Christine Lieberknecht - Martin Debes - E-Book

Christine Lieberknecht E-Book

Martin Debes

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Beschreibung

Etwa ein Vierteljahrhundert ist es her, dass die Dorfpastorin Christine Lieberknecht mit den Umwälzungen in der DDR in die Politik geriet. Aus der früheren FDJ-Sekretärin und dem Mitglied der Blockpartei CDU wurde binnen weniger Wochen eine Vorzeigereformerin und Landesministerin. Machte und stürzte sie am Anfang ihrer Karriere Ministerpräsidenten, diente sie später lange Jahre im Kabinett oder als Parlaments- und Fraktionschefin mehreren Regierungschefs, um es schließlich selbst an die Spitze zu schaffen. Somit ist die Geschichte Christine Lieberknechts in ihrer einmaligen Kontinuität auch die politische Geschichte Thüringens seit der Wende.

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Martin Debes

Christine Lieberknecht

Von der Mitläuferin zur Ministerpräsidentin

Martin Debes

ChristineLieberknecht

Von der Mitläuferin zur MinisterpräsidentinEine politische Biografie

Titelabbildung:

Christine Lieberknecht vor der WartburgFoto: Sascha Fromm, Archiv TA

1. Auflage März 2014

Satz und Gestaltung:

Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Umschlaggestaltung:

Volker Pecher, Essen

Druck und Bindung:

Drukkerij Wilco, Amersfoort (NL)

ISBN 978-3-8375-1046-1

eISBN 978-3-8375-1337-0 1

Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen 2014

www.klartext-verlag.de

Inhalt

Zu diesem Buch

Prolog: Unter Pfarrerstöchtern

Kapitel 1: Christine Determann

Kapitel 2: Wendezeiten

Kapitel 3: Politik

Kapitel 4: Ministerin

Kapitel 5: Lehr- und Dienstjahre

Kapitel 6: Nach oben

Kapitel 7: Ministerpräsidentin

Epilog: Allein gegen die Männer

Danksagung

Anmerkungen

Personenregister

Zu diesem Buch

Dies ist die Geschichte der Frau, die Thüringen regiert – und es ist die politische Geschichte des Landes seit seiner Wiedergründung. Christine Lieberknecht bekleidete in allen fünf Legislaturperioden seit 1990 herausgehobene Ämter, war Kultus-, Europa-, Staatskanzlei- und Sozialministerin, Parlamentspräsidentin und Fraktionsvorsitzende und ist nun, in ihrem siebten Amt, Ministerpräsidentin.

Wie kaum ein anderer Mensch aus Thüringen steht Christine Lieberknecht für die Ambivalenz dieses kleinen Landes, das sie nie für länger als wenige Wochen verließ. Sie steht für seine Offenheit und seine Provinzialität, für seine kulturelle Größe und seine geistige Enge, für seinen Stolz und seine Komplexe.

Lieberknechts Karriere in ihrer Partei wirkt wie ein Kreis. Sie war 1990 kommissarische Vorsitzende der Thüringer CDU und ist es seit 2009 offiziell. Sie wurde 1991 mit Angela Merkel in die Spitze der Bundespartei gewählt, der sie nun wieder als Regierungschefin qua Amt angehört. Immer wenn sich Dramen in Regierung oder Partei abspielten, nahm Lieberknecht eine Hauptrolle ein. Sie machte Ministerpräsidenten, ließ sie scheitern und kämpfte sich schließlich selbst zum Regierungsvorsitz durch. Naturgemäß nehmen diese Brüche in diesem Buch mehr Raum ein als jene Jahre, die sie dienend in der zweiten Reihe verbrachte.

Zu Beginn ihrer Amtszeit als Ministerpräsidentin im November 2009 formulierte Christine Lieberknecht ein politisches Ziel, das über den Tag hinausreicht. Sie skizzierte ein Thüringen im Jahr 2020, das trotz sinkender Zuschüsse finanziell, ökonomisch und politisch souverän ist. Dafür, sagte sie, seien kraftvolle Reformen nötig.

Doch vieles von dem, was sie versprach, blieb liegen, die nötigen Strukturveränderungen kamen nur mühsam voran. Nur der Haushalt, der in ihrem ersten Regierungsjahr aufgebläht wurde, ist inzwischen wieder ausgeglichen. Immerhin schien Lieberknecht Tritt gefasst zu haben, bis die Pensionsaffäre um ihren vormaligen Regierungssprecher Zimmermann begann. Obwohl die Untreue-Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Anfang Februar 2014 eingestellt wurden, bleibt doch ihr beschädigter Ruf, den sie bis zur Landtagswahl am 14. September reparieren muss.

Nicht nur deshalb ist völlig offen, ob Lieberknecht am Ende dieses Jahres noch Ministerpräsidentin ist. Die Mehrheit, die schon jetzt links von CDU und FDP im Thüringer Landtag theoretisch existiert, scheiterte an der Absage der Sozialdemokraten an einen Linke-Ministerpräsidenten. Doch diese Vorbedingung hat die SPD nun aufgegeben, derweil die Union auf die Grünen setzt.

Christine Lieberknecht kämpft im 25. Jahr des Mauerfalls, das auch das 25. Jahr ihrer politischen Karriere ist, um ihr Amt – und um die Macht ihrer Landespartei, die ebenfalls ein Vierteljahrhundert währt. Wie immer es auch ausgehen mag: Es wird spannend.

»Die Macht ist kein Schoßhund. Du musst sie dir greifen und festhalten, sonst ist sie weg, ehe du dich versiehst.«

(Bent Sejrø in der dänischen Fernsehserie »Borgen« zu der künftigen Premierministerin Birgitte Nyborg)

Prolog

Unter Pfarrerstöchtern

Am Ende des Jahres 1991 befindet sich Helmut Kohl auf dem Gipfel seiner Macht. Er ist unumstritten, unanfechtbar, der Kanzler der Einheit. Seine Ära, schreibt die »Zeit«, habe hier, in der Stadt Dresden, endgültig zu ihrer Gestalt gefunden, einem »Absolutismus mit demokratischem Gesicht«1. Die CDU hält zum ersten Mal einen Bundesparteitag im östlichen Deutschland ab. Tausende Parteimitglieder, Gäste und Journalisten pferchen sich in den DDR-Barock des Kulturpalastes. Tische für die Delegierten gibt es nicht, es fehlt schlicht der Platz.

Es ist nur noch eine gute Woche bis Weihnachten, das Adenauer-Haus hat alles auf Harmonie getrimmt. Das Motto des Parteitages lautet »Einheit leben«. Nur die merkwürdigen Vorgänge im nahen Thüringen generieren Missstimmung. Dort wird Ministerpräsident Josef Duchač gerade von seiner Vergangenheit als DDR-Funktionär eingeholt.

Kohl kann nicht egal sein, was in Thüringen geschieht. Die östlichen Landesverbände, die erst ein Jahr zuvor mit der Westpartei vereint wurden, drohen zu kollabieren. Im Sommer hatte mit Gerd Gies in Sachsen-Anhalt ein ostdeutscher CDU-Ministerpräsident zurücktreten müssen und war durch den Westimport Werner Münch ersetzt worden. In Sachsen wiederum trat der Landesvorsitzende Klaus Reichenbach ab, der schon in der DDR die Blockpartei im Bezirk Karl-Marx-Stadt angeführt hatte und in der letzten DDR-Regierung der faktische Stellvertreter von Ministerpräsident Lothar de Maizière war. In Mecklenburg-Vorpommern wackelt Regierungschef Alfred Gomolka.

Das Problem Duchač fehlt dem Bundeskanzler gerade noch, jetzt, da doch ganz andere, aktuellere Personalien pressieren. Durch Reichenbachs Rücktritt ist ein Platz im Präsidium der Bundespartei neu zu besetzen. Und der einzige stellvertretende Parteivorsitz ist vakant, seit Lothar de Maizière im September seine letzten politischen Posten abgegeben hat. Dem einstigen Regierungschef wird vorgeworfen, als Rechtsanwalt unter dem Decknamen »Czerni« für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben. De Maizière dementiert, doch es nützt ihm ebenso wenig wie Duchač.

