Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge - Wolfgang Matz - E-Book

Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge E-Book

Wolfgang Matz

4,9

Beschreibung

Matz' Stifter-Biographie gilt als Standardwerk - jetzt liegt sie in einer gründlich bearbeiteten und erweiterten Neuausgabe vor. »Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet", so schrieb Thomas Mann in der Entstehung des Doktors Faustus, und damit zählte er zu denjenigen, die eine neue Beschäftigung mit dem lange so verkannten Autor angestoßen haben. Als Idylliker abgetan, nach seinem Tod fast vergessen, wurde Adalbert Stifter im 20. Jahrhundert als einer der größten Erzähler seiner Zeit wiederentdeckt. Wolfgang Matz' Buch ist das Standardwerk zu Leben und Werk Adalbert Stifters. Matz folgt den Lebensspuren Stifters und zeichnet gleichzeitig die Entwicklung seines Erzählens nach: Von den frühen, an romantischen Vorbildern orientierten Versuchen, die Ungereimtheiten des Lebens literarisch zu verarbeiten, über das Streben nach Klassizität bis hin zu dem großen Epochenroman »Der Nachsommer" und dem spröden, von den Zeitgenossen nicht mehr verstandenen Spätwerk.

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Wolfgang Matz

Adalbert Stifter

oder Diese fürchterlicheWendung der DingeBiographie

für Elisabeth

Zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt:

die Ordnung und die Unordnung.

Paul Valéry

Inhalt

PROLOGAufbruch vor Tag

ERSTER TEILAuf dem Weg

ERSTES KAPITELKindheit im böhmischen Dorf

ZWEITES KAPITELEin Zögling in Kremsmünster

DRITTES KAPITELIn die Wildnis der Stadt

VIERTES KAPITELÉducation sentimentale

ZWEITER TEILPrekäres Gleichgewicht

ERSTES KAPITELDer Dichter greift zur Feder

Der Condor – Feldblumen – Das Haidedorf

ZWEITES KAPITELEheszenen

DRITTES KAPITELWaldphantasien eines Städters

Der Hochwald | Wien und die Wiener

VIERTES KAPITELIn den Wohnungen der Vorfahren

Die Mappe meines Urgroßvaters | Die Narrenburg

FÜNFTES KAPITELSonnenfinsternis

Abdias | Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 | Das alte Siegel | Brigitta

SECHSTES KAPITELBildnis eines Klassikers

Studien

SIEBENTES KAPITELDer unfruchtbare Feigenbaum

Der Hagestolz | Der Waldsteig | Die Schwestern | Der beschriebene Tännling

ACHTES KAPITELFiguren der Einsamkeit

Zuversicht | Der Waldgänger | Prokopus

NEUNTES KAPITELRevolution!

DRITTER TEILAuf des Messers Schneide

ERSTES KAPITELDas sanfte Gesetz

Die Pechbrenner | Bunte Steine | Kalkstein | Bergkristall | Kazensilber – Turmalin

ZWEITES KAPITELEin Nachsommertagtraum

Der Nachsommer

DRITTES KAPITELObstruktionen

Nachkommenschaften

VIERTES KAPITELDie Große Geschichte

Witiko | Der Waldbrunnen

FÜNFTES KAPITELIn die weiße Finsternis

Der Kuß von Sentze – Der fromme Spruch | Die Mappe meines Urgroßvaters | Aus dem bairischen Walde

EPILOGÜber die Berge

ANHANG

Nachwort zur NeuausgabeLiteratur und Biographie NachweiseBibliographieRegister

PROLOG

Aufbruch vor Tag

Warum schreibt einer? Womit hat er sein Leben verbracht? Was hat ihn einen Weg geführt, auf dem er kein Glück fand und der sich jetzt zum Ende neigt? Wo liegen die Ursprünge eines Menschen und dessen, was er getan hat? Je näher das endgültige Dunkel rückt, desto drängender werden die Fragen, desto unausweichlicher die Suche nach einer Antwort. Viel Zeit bleibt nicht mehr, und bald ist es Nacht. Wo aber wäre diese Antwort zu finden? Je dichter die Finsternis, desto tiefer taucht der Blick zurück in die fernsten Fernen der Vergangenheit, in die Anfänge eines Lebens, das fast vorüber ist.

