Ach, Thüringen - Martin Debes - E-Book

Ach, Thüringen E-Book

Martin Debes

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Beschreibung

Warum geschehen in unregelmäßigen Abständen ausgerechnet in Thüringen seltsame Dinge, die ganz Deutschland bewegen oder gar erschüttern? Weshalb konnten sich hier Jugendliche zu Rechtsterrorist*innen radikalisieren und später als selbsternannter NSU unschuldige Menschen ermorden? Wieso steht hier der einzige linke Ministerpräsident gegen den extremsten aller extremen AfD-Funktionäre? Und warum wurde hier ein Regierungschef ohne Regierung gewählt? In seinen Kolumnen für die "Thüringer Allgemeine" beschäftigt sich Martin Debes mit diesen Fragen. Aber er schreibt auch davon, wie er zum ersten Mal auf seiner billardgrünen Simson in den Westen fuhr, warum ausgerechnet die Nelson-Mandela-Schule in Ilmenau ihren Namen verlor und wieso er eine besondere Beziehung zu einem Gerät namens AKA Electric G 2000 FSB hat. Und er erzählt die Geschichte seiner Feigheit. Dieses Buch bietet eine Auswahl seiner Texte.

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Seitenzahl: 223

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Martin Debes

Ach, Thüringen …

Zwischenrufe aus einem seltsam schönen Land

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Impressum

1. Auflage Februar 2023

Redaktion, Satz und Gestaltung: Achim Nöllenheidt

Umschlaggestaltung: Fabian Kendzia

Umschlagabbildungen: Martin Debes, Franz Debes (Porträt Klappe)

Druck und Bindung: Multiprint GmbH, Kostinbrod 2230,

Slavianska Str. 10 A, Bulgarien

© Klartext Verlag, Essen 2023

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8375-2565-6

eISBN 978-3-8375-2567-0

Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KG

Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen

[email protected]

www.klartext-verlag.de

Inhalt

Ach, Thüringen …

NSU

Machtwechsel

Aufruhr, Angst, AfD

Kemmerich und andere Katastrophen

Bodo Ramelow

Das Virus

Der Krieg

Was ich noch zu sagen hatte

Privatpolitisches

Klöße und Größe

Ach, Thüringen …

Etwa 2,3 Prozent der Menschen der Bundesrepublik leben in Thüringen. Es gibt hier keine Metropolen, keine Konzernzentrale und keine höherklassigen Fußballclubs. Ja, es ist schön hier, im Westen die Rhön, im Süden der Thüringer Wald, im Nordwesten der Harz und im Osten das Vogtland, dazwischen der Nationalpark Hainich und toskanisch anmutende Hügeligkeit: Aber sonst?

Sonst stellt sich die Frage, warum ausgerechnet hier, in der mitteldeutschen Provinz, immer mal wieder Erstaunliches geschieht. Warum wurde hier die Bibel ins Deutsche übersetzt und die Fuge komponiert, warum hat der englische König hier seine Urahnen und warum befand sich hier das Zentrum von Klassik, Philosophie und Romantik? Warum gründete sich hier die Urburschenschaft, warum steht hier das erste Planetarium?

Warum saßen hier erstmals Nazis in einer Landesregierung? Warum wurde Thüringen zu einer Art Muster-Gau? Und warum wurden hier die Öfen für Auschwitz gebaut?

Warum herrschte hier in der DDR-Zeit eine der höchsten sportlichen Olympiasieger- und Weltmeisterdichte der Welt? Warum wurden hier Autos und Mopeds entwickelt? Warum wurde hier die erste Stasi-Zentrale besetzt?

Warum konnten sich hier Jugendliche zu Rechtsterroristen radikalisieren? Warum steht hier der einzige linke Ministerpräsident gegen den extremsten aller extremen AfD-Funktionäre? Und warum wurde hier ein Regierungschef ohne Regierung gewählt?

Seit ich den „Zwischenruf“ für die „Thüringer Allgemeine“ schreiben darf, habe ich immer wieder über das gleichermaßen seltsame wie schöne Land nachgedacht, in das ich geboren wurde und aus dem die meisten meiner Vorfahren stammen.

Ich habe die Zeitläufte betrachtet, das aktuelle Geschehen kommentiert und mein eigenes Tun reflektiert. Dies ist eine Auswahl aus mehr als 500 Kolumnen, die seit 2011 erschienen, und die – das ist die Hoffnung, die hinter diesem Buch steht – etwas über den Tag ihrer Publikation hinausreichen. An einer Stelle habe ich Worte abgemildert, die mir im Rückblick zu hart erschienen.