Was die CDU also benötigt, sind frische, ostdeutsche Gesichter. Deshalb holt Kohl in Dresden zwei junge Frauen zu sich. Sie sehen auf den ersten Blick wie Zwillingsschwestern aus, mit ihren kurzen Haaren, den weiten Röcken und den schlichten Blusen unter ihren Jacketts. Die eine, 1954 geboren, stammt aus einer Pfarrersfamilie, ist promovierte Physikerin, kam über den »Demokratischen Aufbruch« (DA) zur Funktion der stellvertretenden Regierungssprecherin unter de Maizière – und dann in die CDU. Seit einem Jahr sitzt sie im Bundestag, leitet zudem das eigens für sie geschaffene Bundesministerium für Frauen und Jugend.

Auch die andere, Jahrgang 1958, ist eine Pastorentochter, die Physik studieren wollte. Dann wurde sie doch lieber Pfarrerin, bis die Wende sie in die Politik spülte. Seit November 1990 ist sie Kultusministerin in Thüringen.

Kohl hat an diesem Dezembertag in Dresden den beiden Frauen nicht viel mitzuteilen. Angela Merkel weiß schon länger, dass sie de Maizière nachfolgen soll. Christine Lieberknecht wird einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. »Mädchen, macht den Mund auf«, sagt Kohl zu den beiden. Wenig später ist Merkel stellvertretende Parteivorsitzende und Lieberknecht Mitglied des Bundespräsidiums.

Die Quote – jung, weiblich, ostdeutsch – ist damit übererfüllt. Und es wird noch eine zusätzliche Botschaft transportiert. Man habe, sagt CDU-Generalsekretär Volker Rühe, mit der Wahl der zwei Frauen die »Erneuerung durchgesetzt«2. Lieberknecht teilt mit, dass sie »für Reformen innerhalb der CDU« stehe. Und: »Ich bin ermutigt, weil ich ja nicht allein stehe, sondern auch Angela Merkel an meiner Seite habe.«3

Die Parteispitze möchte es jedenfalls so sehen. Angela Merkel ist gerade 37 Jahre alt und kann dank ihrer kurzen DA-Vergangenheit als Bürgerrechtlerin vermarktet werden. Christine Lieberknecht, 33, war zwar Mitglied der DDR-Blockpartei. Aber sie gehörte zu jenen, die im Spätsommer 1989 vorsichtig aufbegehrten, als dies noch als gefährlich galt. Deshalb trägt auch sie das Etikett der »Reformerin«, das sich schön vom Stasi-Stigma abhebt.

Somit berühren sich in Dresden erstmals zwei politische Karrieren, die beide auf ihre Art einzigartig sind. Angela Merkel gelingen in der deutschen Geschichte mehrere Premieren: Sie wird erste Generalsekretärin, erste Bundesvorsitzende, erste Bundestagsfraktionschefin – und erste Bundeskanzlerin. Christine Lieberknecht wird nach einer langen, nie unterbrochenen Karriere als Ministerin, Parlamentspräsidentin und Landtagsfraktionschefin die erste Unions-Ministerpräsidentin eines deutschen Bundeslandes.

Bundeskanzler Helmut Kohl gratuliert seiner neu gewählten Stellvertreterin Angela Merkel während des Parteitags der CDU am 15. Dezember 1991 im Kulturpalast in Dresden. In der Mitte Christine Lieberknecht. Quelle: picture alliance/dpa

So verschieden die beiden Frauen sind und so unterschiedlich die Ebenen, auf denen ihre Karrieren stattfinden – die Frage, die sich stellt, ist dieselbe: Wie konnte das passieren? Die Parallelen sind unübersehbar. Das erste Leben der Angela M. ähnelt mit seiner evangelisch eingefärbten Mischung aus Anpassung und Distanz jenem der Christine L. Beide sind Töchter von Pastoren, die sich ganz bewusst für die DDR entschieden und das Prinzip der Kirche im Sozialismus lebten.

Horst Kasner siedelt nach der Geburt seiner Tochter Angela von Hamburg nach Brandenburg über, um dem Pfarrermangel in der DDR zu begegnen.4Lukas Determann, der Vater Christine Lieberknechts, wird Pfarrer bei Weimar, um seinen Eltern nahe zu sein. Auch er sieht sich auf Mission in einem Staat, in dem Christen spätestens seit 1952 zu Klassenfeinden erklärt worden sind.

Ihre Kindheit beschreiben beide Frauen als glücklich, ja als geradezu paradiesisch. Beide sind sehr gut in der Schule, vor allem in den Naturwissenschaften, beide erhalten die Lessing-Medaille für hervorragende schulische und gesellschaftliche Leistungen, beide besuchen das Lager für Zivilverteidigung, beide treten der FDJ bei, werden in Schule oder Beruf FDJ-Sekretärin.

Und beide verbringen die letzten Jahre der DDR in einer Nische: Merkel in der Akademie der Wissenschaften, Lieberknecht in einer Pfarrei nahe Weimar. In den Westen dürfen beide ab 1987 reisen. Schließlich, 1989, zieht es sie gleichzeitig in die Politik.

Dass die eine Frau in der Bundesregierung aufsteigt, derweil die andere auf Landesebene bleibt, lässt sich nicht nur mit Umständen, Zufällen oder Lebensplänen begründen. Merkel ist souveräner, effizienter, abgebrühter als Lieberknecht. Dennoch verstehen beide ihr Geschäft ähnlich. Beide geben sich unaufgeregt, unideologisch und pragmatisch, moderieren lieber statt zu dirigieren und praktizieren die hohe Schule der Politikverwaltung. Und beide folgen einem ausgeprägten Machtinstinkt, jähe Wendungen inklusive. Die erste Ministerpräsidentin, die die Energiewende-Wende der Kanzlerin nachvollzog, ja gar noch zu übertrumpfen versuchte, hieß Christine Lieberknecht.

Dabei liegt weder Angela Merkel noch Christine Lieberknecht die öffentliche Ansprache. Es gibt von beiden Frauen nur wenige Reden, die sich im öffentlichen Bewusstsein verankert oder die einen Plenarsaal oder Parteitag mitgerissen hätten. Programmatisch drängen sie selten voran. Wenn es einmal passiert, wie bei Merkel auf dem Leipziger Reformparteitag oder bei Lieberknecht mit ihrer Agenda »Thüringen 2020«, bleibt es meist bei Ankündigungen.

Eine andere Parallele sind die Etiketten, die man beiden anheftet. Über Merkel wird im Bundestagswahlkampf 2013 behauptet, dass sie in der Spätphase der DDR eine Reformkommunistin war. Über Lieberknecht, die »rote Christine«, die nicht nur in der FDJ, sondern auch der Blockpartei war, hat man dies schon immer erzählt. Überhaupt, heißt es, trieben sie die Sozialdemokratisierung der CDU voran.

Die gängigste Einordnung aber hat mit den Männern zu tun, die sie hinter sich zurück ließen. Spätestens seit 1992, seit dem Sturz von Josef Duchač, verfolgt Lieberknecht das Stigma der Verräterin, das seit ihrer Emanzipation von Helmut Kohl genauso an Merkel haftet. Was später für die eine Wolfgang Schäuble oder Friedrich Merz waren, waren für die andere Dieter Althaus oder Mike Mohring.

Im Jahr 1999 leitete Angela Merkel mit ihrem öffentlichen Befund, dass Kohl »der Partei Schaden zugefügt«5 habe, die Abnabelung der CDU von ihrem Ehrenvorsitzenden ein – um ihm schließlich nachzufolgen. Zehn Jahre später stellte Lieberknecht als erste mit dem Satz »Die Ära Althaus ist zu Ende«6 das Aus von Ministerpräsident Althaus fest – und beerbte ihn.

Kapitel 1

Christine Determann

Ein Mensch ist ohne seine Herkunft kaum begreifbar. Christine Lieberknechts Menschenbild, ihr Kulturverständnis und ihre Widersprüche lassen sich ohne die Prägung, die sie durch ihre Heimat und ihre Familie erfuhr, nicht verstehen. Als Christine Determann wurde sie am 7. Mai 1958 als erstes Kind des Pfarrers Lukas Determann und seiner Frau Roswitha in Weimar geboren. Damit war der Mittelpunkt ihres Lebens markiert. Man braucht um die Stadt nur einen Kreis mit einem Radius von 25 Kilometern zu ziehen: Schon ist der Raum abgegrenzt, den sie nie länger als für wenige Wochen verließ.

