Adam - Henoch - Noah - Ijob - Muhammad Sameer Murtaza - E-Book

Adam - Henoch - Noah - Ijob E-Book

Muhammad Sameer Murtaza

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Beschreibung

Anschaulich und kompakt skizziert dieses Sachbuch die Gestalten Adam, Kain und Abel, Henoch, Noah und Ijob, wie sie im Judentum und im Islam dargestellt werden - und trägt somit zum besseren gegenseitigen Verständnis von Juden und Muslimen bei. Durch die umfassende Einbeziehung von Versen aus dem Tanach und dem Qur'ān, zahlreicher Aussagen jüdischer und muslimischer Gelehrter und die philosophische Reflektion über Fragen hinsichtlich der Menschenwürde, dem Gewalt- und Friedenspotenzial des Menschen, dem Sinn menschlicher Existenz, der Toleranz und wie mit der Erfahrung von Leid umgegangen werden soll, eignet sich dieses Werk für Studenten der Theologie, Religions- und Islamwissenschaften und Pädagogen ebenso wie für den interessierten Laien.

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Muhammad Sameer Murtaza

Adam – Henoch – Noah – Ijob

Die frühen Gestalten der Bibel und des Qurʾān aus jüdischer und muslimischer Betrachtung

Muhammad Sameer Murtaza

Adam – Henoch – Noah – Ijob

Die frühen Gestalten der Bibel und des Qurʾān aus jüdischer und muslimischer Betrachtung

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

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© 2017 Muhammad Sameer Murtaza

1. Auflage 2017

Herstellung und Verlag:

tredition GmbH

Hamburg

ISBN:

978-3-7439-5688-9

Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen

GewidmetBertold Klappert,dessen Wissen und Frömmigkeitmir stets Vorbild sein werden

Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, / nicht auf dem Weg der Sünder geht, / nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, / über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht. Er ist wie ein Baum, / der an Wasserbächen ge-pflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt / und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, / wird ihm gut gelingen.

Nicht so die Frevler: / Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen / noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, / der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund. (Psalm 1,1-6)

Inhalt

Geleitwort

Adam und der Universalismus in Thora und Qurʾān

Adam in Thora und Qurʾān

Die transzendente Würde des Menschen

Die Freiheit des Menschen

Die Verantwortlichkeit des Menschen

Das Böse

Das gemeinsame Kernethos

Eine Kultur der Gewalt – Die Erzählung von den Söhnen Adams

Der erste Mord

Das gemeinsame Kernethos

Henoch/Idris und die Aufgabe des Menschen, eine friedvolle Zivilisation zu gründen

Henoch im Judentum

Idris im Islam

Noah und der noachidische Bund

Die Noah-Erzählung im Judentum

Der Bau der Arche und der Ausbruch der Sintflut

Der Bund

Die Noah-Erzählung im Islam

Noahs Aufruf zu Gott

Der Bau der Arche und der Ausbruch der Flut

Was ist Toleranz?

Diesseitige Toleranz und jenseitiges Heil im Judentum

Diesseitige Toleranz und jenseitiges Heil im Islam

Universeller Horizont vs. religionsgemeinschaftliche Identität

Am Anfang war der Mensch

Was ist Religion? Eine qurʾānische Definition

Wahrheit, Heil und Toleranz

Ein monotheistisch-inklusivistisches Religionsverständnis als Ausdruck von Gottes Barmherzigkeit

Monotheistische Nichtmuslime, die gute Taten verrichten

Nichtmonotheistische Nichtmuslime, die gute Taten vollbringen

Zusammenfassung der Toleranzkonzeption im Islam

Ijob und das Leid in der Welt

Der Qurʾān – eine nicht-lineare Prophetenerzählung von der Heilsbotschaft

Die Gewalttätigkeit des Menschen

Die Standhaftigkeit des Ijob

Die Funktion des Leidens in der Existenzialphilosophie Muhammad Iqbals

Keine Theodizee im Islam

Leben wir in der besten aller möglichen Welten?

Der Tod als letzte Prüfung

Literatur

Bildnachweis

Geleitwort

Das vorliegende Buch ist die Fortsetzung eines philosophischen Gedankenganges, der mit den beiden Vorgängern Islam. Eine philosophische Einführung und mehr… und Islamische Existenzialphilosophie. Muhammad Iqbal nietzscheanisch gelesen begann. In Islam wurde die islamische Religion philosophisch streng von "oben", d. h. anhand des Qurʾān und der sunna dargestellt, während in Existenzialphilosophie ausgelotet wurde, wie sich diese religiöse Botschaft auf das Individuum auswirkt.