Auch wenn ich versucht habe, die Kolumnen mal inhaltlich, mal chronologisch zu sortieren, so ergeben sie keine geschlossene Erzählung, zumal an einigen Stellen Überschneidungen nicht vermieden werden konnten. Am Ende steht jeder Text für sich.

NSU

Ich kann mich noch gut an jenen Novembertag erinnern, der mit zwei toten Bankräubern in Eisenach begann – und an dessen Abend in Umrissen einer der größten Skandale in der bundesrepublikanischen Geschichte deutlich wurde. Drei Rechtsextremisten waren 1998 aus meiner Geburtsstadt Jena geflüchtet und hatten im Untergrund systematisch Migranten und ihre Nachkommen ermordet, Bomben gelegt und Raubüberfälle begangen, derweil der Staat wegschaute, die Polizei lieber in Richtung Ausländerkriminalität ermittelte und der Verfassungsschutz über manipulative V-Leute das Umfeld des selbst ernannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ mitfinanzierte. Ich schrieb viele Texte, über die Ermittlungen, die Reaktionen aus der Politik, das Leid der Opfer und Angehörigen. Und ich saß viele Verhandlungstage im Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten.

Auch wenn ich mir keinesfalls anmaßen möchte, so etwas wie ein Experte in diesem Bereich zu sein, so weiß ich doch eines: Der Fall des NSU ist längst nicht aufgeklärt.

Das Land, aus dem die Täter kamen

Am Mittwoch, 10 Uhr, beginnt im Saal A 101 des Oberlandesgerichtes München die Hauptverhandlung im „Strafverfahren gegen Beate Z. u. a. wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung u. a. (NSU)“.

Ein Jahr, sechs Monate und 13 Tage werden dann seit jenem sonnigen Novembertag vergangen sein, an dem in einem Campingwagen in Eisenach-Stregda die Leichen von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gefunden wurden. Ein Jahr, sechs Monate und 13 Tage wird dann bekannt sein, dass eine Neonazi-Bande viele Jahre lang mordete, raubte und bombte, ohne dass sie jemand daran hinderte.

Dass dies in jeder Hinsicht außergewöhnliche Umstände sind, hat nun auch, nachdem es ihr das Bundesverfassungsgericht extra erläuterte, die hochmögende bayerische Gerichtsbarkeit verstanden. Dabei hätte es der Vorsitzende Richter durchaus ahnen können. Noch nie beschäftigten sich parallel vier deutsche Parlamente, darunter das nationale, in eigens eingerichteten Untersuchungsausschüssen mit den zu verhandelnden Vorwürfen. Und noch nie, außer vielleicht bei den RAF-Prozessen, gab es schon vor Prozessbeginn derart viel politisches Manövrieren.

Der Chef des Bundesverfassungsschutzes musste genauso gehen wie die Präsidenten mehrerer Landesämter. Auch wurde die Bekämpfung des Rechtsextremismus gebündelt und eine zentrale Datei eingerichtet. Schließlich beschloss der Bundesrat einen neuerlichen Antrag auf ein Verbotsverfahren gegen die NPD.

Das Strafverfahren findet in München statt, weil fünf der zehn Morde, die sich die Gruppe selbst zuschrieb, in Bayern verübt wurden. Auch in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen, Hamburg und Mecklenburg gab es Opfer, auch dort hätte verhandelt werden können.

Thüringen blieb bis auf einige Banküberfälle verschont, wohl weil es hier nicht genügend echte oder vermeintliche Ausländer gab, die es gemäß der pathologischen Logik des NSU zu vertreiben galt. Dennoch steht das Land seit dem November 2011 im Zentrum der Beschuldigungen, der Aufklärung und Turbulenzen jeder Art.

Denn Thüringen ist nun mal das Land, aus dem die Täter stammen. Das gilt nicht nur für die mutmaßlichen Mörder, sondern auch für die Mehrheit der Angeklagten. Es ist das Land, in dem sie groß wurden, in dem sich die späteren Terroristen radikalisierten und Bomben bauten – und trotzdem flüchten konnten. Es ist das Land, von dem aus ein Ralf Wohlleben die Flüchtigen unterstützte, während er die Neonazi-Szene aufbaute. Es ist das Land, ohne dessen Wegschauen dies alles nicht passiert wäre.