Lieberknecht wuchs in Leutenthal auf, ging dort und in den Nachbardörfern zur Schule, besuchte die Oberschule in Bad Berka, studierte in Jena Theologie, absolvierte nahe Weimar ihr Vikariat, wurde in Ottmannshausen Pfarrerin – und wohnt bis heute in Ramsla. Von dort braucht sie mit dem Auto keine halbe Stunde bis nach Erfurt, wo sie seit 1990 arbeitet.

Es ist eine überschaubare Welt, in der Christine Lieberknecht ihr bisheriges Leben verbrachte. Aber es ist auch die Welt von Goethe, Schiller, Wieland, Fichte, Herder, Liszt, Nietzsche und den Romantikern. Es ist eine Welt, in der das Bauhaus entstand und die Napoleon durchritt, eine Welt, in der Zeiss und Abbe ein Imperium aufbauten – und eine Welt, in der die Nationalsozialisten die ersten Wahlen gewannen und ein Konzentrationslager errichteten.

Bauhaus und Brauhaus

Zumal: Die Welt, der Christine Lieberknechts Ahnen entstammen, ist größer. Ihre Großeltern kommen aus den Nachbarländern, aus Niedersachsen, Hessen und Sachsen. Nur die Großmutter mütterlicherseits wird in Thüringen geboren. Die Familie hält etwas auf sich. »Es gab einen Großonkel, der nachwies, dass die Determanns von der Heiligen Elisabeth und Karl dem Großen abstammen«, sagt Johanna Harder, die Schwester von Christine Lieberknecht. »Wir wuchsen mit diesem Wissen auf.«

Lieberknechts Großvater Walter Determann wird 1889 in Hannover geboren. Seine Ahnen sind Großbauern aus der Osnabrücker Gegend. Die Eltern betreiben ein großes Textilgeschäft, das er übernehmen soll. Doch Walter will lieber Kunst studieren. 1912 schreibt er sich, nachdem er einige Widerstände überwunden hat, in Weimar ein und besucht die Kunsthochschule unter Henry van de Velde.

Noch im selben Jahr begegnet er bei einem Fest der Innenarchitektur-Studentin Katharina Ulrich. Sie, von allen nur Käthi genannt, ist das zweite von sieben Kindern von Christian und Marie Ulrich, geborene Baartz. Und sie ist Millionenerbin. Ihr Vater führt die Brauerei im hessischen Pfungstadt, der Familie der Mutter gehört die Brauerei Oranjeboom in Rotterdam.

Die Ulrichs gehören zum Großbürgertum, wohnen auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, geben sich weltläufig. Der Vater bringt, weil ihm danach ist, von der Weltausstellung in Paris zwei Esel mit, die er Ali und Ramses tauft. Oder er jagt in Österreich. Der Schochen mit seiner 2069 Meter hohen Spitze wird zum Hausberg der Familie. Nur einige Kilometer entfernt, in Haller am Haldensee, kauft Christian Ulrich im Jahr 1904 ein Bauernhaus und lässt es zum Ferienhaus umbauen.

Die Ulrich-Kinder genießen alle Freiheiten des späten Kaiserreichs, die nahe Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe inspiriert sie. Käthis Schwester Christine Ulrich etwa trifft den Dichter Ludwig Derleth, der eng mit Thomas Mann und Stefan George verkehrt. Sie wird seine Frau, wohnt mit ihm in Rom, Wien und Paris, und betreut seine Schriften.

In Weimar wird Walter Determann 1918 Meisterschüler am Staatlichen Bauhaus und zu einem der wichtigsten Gehilfen von Walter Gropius. Er entwickelt einen Entwurf für das Bauhaus-Signet, arbeitet in der Zeitschrift »Der Austausch« und beteiligt sich mit einer eigenen Arbeitsgemeinschaft am Wettbewerb für eine Bauhaus-Siedlung.

Determann entwirft die Utopie einer sich selbst versorgenden Kommune mit Schulgebäuden, Internat, Kindergarten, Theater, Stadion, Gutshof und Meisterhäusern, die von der Stadt bis hinauf zum Park Belvedere reichen sollte, umgeben von einer Mauer und vier Leuchttürmen.7 Nichts davon wird je verwirklicht. Das Musterhaus »Am Horn«, in dem sich heute ein Museum mit Determanns Skizzen befindet, wird nach einem Entwurf von Georg Muche errichtet. Die Siedlung in Dessau, die ab 1925 in Dessau entsteht, hat Gropius selbst konzipiert.

Walter Determann drängt es zurück zu den Ursprüngen. »Es gibt nur einen Weg der Baukunst zu helfen!: Wieder naiv werden!«8, schreibt er. Seine »Arbeitsgemeinschaft Determann« entwickelt sogenannte Volksmöbel, vom einfachen Stuhl über ein Buffet bis zum Küchenschrank. Die zugehörigen technischen Zeichnungen finden sich im Archiv der Weimarer Klassik-Stiftung.

1918, kurz nach Kriegsende, heiratet die van-de-Velde-Schülerin Käthi Ulrich den Gropius-Schüler Walter Determann. 1921 gebärt sie ihren ersten Sohn Karl. Hans kommt ein Jahr später zur Welt, dann Fritz (1924), dann Wilhelm (1925) – und schließlich der fünfte Sohn Lukas (1927), der spätere Vater von Christine Lieberknecht.

1922 erhält Käthi Determann ihr holländisches Brauerei-Erbe ausbezahlt. Walter Determann verlässt das Bauhaus und wird Maler. Die junge Familie kauft in Weimar eine Villa in der Tiefurter Allee, die für einen Finanzrat um die Jahrhundertwende erbaut worden war.9 Dazu gehört ein großes Anwesen, mit Garten und Badeteich. Die Familie beschäftigt Diener, Küchenhilfen und Kindermädchen. Walter Determann malt und züchtet Blumen. Eine seiner Schwertlilien wächst noch heute in den Gewächshäusern der Orangerie von Schloss Belvedere.

Doch Deutschland verändert sich – und Walter Determann mit ihm. Er, der vormalige Meisterschüler des Bauhauses, wird zum Nationalsozialisten, tritt in die NSDAP ein. Seine Enkelin Johanna berichtet, dass er sogar einige seiner Arbeiten zerstört, die als entartet gelten können. Lukas Determann will das nicht bestätigen.

1939 veröffentlicht Walter die »Chronik der Familie Determann«, mit dem Ziel, »einen Einblick in die geografischen, völkischen, sozialen und rassischen Zusammenhänge der Sippe zu gewinnen«. Das Ergebnis ist ein Nachweis des eigenen Ariertums: Die Familie sei »rassisch rein« und entstamme »ernsten, strengen Menschen«, die »ihr ganzes Leben treu und schwer gearbeitet haben«10. Zu Beginn des Werkes zitiert Determann Adolf Hitler: »Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt, ist Spreu.«

In dem Jahr, in dem Determann das Buch veröffentlicht, stehen nahe Weimar auf dem Ettersberg die Baracken hinter dem Stacheldraht. Über eine Straße aus Betonplatten rollen die Menschen-Transporte in das neue Konzentrationslager »Buchenwald«. Offiziell werden dort allein 1939 exakt 1.378 Tote11 registriert.

Es folgt der Krieg. Die Determanns schicken, wie Johanna Harder sagt, die Kinder »mit Überzeugung an die Front«. Drei der fünf Söhne kommen nicht zurück. Karl, der Älteste, fällt in der Ukraine, Wilhelm stirbt im Lazarett, Hans wird vermisst. Fritz, der mittlere Sohn, überlebt, genauso wie Lukas, der Jüngste, der noch Flakhelfer wird und ein halbes Jahr in den Ardennen in amerikanischer Gefangenschaft verbringt.

Das Haus in der Tiefurter Allee okkupieren sowjetische Offiziere. Determann muss sie porträtieren, Käthi Determann ist für sie die »Babuschka«. Man teilt das Essen. Später, in der DDR, quartiert die Wohnungswirtschaft Mieter ein. Geld für Personal gibt es da längst nicht mehr.

