Deutschland der Extreme - Martin Debes - E-Book

Deutschland der Extreme E-Book

Martin Debes

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Beschreibung

2024 wird in Thüringen gewählt. Die AfD könnte in dem Land, in dem Bach geboren wurde, Luther die Bibel übersetzte, Goethe und Schiller ihre größten Werke schrieben, sich das Bauhaus gründete und die Weimarer Republik konstituierte, das aber auch als Hitlers Mustergau galt und das Konzentrationslager Buchenwald betrieb, stärkste Kraft werden – und damit die politische Architektur der Bundesrepublik auf den Kopf stellen.

Martin Debes beschreibt anhand von Thüringen, warum die großen Volksparteien an Boden verlieren, das Vertrauen in demokratische Prozesse und staatliche Institutionen schwindet und Politik zu einem Schauplatz von Extremisten und Karrieristen wird. Sein Buch ist die Geschichte eines Landes, das Experimentierfeld extremer politischer Kräfte war und wieder geworden ist, und die beispielhaft für die Fragilität unserer Demokratie steht.

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Über das Buch

Nahezu alle relevanten Konfliktlinien der Bundesrepublik lassen sich anhand von Thüringen nachvollziehen. Die örtlichen Protagonisten Bodo Ramelow, Björn Höcke oder Thomas Kemmerich sind weit über die Landesgrenzen bekannt. Doch Thüringen war schon immer besonders: Hier wurde Bach geboren, übersetzte Luther das Neue Testament, schrieben Goethe und Schiller bedeutende Werke, gründete sich das Bauhaus, konstituierte sich die Weimarer Republik – und fand Hitler seinen Mustergau. Nun könnte in dem Land, das vom einzigen linken Ministerpräsidenten Deutschlands regiert wird, die rechtsextremistische AfD die Macht übernehmen – und die politische Architektur der Bundesrepublik grundsätzlich verändern. Martin Debes beschreibt, wie es dazu kommen konnte und erweist sich erneut als »grandioser Deuter des Ostens und begnadeter Schreiber« (Medium Magazin).

Über Martin Debes

Martin Debes, 1971 in Jena geboren, ist Journalist und Buchautor. Er studierte Politikwissenschaften in Jena und in den USA, besuchte die Münchner Journalistenschule und arbeitet als Chefreporter für Zeitungen der Funke Mediengruppe in Thüringen und als Autor für Die Zeit und Zeit Online. Für seine Arbeit wurde er u.a. als »Journalist des Jahres« ausgezeichnet.

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Martin Debes

Deutschland der Extreme

Wie Thüringen die Demokratie herausfordert

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zu diesem Buch

Prolog

Vor 100 Jahren

Wettbewerb der Westdeutschen

AfD und Agonie

1: Ramelow oder Noch mal kurz die Linke retten

Überleben in Armut

DKP, Gewerkschaft und das Rote Marburg

Ferne nahe DDR

Im wilden Osten

2: Ein Land namens Thüringen

Landschaft und Romantik

Weimar – Gründung und Untergang einer Republik

Thüringen wird zum Machtlabor der Nazis

Hitlers Mustergau

Drei DDR-Bezirke

Aufmarschgebiet im Kalten Krieg

Das Ende eines Experiments oder Die Friedliche Revolution

3: Stolpern in die Demokratie

Die Revolution frisst ihre Kinder

Einheit ohne Vereinigung

Der erste Thüringer Landtag: eine Laienspieltruppe

Ossis gehen, Wessis kommen

»In der ostdeutschen Wirtschaft muss auch mal Blut fließen«

Überforderung eines Ministerpräsidenten

Der Putsch

4: Vogels großes Abenteuer

Affären und Rücktritte

Aufbau, Abbau, Umverteilung

Die Fratze des Kapitalismus oder Niederlage in Bischofferode

Konsolidierung und Konjunktur

Die PDS übt für Größeres

Der Boden des NSU

Sozialdemokratische Spaltung

5: Erosion der CDU-Macht

Der kurze Zenit

Extreme Gewalt

Hartz IV als neues ostdeutsches Trauma

Althaus übernimmt von Vogel

Von der SED über die PDS zur Linken

Tragödie auf der Skipiste

Barack Obama will Dieter Althaus auch nicht sehen

Flucht eines Ministerpräsidenten

Schwarz-rotes Zweckbündnis gegen Ramelow

6: Höckes Angriff

Der Mann mit den zwei Gesichtern

Eine neue Partei namens AfD

Der NSU fliegt auf

Christine Lieberknecht macht Fehler

7: Machtwechsel und ein bisschen Sozialismus

Eine knappe Mehrheit für Rot-Rot-Grün

»Bodo raus, Bodo raus«

Soll man mit der AfD?

Gramsci zieht in die Staatskanzlei

Mike Mohring tritt auf

Höcke gründet seinen Flügel

8: Das Jahr 2015 und seine Folgen

Inschallah, ruft der Ministerpräsident

Höcke klingt wie Goebbels

Gemischte ostdeutsche Gefühle

Die neue extreme Front

Ramelows Integration in die Bundespolitik

Thüringen droht die Blockade

9: Ein Ministerpräsident von Höckes Gnaden

Doch eine ostdeutsche Groko?

Tag eins nach der Wahl

Geheimgespräche und Gauck als Vermittler

»Wer uns wählt, sollte uns schnurz sein«

Der 5. Februar 2020

Die Bundeskanzlerin greift ein

Ein Stabilitätspakt wird erfunden

Ramelow wird doch gewählt

10: Die Wunde Thüringen

Die Beschädigten

Die nächste Krise kommt bestimmt

Im Zickzack durch die Pandemie

Wie eine Neuwahl Geschichte wird

Das Ende der Schamfrist

Dysfunktionalität

Personalaffären

Der erste AfD-Landrat Deutschlands

Die CDU tanzt auf der Brandmauer

Die Grenzen der AfD

Epilog

Wagenknechts Angebot

Höckes Gegenoffensive

Zerfallserscheinungen

Das Superwahljahr beginnt

Anmerkungen

Prolog

1 Ramelow oder Noch mal kurz die Linke retten

2 Ein Land namens Thüringen

3 Stolpern in die Demokratie

4 Vogels großes Abenteuer

5 Erosion der CDU-Macht

6 Höckes Angriff

7 Machtwechsel und ein bisschen Sozialismus

8 Das Jahr 2015 und seine Folgen

9 Ein Ministerpräsident von Höckes Gnaden

10 Die Wunde Thüringen

Epilog

Impressum

Zu diesem Buch

Im September 2024, ein Jahr vor der Bundestagswahl, werden in Ostdeutschland drei Landtage gewählt. Die Ost-Wahlen, so heißt es immer wieder, könnten zum bislang größten Härtetest der bundesrepublikanischen Demokratie werden. Ich stimme dieser Vorhersage grundsätzlich zu. Nie seit 1945 war die offene Gesellschaft von ihren Feinden so bedroht wie heute.

Dennoch erhebe ich Einwand: Ostdeutschland ist kein homogenes Gebiet. Es ist auch kein bloßes Beitrittsgebiet und schon gar keine »frühere DDR«. Bei den so bezeichneten Ost-Wahlen handelt es sich um freie, gleiche und geheime Abstimmungen über die Parlamente von drei geschichtsträchtigen Ländern, von Sachsen, von Brandenburg – und von Thüringen. Diese sind auch keine neuen Länder, sondern im Gegensatz zu einigen angeblich alten Ländern sehr alt. Ohne ihr Erbe ist das Deutschland, in dem wir heute gemeinsam leben, nicht vorstellbar.