Beide Ansätze sollen nun anschaulich anhand der Erzählungen von Adam, Henoch, Noah und Ijob in ihrer Wechselwirkung kombiniert werden. Weitere Betrachtungen von Prophetenerzählungen werden folgen – so Gott will –, die immer wieder zu einem neuen Nachdenken über die Gott-Mensch-Beziehung anregen sollen. Es heißt im Prophetenwort:

Gottes Gesandter hat gesagt: „Die schwerwiegendste Sache, die für den Gläubigen am Tage der Auferstehung in die Waagschale gelegt wird, ist ein guter Charakter, und Gott verabscheut gewiß den, der unanständige und beleidigende Worte gebraucht.“ (Al-Tirmiḏī)1

Bei den Propheten handelt es sich um Vorbilder, anhand derer Muhammad den guten Charakter und die richtige Verhaltensweise eines Menschen erlernen konnte, der zum einen von der Botschaft Gottes erfasst wird und sich zum anderen dieser Botschaft öffnet, um Sein Gesandter zu werden. Gleiches gilt für die Gläubigen, die sich ebenso bemühen sollen, einen guten Charakter zu entwickeln, schließlich ist dies – neben dem Aufruf zu dem Glauben an den einen Gott – die Kernbotschaft der Gesandten:

Der Gesandte Gottes hat gesagt: „Ich wurde gesandt, um Charakter und Benehmen vollkommen zu machen.“ (Al-Muwaṭṭaʾ)2

Ziel des vorliegenden Buches ist es, zum einen die Prophetenerzählungen getreu zu berichten, sie aber zum anderen auch als Erzählungen über Menschen zu behandeln, denen eine außergewöhnliche Erfahrung Gottes zuteilwurde und die mit Herausforderungen konfrontiert waren, die sie an ihre menschlichen Grenzen brachten. Zugleich entwickelten die Propheten hierdurch eine innere Haltung, die auch noch heute für die Gläubigen Vorbild sein soll. Indem also die menschliche Emotionalität dieser Erzählungen wiederhergestellt wird, sollen die Propheten erneut zu nahbaren Gestalten werden, mit denen sich der Gläubige neu identifizieren kann.

Doch die hier behandelten Glaubensporträts gehören nicht den Muslimen alleine, sondern sie gehören zum kulturellen Gut der abrahamischen Gemeinschaft, von der die Muslime nur ein Teil sind. Daher wurde die jüdische Perspektive hinzugenommen, um den Gedanken der abrahamischen Gemeinschaft, zu der Juden und Muslime (selbstverständlich auch Christen) gehören, wieder zu stärken und einen neuen Weg der wechselseitigen Verständigung über das gemeinsame Ethos freizulegen.3 Von der jüdischen und muslimischen Betrachtung der gleichen Erzählungen erhoffe ich mir, dass die Leser die gleichen Erfahrungen machen wie der Autor, nämlich ein vertieftes Verständnis für die Propheten zu erlangen und über die eigenen religiösen Wurzeln neu zu reflektieren.

Zum Schluss möchte ich noch der Rabbinerin Lea Mühlstein für ihre geduldigen Korrekturen der jüdischen Inhalte und ihre wertvollen Ergänzungen danken. Zudem möchte ich dem Theologen Bertold Klappert danken, der mir erst den Anstoß dazu gab, diese ursprünglichen als Vorträge gehaltenen Beiträge zu einem Werk zusammenzustellen.

Adam und der Universalismus in Thora und Qurʾān

Während des Gaza-Krieges 2014 erlebte ich es wieder, dass einige Juden und einige Muslime in Deutschland sich von dem nicht enden wollenden Nahost-Konflikt gänzlich unkritisch vereinnahmen ließen. Aus guten Bürgerinnen und Bürgern wurden plötzlich getreue ideologische "Parteisoldaten":

- die Resolutionen und Manifeste in den sozialen Netzwerken verfassten,

- jede differenzierte Meinung zu dem Konflikt als jüdischen Selbsthass und Überassimilierung oder muslimischen Verrat beschimpften,