Sohn Fritz, der bei »Carl Zeiss« in Jena Optiker gelernt hat, geht in den Westen, zur Firma »Voigtländer« nach Braunschweig. Später kehrt er zurück zu Zeiss, in die westliche Exil-Niederlassung nach Oberkochen, wo er patentierte Objektive entwickelt. Lukas wird erst einmal nach Hannover geschickt, zu Walters Familie, um Kaufmann zu lernen. Doch er ist zu sehr sein Vater, als dass er für das Geschäft geeignet wäre. Er malt lieber und dichtet und entscheidet sich dann für seinen ganz eigenen Weg. Er wird Pfarrer.

Von seinen Eltern hat Lukas Determann das Religiöse nicht. Die Kinder wurden freigeistig erzogen, die Kirche spielte kaum eine Rolle. Lukas ist getauft, nicht konfirmiert. Doch das holt er nun nach. Der Krieg und die Gefangenschaft, sagt er, lassen ihn zu Gott finden. Er zieht nach Leipzig, um Theologie zu studieren.

Walter Determann geht wieder mit der Zeit. Er malt Arbeiter. Ein Ölbild aus dem Jahr 1948 stellt drei Puppenmacherinnen dar. Eine der Arbeiterinnen zeigt einem kleinen Kind, das neugierig durch das Fenster in die Werkstatt schaut, eine fertige Puppe. Es wirkt wie ein Vorgriff auf den sozialistischen Realismus.

Nach seinem Studium bekommt Lukas eine Vikarstelle in Haselbach zugeteilt, einem kleinen Flecken im Thüringer Wald, nahe der Grenze zu Bayern. Der Nachbarpfarrer in Spechtsbrunn ist Wilhelm Meißner. Der junge Vikar muss durch den Ort, wenn er auf seinem Moped zu seinen Eltern nach Weimar fährt. Als er eine Panne hat, sucht er Hilfe im Haus seines Kirchenbruders. Dort trifft er Roswitha, die Pfarrerstochter – und seine spätere Frau.

Wilhelm Meißner stammt aus Sachsen, ein Großvater war Hofrat im Dresdner Finanzministerium. Die anderen Vorfahren kommen aus dem Vogtland und dem Erzgebirge, waren Feinmechaniker, Schuldirektoren oder Bürgermeister. Auch Wilhelm ist der erste Pfarrer in der Familie.

Er ist mit Anna Schönheid verheiratet, der Tochter eines Gerichtsoberwachtmeisters aus Königsee in Thüringen. Die Familie stammt aus den umliegenden Dörfern, dem Harz und der Region um Saalfeld. Einige Ahnen waren Olitätenhändler, verkauften Tropfen, Salben und Tees aus heimischen Kräutern, Wurzeln und Früchten.

Nun also leben Wilhelm und Anna Meißner in Spechtsbrunn. Tochter Roswitha lernt im Eisenacher Diakonissenhaus Krankenschwester. Nach der ersten Begegnung mit Lukas Determann sieht sie ihn auf einer kirchlichen Tagung im Zinzendorfhaus in Neudietendorf wieder. Diesmal hat das Treffen Folgen: Im Juli 1957 wird geheiratet.

Im Paradies

Lukas Determann sucht eine Pfarrstelle nahe seiner Eltern in Weimar. Er findet sie in Leutenthal. Das Dorf liegt zehn Kilometer nördlich von Weimar am Fuße des Ettersberges. Etwa 300 Menschen leben hier, das Rittergut, auf die Grundmauern eines alten Klosters gebaut, ist seit mehr als 100 Jahren aufgelöst. Aber es gibt noch eine schöne, nach dem Heiligen Veit benannte Kirche aus dem 15. Jahrhundert. Das große Pfarrhaus liegt nahe der Kirche an der Dorfstraße und ist aus rotem Backstein, dazu gehört ein riesiger Garten voller Obstbäume, Fliederbüsche, Rosensträucher und wilden Brombeerhecken.

In der Landeskirche heißt die Gegend WKW, »Weimarer Kirchenwüste«. Die Zahl der Christen ist hier besonders niedrig. Determann bildet deshalb um sich einen Kreis aus jungen Männern, die ihr Vikariat gerade hinter sich haben und die benachbarte Pfarrstellen annehmen. Es wird ein Bruderrat gegründet, der sich jede Woche trifft, zudem gibt ein jeder ein Zehntel seines schmalen Gehalts ab, um die Jugendarbeit zu finanzieren.

Der Leutenthaler Pastor betreibt Missionsarbeit mit allen Mitteln. Um die Jugendlichen zu interessieren, besorgt er eine klappbare Tischtennisplatte und fertigt mit seiner Kamera Bilderserien zu den Zehn Geboten an. Jeden Sommer fährt er mit dem Nachwuchs zur Rüstzeit an den Urseriner See in Mecklenburg.

Privat ist Lukas Determann Züchter, so wie sein Vater. Er okuliert Bäume, züchtet Tulpen und hält Tauben und Kaninchen. Seine Spezialität aber sind federfüßige, porzellanfarbene Zwerghühner, mit denen er viele Preise gewinnt.

Es ist die perfekte Nische in einem Staat, der die Kirche als lästiges Überbleibsel einer überkommenen Epoche betrachtet. Doch Pfarrer Determann ist kein kompromissloser Gegner der Obrigkeit. Er widersteht, wenn er widerstehen will und arrangiert sich, wenn ihm dies opportun erscheint. Nur so, sagt er, könne er das Beste für seine Gemeinde herausholen.

»Ich sah die Pfarrei immer als unpolitische Institution«, sagt er. »Ich war für alle da.« Er habe mit jedem gesprochen, auch mit SED-Mitgliedern und, ein paar Mal, mit der Staatssicherheit. »Die meisten Genossen waren dankbar, dass ich sie als Menschen behandelte.« Für sein Handeln gebe es nur eine Grundlage: »Es ist ein großes Geschenk, dass Menschen so verschieden sind. Wir müssen den anderen anders sein lassen.«

Wenn es sein muss, betätigt sich Determann als Unterhändler mit durchaus ambivalenten Zügen. So erzählt er die Geschichte eines örtlichen Landarztes, der verhaftet wurde, weil er Geld über die Grenze zur Bundesrepublik geschmuggelt haben sollte. Doch die Leute im Dorf hätten sich spontan solidarisiert und Unterschriften gesammelt, um die Freilassung zu erreichen. Die Listen wurden bei ihm, dem Pfarrer deponiert. Als die Staatssicherheit auftauchte, um die Listen zu konfiszieren, begann Determann zu verhandeln. Er sagte zu, die Unterschriften nicht zu vernichten, wenn der Arzt nur ein Jahr ins Gefängnis muss. So geschah es denn auch.

Die Erstgeborene

In all dies hinein werden die vier Kinder geboren. Die erste Tochter kommt im Mai 1958 zur Welt und erhält den Namen ihrer Großtante aus der Ulrich-Familie: Christine. Sie wird in Leutenthal getauft, einer der Paten ist der befreunde Pfarrer Rainer Berlich. Ein Jahr später folgt Johanna. Dann, nach einer fünfjährigen Pause, wird 1964 Ulrike geboren und schließlich 1967 Stefan, der einzige Sohn.

Zwischen Kind zwei und drei gibt es eine Zäsur. Die Mauer wird gebaut, die Grenzen sind dicht. Der größte Teil der Verwandtschaft ist ausgesperrt. Und dennoch: Die Kindheit Christine Determanns ist glücklich. Sie, ihre Schwester Johanna und Kinderfreundinnen wie die heutige Eisenacher Superintendentin Martina Berlich beschreiben Leutenthal als Paradies.12 Der Garten, das Dorf, die alten Klostermauern: Alles ist ein einziger großer Spielplatz. »Insgesamt war es die schönste Zeit«, sagt Roswitha Determann.

Die Grundschule Leutenthals befindet sich gleich gegenüber dem Pfarrhaus. Alle vier Klassen lernen zusammen. Nach dem Unterricht schart Christine ihre Schwester Johanna und einige Dorfmädchen um sich. Sie spielen nach, was es daheim zu lesen gibt, von Mark Twain bis Jules Verne.