Politisch gibt es große Unterschiede zwischen den ostdeutschen Bundesländern. Allein schon bei diesen drei von ihnen: Das frühere preußische Kernland Brandenburg wird durch seine Lage zwischen Berlin und Polen bestimmt und seit 1990 durchgängig von der SPD regiert. Das einstige Königreich Sachsen, das in der Neuzeit nur CDU-Ministerpräsidenten kannte, ist nicht nur deutlich größer als die anderen beiden Länder, sondern hat auch mit Dresden und Leipzig zwei Metropolregionen vorzuweisen.

Und Thüringen? Hier, wo gerade einmal drei Prozent der deutschen Bevölkerung leben, lassen sich inzwischen nahezu alle wichtigen Konfliktlinien der Bundesrepublik nachvollziehen. Die örtlichen Protagonisten Bodo Ramelow, Björn Höcke oder Thomas Kemmerich kennen weit mehr Menschen als die Namen der Regierungschefs größerer und reicherer Länder wie Hessen oder Niedersachsen.

Warum ist das so? Und was lässt sich daraus ableiten? Diesen Fragen gehe ich in diesem Buch nach, nicht als Historiker oder Politikwissenschaftler, sondern als Journalist und als gebürtiger Thüringer, dessen Vorfahren schon in diesem Land lebten, als Bauern, Pfarrer und Ärzte. Es ist der Versuch, Erklärungen dafür zu finden, wie Thüringen zu einem Testfall für die bundesrepublikanische Demokratie werden konnte.

Ich danke allen, die mir auf diesem Weg halfen, vor allem aber meiner Familie. Ich danke Maike Nedo für ihr Lektorat, Jürgen John für seinen Rat sowie Frauke Adrians, Henry Bernhard, Carmen Fiedler, Urte Lemke, René Lindenberg, Torsten Oppelland und Elmar Otto für die Durchsicht des Textes.

Martin Debes, Erfurt, 29. Januar 2024

Prolog

Erfurt, 29. April 2023. »Höcke! Höcke! Höcke!« Die Menge skandiert den Namen des Thüringer AfD-Vorsitzenden. Trommeln geben den Takt vor. Etwa 1000 Männer und auch einige Frauen stehen versammelt im Karree, das gesäumt ist von Absperrgittern und einer Hundertschaft hochgerüsteter Polizisten.

Das hintere Drittel des Platzes vor dem Theater ist nahezu leer. Es sind längst nicht so viele Teilnehmer gekommen, wie die Thüringer AfD erhofft und angemeldet hatte. Doch immerhin, vor der Bühne ballen sich die Menschen. Sie sind mit ihren Flaggen, auf denen die Friedenstaube oder die Aufschrift »Widerstand« zu sehen ist, von der Staatskanzlei hierhergezogen und wollen jetzt den Mann sehen, nach dem sie so laut rufen.

Plötzlich steht er auf der Bühne. Björn Höcke reißt beide Arme schräg nach oben, sodass sie ein V bilden. Er trägt seine kundgebungsbewährte Kombination: dunkelblaues Jackett, Jeans, weißes Hemd. Sein Körper ist von vielen Joggingläufen trainiert. Der ergraute Seitenscheitel sitzt.

Höcke ist inzwischen jenseits der 50.  Zehn Jahre hat er in der AfD verbracht. Obwohl er auf Bundesebene nie eine Funktion besaß, führt er die Partei inzwischen von hinten. Er sorgte mit dafür, die einstigen Vorsitzenden Bernd Lucke, Frauke Petry und Jörg Meuthen politisch zu erledigen. Und er dominierte auf den jüngeren Bundesparteitagen die Abstimmungen über Personal und Anträge.

Das weiß auch Alice Weidel. Die Vorsitzende der Bundespartei ist an diesem trüben Frühlingstag nach Erfurt gereist, um Höcke ihre Referenz zu erweisen. Einst stimmte sie für seinen Parteiausschluss. Doch ab 2018 begann sie, sich mit ihm zu arrangieren. Sie hatte begriffen, dass auch sie eine Konfrontation mit dem Rechtsextremisten politisch nicht überleben würde.

Das Zweckbündnis vermittelte Götz Kubitschek. Der Gründer des sogenannten Instituts für Staatspolitik, das vom Verfassungsschutz beobachtet wird, ist auch in Erfurt auf dem Theaterplatz, und sieht, wie Weidel auf der Bühne Höcke in den Arm nimmt. Die Frau, die für die Investmentbank Goldman-Sachs arbeitete, die in einer lesbischen Lebensgemeinschaft mit einer in Sri Lanka geborenen Partnerin lebt und in der Partei als »Globalistin« beschimpft wird – und die Frau, die, wenn es ihr opportun erscheint, gegen »Kopftuchmädchen«, »alimentierte Messermänner« oder »sonstige Taugenichtse« polemisiert.1

Die Machtbalance zwischen Weidel und Höcke ist ungewöhnlich: Die Vorsitzende der Bundespartei braucht den Landesvorsitzenden mehr als er sie benötigt. Denn im Gegensatz zu ihr besitzt Höcke eine stabile Operationsbasis: Thüringen. Hier führt er seit 2013 die AfD und leitet seit 2014 die Fraktion im Landtag. Hier gründete er sein Netzwerk »Flügel«, mit dem er die Partei immer weiter nach rechts drängte. Und hier sehen Umfragen seine Landespartei als deutlich stärkste Kraft.

»Die Voraussetzungen sind in Thüringen besonders gut«, ruft Höcke. In Erfurt habe »das Kartell« der »Altparteien« seine »ganze Machtgier« gezeigt, als es 2020 die Wahl des Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich »rückgängig gemacht« und später die versprochene Neuwahl abgesagt habe. Das Vertrauen in das überkommene System sei deshalb hier besonders niedrig. Höckes Ziel: Er will Ministerpräsident werden. Nach der Landtagswahl am 1. September 2024 soll die AfD die Landesregierung anführen: »Wir operieren in einer auf Jahre angelegten politischen Strategie. Wir werden regieren, und wir werden gestalten und werden die Zukunft erstreiten. Und wir fangen hier in Thüringen, hier in unserer blauen Hochburg, damit an.«

Wahrscheinlich ist das nicht. Denn dafür benötigte die AfD die absolute Sitzmehrheit im Parlament. Völlig ausgeschlossen ist das Szenario aber auch nicht mehr. Zumal: In der CDU hat längst wieder die Debatte darüber begonnen, ob AfD-Stimmen zumindest billigend in Kauf genommen werden könnten, um die linke Regierung abzulösen. Diese Überlegungen erinnern an eine Konstellation, die vor einem Jahrhundert in Weimar ihre unrühmliche Premiere hatte: eine konservative Landesregierung, toleriert von einer Tarnorganisation der verbotenen NSDAP.

Vor 100 Jahren

Doch warum Thüringen? Was ist besonders an dem Land, in dem viele Menschen vor allem Fichtenwälder und Bratwurst-Grillstätten vermuten? Die Antwort: sehr viel.