Ein alter Mann sitzt am Tisch und schreibt. Schreibend hat er sein Leben gelebt und schreibend erlebt er sein Ende. Und nur schreibend gelingt es ihm, sich jenen Fragen zu stellen, die er beantworten muss, denn bald ist es zu spät. Die Worte tasten sich zurück in eine dunkle Ferne, in der es keine Worte gibt, wo aber der Ursprung all dessen liegt, was der Mann je geschrieben hat. Jetzt oder niemals muss er finden, wonach er sucht. Ein alter Mann sitzt im Hause seiner Kindheit am Tisch und tastet mit Worten nach den frühesten Anfängen seiner selbst. Er schreibt.

»Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gefühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum.

Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: Es waren Klänge.

Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr.

Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes.

Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung.

Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten, und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen.

Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und zu Grunderichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren.

Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das ›Mam‹ nannte.

Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.«

Im September 1866, nur wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tod, war Adalbert Stifter nach langer Zeit noch einmal zurückgekehrt in sein bäuerliches Geburtshaus im böhmischen Oberplan. Hier, am äußersten Rande seiner Lebenszeit und im Angesicht der Orte von Kindheit und Jugend, entstanden jene Seiten, die wahrhaft einzigartig dastehen in der Weltliteratur. Gibt es jemanden, dem gelungen wäre, tiefer einzudringen in die eigenen Anfänge? Denn es sind ja nicht einfach Kindheitserinnerungen, was hier niedergeschrieben wurde, es sind tastende Schritte in einen Bereich, der noch vor dem eigentlichen Erwachen des Bewusstseins liegt. Ein Bereich diesseits von Worten und Begriffen, diesseits der gliedernden und ordnenden Vernunft. Davon gibt bereits die Sprache dieser Aufzeichnungen Zeugnis: »Finsternis« und »Nichts«, das »Fächelnde« und das »Schwimmen«, schon dies unpersönliche »Es« sind Versuche, das Begriffslose in den ersten Lebenserfahrungen, das Gestaltlose, Wortlose frühester Eindrücke mit dem einzigen festzuhalten, was dem Erwachsenen zur Verfügung steht – mit Worten.

Stifters Sätze sind Umkreisungen, sind suchender Zugriff auf etwas, was sich niemals erfassen lässt, weil Worte die Wortlosigkeit dieser »Urerinnerungen« zwangsläufig aufheben. Unglaubhaft mag scheinen, dass diese verschwimmenden Bilder, die bis in die ersten Lebenswochen und -monate des Kindes zurückreichen müssen, auf einer tatsächlichen Erinnerung des alten Mannes beruhen; noch unwahrscheinlicher jedoch, Stifter könnte in diesen Blättern, an deren Veröffentlichung er nicht gedacht hat, seiner Phantasie freien Lauf gelassen haben. Zu ernst war die existentielle Situation; zu deutlich und drängend stand ihm das Ende vor Augen: Erschöpft von Krankheiten und Depression, ankämpfend gegen den immer stärker werdenden Sog in den Selbstmord, von einem Ort zum anderen eilend, ruhlos und durch wiederkehrende Panikzustände getrieben, versuchte er sein Äußerstes, sich Klarheit zu schaffen und Rechenschaft abzulegen über das eigene Leben. Für literarische Posen war da kein Raum.

Es war nicht wenig, was er in den Tiefen seines Gedächtnisses fand. Die erste Prägung hat Stifters Leben tatsächlich so bestimmt, wie er geschrieben hatte: »der erste Druck in das weiche Herz giebt ihm meist seine Gestalt für Lebenlang«, und bereits in der Morgenfrühe seiner Charakterbildung findet sich als formgebende Gestalt derselbe grundlegende, sein ganzes Wesen durchdringende Gegensatz. Hier ist das Kind »Wonne und Entzücken« unterworfen, dort »Entsetzlichem und Zugrunderichtendem«, und auch das Glück erlebt es als überlegene Macht, »gewaltig fassend, fast vernichtend«. Hier »Jammervolles, Unleidliches«, dort »Süßes, Stillendes«. Das Bewusstsein von einer immerfort drohenden »fürchterlichen Wendung der Dinge«, wie es später in einer der frühen Erzählungen heißen wird, durchdringt sein Leben und Werk ebenso, wie Trost und Geborgenheit zumindest in der Sehnsucht erhalten bleiben. Der Drang zur Ausgeglichenheit, zur versöhnenden Lösung der Widersprüche ist da – stärker und stärker jedoch zeigt sich die Macht des Dunklen, des Bedrohlichen und Schweren. Die Wirklichkeit der Welt wird bereits in diesen frühesten Momenten als elementare Gewalt der Dinge erfahren, als Widerstand und hinabziehende Schwerkraft: »Merkwürdig ist es, daß in der allerersten Empfindung meines Lebens etwas Äußerliches war, und zwar etwas, das meist schwierig und sehr spät in das Vorstellungsvermögen gelangt, etwas Räumliches, ein Unten. Das ist ein Zeichen, wie gewaltig die Einwirkung gewesen sein muß, die jene Empfindung hervorgebracht hat.«