Christine gibt je nach Bedarf Kapitän Grant, Tom Sawyer oder Robin Hood. Hauptsache, sie ist die Chefin und der Rest folgt. Sie erfindet die Regeln, sie verteilt die Schatzkarten, sie bestraft die Renitenten. Eine Freundin, die beim Lästern erwischt wird, muss eine ganze Seite mit nur einem Satz voll schreiben: »Man redet nicht schlecht über andere Bandenmitglieder.«

»Sie hat gern Wort geführt«, sagt Mutter Roswitha Determann. »Weil Christine die Älteste war, war ich recht streng zu ihr, zu streng, würde ich heute sagen. Sie musste etwas unter mir leiden. Aber es hat sie vielleicht auch stärker gemacht, weil sie Strategien dagegen entwickeln musste.«

Sowieso sind die Determanns anders. Akademiker, Christen, wertkonservativ. Mutter Roswitha ist die klassische Hausfrau und Mutter, die Haare meist zum Dutt gesteckt. In den Kindergarten gehen die Kinder deshalb genauso wenig wie in den Schulhort oder zu den Jungen Pionieren. Stattdessen fahren sie zur Klavierstunde nach Weimar.

Hochzeit Lukas und Roswitha Determann. Links Käthi Determann. Rechts Wilhelm und Anna Meißner.

Schuleinführung 1964 Quelle: privat

Wenn der Tisch gedeckt wird, steht neben jedem Teller ein kleines Gestell, auf das das Messer gelegt wird. Niemand anderes im Dorf hat derartige Messerbänkchen.13 Einen Fernseher gibt es nicht. Der Vater klebt alte Landkarten auf Sperrholz, das er zersägt, um Puzzle herzustellen. Er baut Monopoly-Spiele nach, die er den besten Kindern in der Christenlehre schenkt. Alle Geschenke werden selbst gebastelt, nie wird etwas neu gekauft.

Nebenher besitzt das dörfliche Idyll ein städtisches Exil. Katharina Determann wohnt noch in der Tiefurter Allee; sie lebt allein, seitdem ihr Mann Walter 1960 starb. Die Villa verfällt zusehends, doch den Kindern ist das egal. Das Quellwasser fließt immer noch in den Badeteich und in dem Atelier des Großvaters stehen interessante Gerätschaften herum. Es ist ein Geheimnisort, an dem stets Neues zu entdecken ist, ob nun Zeichnungen, große Ölgemälde oder »eigenartige Konstruktionen aus Holz, Pappe, Draht und Stoffen«14.

Die Determanns wohnen oft in dem herrschaftlichen Haus, das sie zwangsweise untervermieten. Der Park und vor allem der Teich werden zu einem Zentrum der städtischen Jugend. Unter den regelmäßigen Gästen ist Martin Kirchner, dessen bester Freund im Haus wohnt. Er, fast neun Jahre älter als Christine Lieberknecht, erinnert sich noch heute daran, wie er sie als kleines Mädchen im Schlamm des Badesees spielen sieht.

Oma Käthi, wie sie alle nennen, kümmert sich um ihre Enkel, sie spielt mit ihnen, singt holländische Lieder. Die Erinnerungen der Enkel schwanken zwischen Verehrung und Verklärung. »Sie war immer positiv, trotz aller Schicksalsschläge«, sagt Johanna Harder. »Sie brachte ein feines Gespür für die Weiten und Grenzen von Freiheit und ein fröhliches, weibliches Selbstbewusstsein mit.«

Im Jahr 2001 schreibt Lieberknecht – sie ist inzwischen Präsidentin des Thüringer Landtags – eine Art Weihnachtsgeschichte über »Oma Käthi«, die »lustige Großmutter«, die stets vor Heiligabend »schwer bepackt« mit Pferdekutsche oder zu Fuß von Weimar herüber kam, mit ihnen spielte, bastelte und den Herrnhuter Weihnachtsstern zusammen steckte.

Die Geschichte endet so: »Immer nach dem Reste-Essen zwischen Weihnachten und Neujahr machte sich Oma Käthi auf den Heimweg. Zur Verabschiedung tanzten wir noch einige hundert Meter neben ihr auf der leicht ansteigenden Straße aus dem Dorf hinaus. Oma Käthi drehte sich, ehe sie endgültig zwischen den Alleebäumen verschwand, noch einmal um zu der aufwärts weisenden Spitze des Kirchturms. Sie umarmte uns Kinder, als sei es das letzte Mal. Ihre Schritte verloren sich im Schneegestöber. Wir aber gingen zurück.«15

Über das, was zwischen 1933 und 1945 war, wird bis heute in der Familie kaum geredet – nicht über Walter und nicht über seine Frau. Die Großmutter, formuliert Lieberknecht vorsichtig, habe wohl die »braunen Horden reichlich unkultiviert« gefunden, sich aber »doch genötigt gefühlt«, die »Aktionen der Frauenschaft« zu unterstützen.16 Johanna Harder erzählt es nüchterner. Natürlich sei Oma Käthi eine Mitläuferin gewesen, sagt sie, in der NS-Frauenschaft und dem Frauenwerk. Und natürlich habe sie das Mutterkreuz erhalten, das nur sogenannte erbtüchtige und deutschblütige Mütter ab vier Kindern erhielten.17

Im Jahr 1974, da ist die Käthi Determann schon jenseits der 80, zieht sie nach Leutenthal. Das Haus in der Tiefurter Allee, das für die großbürgerliche Vergangenheit der Familie steht, für Bauhaus und Brauhaus-Erbe, es wird verkauft. »Ich war traurig und wütend«, sagt Christine Lieberknecht, »aber was sollte ich machen. Ich war ja noch auf der Oberschule.«

Musterschülerin

Ihre Schulkarriere hat in Leutenthal begonnen. Die ersten drei Jahre geht sie in die dortige Grundschule, alle Klassen werden gemeinsam unterrichtet. Die 4. Klasse wird im nahen Sachsenhausen zentralisiert, mit 36 Schülern. Die Klassen 5 bis 8 absolviert sie in Großobringen.

Christine ist eine gute Schülerin, obwohl sie zu den Jüngsten in der Klasse gehört. Sie wird in der zweiten Klasse Rechenmeisterin, ab der 5. Klasse nimmt sie regelmäßig an Mathematik-Olympiaden teil und schafft es bis zur Kreisebene. Auch Chemie und Physik liegen ihr.

In Großobringen geht sie in die Arbeitsgemeinschaft für Schach. Das Spiel hat sie daheim vom Vater gelernt, nun ist sie so gut, dass sie an Olympiaden teilnimmt und Medaillen gewinnt. Christine will zu den Besten gehören, in allen Fächern. In Staatsbürgerkunde und Geschichte erhält sie fast ausschließlich Einsen. Dass sie aus einem Pfarrhaus kommt, merken die Mitschüler nur daran, dass sie nicht bei den Pionieren ist und statt der Jugendweihe an der Konfirmation teilnimmt.

Wenn es nur nach ihr ginge, wäre auch dies anders. In der 4. Klasse, als aus Jungpionieren Thälmannpioniere werden und das blaue durch aus rote Halstuch ersetzt wird, steht Christine im Klassenraum auf und sagt: »Ich darf kein Pionier werden.« Sie sei, sagt Lieberknecht im Rückblick, »immer ein Gruppenmensch« gewesen.

Später nivelliert sich dieser letzte Unterschied. Mit der 8. Klasse tritt sie wie alle Mitschüler in die FDJ ein, die Freie Deutsche Jugend. Sie trägt das blaue Hemd mit dem Zeichen der aufgehenden Sonne, geht zu Appellen, nimmt an den Gruppensitzungen teil. Eine besondere Leitungsfunktion bekommt sie nicht übertragen.

Christine Lieberknecht um 1970. Quelle: privat

Die FDJ ist eine atheistische Organisation, die sogenannte Kaderreserve der Staatspartei. In ihrem Statut heißt es: »Die Freie Deutsche Jugend betrachtet es als ihre Hauptaufgabe, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu helfen, standhafte Kämpfer für die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft zu erziehen, die im Geiste des Marxismus-Leninismus handeln.« Jedes Mitglied habe die Pflicht, »der Sache der Arbeiterklasse treu ergeben zu sein, sich die Wissenschaft des Marxismus-Leninismus immer vollkommener anzueignen und sie zu verbreiten, der Jugend die Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates überzeugend zu erläutern und an der Verwirklichung des Programms der SED und ihrer Beschlüsse mitzuwirken«18.