Thüringen ist das Land, in dem Bach geboren wurde und Luther das Neue Testament übersetzte. Das Land, in dem Goethe und Schiller ihre größten Werke schrieben, in dem die Frühromantiker wirkten und das Bauhaus entstand. Das Land, in dem SPD und Urburschenschaft gegründet wurden, in dem sich die erste deutsche Republik konstituierte und sich eine Verfassung gab.

Thüringen ist aber auch das Land, in dem 1924 – also genau vor 100 Jahren – Bürgerliche erstmals Rechtsextremisten an der Macht beteiligten. Das Land, das Hitler zu seinem Mustergau umbauen ließ. Das Land, das die Öfen für die Krematorien in Ausschwitz produzierte.

Und Thüringen ist das Land, in dem mit Bodo Ramelow der einzige linke Ministerpräsident an der Spitze der einzigen Minderheitsregierung Deutschlands steht. Das Land, in dem mit Björn Höcke der radikalste und wirkmächtigste AfD-Politiker agiert. Das Land, aus dem der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) kam.

Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik besetzen Linke und AfD gemeinsam die Mehrheit der Parlamentssitze. Nirgendwo anders wählten Rechtsextreme einen Ministerpräsidenten und kam der erste AfD-Landrat ins Amt. Und nirgendwo anders hat sich die Politik seit 2019 derart selbst blockiert. In der Folge ist das Ansehen der Landesregierung, die Zufriedenheit der Menschen mit der Praxis der Demokratie und das Vertrauen in staatliche Institutionen besonders stark gesunken.2

Wie wurde Thüringen zu einem Land der Extreme? Wieso stehen in Thüringen derart viele Belege der Schöpfung von Hochkultur und demokratischen Werten direkt neben den Mahnmalen, die von den Versuchen ihrer Zerstörung zeugen?

Die Gründe reichen weit in die Geschichte zurück. Sie wurzeln im fruchtbaren Erbe der kleinstaatlichen Residenzen, aber auch in den Verwerfungen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Sie basieren auf mangelnder westlicher Demokratieerfahrung, den Traumata historischer Transformationen und der Enttäuschung, mit den eigenen, womöglich illusorischen Vorstellungen einer solidarischen, konsensualen, aber doch freien Gesellschaft nicht gesehen zu werden.

Am Anfang stand die Kulturlandschaft zwischen Vogtland, Rhön und Eichsfeld, die seit dem frühen Mittelalter Thüringen heißt. Darüber schichteten sich die Sedimente der neueren Geschichte. Die kulturelle Vielfalt der Miniaturfürstentümer, die bis ins 20. Jahrhundert überdauerten. Die Industrialisierung mit Zeiss, Schott und den Eisenacher Motorenwerken. Die Wirren der Republik, der Weimar ihren Namen gab. Die Schrecken von Naziherrschaft und Krieg. Die Unterdrückung durch die Sowjets und die Repression des DDR-Systems. Das Glücksgefühl der Selbstermächtigung von 1989. Der Wiederaufbau beim gleichzeitigen Durchstehen von Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit. Die Folgen des Skiunfalls eines Ministerpräsidenten und das Versagen bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Das politische Unvermögen ab dem Jahr 2019, eine Mehrheit zu bilden. Der Schock der Kemmerich-Wahl und der lärmende Stillstand seither.

Mehr als ein Drittel der Thüringer Bevölkerung hegt das Gefühl von Zweitklassigkeit.3 Dieses Drittel findet sich insbesondere in jenen Regionen, die einst wirtschaftliche oder kulturelle Bedeutung besaßen, aber jetzt als strukturschwach und abgehängt gelten. Hier ist das Gefühl des Abstiegs besonders stark – und korreliert mit Wahlerfolgen von Rechtspopulisten. Dieser Zusammenhang wurde in einer Studie der Universität Jena belegt.4

Sowieso mangelt es nicht an wissenschaftlichen Deutungen. So wird etwa mit dem Begriff der Deprivation das Gefühl von Entbehrung, Verlust und Benachteiligung zusammengefasst. Die Reaktanz wiederum beschreibt, wie Menschen, die ein »übergriffiges System« erlebten, auf tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Freiheitsentzug reagieren.5 Aus Sicht des Soziologen Raj Kollmorgen wirken die »alten Populismen und Protestkulturen« der DDR ebenso nach wie die »damals eingeübte Gleichzeitigkeit von harter Staatskritik und paternalistischer Staatsnähe«.6

Die Krise Thüringens ist damit auch eine Krise der Eliten. Viele Leistungsträger verließen während der Zeit der DDR und in den ersten Jahren der Transformation das Land. Oder sie waren – oder galten als – vom alten System korrumpiert. Sie wurden nach der Wiedervereinigung mehrheitlich ersetzt durch Westdeutsche, die heute nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dominieren. Viele hätten es im westdeutschen Wettbewerb nur schwerlich auf diese Position geschafft. Doch im Osten besaßen sie die passende Ausbildung, das richtige Netzwerk und vor allem: das nötige Selbstbewusstsein. Ihnen half, dass sich die Einheimischen oft selbst klein machten oder am Ende die Verantwortung scheuten.

Wettbewerb der Westdeutschen

Im Ergebnis ist das Personaltableau an der Spitze in Thüringen besonders schmal – und stammen die meisten der Thüringer Spitzenbeamten, Richter, Rektoren, Intendanten oder Vorstandschefs aus der alten Bundesrepublik. Auch die Mehrzahl der Spitzenkandidaten, die zur Landtagswahl 2024 in Thüringen antreten werden, kommt aus Westdeutschland. Sie wurden in Aachen, Osterholz-Scharmbeck oder in Singen in Baden-Württemberg geboren.

Höcke stammt aus Nordrhein-Westfalen und arbeitete bis zu seinem Einstieg in die Politik als Lehrer in Hessen. Seit 2008 lebt er mit seiner Familie im nordwestlichen Zipfel des Landes, das er mit größtmöglichem Pathos vereinnahmt und von dem aus er seine Mission der Rettung Deutschlands verfolgt. Die Thüringer seien »ein besonders heimatliebendes Völkchen«, ruft er über den Erfurter Theaterplatz. »Das ist eine Basis, auf der wir aufbauen können, ein Fundament, auf dem wir stehen können.«

Tatsächlich fühlen sich 90 Prozent der Thüringer mit ihrem Land, aber auch mit ihrer Region und ihrer Gemeinde »stark verbunden«.7 Jeder Zweite bezeichnet die Verbindung sogar als »sehr stark«. Gleichzeitig, und darauf setzt die AfD erst recht, wächst insbesondere in den ländlichen Gebieten das Gefühl, herabgesetzt und abgewertet zu werden, abgehängt zu sein. Knapp 70 Prozent stimmten der Aussage zu: »Die Politiker in Berlin interessieren sich nicht für die Region, in der ich lebe.«

Dies liegt auch daran, dass Thüringen immer kleiner wird. Die Zahl der Einwohner sank mit der Abwanderung und einknickenden Geburtenzahlen seit 1990 um knapp eine halbe Million auf 2,1 Millionen. Trotz der Zuwanderung von Migranten und Kriegsflüchtlingen wird für das Jahr 2042 nur noch mit gut 1,93 Millionen Einwohnern gerechnet.8 Die Zahl der Geburten ist auf den tiefsten Stand seit 1995 gefallen, der Sterbefallüberschuss befindet sich auf Rekordniveau. Zentrale Ursache ist laut Statistikern der »generelle Rückgang der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter«.9

Die Lebenserwartung sank zuletzt auf das Niveau von 2012.10 Gleichzeitig ist der Thüringer Durchschnittsmensch überdurchschnittlich alt – und unterdurchschnittlich vermögend. Die Erbschaften liegen 50 000 Euro unter dem bundesweiten Median.11 Das Thüringer Lohnniveau ist das zweitniedrigste in Deutschland.12 28 Prozent der Beschäftigten bekommen einen Stundenlohn von unter 14 Euro.13 Die Senioren erhalten im Ländervergleich am wenigsten Rente.14

Diese offensichtliche Schlechterstellung sorgt unter anderem dafür, dass Höckes deutschtümelnder »Sozialer Patriotismus«, dessen Fundament die Xenophobie ist, auch bei Menschen ohne gefestigte rechtsextremistische Ansichten stärker als anderswo verfängt. Dabei ist Thüringen auf Zuwanderung angewiesen. Bis 2035 werden 385 000 Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Und höchstens 247 000 Stellen können nach Berechnungen des Dresdner ifo Instituts durch Jüngere, Arbeitslose oder bisherige Pendler besetzt werden.15 Die Personallücke beträgt 140 000 Menschen.