Eindringlicher lässt sich in Worten das Erwachen eines Bewusstseins von der äußeren, der materiellen Welt kaum nachzeichnen – eine Außenwelt, die vor allem als Grenze erlebt wird, als Macht, als eine dem Individuum widerstehende Kraft. Und etwas von dieser Haltung hat sich Stifter ein Leben lang bewahrt: Es ist Naivität im engsten Sinne – ein Blick auf die Welt immer wieder so, als wäre es der erste, als wäre das Äußere immer wieder neu, immer wieder das Niegesehene. »Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten. Dies ist der Grund und die Entschuldigung, daß ich die folgenden Worte aufschreibe. Sie sind zunächst für mich allein.«

Diese Naivität aber hat etwas Doppelbödiges. Zum einen erblickt man hier das Bildnis eines alten Mannes, der, angelangt am Ende seiner Tage, sich selbst gegenüber zugibt, vor dem eigenen Leben als vor dem Fremdesten zu stehen, vor dem Unbegreiflichsten überhaupt. Zum anderen aber will er diesem unbegreiflichen Leben die Einfachheit des Kornhalms zusprechen. Das Einfache ist nicht weniger unbegreiflich als das Komplizierte, und die einzige Haltung, die Stifter dieser unbegreiflichen Einfachheit angemessen erscheint, ist die reglose Kontemplation. Damit schließt er die Augen vor der Erkenntnis, dass man sich dem eigenen Leben gegenüber nicht als unbeteiligter Betrachter verhalten kann. Und Stifters Leben wuchs ganz und gar nicht einfach und gerade, in der organischen Einheit einer Pflanze; es war das Leben eines Menschen, der in seinem Geist die ganze Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz erfuhr und sich in dem vergeblichen Bemühen aufrieb, die dunklen Gewalten im eigenen Inneren zu beherrschen. An keiner anderen Stelle, weder im Werk noch in den Briefen, hat Stifter sich so eindringlich klargemacht, dass jenes »Entsetzliche und Zugrunderichtende« in seinem Leben nicht einfach Folge eines äußerlichen Zufalls war, sondern angelegt in den Grundzügen seines Charakters. Was das Kind in der Morgendämmerung seines Daseins erfuhr, hat es geprägt für ein ganzes Leben.

Der naive, kindliche Zug in Stifters Wesen ist unverkennbar; um den unerfüllten Kinderwunsch kreisen ein Leben lang seine Gedanken, und nur wenige Autoren gibt es, in deren Bilderwelt das Kind eine so herausgehobene Stellung einnimmt. Viele seiner Erzählungen haben Kinder zu Hauptfiguren; eine seiner bekanntesten Sammlungen, Bunte Steine, ist ausdrücklich Kindern zugedacht, und Kindheitserinnerungen bestimmen häufig auch die Charakterzüge seiner erwachsenen Gestalten. In dem Menschen Adalbert Stifter offenbarte sich diese Naivität immer wieder als die Unfähigkeit, mit den Wechselfällen des eigenen Daseins umzugehen, als mangelndes Realitätsbewusstsein, am Ende vielleicht gar als die Weigerung, selber ins Erwachsenenalter einzutreten. Zeitlebens behielt er gegenüber den eigenen Lebensumständen die Haltung des Heranwachsenden, der außerstande ist, sich Rechenschaft abzulegen über Wünsche, Ziele, innere und äußere Widerstände und aus solchen Erkenntnissen womöglich auch praktische Konsequenzen zu ziehen. Der Autor Stifter hingegen wendete diese Wesenszüge ins Produktive. Die bewahrte Kindlichkeit wird für den Autor zur Offenheit gegenüber den Phänomenen der Welt. Verweigertes Erwachsenwerden begründet seine Fähigkeit zum immer wieder erneuerten Staunen angesichts eines jeden Dinges, das er vor seinen Augen findet. Noch der alte Mann steht fassungslos vor dem Grashalm wie nur einst das kleine Kind.

