriani, denn sie findet für solche Probleme immer eine Lösung.

Ich schaue in die Gesichter der anderen. Die Mienen haben sich verfinstert. Alle denken das Gleiche. Im Grunde glaubt keiner, dass der Gehaltsstopp nur drei Monate dauert oder dass wir danach viel mehr erwarten können als eine Teilzahlung.

»Darüber hinaus muss ich Ihnen mitteilen, dass die Banken geschlossen bleiben, bis der Übergang vom Euro zur Drachme vollzogen ist. An den Bankautomaten können maximal fünfzigtausend Drachmen abgehoben werden, also hundert Euro. Ich weiß, das ist hart, aber wir müssen diese schwierige Zeit jetzt durchstehen«, sagt der Minister.

Keiner von uns regt sich. Wir lassen das leere Gerede über uns ergehen, in unser Schicksal ergeben wie alle Beamten, und schweigen.

»Alle Einsatzkräfte der Polizei werden in Bereitschaft versetzt, um soziale Unruhen zu vermeiden. Von heute an unterstehen Sie alle dem Polizeipräsidenten, der über Ihren Einsatzort entscheidet.« Er hält inne, um zu sehen, ob wir den bitteren Kelch auch bis zur Neige auskosten. Als sich kein Widerspruch regt, fährt er fort: »Es gab eine [22] Telekonferenz mit den Kollegen in Italien und Spanien. Wir haben uns auf eine gemeinsame Strategie für alle drei Länder geeinigt.«

»Gibt es dort auch einen Gehaltsstopp?«, fragt Lambropoulos.

»In Spanien ja, in Italien nicht. Aber in allen drei Ländern bleiben die Banken vorerst geschlossen. Das ist alles. Ich wiederhole, ab heute stehen sie alle dem Polizeipräsidenten zur Verfügung. Ich möchte nicht, dass Athen im Chaos versinkt, wenn demnächst die Führungskräfte von Europol anreisen. Sie wissen, was uns sonst blüht.«

Zum ersten Mal erlebe ich einen Minister, der niemanden – nicht einmal den Polizeipräsidenten – um seine Meinung fragt, sondern alles im Alleingang bestimmt. Hinzu kommt, dass die Menschen von großen Sorgen geplagt werden und sich ihre Wut gegen die Polizei jeden Augenblick explosionsartig Luft machen kann. Mit diesem blasierten Minister ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Polizei auf der nächstbesten Bananenschale ausrutscht und griechenlandweit von den Medien vorgeführt wird.

»Jetzt wissen Sie, woran Sie sind«, sagt Gikas, als wir wieder in seinen Wagen steigen. »Ich rate Ihnen, keinen Formfehler zu begehen. Bei dem gibt’s keine Extrawürste, und ich bin nicht in der Lage, Sie zu schützen. Das sage ich, damit Sie wissen, was auf Sie zukommt.«

»Wer sind die Führungskräfte, die erwartet werden?«

»Weiß ich nicht genau, aber es sind hohe Tiere. Da wir nicht dazugehören, kann es uns auch egal sein.«

Das klingt bitter, nachdem man ihm die Möglichkeit genommen hat, auch ein hohes Tier zu werden.

[23] 3

Mein Scheitern am Computer scheint vorprogrammiert. Kaum habe ich ihn angemacht und Koulas schriftliche Anweisungen vor mir ausgebreitet, läutet das Telefon. Esperoglou ist dran, der Leiter der MAT-Sondereinsatztruppe.

»Alle sind zum Syntagma-Platz beordert. Anweisung des Polizeipräsidenten.«

»Was ist los? Eine Kundgebung?«

»Ja, und international noch dazu. Zwei Blöcke aus Italien und Spanien unterstützen die einheimischen Demonstranten. Ich fürchte, das wird so eine Art Generalprobe.«

»Generalprobe? Wofür?«

»Für den Krieg zwischen den Nord- und den Südstaaten. Mit hundertfünfzigjähriger Verspätung haben wir amerikanische Verhältnisse.«

»Oder es handelt sich um eine Neuauflage des Ersten Weltkriegs.«

»Beides ist möglich«, seufzt er ergeben. »Sie finden mich vor dem Parlament. Wenn Sie herkommen, zeige ich Ihnen Ihre Position.«

»Wie viele Leute soll ich mitnehmen?«

»Alle bis auf einen. Der soll die Stellung im Präsidium halten.«

Ich hole die eine meiner beiden Uniformen aus dem Spind, die andere habe ich zu Hause in Reserve.