Doch natürlich speist sich der Erfolg der AfD, die auch in Westdeutschland Umfragewerte von bis zu 20 Prozent erzielt, aus vielen trüben Quellen, die keineswegs in Thüringen entspringen. Die globalen Herausforderungen von Digitalisierung und Klimawandel, Massenflucht, Pandemie und Kriegen erzeugen einen permanenten Veränderungsdruck und führen zu Erschöpfung, Ablehnung, Protest – und bei einer Minderheit zu Revisionismus und Extremismus. Nebenbei etabliert sich eine neue »Weltunordnung«,16 in der China nach der Vorherrschaft strebt und Russland nach seiner alten imperialen Dominanz über Osteuropa. Der Multilateralismus befindet sich in der Krise, derweil der Nationalismus zurückkehrt, einschließlich Eroberungskriegen und Aufrüstung. Das westliche Demokratiemodell gerät zunehmend unter Druck, rechtspopulistische oder gar rechtsextreme Bewegungen gewinnen an Stärke. Ob nun der vierfach angeklagte Donald Trump, der 2024 in den USA um seine Wiederwahl kämpft, Viktor Orban, der in Ungarn an seiner »illiberalen Demokratie« baut, die frühere Mussolini-Verehrerin Giorgia Meloni, die Italien mit einem extrem rechten Bündnis regiert: Bis auf wenige Ausnahmen wie zuletzt in Polen erscheint der Trend eindeutig.

AfD und Agonie

Thüringen ordnet sich in diese Entwicklung ein – ist ihr aber, zumindest, was Deutschland betrifft, auch deutlich voraus. Hier sieht sich die AfD als Avantgarde. Hier setzt sie auf die Erosion der sogenannten Brandmauer, die alle anderen Parteien um sie herum errichtet haben. Und hier zeigen die gemeinsamen Abstimmungen von CDU und FDP mit der AfD im Landtag die Versuche, sich aus einem strategischen Dilemma zu befreien, in dem man sich seit der Wahl 2019 und dem Kemmerich-Interregnum befindet.

Bislang allerdings bleibt die Union gefangen: Auf der einen Seite sieht sie sich genötigt, die linke Minderheitskoalition eingeschränkt zu dulden, um Thüringen nicht in eine neuerliche Staatskrise zu stürzen. Auf der anderen Seite muss sie konservatives Profil zeigen, um sich von Rot-Rot-Grün abzugrenzen und der AfD nicht zu viel Terrain zu überlassen. Doch in welche Richtung sich die CDU in Thüringen auch bewegt: Immer tangiert sie den Abgrenzungsbeschluss der Bundespartei. Die AfD hat gelernt, jede Gelegenheit zur Mehrheit für sich zu nutzen – und sei es, indem sie Rot-Rot-Grün stützt.

Das Ergebnis dieser Konstellation ist quälende Agonie. Nur das Allernötigste – Landeshaushalte, Hilfspakete, Staatsverträge – findet nach nervenaufreibend langem Streit eine Mehrheit. Währenddessen ist die Funktionsfähigkeit essenzieller parlamentarischer Gremien wie dem Richterwahlausschuss oder der Kontrollkommission für den Verfassungsschutz chronisch gefährdet.

Die schiere Anwesenheit einer starken extremistischen Partei führt dazu, dass sich das parlamentarische System zunehmend selbst blockiert. Die Situation vergiftet das politische Klima, beschädigt das Landesimage und bremst Investitionen aus. Das Wirtschaftswachstum stagniert, das Land verliert in den Bildungsrankings Positionen – und das Vertrauen in Regierungen und Demokratie sinkt. Dass die Staatsanwaltschaft Erfurt ein Untreue-Ermittlungsverfahren gegen die Landesregierung einleitete, dass der CDU-Landeschef unter dem Verdacht der Bestechlichkeit stand, dass sich die grüne Vize-Ministerpräsidentin trickreich einen lukrativen Lobby-Job sicherte, kostete zusätzlich Ansehen. Es ist eine Abwärtsspirale, mit der ein Erfolg der AfD zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Währenddessen legt die AfD zu, obwohl ihr Landeschef Höcke wegen Volksverhetzung angeklagt ist. In Sonneberg gewann sie im Juni 2023 ihren ersten Landrat und wenige Monate später in Nordhausen beinahe ihren ersten Oberbürgermeister. Und das war nur der Probelauf. Im Frühjahr 2024 wird in Thüringen parallel zum EU‑Parlament über die Stadträte, Kreistage, Gemeinderäte, Landräte und Oberbürgermeister abgestimmt, bevor am 1. September der Landtag gewählt wird.

Funktionsfähige Mehrheiten scheinen nicht in Sicht, zumal zwei neue Parteien unter der Führung von Sahra Wagenknecht und Hans-Georg Maaßen antreten wollen. Zwar wirkt der Schock der Kemmerich-Wahl von 2020 nach und engt die Operationsfähigkeit der AfD ein. Gleichzeitig schließt die CDU für sich aus, nochmals eine Linke-geführte Minderheitsregierung ins Amt zu lassen. Die zwischenzeitliche Zusammenarbeit, sagt Voigt, sei nur einer »absoluten Notsituation« geschuldet gewesen.17

Doch was ist, wenn sich die Notsituation wiederholt? Falls die AfD zur stärksten Partei aufstiege, geriete bereits die konstituierende Sitzung des Parlaments zur Machtprobe. Als größte Fraktion dürfte eine in großen Teilen extremistische Partei den Parlamentspräsidenten nominieren. Gewänne die AfD gar ein Drittel der Sitze des Landtags, könnte sie Verfassungsänderungen, Richterwahlen und die Besetzung des Rechnungshofes blockieren. Damit besäße sie eine Sperrminorität. »Der Boykott der AfD und die Blockade des Parlaments als Transmissionsriemen des Volkes hätten damit ein Ende«, frohlockt schon einmal Björn Höcke.18 Der Weg zur Macht soll für ihn über Erfurt nach Berlin führen: 2025 wird der Bundestag neu gewählt.

1

Ramelow oder Noch mal kurz die Linke retten

Saalburg-Ebersdorf, 26. März 2023. Zu den Besonderheiten Thüringens gehört, dass es am Meer liegt. Zumindest behaupten dies die örtlichen Touristiker mit erstaunlicher Ernsthaftigkeit. Und darum behauptet dies auch der freistaatliche Chef-Touristiker Bodo Ramelow.