- die E-Mails an Abweichler aus der eigenen Religionsgemeinschaft versendeten, in denen diese aufgefordert wurden, ihre "falschen" Positionen – Lösungen aus der Mitte, Kompromissbereitschaft und Schuld auf beiden Seiten suchen – zu begründen. Natürlich befand sich im CC solcher E-Mails immer eine Reihe weiterer Empfänger, die damit gleichermaßen über den an den Pranger gestellten Abweichler informiert werden sollten und die deutlich machten, dass es nur eine Sicht auf den Konflikt gibt: „Die israelische Regierung handelt stets richtig, denn die mordlustigen Araber sind an allem schuld!“ oder „Das verfluchte Israel ist der Nachfolger des Nazi-Regimes und muss beseitigt werden.“

Nahost-Konflikt heißt in unseren Breiten vor allem Meinungskrieg, der aber nie über den Status quo hinauskommt. Den Ideologen auf beiden Seiten geht es nicht primär um das Wohl der Palästinenser oder der Israelis, es geht ihnen auch nicht um Religion, sondern im Zentrum steht eine Ideologie der Raumbeherrschung, mag diese auch religiös begründet werden. Beide Seiten sind sich dann sehr nahe, sie sind gefangen in einer tödlich-liebenden Umklammerung. Sie können sich nicht losreißen von ihrer inzestuösen Bindung an Blut und Boden und von daher sind sie ein Teil des Problems, aber kein Teil seiner Lösung. Sie erkennen nicht, dass all ihr Aktivismus die bereits bestehenden Feindbilder nur zementiert. Als dann die israelische Armee sich wieder aus dem Gazastreifen zurückzog, da kehrte auch bei uns wieder Ruhe ein. Dann begann für alle "Parteisoldaten" das Warten darauf, dass es wieder losgeht, denn nach dem letzten Gaza-Krieg ist stets vor dem nächsten Gaza-Krieg.

Aber es gibt zunehmend kritische Stimmen auf jüdischer und muslimischer Seite, die im ideologisierten Islam der HAMAS und in der Ideologie des Zionismus keine Lösung sehen. Diese Hoffnungsträger setzen die israelische Politik nicht mit dem Judentum gleich und identifizieren die Handlungen der HAMAS nicht mit dem Islam. Doch worauf kann sich eine religiöse Versöhnungsbotschaft stützen?

Seit den Anfängen des jüdischen und muslimischen Denkens stand ein Verantwortungsethos gegenüber allen Menschen – nicht nur gegenüber der eigenen Gemeinschaft – im Zentrum dieser beiden Religionen. In der Thora und im Qurʾān heißt es:

Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. (Deuteronomium 10,19)

Dies ist es, was Gott Seinen Dienern verheißt, die glauben und das Rechte tun. Sprich: „Ich verlange keinen Lohn von euch. Aber liebt dafür (euere) Nächsten.“ Wer eine gute Tat begeht, dem werden Wir gewiß noch mehr an Gutem erweisen. Gott ist fürwahr verzeihend und erkenntlich. (Qurʾān 42:23)

Beide Religionsgemeinschaften stehen vor der Herausforderung, im Dialog nach ihren Gemeinsamkeiten und ihren verbindlichen integrierenden humanen Überzeugungen zu suchen. Hierin kann ihr großer Beitrag zum Frieden bestehen.

Es kann nicht garantiert werden, dass ihr Bemühen um Dialog und Frieden zum Erfolg führt, aber garantiert werden kann, dass überhaupt keine Bemühungen in diese Richtung auf jeden Fall zu Elend und Unfrieden führen. Der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm (gest. 1980) schrieb einmal:

Es ist das Wesen Gottes, zu erschaffen. Mit der Zerstörung macht der Mensch das Wunder der Schöpfung durch einen Akt rückgängig, der weder die Fertigkeiten noch Talente einfordert, sondern nur den Besitz von Waffen.4

In einer Zeit der Spannungen zwischen den beiden auf Abraham zurückgehenden monotheistischen Religionsgemeinschaften ist es unermesslich wichtig, dass Juden und Muslime in ihren Herzen, in ihrem Denken und in ihrem Handeln sich auf ihr gemeinsames Ethos besinnen, das sich in den gemeinsamen Erzählungen in der Thora und im Qurʾān wiederfindet. Jene Erzählungen, die Juden und Muslime seit Jahrhunderten der jeweils nachkommenden Generation vermitteln, auf dass sie vor Gott wandeln.