[24] Koula ist es, die schließlich die Stellung hält. Zum Einsatz nehme ich meine beiden Assistenten Vlassopoulos und Dermitsakis mit sowie Papadakis, den man mir vor drei Monaten zugewiesen hat. Zwei Jahre hat es gedauert, bis man mir den beantragten Assistenten endlich bewilligte. Er ist ein alter Hase, doch da er keine Beziehungen hat, landete er bei mir. Mit Vitamin B hätte er sich ins gemachte Bett legen können. Doch Papadakis wurde vor die Wahl gestellt: entweder Einsatz im Migrantenviertel Ajios Panteleimonas oder Mordkommission. Er zog Letzteres vor, mutmaßlich das kleinere Übel. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob unsere Abteilung – angesichts der allgemeinen Lage – tatsächlich das kleinere Übel ist.

Die Strecke vom Vassilissis-Sofias-Boulevard hinunter zum Syntagma-Platz ist für den Verkehr gesperrt, und mit heulender Sirene erreichen wir in kürzester Zeit das Parlament.

»Wo ist unser Einsatzort?«, frage ich Esperoglou, der unsere Truppe inspiziert.

»Sie sind ja nicht gerade zahlreich. Ich würde sagen, Sie verteilen sich auf der Stadiou- und Ermou-Straße. Wenn Krawallbrüder auf Sie zukommen, verständigen Sie uns sofort. Dann ziehen Sie sich in die Nebenstraßen zurück, und wir übernehmen das. Vorsicht, lassen Sie sich nur nicht provozieren! Die sind auf Randale aus. Die Demo beginnt am Polytechnikum und führt über die Stadiou-Straße zum Syntagma-Platz. Die normalen Teilnehmer lassen wir passieren.«

Ich schicke Vlassopoulos und Dermitsakis in die Ermou-Straße und nehme Papadakis mit zur Stadiou-Straße. [25] Dann postiere ich ihn an der Ecke zur Voukourestiou-Straße, wo er kontrollieren soll, ob eventuell ein Trupp Raufbolde von der Panepistimiou-Straße her einfällt, und ich selbst nehme meine Position vor dem Kolokotronis-Denkmal ein.

Am 2.Januar sind die Geschäfte wie immer geschlossen, und nur wenige Passanten sind unterwegs. Darüber hinaus wurde das Zentrum wegen der Demo abgeriegelt. Zwei Männer in den Siebzigern kommen vom Alten Parlament auf mich zu und bleiben vor mir stehen.

»Das ganze Polizeiaufgebot ist für die Katz«, erklärt mir der eine. »Da kommen nur ein paar Versprengte, ihr werdet schon sehen. Armut und Verzweiflung machen nicht gerade Appetit auf Demos, stimmt’s?«

»Ihr habt Glück, dass heute die Supermärkte zu sind«, meint der andere. »Ab morgen geht die Post ab! Die Leute werden zusammenraffen, was sie können, und ihr müsst alle Filialen bewachen.«

Ich tue so, als hätte ich nichts gehört. Sie sind sichtlich enttäuscht, da sie Lust auf einen kleinen Plausch gehabt hätten. Schließlich setzen sie ihren Spaziergang fort, während die Parolen der Demonstranten, die sich allmählich nähern, hörbar werden.

Der Alte hat recht, stelle ich fest. Es dürften nicht mehr als tausend Teilnehmer sein, lauter junge Leute um die dreißig. Vorneweg marschieren Griechen mit zwei Spruchbändern: »Nie wieder Euro-Sklaven!« und »Schluss mit all den Qualen, lieber mit der Drachme zahlen!« In der zweiten Reihe halten zwei junge Burschen und eine Frau drei Pappfiguren in die Höhe, die Mitglieder der Troika darstellen. [26] Darunter hängt ein Transparent mit dem Spruch: »Die sind wir los!«

Hinter ihnen folgen die ausländischen Teilnehmer mit ihren Spruchbändern. Doch der Protest scheint für sie eher eine Pflichtübung als eine Herzensangelegenheit zu sein.