Ja, natürlich, es gab das, was man in der Politik gerne Konsequenzen nennt. Das Landesprogramm gegen Rechtsextremismus wurde aufgestockt, obwohl es immer noch nicht so heißen darf. Der hiesige Verfassungsschutzchef musste gehen, das Amt soll nun ins Innenministerium eingegliedert werden. Neue Regeln für die Zusammenarbeit zwischen Justiz und Polizei sind erlassen. Beim Landeskriminalamt wurde eine 30-köpfige Ermittlergruppe installiert. Die Kontrollrechte des Parlaments werden verstärkt.

Damit, so wird offenkundig befunden, muss es aber langsam gut sein. Die Opfer, selbst wenn sie wie Michèle Kiesewetter aus Thüringen stammten, starben ja woanders. Deshalb meint man auch kein Denkmal errichten oder die Angehörigen unterstützen zu müssen.

Doch das ist ein Irrtum. Denn ob man nun will oder nicht: Ab Mittwoch wird auch Thüringen der Prozess gemacht.

15.4.2013

Sie sind noch da

Nun also beginnt er endlich, der Prozess, von dem alle reden, auch wenn sie eigentlich nicht davon reden mögen. Zu lange mussten sich jedwede Beteiligte mit der Frage aufhalten, wann welcher Vertreter der veröffentlichten Meinung wo sitzen darf – was, trotz mancher Übertreibung, mehr am 6. Strafsenat des Münchner Oberlandesgerichts als an den Medien lag.

Ursprünglich hätte die Verhandlung vor knapp drei Wochen beginnen sollen. Damals schrieb ich an dieser Stelle, dass sich im Schwurgerichtssaal A101 auch Thüringen auf der Anklagebank befinde, weil dies nun einmal das Land sei, aus dem die Täter kamen. Dies zog manch empörte Reaktion nach sich. Wir sind doch nicht die, hieß es. Was für eine Unterstellung!

Was war gemeint? Die Neuerfindung der Kollektivschuld bestimmt nicht. Es ging auch nicht darum, jene, die in Thüringen in den 1990er-Jahren Politik machten, pauschal zu verurteilen. Selbst der hiesige Verfassungsschutz oder das Landeskriminalamt sind nicht in ihrer Gänze verantwortlich zu machen. Die meisten Beamten hatten sich, bei allen Fehlern, im Rahmen ihrer Möglichkeiten bemüht.

Nein, es geht darum, dass wir nicht neuerlich verdrängen, was doch so offensichtlich ist. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wurden zu einer Zeit erwachsen, als nahezu wöchentlich Ausländer in Jenaer Straßenbahnen verprügelt wurden, als Neonazis in Süd- oder Ostthüringen national befreite Zonen ausriefen und CDs mit nationalsozialistischem Liedgut auf vielen thüringischen Schulhöfen zu bekommen waren.

Ich lebte damals, vor 15, 20 Jahren, in dieser Stadt, studierte vor mich hin und schrieb für Zeitungen. Einige Kommilitonen wohnten in Lobeda, da passte man bei Besuchen auf. Ansonsten ging man den Glatzen, die eher selten im Stadtzentrum auftauchten, einfach aus dem Weg.

Bis auf die langen Haare, die ich damals noch besaß, hatte ich wohl nichts an mir, was sie provozierte. Ich war ja Deutscher.

Für eine Weile wohnte ich zwei Häuser neben der Evangelischen Jugendgemeinde, die sich mit einem eisernen Tor gegen die Angriffe der Rechtsextremen schützte – und die, zumindest zuweilen, auch nicht zimperlich gegen die Neonazis vorging. In manchen Nächten herrschte in manchen Gegenden Kriegszustand.

Doch die Lokalpolitik, vom Oberbürgermeister bis zum Stadtrat, ignorierte das alles, genauso wie der Rest der Welt. Als der „Spiegel“ eine Geschichte über Jena schrieb, titelte er von der „Hauptstadt der Intelligenz“. Niemand wollte sich das von Lothar Späth und anderen gepflegte Image der Boomtown Jena kaputt machen lassen.

1998 flüchteten die drei, um in Sachsen Terroristen zu werden. Das war auch ungefähr die Zeit, als die Neonazis ihre Strategie änderten. Ralf Wohlleben, dem auch in München der Prozess gemacht wird, ließ sich in den Ortschaftsrat in Winzerla wählen. In Alt-Lobeda bezog er eine alte Kneipe und machte sie zum „Braunen Haus“. Die Gewalt nahm ab, die Präsenz zu. Die NPD etablierte sich.

Der Sohn meiner Schwester, er ist 18, geht ab und an in den „Hugo“ in Winzerla. Der Club wurde vor einigen Jahren neugebaut, an Stelle der alten Baracke, in der Beate Zschäpe ihre Uwes kennenlernte. Der Neffe sagt, selten, jedenfalls nicht oft, kämen einige, wenige Rechte vorbei. Sie fielen kaum auf, weder optisch noch sonst wie.