1972 wird Christine Determann an die Erweiterte Oberschule (EOS) in Bad Berka delegiert, obwohl sie Pastorentochter ist. Meist dürfen Christen, zumal aus Pfarrersfamilien, nicht diesen Weg gehen. Falls sie überhaupt Abitur machen, dann nur zusammen mit einer Berufsausbildung. Schließlich gilt als Voraussetzung für eine Delegierung an die EOS »politisches Wohlverhalten und gesellschaftliches Engagement«19.

Leutenthal, links das Pfarrhaus. Quelle: privat

Christine gehört zu den Ausnahmen. Parallel dazu befördert die Landeskirche ihren Vater zum Superintendenten in Buttstedt, einer Kleinstadt mit knapp 3.000 Einwohnern unweit von Leutenthal. Determann kennt den Schulrat aus Kinderzeiten: »Der sagte zu mir, dass er nur eines der beiden Mädchen delegieren kann.« Doch ein Jahr später, als Christines jüngere Schwester die 10. Klasse beendet, darf auch sie auf die EOS.

Die Oberschule in Bad Berka liegt etwa 25 Kilometer vom Dorf der Eltern entfernt, weshalb Christine im Internat wohnt. Für sonderlich aufmüpfig hält man sie dort nicht. Als Beleg ihres Widersprechens führt sie stets ein- und dieselbe Episode an: In der Klasse 11a wird in einer Staatsbürgerkunde-Arbeit der Marxismus-Leninismus als Weltanschauung der Arbeiterklasse, kurz AK, behandelt. Sie schreibt, nachdem sie den Aufsatz ordnungsgemäß verfasst hatte, darunter: »Standpunkt der AK nicht mein eigener«. Die Reaktion? Sie bekommt eine Eins, neben die der Lehrer anmerkt: »Wie ist Ihr eigener Standpunkt?« und eine Debatte in der Klasse beginnt.

»Man hat mich isolieren wollen«, sagt Christine Lieberknecht heute. Im Grunde aber, dies räumt sie ein, stellt sie den Sozialismus »nie in Frage«. Im Gegenteil: Sie möchte ihn reformieren. Ihre Eltern und die Großmutter vermitteln ihr einen »positiven Blick auf die Dinge«: »Ich bin zu Gottes und zu meiner Freude auf der Welt – die einem ja, in einem gewissen Sinne, auch in der DDR offen stand«.

Tatsächlich fallen Christine Determanns Oberschuljahre in die Zeit, in der sich die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, zumindest um den Anschein von Liberalität bemüht. Im Mai 1971 hat Erich Honecker Walter Ulbricht an der Spitze der Partei abgelöst, ein Jahr später beschließt der VIII. Parteitag die »Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik«. Renten und Löhne sollen steigen, der Wohnungsbau wird forciert und die Zensur gelockert. Parallel dazu vollzieht sich die außenpolitische Entspannung. Noch im selben Jahr tritt die DDR der UNO bei und unterzeichnet den Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik. 1975 verpflichtet sich die DDR formal mit der KSZE-Schlussakte von Helsinki, Grundrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit zu achten.

Im Internat in Bad Berka gibt man sich offener. Deutschlehrer Volkhardt Germer, ein SED-Mitglied, nimmt im Unterricht Gedichte von Reiner Kunze und Wolf Biermann durch. Und die Oberschülerin liest Trotzki, mehrere Bände. Germer wird 1987 stellvertretender Bürgermeister von Weimar, und später, nach der Wende, trotz seiner SED-Vergangenheit Oberbürgermeister. Er erinnert sich gerne an seine »Musterschülerin«: strebsam und ruhig, und doch »sehr selbstbewusst«, die »wusste, was sie wollte« und die »sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ.«20

Reformsozialistin

Wenn man es so sehen mag, wird Christine Determann somit zu jener Reformsozialistin, die sie bis mindestens Oktober 1989 bleibt. Das jedenfalls ist das Etikett, mit dem viel später, im Bundestagswahljahr 2013, auch Angela Merkel versehen wird21 – wobei die historische Einordnung unterbleibt. Denn wenn unter Reformkommunisten oder -sozialisten Menschen zu verstehen sind, die sich einen Sozialismus mit bürgerlichen Freiheiten wünschen, dann gehören alle dazu, die sich in der DDR als Opposition begreifen.

Dieser Befund gilt bis zum Herbst 1989. »Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen«, steht im Gründungsaufruf des »Neuen Forum«. Auch die ersten Dokumente des »Demokratischen Aufbruch« wollen beides: »konsequente Liberalisierung, Gewaltenteilung, Entideologisierung des Staates« und »Beharren auf einem sozialistischen Charakter der anzustrebenden Gesellschaftsverfassung«.22 Sogar im 1989 beschlossenen Programm der bundesrepublikanischen SPD heißt es, dass es um »Demokratie und Sozialismus« gehe. Die Sozialdemokratische Partei in der DDR fordert folgerichtig eine demokratische Alternative, die »an politische Traditionen anknüpft«, zu denen »an wichtiger Stelle die des Sozialismus« gehöre.23

Auch in der Kirche existieren viele Nuancierungen. Es gibt Pfarrer, die trotz allem den antikommunistischen Kirchenkampf führen, als Fortsetzung des christlichen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten. Es gibt Pfarrer, die sich vollends anpassen und sich gar der Staatssicherheit verpflichten. Und es gibt die Pfarrer, die sich irgendwo dazwischen positionieren. Horst Kasner, der Vater Angela Merkels, prägt in seinem Templiner Pastoralkolleg den Begriff »Kirche im Sozialismus«, der in DDR-typischer Doppeldeutigkeit zwischen Anpassung und Distanz changiert. Andere, wie der Erfurter Propst Heino Falcke, sprechen von einem »verbesserlichen Sozialismus«.

Die Determanns leben diese Ambivalenz in einer Landeskirche, die sich besonders stark dem System annähert. Schon 1958 hatte Landesbischof Moritz Mitzenheim zusammen mit Oberkirchenrat Gerhard Lotz den »Thüringer Weg« ausgerufen, der von Mitzenheims Nachfolger Ingo Braecklein fortgeführt wird. Lotz (IM »Karl«) und Braecklein (IM »Ingo«) werden vom Ministerium für Staatssicherheit als Inoffizielle Mitarbeiter geführt24. Lotz organisiert zudem den »Weimarer Arbeitskreis«, dem etwa 30 systemnahe Pastorinnen und Pastoren angehören. Lukas Determann ist nicht dabei, er wechselt 1975 von Buttstedt auf die Superintendenturstelle nach Apolda.

Determann hält in jede Richtung Kontakt, auch nach Braunsdorf bei Saalfeld, wo Walter Schilling ein Kirchliches Jugendheim betreibt. Der Pfarrer ist der Antipode zu Mitzenheim und Braecklein. Seine Offene Arbeit fungiert als Nukleus für die »Kirche von Unten«, die später, in den 1980er Jahren, Teil der DDR-Opposition wird. 1974 lässt die Staatssicherheit das Heim schließen.

Christine Determann fährt nach Braunsdorf zu Rüstzeiten, obwohl sie, wie sie eingesteht, »nicht zum inneren Kern« gehört. Lieber reist sie in kirchliche Ferienlager ins brandenburgische Chorin und an die Ostsee, nach Hiddensee und auf den Darß.

Theologie

Im Sommer 1976 schließt Christine Determann die 12. Klasse »mit Auszeichnung« ab und bekommt dafür die Lessing-Medaille. Für die goldene Variante darf ein Schüler nur Einsen auf dem Zeugnis haben, für die Silberne höchstens zwei Zweien. Christine Determann hat eine Zwei, in Sport, also erhält sie die Medaille in Silber. Die Auszeichnung, die neben dem Schuldirektor der Kreisschulrat bestätigen muss, gibt es zudem nur, falls außerdem »hervorragende gesellschaftliche Leistungen« vorliegen. Angela Merkel erhielt einige Jahr zuvor ebenso die silberne Medaille.