Vereinzelt stehen Zuschauer am Straßenrand, rufen bravo und applaudieren. Eine Reporterin baut sich mit ihrem Kamerateam genau vor meiner Nase auf, als der Demonstrationszug anhält, um Parolen zu skandieren. Sie streckt den Vorbeiziehenden das Mikro entgegen und fragt:

»Was bringen zwei Demos hintereinander zur Wiedereinführung der Drachme? Einmal zu Jahresende und einmal zu Jahresbeginn?«

»Wir möchten den Völkern Südeuropas eine Botschaft vermitteln: Ende 2013 eröffnet sich zum ersten Mal nach Jahren endlich wieder eine Perspektive. Das neue Jahr beginnt mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wir sind alle zusammen hier, um gemeinsam dafür zu kämpfen: Griechen, Italiener, Spanier, aber auch Portugiesen und Zyprioten, die heute nicht dabei sein können.«

Die Reporterin geht weiter zu einem jungen Mann aus dem italienischen Block.

»Why did you come to Greece to celebrate?«, fragt sie.

»Italy is not like Greece«, erwidert der Italiener. »Italy is the third economic power in Europe. But now Italy is like Greece. So we come to Greece. To celebrate the lira, to celebrate the drachma, to celebrate the peseta. Fuck the euro!«

»›Italien ist nicht wie Griechenland‹«, erklärt uns der junge Mann«, sagt die Reporterin in die Kamera. »›Italien ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht in Europa, jetzt aber [27] nicht besser dran als Griechenland. Deshalb sind wir hierhergekommen. Um die Lira, die Drachme und die Peseta zu feiern.‹ Den letzten Satz muss ich, glaube ich, nicht übersetzen.«

Die Reporterin geht auf ein junges Mädchen im spanischen Block zu, die eine Freundin als Dolmetscherin zu Hilfe ruft.

»Meine Mutter und meine Großmutter haben mir von ihrem Leben mit der Peseta erzählt. Das war für sie ganz normal, mit allen Vor- und Nachteilen. Unsere Generation ist mit einem Traum aufgewachsen, dem sie alles andere untergeordnet hat und aus dem sie schließlich erwachen musste. Wir wollen weder den Traum noch das böse Erwachen danach. Wir wollen Normalität.«

Ich beschließe, ihnen zu folgen, da keine Randale zu befürchten ist. Die Demo bewegt sich von der Stadiou-Straße über den Syntagma-Platz vor das Parlament. Parolen werden skandiert, und die MAT-Sondereinheiten verfolgen das Geschehen aus der Distanz. Ich gehe an ihnen vorbei zu Esperoglou.

»Was machen wir jetzt?«, frage ich ihn in der Hoffnung, dass unser Einsatz beendet ist.

»Wir bleiben, bis die Demonstranten weg sind«, gibt er mir zurück. »Aber die halten nicht mehr lange durch. Die rufen noch ein paar Sprüche, machen noch ein bisschen Krach, um das Gesicht zu wahren, und ziehen dann ab.«

»Was ist mit dem Gehaltsstopp? Ist der hier gar kein Thema?«

Er schaut mich an, als käme ich vom Mars.

»Die meisten sind arbeitslos, und wer noch Arbeit hat, [28] hat seit Monaten kein Geld gesehen. Der Gehaltsstopp ist für diese Leute Alltag.«

Während wir darauf warten, dass sich die Demo langsam auflöst, kommt es zu einer überraschenden Wendung. Vom Amalias-Boulevard her ist plötzlich Krach und Geschrei zu hören.

»Wer ist das denn? Ich brauche dringend Informationen!«, ruft Esperoglou in sein Funkgerät.

Der Krawall kommt näher, bis an der Einmündung des Amalias-Boulevards in den Syntagma-Platz eine Gruppe alter Leute auftaucht – ohne Transparente, nur mit Parolen.

»Rentner?«, wundert sich Esperoglou. »Wollen die denn auch die Drachme hochleben lassen?«

Der erste Slogan straft ihn prompt Lügen.

»Wir wollen den Euro zurück!«, ruft einer der Rentner.

»In Euro waren unsere Renten schon nicht viel wert, aber in Drachmen gar nichts mehr. Wir wollen zumindest das wenige zurückhaben! Gebt uns den Euro wieder!«

»Die Troika soll weg, der Euro soll bleiben!«, ruft ein Dritter und deutet auf die Pappfiguren.

»Bildet einen Schutzwall zwischen den beiden Gruppen!«, ruft Esperoglou in sein Funkgerät. Ich beziehe in angemessenem Sicherheitsabstand hinter ihm Posten, da ich hier nur der Hilfskellner bin und besser nicht in die Schusslinie gerate.