Adam in Thora und Qurʾān

Für die drei prophetischen Weltreligionen beginnt die Geschichte des Glaubens mit Adam. Diese Erzählung gehört zum kulturellen Gut des abrahamischen Monotheismus. Sie ist die Poesie der Offenbarung über den Anfang der Menschheit.

Wenn wir uns der Erzählung Adams zuwenden, dürfen wir nicht vergessen, dass es sich bei ihr um eine Urgeschichte handelt.5 Sie berichtet von der ältesten Periode der Menschheitsgeschichte. Inhaltlich gibt sie immer und überall erfahrbare Grundzüge des Menschseins wieder, indem diese narrativ in die Uranfänge zurückversetzt werden. Schon die fantastische Lebensspanne Adams, die nach der Thora 930 Jahre betrug, macht deutlich: Die Menschheitsgeschichte liegt so weit in der Vergangenheit, so weit im Dunkel der Geschichte, dass sie für die Menschen nicht mehr zu erfassen ist.6 Nach dem Theologen Collins bedeutet dies, dass eine solche Erzählung nicht im historischen Sinne gelesen werden darf, zugleich soll aber auch ihr historischer Kern nicht übersehen werden.7

Die Adam-Erzählung ist also keine geschichtliche Erzählung über den ersten Menschen, vielmehr repräsentiert sie die früheste Menschheitsperiode und will etwas über den Menschen an sich berichten: Adam, das Wort entstammt dem Hebräischen und bedeutet Mensch. Der Gattungsname ist zugleich der Eigenname. Dies verdeutlicht: Was über Adam ausgesagt wird, gilt in der Weltanschauung der Gläubigen für jeden Menschen. Es geht also bei dieser Urgeschichte um den Menschen schlechthin.8

In einem jüdischen Midrasch9, aber auch im Qurʾān (Sure 38, Vers 75) heißt es, dass Adam das einzige Geschöpf ist, das durch die Hand Gottes erschaffen wurde, während die restliche Schöpfung Seinem Wort entsprang.10

Dieser Adam war nach Ansicht mancher Rabbiner zunächst ein Zwitterwesen. Ich selber gelangte durch Einbettung der Adam-Erzählung in ihren antiken Kontext zu einer ähnlichen Schlussfolgerung und betrachte Adam als einen Kugelmenschen, also ein Einheitswesen, das erst durch die Teilung zu Mann und Frau wurde.11 Rabbi Jonathan Magonet schreibt:

Erst nach dieser Gegenüberstellung benennt der Mann die neue Schöpfung folgerichtig mit Ischa, d. h. als „Frau, weil sie vom Isch, dem Mann, genommen worden war.“ Das Wortspiel im Hebräischen ist Absicht: Beide sind absolut gleichwertig. Zudem wird der Erstere, Adam, erst dann als Mensch, als Mann erkennbar, wenn die Frau neben ihm existiert.12

Adam wird im Judentum als Prophet und als erster Mensch gefeiert, aber auch schon als Stammvater Israels vereinnahmt.13 Für die Muslime ist er abū al-bašar, der Vater der Menschheit, wie auch der erste Prophet.14

Die Einordnung der Adam-Erzählung als Urgeschichte muss damit nicht in Konflikt stehen. Der Gedanke, dass sich das Leben evolutionär entwickelt hat, war den Muslimen nicht fremd. Der Philosoph Ibn Miskawai (932-1030) schloss anhand des Wissens seiner Zeit, dass das Leben aus einer Kombination verschiedener Substanzen seinen Ausgang nahm. Sie führte zur Entstehung von Mineralien. Aus dem Königreich der Mineralien hätten sich das Königreich der Vegetation und dann das Königreich der Tiere entwickelt. Ersteres hätte mit der Entstehung von Gräsern seinen Lauf genommen, dem folgten Pflanzen und schließlich Bäume. Die Entwicklung im Tierreich hätte zunächst mit Kleinstlebewesen wie Würmern ihren Anfang genommen, daraufhin hätten sich höher entwickelte Tiere bis hin zum Affen gebildet. Jedes dieser Königreiche ist durch ein Bindeglied miteinander verbunden. Das Bindeglied zwischen dem Königreich der Vegetation und der Tiere seien Korallen,15 die sowohl pflanzliche als auch tierische Eigenschaften aufweisen würden, während das Bindeglied zwischen dem Königreich der Tiere und des Menschen der Affe sei. Aus diesem wäre schließlich das Königreich des Menschen entstanden.16

Diese geniale Vorwegnahme der Evolutionstheorie schuf aber keinen Konflikt mit der Adam-Erzählung in der Offenbarung, da das intellektuelle Milieu der frühen Muslime so flexibel war, diese als Allegorie zu verstehen, die zum Ausdruck bringt, dass der Mensch von Anfang an von Gott begleitet wurde, indem er Menschen auswählte, die ihren Mitmenschen von Ihm künden.