Aber sie sind noch da.

6.5.2013

Vom Wesen des Mitläufers

Zwei Mitangeklagte von Beate Zschäpe haben in der vergangenen Woche in München gestanden. Sie gaben nun auch vor Gericht zu, Waffen nach Sachsen geschafft zu haben, wo Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und eben Zschäpe untergetaucht waren.

Carsten S. kaufte im Jahr 2000 in Jena eine Ceska-Pistole und übergab sie in Chemnitz an die beiden Männer, die damit kurz darauf ihre Mordserie gegen die Einwanderer begannen. Deshalb ist S. der Beihilfe zu neunfachem Mord angeklagt.

Holger G. wiederum übergab dem sogenannten Trio mehrfach seine Personaldokumente, zuletzt im Jahr 2011, kurz bevor der selbst ernannte „Nationalsozialistische Untergrund“ aufflog. Auch schaffte er 2001 oder 2011 eine Pistole nach Zwickau. Da die Waffe keinem Mord zuzuordnen ist, gilt dieser Transport als verjährt, weshalb G. nur der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung beschuldigt wird.

Die beiden dürfen schon jetzt als Täter bezeichnet werden. Sie haben Straftaten gestanden, zumal Carsten S. fast nebenher davon berichtete, wie er mit einigen anderen Neonazis zwei Menschen schwer verletzte.

Dennoch dürften beide auf unschuldig plädieren, zumindest auf unschuldig im Sinne der Anklage. Sie hätten, sagen sie, doch nichts von den Morden, Banküberfällen und Bombenanschlägen geahnt – so wie übrigens alle anderen 82 Millionen Deutschen einschließlich diverser Geheimdienste, Landeskriminalämter und Sonderkommissionen mit Hunderten an Polizisten.

Die These der Generalbundesanwaltschaft, dass sie wissen mussten, dass Böhnhardt und Mundlos die Waffen und Papiere für schlimmste Verbrechen benötigten, ist für die Angeklagten eine reine Unterstellung.

Das Reden über Gewalt in der Jenaer Neonazi-Szene, sagte etwa Holger G., sei doch „nur Theorie“ gewesen. Auch als man Bomben und TNT in Zschäpes Garage fand, habe man dies „den dreien“ eigentlich gar nicht zugetraut. Und überhaupt: Sie wollten doch damals einfach nur ihren Freunden helfen.

Die Verteidigungsstrategie ist damit abgesteckt: Die Angeklagten erklären sich für dumm oder, um es mit Holger G. zu sagen, für „naiv und bescheuert“. Sie wurden ausgenutzt, missbraucht, fehlgeleitet.

Zudem war es ja nur eine Phase, deren Ursachen überall, nur nicht bei ihnen, liegen. Wahlweise war der Gruppendruck verantwortlich, der Kampf des labilen Selbst um Anerkennung, die verdrängte Homosexualität oder gar die Liebe der alleinerziehenden Mutter, die ihren Holger gar zu sehr verwöhnte.

Das alles könnte lächerlich wirken, wenn es einem nicht so bekannt vorkäme. Der neue, gewaltbereite Nationalsozialismus ist ein hierarchisches, ideologisiertes System, das wie andere, deutlich größere Systeme funktioniert, zu denen man gehören will oder angeblich gehören muss und in denen es darum geht, die eigene Persönlichkeit und manchmal auch das eigene Gewissen zu opfern.

Wie oft wurde in diesem Land nach 1945 gesagt, dass man DAS nicht gewusst habe. Und wie oft musste man nach 1989 den Satz hören, dass man niemandem PERSÖNLICH schadete.

Carsten S. und Holger G. stehen in einer Tradition, die insbesondere in Deutschland gepflegt wurde und die sich der immerselben Verteidigungsmuster bedient. Es ist die Tradition des Mitläufers.

10.6.2013

Ist das nicht irre?

Am vergangenen Mittwoch, wir saßen auf den in 70er-Jahre-Orange bezogenen Stühlen der Pressetribüne des Schwurgerichtssaals und warteten darauf, dass ein Anwalt etwas vorlesen würde, was eine gewisse Beate Zschäpe mitzuteilen beliebte, da sagte ein besonders sympathischer Kollege einer besonders sympathischen Zeitung zu mir: „Ist das nicht irre, dass wir uns damit nun schon ganze vier Jahre beschäftigen?“

Ja, es ist irre. Seit am 4. November 2011 im Eisenacher Ortsteil Stregda jener Wohnwagen brannte, haben sich Hunderte, nein Tausende Polizisten, Politiker, Staatsanwälte, Anwälte, Richter und Journalisten damit beschäftigt, wie es dazu kam, dass mindestens drei Menschen eine neonazistische Terrorzelle bilden konnten, ohne dass sie irgendjemand vom Morden, Bomben und Rauben abhielt.