»Ihr Rotzlöffel! Ihr und eure Eltern habt uns das Ganze eingebrockt, und jetzt jubelt ihr über die Drachme!«, schreit eine alte Frau.

»Ich war zehn Jahre Gastarbeiter in Deutschland«, meint ein Siebzigjähriger zur Reporterin, die ihm das Mikrophon [29] hinhält. »Es war die Drachme, die mich zur D-Mark getrieben hat, nicht der Euro. Meine Tochter und mein Schwiegersohn sind in Watte gepackt aufgewachsen, genau wie die jungen Leute da. Die begreifen jetzt erst, was Armut ist, und wollen die Drachme zurück, weil sie sich vor Angst in die Hosen machen. Mit dem Euro waren wir wer, mit der Drachme gab’s nur Hunger und Elend.«

»Was ist das, Opa?«, ruft ein junger Mann und wirft eine Handvoll Silvesterkonfetti in die Luft.

»Spielgeld!«, entgegnet ihm ein Alter. »Ab heute gibt’s nur noch das!«

»Kassierst du Blindenrente, Opa?«, ruft eine junge Frau.

»Und dein Freund neben dir eine Rente für chronisch Kranke?«, fragt ein anderer spöttisch.

Die ausländischen Teilnehmer haben ihre Parolen unterbrochen und verfolgen tuschelnd die Auseinandersetzung.

»Demonstration nicht auflösen, im Notfall abdrängen«, ordnet Esperoglou am Funkgerät an. »Ich will nicht, dass die Sender später behaupten, wir hätten Rentner und arbeitslose Jugendliche verprügelt.«

»Wer von euch eine Blinden- oder Taubstummenrente bekommt, hebe die Hand«, ruft eine junge Frau.

»Ich rede mit den Alten, vielleicht kann ich sie überzeugen, nach Hause zu gehen«, sagt Esperoglou und tritt auf die Demonstranten vom Amalias-Boulevard zu.

»Wie sollen eure Väter euch jetzt noch ein Auto zur bestandenen Zulassungsprüfung an die Uni schenken, wie es mein Junge mit seinem Sohnemann noch gemacht hat?«, ruft eine Weißhaarige.

»Wir haben unser Leben lang gearbeitet und kriegen für [30] all die Mühe eine mickrige Rente!«, ruft ein anderer den jungen Leuten zu.

»Nicht wenige von euch sind aber schon mit vierzig in Rente gegangen!«, erwidert ein junger Bärtiger.

Spaß mit Spielgeld ist das eine, Ernst mit echten Drachmen das andere. Bald liegen sich die Opas und Omas mit der Enkelgeneration in den Haaren. Ich frage mich, ob die beiden alten Männer, die mich am Kolokotronis-Denkmal angesprochen haben, auch unter den Demonstranten sind oder ob sie einfach nur spazieren waren.

Von weitem sehe ich, wie Esperoglou mit den Rentnern verhandelt, die sich erst mal untereinander absprechen müssen. Wie es scheint, hat er sie überzeugt, denn sie ziehen ab.

Die jungen Leute kehren zu ihren Parolen zurück, doch die Luft ist raus. Sie machen nur noch weiter, um nicht vorzeitig das Handtuch zu werfen.

Esperoglou ist erleichtert. »Zum Glück sind wir ohne Scherereien davongekommen.«

Gegen sechs Uhr abends beginnen die Demonstranten damit, ihre Transparente einzurollen, ganz wie Badegäste, die am Strand ihre Handtücher zusammenrollen und ihre Sonnenschirme zusammenklappen, bevor sie sich auf den Heimweg machen.

[31] 4

Gegen sieben wird der Syntagma-Platz wieder für den Verkehr freigegeben. Da ich nicht glaube, dass mich am ersten Arbeitstag des Jahres etwas Dringendes an der Dienststelle erwartet, fahre ich nach Hause. Vorrang hat zunächst, zusammen mit Adriani eine Strategie auszuarbeiten, wie wir angesichts des Gehaltsstopps über die Runden kommen.