Sowohl in der jüdischen als auch der muslimischen Lehre wird die Erzählung Adams, jenseits der Offenbarungsschrift, ausgeschmückt. Beide wollen wissen, dass Adam von gigantischer Gestalt war,17 aber die Menschen nach dem Fall immer kleiner wurden, bis sie die heutige Körpergröße erreicht hatten. Es heißt in einem angeblichen Prophetenwort (ḥadīṯ), bei dem es sich entweder um die Übernahme eines jüdischen Midrasch handelt, das dem Propheten in den Mund gelegt wurde, oder um ein authentisches Prophetenwort, das verdeutlicht, wie der Gesandte Muhammad die Form der Urgeschichte nutzte, um eine religiöse Norm zu vermitteln:

Abu Huraira – Gottes Wohlgefallen auf ihm – berichtete, dass der Prophet – Gottes Segen und Friede auf ihm – sagte: „Gott erschuf Adam in einer Körpergröße von sechzig Ellenlängen und sagte zu ihm: »Geh hin und grüße die anwesenden Engel mit dem Friedensgruß (salām) und höre zu, wie sie dich begrüßen, und dies ist der Gruß deiner Nachkommen.« Adam sagte: »assalāmuʿalaikum!« (Der Friede sei auf euch). Sie erwiderten: »assalāmu ʿalaika wa-raḥmatu-llāh« (Auf dir sei der Friede und die Barmherzigkeit Gottes). Und sie haben für ihn die Worte >die Barmherzigkeit Gottes< hinzugefügt. Es wird dann geschehen, dass jeder, der ins Paradies eingehen wird, die Gestalt von Adam einnimmt. Seit damals bis zur heutigen Zeit ist die Menschengestalt immer weniger geworden.“ (Al-Buḫārī)18

Schließlich kann es sich aber auch um ein zusammengesetztes Prophetenwort handeln, da es in einer kürzeren Version lediglich heißt:

Überliefert von Abu Huraira – Gott habe Wohlge-fallen an ihm –, vom Propheten – Gott segne ihn und gebe ihm Heil –, der sagte: „Nachdem Gott Adam – Gott gebe ihm Heil – erschaffen hatte, sagte Er zu ihm: »Geh und grüße jene – eine Gruppe von Engeln, die dort saßen – und höre hin, womit sie deinen Gruß erwidern, denn das soll dein Gruß und derjenigen deiner Nachkommenschaft sein.« Adam sagte: »assalāmuʿalaikum!« (Der Friede sei auf euch), worauf sie erwiderten: »assalāmu ʿalaika wa-raḥmatu-llāh« (Auf dir sei der Friede und die Barmherzigkeit Gottes), womit sie dieser Grußformel >die Barmherzigkeit Gottes< hinzugefügten.“ (Al-Buḫārī und Muslim, Riyāḍ Al-Ṣāliḥīn Nr. 845)19

Je bunter, vielfältiger und detailverliebter diese Ausschmückungen wurden und je mehr das Verständnis für Erzählformen verschwand, desto stärker erzeugten diese Traditionen den Eindruck, dass es sich bei ihnen um tatsächliche Geschichte handelt. Die dichterische Phantasie gewann die Oberhand über die nüchterne Exegese.20 Daher darf die heftige Reaktion einiger Juden, Christen und Muslimen hinsichtlich der Evolutionstheorie nicht verwundern.

Die transzendente Würde des Menschen

Die Thora berichtet zwei parallele Urgeschichten. In der ersten heißt es knapp:

Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.

Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. (Genesis 1,26-27)

In der zweiten Version wird der Schöpfungsakt folgendermaßen beschrieben:

Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. (Genesis 2,7)

Einem Midrasch zufolge teilte Gott den Engeln Seinen Ratschluss mit, den Menschen erschaffen zu wollen. Die Engel waren über diesen Entschluss sehr verwundert und unschlüssig.