Es gab und gibt in Berlin, München, Stuttgart, Dresden und Erfurt etliche Untersuchungsausschüsse, in denen klar wurde, dass ein weitverzweigtes Netzwerk von Menschen existierte, das den NSU unterstützte, auch wenn wohl nicht alle Beteiligten von allen Taten ahnten. Im Bundestag und im Thüringer Landtag wurden sogar nochmals neue Ausschüsse gebildet.

Seit 31 Monaten läuft in München ein Prozess, der in seiner Größenordnung mit den Verhandlungen gegen die RAF und den Ausschwitz-Prozessen vergleichbar ist. Am Dienstag findet der 250. Verhandlungstag statt, zu dem sich die etwa 100 Prozessbeteiligten versammeln werden.

Mehr als 500 Zeugen wurden schon angehört, und doch ist ein nahes Ende nicht abzusehen. Irgendwann im nächsten Jahr, vielleicht noch vor dem Sommer, dürfte das Urteil fallen.

Und doch muss die stetig wiederkehrende Frage danach, ob dieser ganze Aufwand Sinn ergibt, immer noch mit Ja beantwortet werden. Abgesehen davon, dass so nun mal Demokratie und Rechtsstaat in all ihrer Unvollkommenheit funktionieren und abgesehen davon, dass die Opfer und deren Angehörige zumindest den bestmöglichen Versuch verdient haben, so etwas wie Gerechtigkeit walten zu lassen – abgesehen davon sollte man einfach betrachten, was gerade in diesem Deutschland und in diesem Thüringen wieder geschieht.

Als Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Jena erwachsen wurden, brannten die Asylheime, starben Türken in Mölln und wurden Menschen, die eine dunkle Hautfarbe haben, durch die Straßen gejagt.

Wirklich ernst genommen wurde das alles nicht. Die Polizei tat sich schwer damit, überhaupt von fremdenfeindlichen Straftaten zu sprechen. Der Staat verschärfte das Asylrecht, um die Flüchtlinge vom Balkan fernzuhalten. Und der Verfassungsschutz meinte tatsächlich, er könne die Szene, gleich der alten, gescheiterten Stasi-Taktik, durchdringen und zersetzen.

Heute brennen wieder Asylheime, mehr als damals, und es ist nur dem glücklichen Zufall geschuldet, dass noch niemand deshalb sterben musste. Heute werden wieder Menschen, die eine dunkle Hautfarbe haben, angepöbelt und geschlagen.

Die Nazis zeigen sich geradezu stolz. Sie tragen nicht mehr Bomberjacken und Stiefel, aber sie sind mindestens genauso gefährlich wie der „Thüringer Heimatschutz“, aus dem der NSU einst entsprang. Sie marschieren auf oder sie mischen sich unter die Demonstranten der AfD. Sie fühlen sich dabei, so wie damals, als Speerspitze einer angeblichen, schweigenden Mehrheit gegen das System. Ängste, irrationale wie reale, und Probleme, tatsächliche wie erfundene, werden instrumentalisiert für Rassenhass und Umsturzfantasien.

Dass Politik und Behörden diesmal anders reagieren, dass sie öfter hinschauen, dass sie weniger beschönigen und ja: dass sie gelegentlich sogar handeln, das ist ein Fortschritt. Der nervige Prozess, die zähen Ausschüsse und die ewige politische Debatte haben dazu beigetragen.

So irre ist das dann doch nicht.

14.12.2015

Es ist nie vorbei

Fünf Hundertschaften Polizei bewachten das Durcheinander, das sich vor dem riesigen, hässlichen Betonklotz in der Münchner Maxvorstadt darbot. Demonstranten mischten sich mit Nebenklägern, ihren Anwälten, Fernsehteams, Journalisten, Neugierigen.

Es war der 6. Mai 2013, der Beginn des NSU-Prozesses, und es gab in der Bundesrepublik kein Thema, das wichtiger zu sein schien. Die Bundeskanzlerin, als eine noch unangefochtene Institution, sprach angemessen Salbungsvolles in Berlin. Man müsse alles tun, sagte sie, damit sich das nie wiederholen kann.