Kaum habe ich den Mund aufgemacht, fällt sie mir ins Wort: »Keine Sorge, ich bin im Bilde! Seit heute Morgen ist im Radio und Fernsehen von nichts anderem die Rede.«

»Wir müssen sehen, wie wir mit dieser Herausforderung fertig werden.«

»Nur keine Panik«, beruhigt sie mich. »Es ist doch nicht das erste Mal.«

»Es betrifft ja nicht nur uns, sondern auch die Kinder. Sie haben nur Fanis’ Gehalt, Katerina und Mania sind noch weit von der Gewinnzone entfernt.«

»Da gibt’s nur eins, Kostas: In der Stunde der Not streicht man alle überflüssigen Ausgaben und stellt einen Kochtopf für die ganze Familie auf den Herd. Ab jetzt wird bei uns gemeinsam gekocht und zu Abend gegessen.«

Je schwieriger die Lage, desto energischer tritt Adriani auf den Plan. Sie springt auf und geht zum Telefon.

»Katerina, kannst du mit Fanis zu uns kommen? Wir möchten etwas mit euch besprechen.«

[32] Offenbar fragt Katerina nach, ob es gleich heute Abend sein muss, da Adriani antwortet: »Ja, es ist dringend.«

»Hier ist eine klare Ansage angebracht«, erläutert sie mir, als sie den Hörer auflegt.

Vermutlich hatte sie sich doch nicht so klar ausgedrückt, da eine Viertelstunde später Katerina und Fanis aufgeregt zur Tür hereinstürzen.

»Was ist denn los?«, fragt Fanis besorgt, während Katerina mich ins Visier nimmt.

»Geht’s dir gut, Papa?«

»Ja, warum sollte es ihm nicht gutgehen?«, wundert sich Adriani.

»Wenn du sagst, wir müssen etwas besprechen, das so dringend ist, dass man es nicht aufschieben kann, denken wir sofort an etwas Schlimmes«, sagt Katerina aufgeregt.

»Es ist ja auch was Schlimmes. Etwas Dringendes ist in Griechenland immer schlimm«, hält ihr Adriani mit Unschuldsmiene entgegen. »Wir müssen besprechen, wie wir mit dem Gehaltsstopp umgehen, der sowohl deinen Vater als auch Fanis betrifft.«

Katerina ist völlig baff, während Fanis auflacht.

»Adriani, du bist unschlagbar«, meint er.

»Findest du das komisch?«

»Überhaupt nicht. Mania hat das einzig Richtige gemacht, sie hat rechtzeitig den Absprung aus dem Staatsdienst geschafft. Vielleicht sollte ich dasselbe tun.«

»Einen Posten im öffentlichen Dienst gibt man nicht so einfach auf«, erwidert Adriani entschieden. »Selbst wenn die Geldquellen vorläufig versiegt sind: Sie werden wieder sprudeln.«

[33] »Aber wann, Mama?«, fragt Katerina. »Erinnerst du dich noch, als ich für das UN-Flüchtlingskommissariat in Afrika arbeiten wollte? Da hast du mir gesagt: Mit Geduld und Spucke wird’s schon wieder. Und meine große Frage war: wann? Und dieselbe Frage stellt sich nun schon wieder.«

»Ich weiß es nicht«, entgegnet Adriani aufrichtig. »Das kann ich heute genauso wenig beantworten wie damals. Deshalb müssen wir sehen, wie wir damit zurechtkommen. Von heute an stellen wir einen Kochtopf auf den Herd für die ganze Familie.«

»Wie meinst du das?«, fragt Katerina.

»Dass ihr jeden Abend zum Essen herkommt. Einmal für vier Personen zu kochen ist billiger als zweimal für zwei. Den Luxus können wir uns nicht mehr leisten.«

»Mama, meinst du das im Ernst? Wir sollen jeden Abend hier zur Essensausgabe antreten?«

»Wieso, hast du was dagegen? Fanis isst ohnehin im Krankenhaus zu Mittag und dein Vater im Büro. Du kommst mit einem Sandwich durch den Tag und ich mit Tee und Käsebrot. Solange dieser Ausnahmezustand anhält, essen wir abends zusammen etwas Warmes.«

»Deine Mutter hat recht«, meint Fanis zu Katerina. »Einverstanden, aber unter einer Bedingung.«

»Und das wäre?«, frage ich.

»Wir zahlen abwechselnd«, erläutert Fanis. »Eine Woche ihr, eine Woche wir.«

»In nächster Zeit muss gar niemand zahlen«, sagt Adriani. »Und danach sehen wir weiter.«

»Hast du mit dem Leiter des Supermarkts eine Vereinbarung ausgehandelt?«, ziehe ich sie auf.