Die Befürworter des Menschen erhofften sich ein liebendes und gerechtes Geschöpf, während die Gegner das Aufkommen eines lügenden und kriegerisch handelnden Wesens befürchteten. Zu den Befürwortern gehörte der Engel Michael, der dem Volk Israel als Fürbitter und Schutzengel gilt,21 während auf Seiten der Gegner der Engel Gabriel stand,22 eine Vorstellung, die im Islam strikt abgelehnt wird. Im Judentum gilt Gabriel als Aufzeichner und Vollstrecker von Gottes Urteil, im Islam ist er der Überbringer der Offenbarung.

Erst als Adam den Engeln sein in ihm wohnendes Potenzial beweisen kann, indem er allen Tieren Namen gibt, wozu die Engel nicht in der Lage sind, verstummen die Zweifler. Auf Gottes Geheiß werfen sich die Engel vor Adam nieder als Zeichen der Anerkennung – nicht der Anbetung – seiner Stellung innerhalb der Schöpfung.23

Die Adam-Erzählung im Qurʾān weist Parallelen zu jener des Midrasch auf:

Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Siehe, Ich will auf der Erde für Mich einen Sachwalter einsetzen“, da sagten sie: „Willst Du auf ihr einen einsetzen, der auf ihr Verderben anrichtet und Blut vergisst? Wir verkünden doch Dein Lob und rühmen Dich.“

Er sprach: „Siehe, Ich weiß, was ihr nicht wisst.“ Und Er lehrte Adam aller Dinge Namen; dann zeigte Er sie den Engeln und sprach: „Nennt Mir die Namen dieser Dinge, wenn ihr wahrhaft seid.“

Sie sagten: „Preis Dir, wir haben nur Wissen von dem, was Du uns lehrst; siehe, Du bist der Wissende, der Weise.“

Er sprach: „O Adam! Nenne ihnen ihre Namen.“ Und als er ihnen ihre Namen genannt hatte, sprach Er: „Sagte Ich euch nicht: Ich kenne das Verborgene der Himmel und der Erde, und Ich weiß, was ihr offen tut und was ihr verbergt?“

Und als Wir zu den Engeln sprachen: „Werft euch vor Adam nieder!“ – da warfen sie sich nieder, außer Iblis, der sich aus Hochmut weigerte und so zu einem der Glaubensverweigerern wurde. (Qurʾān 2:30-34)

Und wahrlich, Wir haben den Menschen aus trockenem Lehm, aus formbarem Schlamm, erschaffen. Und die Dschinn erschufen Wir zuvor aus dem Feuer des glühenden Windes. Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Seht, Ich erschaffe einen Menschen aus trockenem Lehm, aus formbarem Schlamm. Und wenn Ich ihn gebildet und ihm vom Meinem Geist eingehaucht habe, dann werft euch vor ihm nieder!“ Da warfen sich alle Engel insgesamt nieder, außer Iblis; der wollte sich nicht niederwerfen. (Qurʾān 15:26-31)

Ebenbildlichkeit und die Erschaffung des Menschen aus Staub, wie es der Tanach24 schildert, sind die zwei Seiten der menschlichen Existenz. Der Mensch ist nicht nur ein Erdenkoloss, sondern in ihm wohnt der Drang nach den existenziellen Fragen seines Daseins. Zugleich ist Adam aus Erde, adamah (man beachte das biblische Wortspiel), erschaffen und somit schöpfungsmäßig an diese Welt gebunden. Die Erde ist der natürliche Lebensraum des Menschen in seiner jetzigen Existenz.25 Der Mensch, jeder Mensch, ist nach dem Tanach Gottes Ebenbild und somit mit einer Würde ausgezeichnet, die es nicht zu verletzen gilt. Diese Würde beschränkt sich nicht nur auf die Anhänger einer bestimmten Religion, beschränkt sich nicht auf Juden, Christen oder Muslime, sondern bezieht sich auf alle Menschen.26 In einer Hymne an den Menschen, verfasst von dem Dichter-Philosophen Muhammad Iqbal (gest. 1938), heißt es:

Die Liebe schrie auf: „Der mit blutendem Herz ist erschienen!“

Die Schönheit erbebt: „Der Herr wahrer Schau ist erschienen!“

Natur ward verwirrt: „Aus Erdenreichs dumpfigem Zwange

Ist einer, der selbst schafft und selbst bricht und selbst schaut, erschienen!“

Vom Himmel kam Kunde ins Dunkel der Urewigkeiten:

„Weh, Hüter des Vorhangs: wer Schleier zerreißt, ist erschienen!“

Der Wunsch, seiner selbst nicht bewusst noch am Busen des Lebens,

Erhob seinen Blick: eine andere Welt ist erschienen!