Das, was sich nie wiederholen sollte, war der NSU, der Nationalsozialistische Untergrund: Eine neonazistische Terrorgruppe, die, von Rassenwahn verblendet, mindestens zehn Menschen ermordet und Dutzende verletzt hatte. Mittendrin im Gewimmel stand Semiya Simsek, die Tochter von Enver Simsek, der im Jahr 2000 in seinem Blumenwagen, den er an einer Ausfallstraße von Nürnberg geparkt hatte, erschossen wurde. Sie berichtete nochmals davon, wie sehr sie litt, dass die Polizei jahrelange ihren Vater als Drogenkurier verdächtigte und in ihrer Familie nach dem Täter suchte.

Sie hoffe, sagte sie, dass dieser Prozess auch dabei helfen werde, das aufzuarbeiten, was sie als Staatsversagen empfinde. Sie hoffe, endlich Antworten zu bekommen.

Fünf Jahre und zwei Monate später, an diesem Mittwoch, wird alles so wirken wie einst im Mai. Demonstranten, Polizisten, Nebenkläger, Anwälte, Journalisten, Kameraleute werden durcheinander wimmeln, wenn die Urteile über Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten verkündet werden.

Doch das Entsetzen von damals ist bei den meisten, die nicht direkt betroffen sind, zur Routine verkommen. Dies hat etwas mit der Zeit zu tun, die vergangen ist, aber auch mit den Zeiten, in denen wir gerade leben. Außerdem, wie immer das Gericht auch entscheiden mag: Viele Antworten auf die Fragen, die Semiya Simsek stellte, stehen noch aus und dies nach 437 Verhandlungstagen mit etwa 100 Prozessbeteiligten, die eine hohe zweistellige Millionensumme kosteten.

Dennoch war dieser Prozess wichtig, genauso wie die vielen Untersuchungsausschüsse, Dokumentationen, Bücher zum NSU. Denn die Frage, wie neonazistischer Terror in Deutschland entstehen kann, ist nicht abstrakt. Sie ist konkret.

Für jemanden, der aus Thüringen, aus Jena stammt, ist diese eine sehr persönliche Erkenntnis. Als Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in dieser schönen, aber vielfach vernarbten Stadt geboren wurden, ging ich dort in den Kindergarten.

Und als sie aus der Stadt flüchteten, nachdem die Bombenwerkstatt in der Garage entdeckt worden war, versuchte ich dort gerade, irgendwie zwischen Partys und Panik meine Magisterarbeit zu verfassen.

Ich wohnte damals nur ein paar hundert Meter von dem Laden entfernt, in dem etwa zwei Jahre später die Pistole gekauft wurde, mit der Enver Simsek und acht andere Männer erschossen wurden, die aus Sicht ihrer Mörder nicht nach Deutschland gehörten.

Und nun, eineinhalb Jahrzehnte später, saß ich plötzlich in diesem stickigen, fensterlosen Saal in München und hörte Verhandlungstag für Verhandlungstag Menschen in meinem Alter zu, wie sie von den Plattenbauten in Lobeda und Winzerla erzählten, der Wagnergasse und vom Biergarten an der Saale, in dem ich oft war.

Sie erzählten von den Jahren, als ein Staat aufhörte zu existieren und in einem anderen aufging, in denen plötzlich alles offen und frei schien und gleichzeitig beängstigend und irritierend, in denen die Eltern neu anfangen durften oder mussten, in denen die Erfolge direkt neben dem Scheitern standen. Sie erzählten von meinem Leben.

Irgendwann verstand ich. Die da unten, auf der Anklagebank, das hätte auch ich sein können. Das Lehrerkind Böhnhardt, der daheim bei Mutti immer die Hausschuhe anzog. Der Professorensohn Mundlos, der alle anderen zutextete. Der Schwule Carsten S., der, um seine Homosexualität zu verdrängen, auf Nazi-Männchen machte.

Dieser Prozess hat gezeigt, dass nichts selbstverständlich ist. Es kann sich immer alles wiederholen, nicht auf dieselbe Weise, nicht in derselben Abfolge, aber doch mit denselben Aggressionen, die aus Ängsten wachsen, vor sich selbst, vor anderen, vor der Ungewissheit, die sich Leben nennt.

Obwohl ich es immer noch nicht glaube, dass Dinge genauso wieder passieren, obwohl ich nicht alles mit allem vermischen will, obwohl ich hoffe, dass wir aus Erfahrungen lernen: Wenn ich hinaus in diese Welt schaue, dann weiß ich, dass es nie vorbei ist.