In der Tat ist es bald 100 Jahre her, dass im östlichen Thüringen der Fluss Saale auf Dutzenden Kilometern aufgestaut wurde. Die Kaskade aus fünf Sperren sollte die Menschen vor Hochwassern schützen und Energie aus Wasserkraft gewinnen. Damit entstand, wie es stolz in den Werbebroschüren heißt, Deutschlands »größte Stauseeregion«. Oder eben: das »Thüringer Meer«.

Den größten Teil der künstlichen Seenlandschaft bildet die Bleiloch-Talsperre. An ihren Gestaden hatten einst die Geraer Bezirksleitung der SED und das Ministerium für Staatssicherheit Erholungsheime errichtet. Jetzt lässt sich dort das Feriendomizil des Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen besuchen.

Die Straße zu seinem Haus, das sich bei näherer Betrachtung als Häuschen herausstellt, ist kurvig, eng und vom Regen verschlammt. Den einzigen Parkplatz hält ein kleiner Škoda besetzt. Davor steht Bodo Ramelow in Wanderuniform: Wetterjacke, festes Schuhwerk, Schiebermütze. Er soll an diesem grauen Tag noch einmal erzählen, wie es wirklich war, mit der DKP und dem Verfassungsschutz, mit dem Vater und der DDR, mit Mutters Ahnen und dem alten Goethe.

Aber erst einmal will der Ministerpräsident ein paar Kilometer laufen. Also geht es den Berg hinauf. Ramelow schnauft ein wenig. Seine Gestalt ist in der Pandemiezeit barocker geworden. Er hat das Rentenalter erreicht, an den Augen operiert wurde er zuletzt auch. »Grauer Star«, stellt er nüchtern fest. Die Brille trage er seitdem privat kaum noch, doch im Dienst setze er sie auf. Dies hätten ihm seine Frau und die Leute in der Partei geraten. Er wirke mit Brille seriöser. Das Image ist wichtig. Ramelow tritt zur Landtagswahl 2024 noch einmal als Spitzenkandidat an, zum fünften und letzten Mal. Noch einmal kurz die Linke retten.

Der Weg führt an Holzstümpfen entlang. Die Bäume, die hier einst standen, wurden kürzlich gefällt, die Erntemaschinen haben tiefe Furchen in den Boden gegraben. Die wenigen überlebenden Nadelbäume sind bemitleidenswert zerzaust. Der Wald, der hier für Jahrhunderte stand, ist einfach weg. Dürren und Borkenkäfer sind die Ursachen dafür.

Kleinstwaldbesitzer Ramelow ließ viele seiner Fichten schon vor Jahren fällen und zerhackte sie eigenhändig. Jetzt kennt er sich also auch damit aus. Er weiß, welches Stück Wald zu welchem Zeitpunkt gerodet wurde. Wie trocken der Boden wirklich in der Tiefe ist. Und wo es, trotz allem, immer noch Steinpilze gibt.

Der Ministerpräsident redet gerne. Das liegt auch daran, dass er sich alles merkt, was ihm in seinem durchaus ereignisreichen Leben begegnet. Ramelow erinnere sich an »jeden einzelnen Winkel Thüringens, an jeden Bürgermeister, an jeden Kegelbruder«, schrieb der Journalist Martin Machowecz.1 In der Wiedergabe entstehe dann ein anekdotengetriebener Redeschwall: »Alles schön zerhäckseln, bis keiner mehr kapiert, was am Anfang war.« Ramelow kenne »überhaupt keine Skrupel«, seine Erfahrungen in stundenlangen Monologen zu referieren.

Bodo Ramelow selbst führt sein Erinnerungsvermögen, aber auch seine Extrovertiertheit, auf die Legasthenie zurück, die bis in seine späte Jugend hinein unentdeckt blieb. Die Demütigungen in der Schule, die Vorwürfe der Mutter, die unvollendete Bildungskarriere: Dies alles treibe ihn bis heute an.

Und er treibt Thüringen vor sich her. Ohne ihn, den westdeutschen Gewerkschafter mit Populismuspotenzial und rhetorischem Talent, wäre die Linke im Land nie in Regionen von 30 Prozent gelangt. Ohne ihn, den machtbewussten Politikprofi, gäbe es keine Linke-Regierung. Und ohne ihn befände sich Thüringen nicht in einer zunehmend prekären Ausnahmesituation, deren Ende nicht abzusehen ist.

An den Saaletalsperren lässt sich die politische Versuchsanordnung namens Thüringen gut betrachten. Die AfD hat 2019 den örtlichen Landtagswahlkreis direkt gewonnen, derweil die Linke bei den Zweitstimmen siegte. In den Kommunen ist die CDU – noch – stärkste Kraft. Die Bürgermeister gehören oft keiner Partei an. In diesem Durcheinander regiert Bodo Ramelow mit einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung, wobei das einmonatige Kemmerich-Interregnum bis heute nachwirkt: im politischen Landesbetrieb – und beim Ministerpräsidenten. Nachdem er unter dramatischen Umständen ab- und wiedergewählt wurde, sind seine Eigenheiten wieder stärker hervorgetreten: seine impulsgesteuerte Wechselhaftigkeit, sein zuweilen cholerisches Wesen, aber auch seine Verletzlichkeit. Allerdings beruht auf diesen Eigenheiten auch sein Erfolg. Denn sie verleihen ihm das, wonach so viele andere Politiker streben, es aber selten erreichen: Authentizität.

Darüber hinaus besitzt Ramelow neben seiner Erfahrung die nötige taktische Geschmeidigkeit und das zugehörige strategische Talent sowie einen ausgeprägten Instinkt für den richtigen Moment. Gleichzeitig wahrt er seine Unabhängigkeit. Er stieg quer in die Politik ein, um dort ein Solitär zu bleiben. Nie übernahm er Funktionen in seiner Partei. Die »Distanz zu meinen Rollen«, sagt er, bestimme sein Leben ebenso wie die »Distanz zu den Erwartungen anderer«.2

Selten passt er sich an. Nie ordnet er sich unter. Und meistens kämpft er.

Überleben in Armut

Das Leben von Bodo Ramelow beginnt am 16. Februar 1956 in Osterholz-Scharmbeck, einer niedersächsischen Kreisstadt nördlich von Bremen. Er ist das jüngste von vier Kindern.

Vater Erwin Ramelow hat Kaufmann gelernt, er stammt aus der Altmark in Sachsen-Anhalt. Mutter Anni hatte ihn kennengelernt, als er als Wehrmachtssoldat auf dem Weg in den Frankreichfeldzug war. Damals war er schon das zweite Mal verheiratet. Anni Ramelow ist gelernte Hauswirtschafterin und eine geborene Fresenius. Ihr Geburtsort ist Nieder-Wiesen in Rheinhessen, wo ihr Vater ein Gasthaus nebst Bäckerei betreibt. Unter ihren Ahnen ist der Theologe Johann Philipp Fresenius, der in der Frankfurter Barfüßerkirche den späteren Wahlthüringer Johann Wolfgang Goethe taufte.

Der Protestantismus prägt Bodo Ramelow. Die Mutter geht mit ihm in die Kirche und schickt ihn in die Christenlehre. Als Erwachsener wird er aus der Kirche austreten, nur um einige Jahre später wieder einzutreten. Immer bezeichnet er sich als Christ.