Das Leben, es sprach: „Ich bebte im Staube so lange,

Bis nun in der uralten Kuppel die Pforte erschienen!“27

Nicht unähnlich heißt es in einem Psalm:

Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. (Psalm 8,5-6)

Rabbi Akiba (gest. 135) vertrat die Ansicht, dass die Liebe des Menschen zum Menschen ein zentraler Wert sei. Er sagte: „Du darfst nicht sagen, weil ich (von einem Mitmenschen) beschämt wurde, möge er beschämt werden; weil ich herabgesetzt wurde, möge er herabgesetzt werden.“28 Rabbi Tanhuma ergänzte: „Wenn du das tust, so wisse, wen du beschämst, denn nach Seinem Bild hat ihn Gott geschaffen.“29 Während der jüdische Gelehrte Ben Assai meinte, dass die Gleichheit zwischen den Menschen noch bedeutsamer sei, da sie alle Ebenbild Gottes seien. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen versieht im Judentum jeden Menschen mit einer transzendenten Würde, die es nicht zu verletzen gilt, da das menschliche Leben für Gott kostbar ist.30 Das Judentum lehrt: „»Warum wurde nur ein einziger Mensch erschaffen? Um dich zu lehren, dass, wer einen Menschen vernichtet, so angesehen wird, als habe er alle Menschen vernichtet, und wer einen Menschen rettet, als habe er sie alle gerettet. Darüber hinaus war es um des Friedens willen, damit niemand zu seinem Mitmenschen sagen kann: »Mein Vater war größer als dein Vater«.«“31

Der Qurʾān lehnt dagegen jegliche Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott ab. Der strenge Monotheismus des Islam erklärt Gott zu dem absolut Anderen. Doch die Niederwerfung der Engel, als Zeichen der Anerkennung des Menschen, ist in gleichem Maße eine Bestätigung der menschlichen Würde. So heißt es im Qurʾān:

Und wahrlich, Wir zeichneten die Kinder Adams aus und trugen sie über Land und See und versorgten sie mit guten Dingen und bevorteilten sie gegenüber den meisten Unserer Geschöpfe. (Qurʾān 17:70)

Doch worauf basiert diese Würde? Der Gelehrte Abdoldjavad Falaturi (gest. 1996) verweist auf folgenden Vers:32

Dann formte Er ihn und blies von Seinem Geist (min rūḥihi) in ihn. Und Er gab euch Gehör, Gesicht, Gefühl und Verstand. Wenig Dank erweist ihr Ihm! (Qurʾān 32:9)

Ähnliche Aussagen finden sich in den nachstehenden Versen:

Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Seht, Ich erschaffe einen Menschen aus trockenem Lehm, aus formbaren Schlamm und wenn Ich ihn gebildet und ihm von Meinem Geist (min rūḥī) eingehaucht habe, dann werft euch vor ihm nieder!“ Da warfen sich alle Engel insgesamt nieder, (Qurʾān 15:28-30)

Als dein Herr zu Seinen Engeln sprach: „Seht, ich werde den Menschen aus Lehm erschaffen, und wenn Ich ihn geformt und ihm von Meinem Geist (min rūḥī) eingehaucht habe, dann fallt vor ihm nieder!“, da warfen alle Engel sich nieder – (Qurʾān 38:71-73)

Falaturi leitet hiervon ab, dass allein dem Menschen ein Teil des Göttlichen gegeben wurde, das von der restlichen Schöpfung, von Raum und Zeit, unabhängig ist. Das "Wie" der Erschaffung des Menschen stellt seine Besonderheit dar,33 da er ontologisch mit Gott in Beziehung steht.