9.7.2018

Machtwechsel

Am 5. Dezember 2014 wurde im Erfurter Landtag mit Bodo Ramelow der erste linke Ministerpräsident gewählt. In den Wochen davor stand Thüringen im Fokus wie fast noch nie zuvor.

Damals zeigte sich zum ersten Mal die Polarisierung, die später das sogenannte Flüchtlingsjahr 2015, die Regierungskrise 2020 und die nachfolgende Pandemie bestimmen sollte.

Pionierehrenwort

Als Jungpionier ging es darum, für Frieden und Sozialismus immer bereit zu sein. Das schloss die Teilnahme an den Wahlen zum Gruppenrat ein, der, liebe Zugezogene und Nachgeborene, das Schülerleitungsgremium meiner 3. Klasse in der POS „Wilhelm Pieck“ war. Wer nicht an dieser Wahl teilnahm, der musste notwendigerweise gegen den Weltfrieden sein. Das konnte ich nicht wollen – und wurde sogar Wandzeitungsredakteur. Nebenher war so mein Weg in die internationale Qualitätspresse vorgezeichnet.

Jetzt, Äonen später, ist wieder die Zeit der Appelle. Spätestens seit am letzten Augustsonntag die Hälfte der wahlberechtigten Sachsen Besseres zu tun zu haben meinte, als über den Landtag abzustimmen, schwillt der Geht-Wählen-Gesang wieder an. Jetzt kämpft man nicht mehr so sehr für den Sozialismus, sondern für die Demokratie. Aber immerhin.

Es werden etliche mehr oder minder sinnhafte Gründe dafür angebracht, warum der mündige Bürger zur Wahl gehen sollte. Zu den besseren Argumenten gehört, dass er mit seiner Stimme automatisch die Neonazis schwäche. Das ist plausibel, sofern er nicht selber so blöd ist, die Neonazis zu wählen.

Eine der preiswertesten Vorhaltungen dagegen ist, dass man ja vor 25 Jahren kerzenhaltend für freie Wahlen demonstrierte. Da müsse man ja wohl heute, da man diese freien Wahlen habe, auch daran teilnehmen!

Das ist natürlich Unfug. Es ging damals darum, frei entscheiden zu können. Kann ich laut sagen, was ich denke? Nehme ich den Zug nach Altenburg oder doch lieber den nach Fulda? Und ja, darf ich wählen, wen ich will – oder, und das ist jetzt sehr wichtig: Kann ich es auch einfach lassen?

Das Grundgesetz kennt nur das Recht auf freie Wahlen und nicht die in der DDR anbefohlene Pflicht. Wer in der angeblichen demokratischen Republik nicht wählte, durfte sich unschöner Folgen gewiss sein. Jetzt ist man so frei, nicht abzustimmen, wenn man halt nicht mag.

Dass nur die Hälfte wählt, ist in anderen, älteren Demokratien der Normalzustand. Zugegeben: Eine geringe Wahl-Beteiligung kann durchaus ein Indikator für Verdrossenheit und Frust sein. Doch oft genug zeigt sie nur, dass die meisten Menschen ziemlich zufrieden sind – zwar nicht unbedingt mit der Politik, aber doch mit ihrem Leben. Es interessiert sie daher schlicht eher wenig, was im Landtag oder der Landesregierung passiert.

Ich wähle trotzdem am 14. September, und zwar nicht, weil ich beruflich mit Politik zu tun habe. Ich wähle, weil es tatsächlich etwas zu entscheiden gibt.

Es ist recht einfach. Wähle ich, zum Beispiel, die CDU, erhöhe ich die Wahrscheinlichkeit für eine schwarz-rote Fortsetzung. Es läuft dann ungefähr so weiter wie jetzt, mit mal faulen, mal akzeptablen Kompromissen, also mit ein bisschen Gemeinschaftsschule, einer halben Gebietsreform und einem gekürzten Betreuungsgeld.

Wer dagegen Linke und Grüne wählt, bekommt, da es für Schwarz-Grün nicht reichen dürfte, im Erfolgsfall lauter Reformen: in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, in der Kreisstruktur und dazu noch mehr Windräder und Kindergartenplätze, eine andere Asylpolitik und jede Menge Antifaschismus.

Auf der einen Seite bekommen Sie Kontinuität, auf der anderen Seite Veränderung – die aber keine Revolution sein wird, auch nicht unter einem linken Ministerpräsidenten.

Sie haben also wirklich eine Wahl. Und falls Sie sich partout nicht entscheiden können, dann gibt es für Sie praktischerweise eine Partei im Angebot, die das auch noch nicht tut.

Es ist die arme SPD.