Ramelows Schwestern heißen Anette und Hedi. Der ältere Bruder Hans Joachim wird Joschka genannt. Die Familie ist arm. »In Osterholz-Scharmbeck hatte mein Vater ziemliche Probleme, weil er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte«, sagt Ramelow. »Er war leidenschaftlicher Lebensmittelhändler und hat immer wieder versucht, einen Tante-Emma-Laden aufzubauen. Aber Tante Emma war durch. Meine Mutter musste schauen, wie sie mit den Schulden klarkam.« Nach einer Gelbfiebererkrankung im Krieg ist Erwin Ramelow gesundheitlich angeschlagen, leidet an einer Leberzirrhose und trinkt trotzdem. »Er fiel praktisch als Vaterfigur aus«, sagt Bodo Ramelow,3 ständig habe er im Krankenhaus gelegen. Die Mutter musste die vier Kinder allein durchbringen und »nachts in die Spülküche im Hotel« gehen.4

Bodo Ramelow ist elf Jahre alt, als er seinen Vater verliert. »Ich war allein mit ihm, als er starb«, sagt er. »Die Dimension war für mich unbegreiflich.«5 Die Mutter zieht nun mit den vier Kindern nach Nieder-Wiesen, ihr Geburtsort und Stammort der Familie Fresenius, und kümmert sich um das alte Gasthaus des Großvaters. Der frühere Geselle, der die Bäckerei übernahm, soll ihren Sohn Bodo anlernen. Das zumindest ist der Plan.

Das Geld ist jetzt noch knapper, als Jüngster trägt Bodo die Kleidung des Bruders und der beiden Schwestern auf. Immerhin, sagt Ramelow: »Den meisten Kindern in der Nachbarschaft ging es auch so«, die Armut habe ihn nicht ausgegrenzt. Stattdessen setzt ihm etwas anderes zu. Er bekommt schlechte Schulnoten, insbesondere in Deutsch, obwohl er offenkundig intelligent und redegewandt erscheint. Seine Mutter hält ihn für faul und schlägt ihn, auch mit einer Peitsche.

Bis heute gibt Ramelow der Schulreform in Rheinland-Pfalz unter dem damaligen Kultusminister Bernhard Vogel eine Mitschuld für sein schlechtes Abschneiden in der Schule. Dass er deshalb von der Grundschule in eine Großschule wechseln musste, habe ihn zusätzlich belastet: »Später in Thüringen habe ich zu Vogel gesagt, dass er es war, der mir meine wirklich tolle und verständnisvolle Dorfschullehrerin nahm.« Aber auch Vogel kann nichts dafür, dass niemand erkennt, was das eigentliche Problem ist: Ramelow ist Legastheniker. Der Schüler kompensiert das ihm unverständliche Defizit mit besonders lautem Auftreten. Außen »sehr lebhaft«, im Inneren »auch zart«: So beschreibt sich Ramelow selbst. Er habe den Klassenclown gegeben. »Das hat mich vor inneren Beschädigungen bewahrt, manchmal aber auch sehr einsam gemacht.«6

Die Legasthenie prägt Ramelow bis heute. »Ich lasse nichts liegen. Oder ich gestehe mir und anderen ein, dass es nicht geht. Alles mit Konsequenz. So oder so.«7 Weil er immer vorausdenken musste, habe er »einen Langzeithorizont« entwickelt. »Meine Merkfähigkeit, mein Erinnerungsvermögen, meine Art, formulieren zu können: Das alles entwickelte ich als Kompensation.«

Nach der neunten Klasse geht Bodo Ramelow von der Schule ab, mit Hauptschulabschluss. Der Plan, die Bäckerei zu übernehmen, ist da schon gescheitert: Er ist gegen Mehl allergisch. Die Mutter gibt den Gasthof auf, zieht in das Dorf Nordeck nahe Gießen und wird Hauswirtschaftsleiterin in einem Internat. Ihr Jüngster soll jetzt Kaufmann werden, wie der Vater. Ramelow beginnt im Gießener Karstadt-Kaufhaus eine Ausbildung als Verkäufer für Wild und Geflügel. Er ist 14 und hat zwei Umzüge mit mehreren Schulwechseln hinter sich. Wieder fühlt er sich als Außenseiter. »Ich war klein und dick, ich trug einen Kittel, der musste dreimal umgerollt werden, und Gummistiefel, da bin ich versunken«, sagt er.8 »Das hatte was seltsam Komisches.« Aber auch diese Situation habe ihn gezwungen, »einen Überlebenskampf mit mir selber zu organisieren.« Am Ende sei er bester Auszubildender im Kammerbezirk geworden.

In seiner Zeit bei Karstadt tritt Ramelow in die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) ein. Eines Tages, sagt er, sei er einfach beim örtlichen Sekretär aufgetaucht und habe seinen Aufnahmeantrag abgegeben – und noch etwa hundert andere, die er zuvor einwarb. »Der ist fast tot umgefallen.«9

Ramelow ist 19, als die Legasthenie diagnostiziert wird. In Marburg holt er die zehnte Klasse nach und erwirbt dann auf der Fachoberschule, wo er als Schülersprecher amtiert, die kaufmännische Fachhochschulreife, mit »einer Eins in Deutsch«, wie er sagt. Nach dem IHK-Abschluss als Ausbilder arbeitet er als Substitut bei der Lebensmittelkette HaWeGe. Und er will studieren: Önologie in Geisenheim im Rheingau. Doch beim Praktikum im Weingut ramponiert sich Ramelow auf dem Traktor den Rücken. Ein Arzt diagnostiziert einen angeborenen Wirbelsäulenschaden. Ramelow muss Korsett tragen, die Hoffnung auf ein Leben als Weinbauer ist dahin.10

DKP, Gewerkschaft und das Rote Marburg

Eher unmotiviert beginnt Ramelow, 1977 in Gießen Betriebswirtschaft zu studieren. Er lebt inzwischen im nahen Marburg mit Leonie Schwarz zusammen. Er hatte die um drei Jahre Jüngere auf der Fachoberschule kennengelernt. Jetzt sind sie ein Paar.

Ihr Vermieter arbeitet als Prokurist bei der Jöckel Vertriebs GmbH, die in Marburg vier große Lebensmittelgeschäfte mit mehr als 100 Beschäftigten betreibt. Als Ramelow gefragt wird, ob er Interesse an der Position eines Filialleiters hat, sagt er zu. Das Studium ist damit nach nur einem Semester vorbei.

Bodo Ramelow wird nun das, was sein Vater für sich immer erträumte: Chef eines Lebensmittelgeschäfts. Doch Inhaber Dieter Jöckel bemerkt bald, dass der Neue sich nicht einfügt, sondern eigene Ideen verfolgt und systematisch opponiert. Das hat auch damit zu tun, dass Ramelows Gewerkschaft HBV in Marburg besonders links ist – und links in vielen Fällen mit dem Kürzel DKP übersetzt wird. Die Deutsche Kommunistische Partei, die sich zwölf Jahre nach dem KPD-Verbot 1968 gegründet hat, lässt sich zum größten Teil von der DDR finanzieren. Sie ist damit de facto der westliche Arm der SED – und sie hat im »roten Marburg« mit seinen vielen Studenten überdurchschnittlichen Erfolg. Hier zieht sie 1972 erstmals in einen bundesdeutschen Stadtrat ein.