Was genau dieses Göttliche ist, lässt sich nur schwer ausmachen, da die gesamte Adam-Erzählung allegorisch verstanden werden muss. Zumindest kann es sich um keine Substanz im Menschen handeln, hierfür eignet sich das Wort Geist nicht. Eine genauere Beschreibung dieses Absoluten im Menschen ist nicht möglich, wehrt dies doch schon die Offenbarung ab:

Und sie werden dich über den Geist (al-rūḥ) befragen. Sprich: „Der Geist (al-rūḥ) ist eine Angelegenheit meines Herrn. Aber ihr habt nur wenig Wissen darüber.“ (Qurʾān 17:85)

Al-rūḥ ist dasjenige, das dem Menschen Leben verleiht und ihn beständig mit Gott verbindet. In dieser besonderen Beschaffenheit des Menschen wurzelt seine ontologische Verbundenheit mit Gott. Da al-rūḥ nicht zu fassen ist und Gott jeden Versuch dahingehend abwehrt, wird die Menschenwürde zugleich zu etwas nicht Greifbarem, nicht Wegnehmbarem und somit Unantastbarem.

Der Mensch ist nicht nur ein Erdenkoloss, sondern wegen dieser ontologischen Verbindung wohnt in ihm der Drang nach den existenziellen Fragen seines Seins. Der Mensch ist durch sein transzendenzoffenes Wesen (fiṭra) aus der Schöpfung herausgebrochen. In der Urgeschichte heißt es:

Und als dein Herr aus den Lenden der Kinder Adams ihre Nachkommenschaft zog und für Sich Selber als Zeugen nahm (und sprach:) „Bin Ich nicht euer Herr?“ sprachen sie: „Jawohl, wir bezeugen es.“ (…) (Qurʾān 7:172)

Dieser ursprüngliche Bund zwischen Gott und Mensch ist nach islamischer Auffassung der Grund, weshalb wir Menschen an unser Sein Fragen stellen: „Woher kommen wir? Warum sind wir? Wohin gehen wir?“

Nach Kessler ist der Mensch ein exzentrisches Wesen. „»Exzentrisch« meint, dass der Mensch nicht seinen Instinkten ausgeliefert ist. Im Gegensatz zum Tier muss sich der Mensch seinen Platz in der Welt durch Deutung und Interpretation erst selber schaffen.“34 Dies erklärt seine Suche nach einem existenziellen Sinn und seine Ausgerichtetheit auf etwas Absolutes.35 Der Mensch ist von Geburt an ein Metaphysiker, der, ohne eine Zwischeninstanz, in einen schöpferischen Dialog mit Gott treten kann.36 Es ist diese

Verbundenheit, die es dem Menschen ermöglicht, Religion nicht nur durch eine intellektuelle Plausibilität zu bejahen, sondern im gelebten Glauben den transzendenten Gott zu “erspüren”.37 Versinnbildlicht heißt es im nachstehenden Vers:

Wir erschufen doch den Menschen und wissen, was ihm sein Inneres zuflüstert. Und Wir sind ihm näher als (seine) Halsschlagader. (Qurʾān 50:16)

Dieser Umstand versieht nach Iqbal jeden Menschen mit einer transzendenten Würde, egal für welchen Glauben er sich mit Hinblick auf die Fraglichkeit der Realität entscheidet und unabhängig von der Herkunft, dem Geschlecht oder dem sozialen Status eines Menschen – sie gilt für jeden Menschen.

Im Gedichtband payām-i mašriq (Botschaft des Ostens; 1923) vergleicht Iqbal den ersten Menschen – und damit jeden Menschen – mit einer Rose, um dessen Würde zu versinnbildlichen:

Noch sah ich nichts im Garten, was mir glich!

Der Lenz erschien – die erste Rose ich!

Mein eignes Bild betrachte ich im Bach;

So find ich scheinbar einen Freund für mich.

Die Feder, die des Lebens Schrift schreibt, malte;

Schon Botschaft auf mein buntes Blatt für dich.

Mein Herz sinnt „Gestern“, lernt mein Blick vom „Heute“;

Ich künd’ den Aufglanz, der zeigt Morgen sich.

Ich wuchs aus Staub, hüllt mich in Rosenkleider – Vielleicht bin ein vergess’nes Sternbild ich?38

Die Sternenmetapher betont nicht nur die Würde eines jeden Menschen, sondern postuliert zugleich die unbedingte Gleichheit aller Menschen, die aber nicht gleichmachend und konformistisch verstanden werden darf, da auch Sterne unterschiedlich hell leuchten. Anders ausgedrückt: „Niemand ist besser als du, aber du bist auch nicht besser als niemand.“ Folglich muss jeder Mensch menschlich behandelt werden.