Eigentlich hat Christine Determann vor, Naturwissenschaften zu studieren, Physik oder Mathematik. Doch dann entscheidet sie sich für den Weg ihres Vaters – und studiert Theologie an der Universität Jena. Das erste Semester fällt in das Ende der Öffnungsperiode. Im August verbrennt sich der Pfarrer Oskar Brüsewitz, der am Erfurter Predigerseminar studierte, in Zeitz vor der Michaeliskirche. Auf Plakaten schreibt er: »Funkspruch an alle: Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen«. Nachdem im Westen darüber berichtet wird, reagieren die DDR-Zeitungen mit Denunziation. Brüsewitz, heißt es, sei ein Verrückter. Die offizielle Kirche reagiert verschreckt. Halb solidarisiert sie sich mit Brüsewitz, halb sucht sie Abstand.

Dann, im November 1976, wird Wolf Biermann ausgebürgert. Der Rauswurf des Dichters und Liedermachers ist die entscheidende Zäsur. Stephan Hermlin, ein sogenannter Staatsschriftsteller, initiiert einen Offenen Brief an die DDR-Führung. Mehr als 100 Autoren, Schauspieler, Künstler und Intellektuelle unterschreiben. Der Staat schlägt kompromisslos zurück. Schriftsteller wie Stefan Heym dürfen nicht mehr veröffentlichen, Schauspieler wie Manfred Krug können nicht mehr auftreten. Jene, die nicht durch ihre Prominenz einigermaßen geschützt sind, werden verhaftet, so wie Jürgen Fuchs, der schon 1975 von der Universität Jena zwangsexmatrikuliert worden war.

Auch Thomas Auerbach wird eingesperrt. Er ist seit 1971 Jugendwart in der Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena, die schon damals durch Renitenz auffällt. Wie Fuchs wird er nach fast einjähriger Haft in die Bundesrepublik abgeschoben. Auerbach gehört zur Bekanntschaft von Christine Determann, seine Freundin ist eine ihrer Kommilitoninnen. Sie geht ab und zu in die Junge Gemeinde. Als an der Universität eine Versammlung stattfindet, auf der die offizielle Linie propagiert wird, steht sie auf. Sie sagt, dass sie die Ausbürgerung falsch finde. Es gibt mehrere Gegenreden, doch Repressalien erfährt die Studentin später nicht.

Die Sektion Theologie der Universität Jena befindet sich am Friedensberg im Westen der Stadt. Die ersten Wochen wohnt Christine Determann im Damenstift am Puschkinplatz, nahe des alten Paradiesbahnhofes. In dem Haus lebt Pfarrer Gottfried Müller, der die Altenburger Bibelanstalt führt und 1981 Chefredakteur der Kirchenzeitung »Glaube und Heimat« wird.

Wenig später nimmt sich die Studentin ein Zimmer in der Katharinenstraße. Im Konvikt, oben auf dem Berg, dürfen nur die männlichen Studenten wohnen – wie Martin Lieberknecht. Er ist ein Kommilitone im Studienjahr über ihr, obwohl er schon vier Jahre älter ist. Und er ist wie sie Pastorenkind. Die Familie stammt aus Leutenberg bei Saalfeld.

Vater Hans Lieberknecht hatte Konditor gelernt, bevor er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Während der Schlacht von Stalingrad froren beide Füße ab und mussten amputiert werden. Nach dem Krieg studierte er in Jena Theologie. Er wechselte, als er sich mit der Obrigkeit anlegte, nach Westberlin, und kehrte nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 in die DDR zurück, wegen der Familie und der christlichen Mission. Nach dem Vikariat wurde Hans Lieberknecht Pfarrer in Friemar bei Gotha und dann, 1963, in Steinbach-Hallenberg im Thüringer Wald. Sohn Martin durfte, im Unterschied zu Christine Lieberknecht, nicht an die EOS und absolvierte sein Abitur im nahen Zella-Mehlis parallel zu einer Berufsausbildung zum Büromaschinenmechaniker. Danach schloss sich der eineinhalbjährige Dienst bei der Armee an, bevor er 1975 sein Studium in Jena aufnahm.

Nun, im Oktober 1976, lernt Martin Lieberknecht die neue Kommilitonin Christine Determann kennen. Gemeinsame Freunde vermitteln den Kontakt. Am ersten Abend wird Schach gespielt. Sie verliert – und gewinnt ihn.

»Die rote Christine«

Im Jahr 1977 benötigt die Thüringer Landeskirche einen neuen Bischof. Die Staatssicherheit hat seit Jahren mit der Hilfe ihres Mitarbeiters Lotz Oberkirchenrat Walter Saft für die Position aufgebaut und ihm eigens eine Professorenstelle in der Theologie in Jena verschafft. Doch der Mann ist nicht nur an der Universität unbeliebt. Die Studenten bevorzugen offen einen anderen Professor, den früheren Studentenpfarrer Klaus-Peter Hertzsch. Gottfried Müller initiiert eine Unterschriftenkampagne. Christine Determann und Martin Lieberknecht beteiligen sich am Protest. Am Ende wählt die Synode als Kompromisskandidaten Werner Leich zum Bischof, der ab 1978 die Landeskirche wieder auf einen kritischeren Kurs bringt.

Das ist das eine. Das andere: Christine Determann wird FDJ-Sekretärin der Sektion Theologie. Warum bloß? »Es war unsere einzige Interessenvertretung«, sagt sie. Sie sei von den »großen Jungs« vorgeschickt worden, die vorhatten, alle Professoren zu evaluieren. »Es wurden Fragebögen verteilt, auf denen die Studenten die Lehrqualität bewerten konnten. Das war ein unglaublicher Vorgang, ich musste dafür mehrfach gerade stehen.«

Doch ist ihre Führungsposition in einem Verband, die sich als »Kampfreserve der Partei« verstand, nur organisatorische Folklore? Die SED gibt sich jedenfalls größte Mühe, die FDJ an der Sektion zu etablieren. Mehrere Versuche seien gescheitert, bevor sich 1963 die erste Gruppe in der Theologie etablierte habe, erinnert sich Ehrhart Neubert. Er, Jahrgang 1940, studierte in den 1960er Jahren Theologie in Jena. Und er steht exemplarisch dafür, wie aus einem Sammelsurium von Verwandtschaften, Bekanntschaften und Beziehungen jenes weit verästelte Netzwerk entsteht, dass Lieberknecht ihr Leben lang nutzen wird.

Neubert kennt sie von klein auf. Lukas Determann ist sein »von allen umschwärmter« Jugendpfarrer. Später, nach dem Studium in Jena, als er Vikar und Pastor in Niedersynderstedt wird, gehört er zum Kirchenkreis des Superintendenten. In den 1980er Jahren engagiert er sich in der Friedensbewegung, 1989 ist er einer der wichtigsten Begründer des Demokratischen Aufbruchs, forscht später beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und schreibt ein Buch über die DDR-Opposition, das seither als Standardwerk gilt. 1996 tritt er in die CDU ein, wobei er Bürgerrechtler wie Günter Nooke und die gebürtige Thüringerin und Grünen-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld mitnimmt.

Neuberts zweite Frau Hildigund ist die Tochter von Heino Falcke, der als Propst ab 1973 der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen den Erfurter Sprengel auf Distanz zum Staat hält. Sie wird 2003 – während Lieberknecht als Landtagspräsidentin amtiert – zur Beauftragten für die Stasi-Unterlagen gewählt, sitzt unter der CDU-Vorsitzenden Lieberknecht im Thüringer Parteivorstand und wird Ende 2013 zu ihrer Staatssekretärin in der Staatskanzlei.

Neubert und Falcke geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie die Jenaer FDJ-Funktion Lieberknechts zu beurteilen sei. Die FDJ, sagt Neubert, habe zuweilen eine rein praktische Funktion besessen. »Wenn die Jugend auf dem Dorf eine Kirmes veranstalten wollte, gründete sie eine FDJ-Ortsgruppe, um die Genehmigung zu erhalten.« So ähnlich sei es eben an der Jenaer Universität gewesen, wo sich 1989 sogar die Reformbewegung aus einer FDJ-Hilfsaktion für Nicaragua entwickelt habe. Heino Falcke sagt dagegen, als Lieberknecht Ministerpräsidentin wird, dass sie nicht ohne Grund »die rote Christine« genannt wurde.25 Heute mag er diesen Vorwurf zwar nicht wiederholen, doch er distanziert sich auch nicht davon.