Ramelow sagt heute, er habe von der Instrumentalisierung der DKP durch Ostberlin anfangs wenig gewusst. Er habe die Kommunisten einfach »nett« gefunden. »Mit denen konnte man sich unterhalten«, sagt er.11

Einer dieser netten Menschen heißt Eberhard Dähne. Er arbeitet am Institut für Marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt am Main, leitet den HBV-Ortsverein Marburg-Biedenkopf, sitzt im Kreisvorstand des DGB – und für die DKP im Stadtrat. Dähne war in seiner Jugend Bundeschef des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Nun wird er zum politischen Ziehvater Ramelows. Später wird beider Weg in die PDS führen.

Im Mai 2010, als Dähne mit 71 an Krebs gestorben ist, erinnert Ramelow zur Beerdigung an seine erste Begegnung mit dem Älteren bei Karstadt: »Eberhard war bekennender Kommunist, er sprach offen über seine Vorstellung einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Für Bodo war das äußerst beeindruckend, denn bis dahin kannte er Kommunismus vor allem als dasjenige, was Politiker und Medien stets und ständig verteufeln. Dass man diese Dinge auch anders sehen kann, hat Bodo von Eberhard gelernt und entsprechend wurde Bodos politische Entwicklung von diesen Gesprächen stark geprägt.«12

Auch wenn Ramelow nicht der DKP beitritt, befindet er sich doch im Netzwerk der kommunistischen Partei. Das bekommt auch sein Chef Jöckel zu spüren, als es zwischen ihm und Ramelow zum Streit über Löhne, Arbeitszeit und die Gründung eines Betriebsrats kommt. Der Unternehmer reagiert erst mit Degradierung und dann mit Kündigung. In der Folge wird er mit Protestbriefen eingedeckt, von Gewerkschaftern, DKP-Mitgliedern, aber auch von dem linken Politikprofessor Frank Deppe. Es kommt sogar zu Mahnwachen vor dem Geschäft.

1980 einigen sich Angestellter und Arbeitgeber außergerichtlich. Für eine Weile arbeitet Ramelow als Vorsitzender des Betriebsrats und Ausbilder, um schließlich seinen Arbeitsvertrag auslaufen zu lassen. Zum 1. Januar 1981, da ist er noch nicht 25, beginnt seine hauptamtliche Tätigkeit als Sekretär der HBV für Mittelhessen. Parallel dazu werden Ramelows Beziehungen zur DKP enger. Vor der Kommunalwahl im März findet sich in der Parteizeitung Marburger Echo unter einem Wahlaufruf für die Kommunistische Partei der Name von Leonie Schwarz. Ein Jahr später heißt sie Ramelow. Trauzeuge ist Robert Sabo, der in der HBV und der DKP aktiv ist. In dem eher überschaubaren Marburg, sagt er, sei in den 1970er und 1980er Jahren kein links denkender Mensch an den Kommunisten vorbeigekommen: »Es gab zu viele davon.«13 Eine Heiratsanzeige von Bodo und Leonie Ramelow erscheint in der DKP-Zeitung Unsere Zeit.

Im Jahr 1984 wird der Posthauptschaffner Herbert Bastian, der mit Dähne in der Marburger DKP-Stadtratsfraktion sitzt, mit einem Berufsverbot belegt. Die kommunistische Lokalzeitung Marburger Echo widmet dem Vorgang viele Beiträge, in einem Text wird Ramelow zitiert: Er sei »sprachlos vor Wut und Empörung«. Das Berufsverbot sei »eine Riesensauerei«.14

Einige Zeit später erscheint in der Oberhessischen Presse eine von Ramelow mitunterzeichnete Solidaritätserklärung für den Postbeamten. »Herbert Bastian und die von ihm als Stadtverordneten vertretene Politik bestimmen uns, die wir der DKP nicht angehören, am 10. März die Liste der DKP zu wählen.« Das Marburger Echo druckt den Text nach, mit der Überschrift: »Wir wählen am 10. März die DKP!«

Inzwischen muss Ramelow wissen, wie stark die DKP von der DDR abhängig ist. Als Gewerkschaftssekretär ist er für die Mitarbeiter der Buchhandlungen zuständig. »Es gab in Marburg die Wilhelm-Liebknecht-Buchhandlung, die war komplett von der DDR bezahlt«, sagt er. Doch erst nach 1989 will er erfahren haben, dass der hauptamtliche Apparat der DKP auf den Lohnlisten der Buchhandlung stand. »Das wusste ich damals nicht.«

Warum aber sei er nie in die DKP eingetreten? »Die Angebote gab es«, sagt Ramelow. »Aber genauso gab es Freunde in der DKP, die bekamen von der Partei gesagt, was sie beruflich machen dürfen – und was nicht.«

Ferne nahe DDR

Die Nähe zur DKP ist da, genauso wie die Nähe zur DDR, politisch wie geografisch. »Marburg gehörte zum kleinen Grenzverkehr, da konnte man rein, 48 Stunden, Stempelkarte, da hast du Eintrittsgebühren bezahlt, wie sich das gehörte, die habe ich dann umgetauscht in Schallplatten und Bücher. Deshalb besitze ich sehr viele DDR-Schallplatten und DDR-Bücher.«15 Überhaupt besteht Ramelow auf Differenzierung. »Es gab im Westen das verbiesterte Bild, die im Osten haben nix zu essen, dort ist alles schlecht und funktioniert nichts, und politisch ist sowieso alles Mist«, sagt er. »Das hatte ich nicht.«

Ramelows erste Reise gen Osten führt ihn Anfang der 1980er Jahre nach Thüringen. Mit dem Verein International e. V. reist er mit einer Gruppe hessischer HBV-Jungfunktionäre nach Gera. Ziel ist die örtliche Organisation des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB); in der Einheitsgewerkschaft der DDR müssen alle sogenannten Werktätigen Mitglied sein.

Ramelow erzählt die Geschichte mit Liebe zum Detail. Als bei Eisenach die Grenze passiert ist, setzt die Gruppe, die mit Privatautos reist, die zwangseingetauschte DDR-Mark in Wodka um – wobei einige Flaschen sogleich geleert werden. Einem der Dienstausflügler wird derart übel, dass er kurz vor Jena seinen Kopf aus Ramelows Simca halten muss: »Mein Mitfahrer kotzte aus dem Fenster, und mein Kumpel im Auto hinter uns machte seinen Scheibenwischer an.«

In Gera angekommen, bleibt der Betrunkene vorsichtshalber im Auto. Die Westdelegation besichtigt die Gussfabrik in Silbitz und die Plattenbauten in Gera-Lusan. »Wir haben gelernt, dass der Rest der Altstadt abgerissen werden soll, damit dort auch die Blöcke gebaut werden«, sagt Ramelow. Er habe die DDR weder als sozialistischen Modellversuch noch als Vorbild gesehen. »Es war ein anderes Land, das komisch war.«

Später kommt er auch offiziell als Gewerkschafter nach Thüringen. In Sömmerda besichtigt er mit seinem DKP-Freund Sabo das Kombinat Robotron. Und dann ist da noch die Familie. Aus der zweiten Ehe des Vaters stammen Zwillinge, die in der DDR aufwuchsen. »Das war lange Zeit ein Tabu bei uns«, sagt Ramelow.16 »Darüber wurde bis in die 1970er Jahre nicht geredet.«17 Insgeheim habe die Mutter aber Alimente an die Ostkinder ihres Mannes »in Waren« gezahlt.