Stifters ganze Schaffenskraft beruht auf dieser Offenheit und auch Verletzbarkeit seiner schutzlosen Naivität. Ein Text wie jene späteste Kindheitsvision konnte nur von einem geschrieben werden, der das Realitätsprinzip der Erwachsenenwelt niemals ganz und gar angenommen hatte. Der Satz eines nur wenige Jahre später geborenen Zeitgenossen berührt genau diesen Punkt der künstlerischen Produktivität: »Doch Genie ist nichts anderes als die bewusst wiedergefundene Kindheit«, schrieb Charles Baudelaire im Jahre 1863, »eine Kindheit, die, um sich auszudrücken, jetzt mit erwachsenen Organen begabt ist und mit einem analytischen Verstand, der es ihr erlaubt, die Summe der unbewusst angehäuften Materialien zu ordnen.« Im Falle des Schriftstellers bedeutet die »wiedergefundene Kindheit« jedoch mehr als nur eine Wiedererweckung von persönlichen Erinnerungen im Wort; sie ist vor allem anderen die Umwandlung dieser einen, individuellen Weltsicht dieses einen Kindes in ein dichterisches Bild von der Welt. Die verstörende Erfahrung von Schrecken und Angst, zugleich aber von der Schönheit der sinnlichen Wirklichkeit, die schon der kleine Junge durchmacht, kehrt im literarischen Werk zurück als jene Ansicht einer im Tiefsten gespaltenen Natur, die das Eigentümlichste ist im Werk des Autors Adalbert Stifter. Jeder Satz, den er schreibt, wird so auch zu einer Beschwörung frühester Schrecken; jede Lösung, die er im Werk entwirft, zu dem »Süßen, Stillenden«, nach dem der Neugeborene schrie.

Ein alter Mann sitzt am Tisch und schreibt. Er ahnt, dies Leben wird nicht mehr lange dauern. Noch einmal, bevor der Abend fällt, ist er an den Ort zurückgekehrt, wo er in der Frühe seinen Weg begann. Nicht Sentimentalität hat ihn hierhergeführt, sondern die Suche nach sich selbst, jetzt, in einem Augenblick, da der alte Mann spürt, wie er sich langsam abhandenkommt. Wie schnell ist der Tag vergangen. Eine Unendlichkeit scheint der Aufbruch zurückzuliegen, doch nun, in der Rückschau, versinkt der lange Weg im Dunkel all des Vergangenen, und das Bild des Anfangs tritt immer stärker hervor. Es ist ein inneres Bild, ein Bild der Erinnerung und des Schreibens. Was draußen noch folgt, ist noch einmal das Entsetzliche, Zugrunderichtende des ersten Tages, ist die Schwärze der letzten Nacht, ist das Nichts und seine weiße Finsternis.

ERSTER TEIL

Auf dem Weg

1805 – 1837

ERSTES KAPITEL

Kindheit im böhmischen Dorf

Adalbert Stifter wurde am 23. Oktober 1805 geboren, in dem Marktflecken Oberplan, der damals Teil des habsburgischen Kaiserreichs war, heute als Horni Planá zur Tschechischen Republik gehört. Seine Eltern, Magdalena Friepes und Johann Stifter, einundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt, hatten am 13. August 1805 geheiratet; der geringe, allzu geringe Abstand zwischen Hochzeit und Geburt des ältesten Kindes passte später nicht mehr ins Weltbild des Dichters, der so viel Wert legte auf Sitte und Ordnung, und so datierte er in Lebensläufen seinen Geburtstag kurzerhand ein Jahr voraus. Geboren am 23. Oktober 1806. So kam wenigstens im Schriftlichen die Welt wieder zu ihrer angemessenen Ordnung.