8.9.2014

Die Fans von Egon Krenz

Manchmal erfahren Begrifflichkeiten die seltsamsten Karrieren. In den frühen 1980er-Jahren zog der westdeutsche CDU-Vorsitzende Helmut Kohl mit der Parole von der „geistig-moralischen Wende“ in den Wahlkampf gegen die seit Langem regierenden Sozialdemokraten. Auch als Bundeskanzler sprach er noch eine Weile davon, bis er es lieber sein ließ.

Erfolgreicher war da schon die Energiewende, die 1980 erstmals in einem Buchtitel Erwähnung fand, woraufhin die neugegründeten Grünen das Wort vereinnahmten, bis es schließlich, nachdem auf einer japanischen Insel ein Atomkraftwerk explodiert war, von einer christdemokratischen Kanzlerin zur Staatsdoktrin erklärt wurde.

Doch am erstaunlichsten geriet die Begriffsbildung durch Egon Krenz. Vor ziemlich genau 25 Jahren sagte der damals gerade frischerwählte Generalsekretär vor dem Zentralkomitee der SED: „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.“

Was als letztendlich vergeblicher Kampfaufruf an die eigene, schon nicht mehr allmächtige Partei gedacht war, sich wieder an die Spitze der Bewegung zu setzen, entwickelte sich binnen Wochen zum Oberbegriff für die Ereignisse im Herbst 1989, wobei sie nebenher die unschuldige Vogelart Jynx torquilla (Wendehals) diskreditierte. Die Alternativformulierung von der „Friedlichen Revolution“ schafft es bei Google auch heute nur auf die halbe Zahl der Einträge.

Nun also steht, wenn die Zeichen nicht trügen, die Thüringer Wende an. Während im Advent des Machtwechsels von außen alles auf den ersten leibhaftigen Linke-Ministerpräsidenten starren dürfte, würde aus dem ländlichen Politikbetrieb ein großer Experimentierbaukasten.

Die CDU erlitte dann erstmals seit 1990 den totalen Machtverlust. Es wäre ein Kulturschock, der bis in die kleinste Parteigliederung reichte – aber eben auch die Chance für eine echte Parteireform und einen vollständigen Generationswechsel.

Allerdings müssten sich dafür Partei- und Fraktionschef Mike Mohring, Landtagspräsident Christian Carius und Generalsekretär Mario Voigt zusammenraufen. Die Entscheidung über die künftige Spitzenkandidatur könnten sie auf einen Mitgliederentscheid vertagen.

Mit der CDU erlebten auch große Teile der schwarz eingefärbten Verwaltung ihre Wende. Manches Unionsressort ginge direkt an die Linke, was die dortigen Beamten an die Grenze der Selbstverleugnung oder zum Sabotieren brächte.

Und dann ist noch die Linke selbst, die, so wie die grüne Partei, in Thüringen nichts anderes kennt als Opposition. Immer war sie gegen etwas, nun muss sie dafür sein und Dinge verteidigen, die ihr von den Koalitionspartnern aufgenötigt wurden – oder gar, Marx behüte, an Sozialleistungen sparen. Dass man anderswo schon regierte und fleißig kürzte, nützt da herzlich wenig: Die schmerzvolle Erfahrung der Realpolitik darf jede Landespartei ganz allein für sich machen.

Wenn man böse wäre, könnte man den Wahrscheinlich-Bald-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow als Vollstrecker des Krenzschen Wendewillens von 1989 betrachten. Er, der einst die geistig-moralische Wende als Gewerkschafter in Hessen bekämpfte, hätte es tatsächlich geschafft, die Nachnachnachfolgepartei der SED in den drei Bezirken Erfurt, Gera und Suhl wieder in die politische und ideologische Offensive zu bringen. Was für eine ironische und vor allem wendige Wendung der Geschichte!

Aber, natürlich bin ich keinesfalls böse. Niemals.

20.10.2014

Soljanka mit Drachenbrut

Am Freitagnachmittag saß ein sehr ernster Bodo Ramelow am seitlichsten Tisch der Landtagskantine, zusammen mit seiner Frau. Ein paar Tische entfernt schwatzten derweil frohgemut die parteieigenen Landrätinnen mit ein paar Abgeordneten aus der Fraktion, der Ramelow immer noch vorsteht.

Natürlich hatte dies nichts weiter zu bedeuten; ein Ehepaar muss auch mal Dinge für sich bereden. Aber es passte ganz gut zu der aktuellen Situation des Bodo Ramelow, die, jenseits der Aussicht auf das wichtigste Amt in Thüringen, durchaus ihre Nebenwirkungen erzeugt.