[34] »Nein, ich habe zweihundert Euro beiseitegelegt.«

»Wo hast du die denn aufgetrieben?«, frage ich überrascht.

»Nirgends, ich hab sie gespart. Seit Monaten habe ich mir gesagt, irgendwann wird der Staat nichts mehr zahlen. So habe ich jedes Mal beim Einkaufen etwas Geld abgezweigt, einmal drei, ein andermal fünf Euro. So sind nach und nach zweihundert zusammengekommen.«

»Auf was für tolle Ideen du immer kommst!«, sage ich mit aufrichtiger Bewunderung. »Obwohl ich selber auch Angst vor einem Gehaltsstopp hatte, bin ich nicht auf den Gedanken gekommen, etwas zurückzulegen.«

»Frauen sind eben kreativ und erfinderisch«, lautet ihr Kommentar diesmal. »Darüber hinaus kehren wir zu den Gewohnheiten zurück, die wir aus dem Dorf und aus unserer Kindheit kennen. Fleisch kommt nur einmal die Woche auf den Tisch, ansonsten ernähren wir uns von Gemüse und Hülsenfrüchten. Seit Jahren gehen uns Spezialisten im Fernsehen mit ihrer Litanei von der gesunden Ernährung auf den Geist. Tja, jetzt ernähren wir uns notgedrungen gesund! Meine selige Mutter hat immer gesagt: ›Wer das Böhnchen nicht ehrt, ist der Suppe nicht wert.‹ Euch werden die Bohnensuppen, die ich euch servieren werde, bald zum Hals heraushängen.«

Von heute an übernimmt also Adriani das Kommando über beide Zweige der Familie. Angesichts der Tatsache, dass die letzten vier Jahre die Troika, bestehend aus Europäischer Kommission, EZB und IWF, das Sagen hatte, ist mir Adrianis Kommando lieber.

Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, Katerina nach dem [35] Symbol auf dem Computerbildschirm zu fragen, mit dem Koula nichts anfangen konnte.

»Ach, das verschieben wir auf ein andermal«, antwortet Katerina. »Sieh lieber zu, dass du die Grundlagen erlernst. Das Symbol erkläre ich dir später.« Sie hält inne und blickt mich an. Schließlich sagt sie: »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«

Es klingt etwas gepresst, da es ihr noch nie leichtgefallen ist, um etwas zu bitten. Von klein auf wollte sie immer alles alleine schaffen.

»Aber gern, wenn es in meiner Macht steht.«

»Gestern wurde ein gewisser Kyriakos Demertsis festgenommen.«

»Von welchem Dezernat?«

»Von der Drogenfahndung. Er wird beschuldigt, in der Ajiou-Konstantinou-Straße Drogen verkauft zu haben.«

»Und was sagt Demertsis dazu?«

»Er hat gestanden und mich als seine Strafverteidigerin engagiert.«

»Wenn er gestanden hat, kannst du höchstens versuchen, entlastende Beweise zu finden. Aber das weißt du sicher besser als ich.«

»Papa, Demertsis ist kein gewöhnlicher Drogendealer. Er ist Mitte zwanzig, hat Physik studiert und macht gerade seinen Masterabschluss. Sein Vater ist Unternehmer, der mit öffentlichen Bauaufträgen sein Geld verdient. Folglich hat er keine finanziellen Probleme. Wieso sollte er dann Drogen verkaufen? Das will mir nicht in den Kopf.«

»Glaubst du, dass er jemanden deckt?«, frage ich.

»Ich weiß es nicht. Mania jedenfalls glaubt das.«

[36] »Hat Mania mit ihm gesprochen?«, fragt Fanis.

»Sie war dort, aber er wollte nicht mit ihr sprechen. Er sagte, er hätte keine psychischen Probleme.«

»Und was hat er zu dir gesagt?«, fragt Adriani.

»Dass er gestanden hat und dass ich versuchen soll, ein möglichst geringes Strafmaß herauszuholen.«

»Hast du ihn nicht gefragt, warum er das getan hat?«

»Doch, er behauptet, er hätte das Geld gebraucht.«

»Hast du mit Peressiadis von der Drogenfahndung gesprochen?«, frage ich.

»Nein, er war nicht da. Ich habe mit seinem Stellvertreter, einem gewissen Aslanoglou, geredet. Er hat mir erzählt, sie hätten ihn bei der Geldübergabe erwischt.«

»Gut, ich rede morgen erst mal mit Peressiadis und höre mir seine Meinung an.«