Ordnung – dies ist das Leitwort für Stifters Bild von seiner Heimat. Auch wenn man die späteren Stilisierungen der ländlichen Gesellschaft zu einer heilen und geschlossenen Welt, in der jeder und jedes seine angestammte, unbezweifelbare Stelle fand, nicht umstandslos als Wirklichkeit nehmen darf, so bildete das Dorf zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts – Oberplan zählte damals kaum einhundert Häuser – dennoch einen von Stabilität und Tradition geprägten Raum. Das slawische Planá bedeutet Fläche; die »obere Plan«, wie die deutschen Einwanderer das Wort aufgenommen hatten, war eine Rodung in der unendlichen Weite des Böhmerwaldes. Slawische und bayerische Siedler hatten sich hier niedergelassen, und am 11. Juli 1349 erhielt der Ort von Kaiser Karl IV. das Privileg, einen Markt abzuhalten, dazu kam »Stock und Galgen«, also die hohe Gerichtsbarkeit. Dies Vorrecht machte aus der Gemeinde, die es genoss, ein Mittelding zwischen Dorf und kleiner Stadt; es bot mancherlei wirtschaftlichen Vorteil, und seit 1478 gab es auch Wochenmarkt und Salzdepot. Im ganzen aber war das nicht genug, um wirklichen Reichtum entstehen zu lassen und damit eine wirkliche Stadt. Der Markt fiel 1744 einem Brand zum Opfer. Seit 1568 besitzt Oberplan ein eigenes Wappen: Ein stolzer Bär mit einer Rose in der Hand. Es ist die fünfblättrige Rose der Rosenberger, und sie sollte Stifter und sein Werk ein ganzes Leben lang begleiten.

Zu Stifters Zeiten war Oberplan gewiss nicht mehr jenes bäurische, ganz und gar von Wald- und Feldarbeit geprägte Dorf der dichterischen Legende, und neben Bauern und Holzfällern lebten hier Händler und Handwerker der verschiedensten Zünfte: Seit 1563 gab es die Zunftordnung der Schuhmacher, 1568 der Leineweber, 1583 der Schmiede und Wagner, 1678 der Bäcker und Metzger, also etwas wie ein kleinstädtisches Bürgertum mit dem ganzen dazugehörigen Honoratiorenwesen. Nicht wenige der Höfe wurden nur noch als Nebenerwerbsquelle betrieben, zusätzlich zu einem Handwerk. Der wichtigste Rohstoff der Gegend war Flachs, und die Textilproduktion das am weitesten verbreitete Gewerbe. Die Frauen arbeiteten zu Hause am Spinnrad, die Männer am Webstuhl. Es handelte sich aber um ein Handwerk ohne Zukunft, denn in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts geriet die Textilherstellung durch die modernen Verfahren der Industrialisierung mehr als andere Produktionszweige in eine existenzbedrohende Krise.

Stifters Eltern gehörten zu dem fest eingesessenen Bürgertum des kleinen Ortes. Seine Mutter war die Tochter des Metzgermeisters Franz Friepes, die Familie seines Vaters bestand aus Leinewebern, die das Handwerk weitervererbt hatten von Generation zu Generation. Dass die ländlichen Verhältnisse längst nicht mehr so stabil und unerschütterlich waren, wie es die Darstellung in den späteren Erzählungen vom Haidedorf oder dem Heiligen Abend will, dass die wirtschaftlichen und damit auch beruflichen Grundlagen dieser Welt langsam in eine Bewegung hin zur Modernisierung geraten waren, lässt sich bereits am Werdegang von Stifters Vater ablesen. Johann Stifter hatte den Handwerksbetrieb von seinen Eltern Augustin und Ursula übernommen, die weiterhin im Hause lebten, aber sei’s dass er über den ererbten Stand hinauswollte, sei’s dass er den Niedergang seiner Zunft schon verstanden hatte: Er sattelte um von der Produktion zum Handel. Zweifellos hatte er mit dieser Entscheidung die Zeichen der Zeit erkannt, denn die handwerkliche Flachsverarbeitung konnte sich nicht behaupten gegenüber der wachsenden Konkurrenz der Industrie, vor allem der englischen; im Handel dagegen lag die Zukunft der neuen Epoche. Johann Stifter also wurde Textilhändler, und in dieser Funktion war er naturgemäß viel unterwegs; vorwiegend in Richtung Oberösterreich mit seiner Hauptstadt Linz, das sich als der wirtschaftliche Raum, von dem der Böhmerwald abhängig war, im Süden erstreckte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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