Fest steht: Als Christine Determann ihr Studium in Jena der Evangelischen Theologie beginnt, gehört die GO, die Grundorganisation der FDJ, ebenso dazu wie das Fach Marxismus-Leninismus, das zuvor über Umwege wie Völkerrechts- und Staatsrechts-Unterricht etabliert worden ist. »Die FDJ«, sagt Michael Göring, »war die einzige Möglichkeit, innerhalb des Systems etwas zu bewegen.«

Er, Jahrgang 1953, gehört zu der Minderheit der Studenten, die nicht aus Pfarrersfamilien stammen. Seine Eltern sind Arbeiter, er hatte eigentlich Rechtswissenschaften studieren wollen und war deshalb mit 18 in die CDU eingetreten. Doch nach »ein paar persönlichen Erlebnissen bei der Polizei«, sagt er, sei er »auf Theologie umgeschwenkt.«

Seit 1973 studiert er in Jena, also drei Studienjahre über Christine Determann. Er gehört zu jenen, »die sie in das Amt der FDJ-Sekretärin drängten«. Für ihn und die anderen älteren Semester ist vor allem wichtig, dass sie Mitglied der Jugendorganisation ist. Denn: »Es war zuvor jemand FDJ-Sekretär, der gar nicht in der FDJ war, das fanden sie bei der Leitung nicht besonders lustig.« Ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) »Horn« der Staatssicherheit kommt zu einer ähnlichen Einschätzung des Vorgangs. In einem Bericht, den Göring später in seiner Akte findet, steht, dass gegen Lieberknecht »keine Bedenken« vorlägen.

Bei Göring zeigt sich wieder, wie vielschichtig eine Diktatur funktioniert und wie komplex die Strategien sind, die von den Beteiligten entwickelt werden. So wird Göring einerseits vom Geheimdienst bespitzelt. Andererseits trifft sich der Theologie-Student während der Unruhen der Biermann-Ausbürgerung zweimal mit Stasi-Offizieren und sagt zuerst eine teilweise Zusammenarbeit zu. Göring begegnet dem Ansinnen taktisch: Er berichtet dem Studentenpfarrer von dem Kontakt. »Dekonspiration« heißt dieses Mittel, das in Kirchenkreisen empfohlen wird, wenn man nicht die Kraft zu einem klaren Nein zu einer inoffiziellen Mitarbeit hat.

Gleichzeitig ist Göring in der Bezirksleitung der FDJ, »die CDU«, sagt er, »schickte mich für ein Jahr dorthin.« Christine Determann habe dies »kritisch« gesehen. »Vielleicht sagte sie deshalb Nein, als ich sie für die CDU werben wollte.« So oder so: Der inzwischen pensionierte Pfarrer aus Ingersleben bei Erfurt, der mit der Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt verheiratet ist, gehört seit damals zum Netzwerk Lieberknechts.

Hochzeit Martin und Christine Lieberknecht 1978. Quelle: privat

Familie Lieberknecht

Im Frühjahr 1978 wird Christine Determann schwanger. Eine unverheiratete Pastorentochter, die ein Kind bekommt? Es muss schnell etwas passieren. Superintendent Lukas Determann schaut in den Kalender seiner Hauskirche in Apolda, die nach dem Heiligen Martin benannt ist. Der nächste freie Hochzeitstermin wird gebucht.

Am 14. April 1978, einem Freitag, heiraten Christine Determann und Martin Lieberknecht. Die Trauung vollzieht Schwiegervater Hans Lieberknecht. Im Oktober 1978 bekommen die Lieberknechts eine Tochter. Sie nennen sie Marie, wie Christine ein bewährter Name der Familie Ulrich.

Das Studium unterbricht die gerade einmal 20-jährige Mutter nur kurz – für die Funktion der FDJ-Sekretärin fehlt ihr nun die Zeit. Das Kind ist oft bei den Großeltern in Apolda, während sie Religionswissenschaft, Kirchengeschichte, Griechisch und Latein lernt. Sie erhält fast ausschließlich Bestnoten, auch in Marxismus-Leninismus. Nebenher geht sie dennoch in den Studentenclub »Rose« und auf Partys der Studentengemeinde.

Bei einem dieser Feste trifft sie Martin Kirchner, den älteren Jungen, der so oft im Garten ihrer Großmutter in Weimar spielte. Er ist inzwischen im Vorstand des Geraer Kreiskirchenamtes und sitzt im kirchlichen Beratungsgremium der Theologischen Fakultät. Die beiden erkennen sich, reden über alte Zeiten. Danach verliert man sich wieder aus den Augen.

Christine Lieberknecht und Tochter Marie. Quelle: privat

1980 absolviert Martin Lieberknecht sein Examen und wird Vikar in Ramsla. Das Dorf liegt nördlich des Ettersbergs, nur sechs Kilometer von Leutenthal entfernt, und ist so wie alle anderen Örtchen im Weimarer Land: klein, alt und beschaulich. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem 12., die Kirche aus dem 17. Jahrhundert.

Die Lieberknechts ziehen in das Pfarrhaus, das sich wie die meisten Pfarrhäuser in der DDR in einem beklagenswerten Zustand befindet. Vier Jahre stand es leer. Die Kirche ist marode.

Trotz Schwangerschaft und Kind beendet Lieberknecht ihr Studium planmäßig im Jahr 1981. Das Examen schließt sie mit Auszeichnung ab. Die Diplomarbeit beschäftigt sich mit dem 4. Artikel der Confessio Augustana, der Augsburger Konfession, in der sich im Jahr 1530 die reformierten Fürsten, Herzöge und Bürgermeister zum lutherischen Glauben bekannten. Auf 137 Seiten plus Anhang geht es um allerlei für den Laien eher unverständliche triniatrische, pneumatologische oder ekklesiologische Bezüge.

Im Zentrum steht stets die Ökumene. Ausführlich beschäftigt sich die Theologin mit dem Zweiten Vatikanum – und Joseph Ratzinger. Dessen Forderung, den Streit einfach dadurch zu beenden, indem man die Confessio Augustana für katholisch erkläre, bezeichnet sie als »bemerkenswert«26. Sie bekommt für die Arbeit eine Eins. Knapp 30 Jahre später wird sie das Papier an Ratzinger selbst übergeben, der sich nun Benedikt XVI. nennt.

Die Diplomarbeit, sagt Lieberknecht, sei »absolut promotionsfähig« gewesen. Doch warum schlug sie dann keine akademische Karriere ein? Ihre Antwort: »Ich habe mir damals gesagt: Forschen kannst du immer noch, wenn du alt bist.«

In der Blockpartei

Parallel zum Examen tritt Christine Lieberknecht in die Christlich Demokratische Union ein. Nachdem sie mehreren Anwerbungen Görings widerstand, ist es schließlich Justus Lencer, ein CDU-Pfarrer aus Gutendorf bei Bad Berka, der bei ihr Erfolg hat. Die Union in Ramsla, sagt sie heute, »war damals eine gute Truppe.« Die örtliche Organistin habe genauso dazu gehört wie die Kirchenältesten. »Das war die richtige Mischung aus Einbringen und Distanz für mich.«

Nicht alle nehmen ihr das ab, allen voran Martin Lieberknecht und dessen Familie. Ihr Mann und der Schwiegervater, so empfindet sie es selbst, sehen ihren Eintritt »sehr kritisch«. Lukas Determann macht seiner Tochter Vorwürfe. Er empfiehlt zwar jungen Christen, die Lehrer werden wollen, in die CDU einzutreten, um der SED zu entgehen. Aber ein Pfarrer gehört für ihn in keine Partei, auch nicht in eine, die sich christlich nennt.

Dafür gibt es Gründe. Die CDU ist eine gleichgeschaltete Blockpartei, so wie die Liberaldemokratische Partei LDPD oder die Bauernpartei DBD. Über das Vehikel der Nationalen Front ist sie dem Diktat der SED untergeordnet. Ihre Sitze in der Volkskammer, im Ministerrat, im Staatsrat, in den Rathäusern und in den kommunalen Räten sind fest quotiert.