Nun, Mitte der 1980er Jahre, nimmt Ramelow über einen evangelischen Pastor Kontakt zur Verwandtschaft im damaligen Bezirk Magdeburg auf. Im Örtchen Bühne bei Kalbe/Milde leben seine zwei Halbbrüder. »Die altmärkischen Wurzeln haben mein Leben und meine Karriere beeinflusst«, sagt Ramelow. »Über diese Besuche habe ich den Weg in die DDR und zu den Menschen dort gefunden.«18 Ohne sie ließe sich nicht erklären, dass er später Ministerpräsident von Thüringen wurde.

Ein Halbbruder ist Landwirt in der LPG, der andere arbeitet bei der Polizei. Beide sind Mitglieder der SED. Ramelow trifft bei seinen Besuchen in den 1980er Jahren nur den Bauern. »Wenn ich zu Besuch kam, musste der andere Bruder das Dorf verlassen, damit wir uns nicht begegnen. Er war Volkspolizist. Westkontakte waren ihm verboten.«19

Auch die privaten Reisen bringen ihn nach Thüringen. An der Autobahnauffahrt Apolda verursacht er 1988 einen Unfall, die beiden Söhne sitzen auf der Rückbank. »Ich bin voll auf die Anhängerkupplung des Autos einer Bekannten aufgefahren«, sagt Ramelow. »Von dem Wartburg ist nur das Rücklicht abgefallen. Mein Auto war vorne kaputt. Ein Opel Rekord, Zweilitermotor, Einspritzer. Und einen Tag alt.« Die Volkspolizei stellt ihm einen Strafzettel aus, dann schleppt der Wartburg den Opel nach Weimar in die Werkstatt. »Die Mechaniker dort haben alle zusammentelefoniert und standen um das Auto herum«, sagt Ramelow. »Ich dachte, ja, wann fangen die mit der Reparatur an? Die Antwort: Gar nicht. Sie haben alle nur den Motor bestaunt. Den Kühler konnten sie aber nicht flicken.« Die Rückreise in den Westen funktioniert dann so: Der Wartburg schleppt den Opel zurück zur Autobahn. Dort halten zwei Volkspolizisten per Fernglas Ausschau nach einem Wagen mit westdeutschem Kennzeichen, der ihn über die Grenze ins hessische Herleshausen abschleppt.

Im wilden Osten

Im Jahr 1989 ist Ramelow 33, arbeitet als Gewerkschaftssekretär in Mittelhessen und lebt von seiner Frau getrennt. Die Ehe ist gescheitert. Seine beiden Söhne sieht er nur noch an den Wochenenden und in den Ferien, in denen er im Sommer die Ostfamilie in der Altmark besucht. Derweil läuft die Massenflucht aus der DDR über die Tschechoslowakei und Ungarn in den Westen. »Mein Bruder fragte beim Abendessen seine Kinder, wer jetzt neuerdings in der Schule fehlt«, sagt Ramelow. »Ich habe mir damals noch nicht viel dabei gedacht.«

Am 9. November 1989 befindet sich Ramelow im hessischen Weilburg. Der örtliche Penny-Markt soll geschlossen werden, die Betriebsversammlung dauert bis in den späten Abend. »Ich bekam überhaupt nicht mit, was los war«, sagt er. »Mich hat nur der Sozialplan interessiert.« Es ist nach 23 Uhr, als er nach Hause kommt. »Ich machte den Fernseher an, und zuerst dachte ich, ich glaube nichts von dem, was ich gerade sehe«, sagt Ramelow. »Dann habe ich geheult, einfach geheult.« Weihnachten verbringt er in der Altmark. Zum ersten Mal sieht er dort auch seinen anderen Halbbruder, den Volkspolizisten.

Im Februar 1990 erhält Ramelow einen Anruf von seinem HBV-Vorgesetzten: »Du bist doch andauernd im Osten. Im Centrum Warenhaus in Erfurt soll ein West-Gewerkschaftssekretär einen Vortrag halten. Wäre das nichts für dich?«20 Und so fährt Ramelow wieder Richtung Osten. Das Warenhaus steht am Anger, der zentralen Einkaufsmeile Erfurts. Anfang des 20. Jahrhunderts war es von jüdischen Kaufleuten errichtet und während der NS‑Zeit enteignet worden. Ab 1948 gehörte es zur Konsum-Genossenschaft und ab 1952 zur zentralen Handelsorganisation (HO). Mehr als 800 Menschen arbeiten hier. Und alle haben Angst um ihren Arbeitsplatz.

Die Betriebsversammlung am 28. Februar 1990 verändert Ramelows Leben. Seinen Weg nach Thüringen schildert er später als Erweckungserlebnis. Es ist kein Blitz, der neben ihm einschlägt. Aber ihn bewegt das Panorama der mittelalterlichen Burgen im Südwesten von Erfurt. »Ich fuhr an den Drei Gleichen vorbei und dachte, das ist es«, sagt er. »Warum, weiß ich nicht.«21

Bald wird er wieder nach Erfurt gerufen, und danach wieder und wieder. Die HBV eröffnet in der Stadt ein »Beratungsbüro für Arbeitnehmerfragen«, das er betreut. Ramelow wohnt in verschiedenen Pensionen und Wohnheimen, und als ihn die Wohnungsbaugenossenschaft in den Aufsichtsrat beruft, bekommt er eine eigene Wohnung. Er gibt Weiterbildungen für Betriebsgewerkschafter, er trifft die ersten Vertreter der Treuhandanstalt, er kümmert sich um entlassene SED-Bedienstete. Und er merkt, dass er das Land, in dem er langsam heimisch wird, ohne seine Geschichte nie begreifen wird.

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Ein Land namens Thüringen

Mannheim, 8. März 2023. In der Oststadt, wo die Straßen nach Kant, Spinoza oder Nietzsche benannt sind, stehen Millionärsimmobilien in Dutzenden herum. Eine weiße Villa fällt dennoch auf. Hinter dem hohen, mit lanzenartigen Spitzen versehenen Metallzaun wirkt sie wie das architektonische Zitat eines Schlosses. Dezent angedeutete Seitenflügel, der Balkon wölbt sich stolz über das Eingangsportal. Hier könnten Ansprachen eines Fürsten ans Volk gehalten werden.

An den Klingeln steht »SWE« und »Wettin«, der Briefkasten ist mit »Sachsen-Weimar« beschriftet. Nach dem Läuten tritt zwischen sorgfältig gestutzten Buchsbäumen eine zurückhaltend gekleidete Frau hervor. »Der Prinz erwartet Sie im Büro«, sagt sie in einem Ton, als sei das der selbstverständlichste Satz auf der Welt. Dann führt sie den Besucher über eine schmale Außentreppe ins Untergeschoss.

Dort wartet Michael-Benedikt Georg Jobst Karl Alexander Bernhard Claus Frederick Prinz von Sachsen-Weimar-Eisenach. Er wurde 1946 in Bamberg geboren, als der Adel in Deutschland schon seit fast 30 Jahren abgeschafft war. Davor hatten seine Ahnen über Jahrhunderte in Thüringen regiert. Sein Großvater war der letzte weimarische Großherzog – und sein Ur‑Ur-Großvater war Carl August. Ohne ihn, den Mäzen und Freund Goethes, wäre das heutige Thüringen kaum denkbar.