Die Friedensmacher - Muhammad Sameer Murtaza - E-Book

Die Friedensmacher E-Book

Muhammad Sameer Murtaza

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Beschreibung

"Werdet endlich erwachsen" lautet der Kern des Islam, so der Philosoph Muhammad Sameer Murtaza. Überraschend, informativ und neugierig diskutiert er in seiner umfassenden Analyse Begriffe wie Individualität und Gemeinschaft, Freiheit und die Notwendigkeit von Strukturen, Weiblichkeit und Männlichkeit, Körperlichkeit und Sexualität, Patriarchat und Partnerschaftlichkeit, Gewaltlosigkeit und ihre Grenzen, Klimawandel und den Umgang mit IS-Rückkehrern. Ein glorreiches Durcheinander, voller faszinierender Themen, Abschweifungen, offener Fragen und Lösungsvorschlägen aus den Quellen des Islam. Ein großes und praxisorientiertes Buch. Ein Plädoyer für die Macht des ethischen Handelns und seiner Möglichkeiten. Es zeigt, was die Menschheit braucht, wenn sie eine Zukunft haben will.

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Muhammad Sameer Murtaza

Die Friedensmacher:

Ethos und Ethik im Islam

Bisher erschienen in der Reihe

Post-Salafiyya-Islam / Neue islamische Philosophie:

Islam:

Eine philosophische Einführung und mehr…

Islam und Homosexualität –

ein schwieriges Verhältnis

Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Muhammad Sameer Murtaza

Die Friedensmacher:

Ethos und Ethik im Islam

Bibliographische Information der

Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie;

detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, transmitted or utilized in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without permission in writing from the Publishers.

© 2023 Muhammad Sameer Murtaza

1. Auflage 2023

Verlag und Druck: tredition GmbH, An der Strusbek, 22926 Ahrensburg

ISBN Softcover: 978-3-347-84807-8

ISBN Hardcover: 978-3-347-84808-5

ISBN E-Book: 978-3-347-84809-2

Umschlagbild: Jennifer Neef-Murtaza

Alle Bilder, Skizzen und Diagramme aus dem Archiv des Autors.

Im Gedenken an meinen Lehrer Hans Küng

(1928-2021)

und

für meine Tochter Sarah,

der ich mit diesem Buch alles übermittle, was ich für wichtig hinsichtlich des Muslimseins und Menschseins erachte.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Halbe Titelseite

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

Begriffe

Vorwort

I. Ohne Gott und Religion keine Ethik?

Immer noch alles fraglich…

Antworten auf die Fraglichkeit der Welt

Grundvertrauen und Gott

Grundmisstrauen und…?

Existiert Gott?

Existiert Gott nicht?

Eine selbstverantwortete Entscheidung

Körperlichkeit

Erfahrungsmedium Körper

Sexualität und Gotteserfahrung

Ethik: Reicht denn nicht der Qurʾān?

Muslimsein: Eine Definition des Menschseins

Eine Schule der Mitmenschlichkeit

Balance

Erkenne dein Selbst

Differenzierung

Denken und Achtsamkeit

Heilung des Selbst

In Gott verloren gehen

II. Islam ist Frieden

Das Nichtaggressionsprinzip

Der Mensch und sein Gewaltpotenzial

Nichtaggression: Das islamische Verständnis von Gewaltlosigkeit

Das Prinzip der Nichtaggression in Mekka

Das Prinzip der Nichtaggression in Medina

Frieden: Die Mitte der abschliehenden Botschaft

Die Grenzen der Gewaltlosigkeit

Die Abschiedspredigt

Ḥaqīqa Muḥammadiyya: Die Muhammad-Wirklichkeit

Der Charakter Muhammads

Der Gesandte Muhammad

Die weibliche Kraft Muhammads

III. Wer Gott erkennt, erkennt sich

Das göttliche Selbst und das menschliche Selbst

Gott: Der Anfang aller Dinge

Gott: Das absolute Selbst

Mensch: Ein Selbst

Gott: Der Eine und Einzige

Mensch: Der Statthalter Gottes

Gott: Der Bestimmende

Mensch: Der Entscheider

Gott: Der Allerbarmer, Der Barmherzige

Mensch: Der Liebende

Gott: Der Gerechte

Mensch: Der Vollstrecker der Gerechtigkeit

Gott: Der Liebvolle

Mensch: Der Nächstenliebende

Gott: Der Verzeiher

Gott: Das Ende aller Dinge

IV. Eine Zeit mit Gott

Achtsam vor Gott leben

Anhaftung und Zakāh

Ḏikr

Ḏikr-u-ʾllāh: Übung 1

Ḏikr-u-ʾllāh: Übung 2

Das achtsam verrichtete Gebet

Die tägliche 5-malige Pilgerfahrt zu Gott

Der erste Gebetsruf

Der existenzielle Zustand der Reinheit

Der zweite Gebetsruf

Das Gebet

Abschließendes zum Gebet

Das Fasten im Monat Ramadan

Aktionsprogramm: Muslimsein

Initiation

V. Die Baustellen der Umma

Das heutige Haus der Muslime

Akzeptanz von Einheit in der Vielfalt

Die Grenzen der innerislamischen Vielfalt

Keine Strafe für den Religionswechsel

Ein Muslim muss nicht zum Araber werden

Islam ist immer Interpretation

Keine subjektiven Auslegungen

Wertschätzung der islamischen Tradition und Gelehrsamkeit

Kein Traditionalismus und kein Gelehrtenautoritarismus

Die Notwendigkeit von Reformern

Umma statt islamische Bewegungen

Die Notwendigkeit einer Debattenkultur

Sich mit der Lebensrealität der Muslime von heute auseinandersetzen

Vergangenheitsbewältigung

Aufarbeitung der Schreckensherrschaft des IS-Regimes

Die Kritik am Islam

Tischgemeinschaft mit Juden und Christen

Klimawandel und ökologisches Bewusstsein

Das edle Ziel

Eine Kultur der Zärtlichkeit

Auf dem Weg zu einer Partnerschaft von Mann und Frau

Beziehungsformen

Sexualität und Charakterentwicklung

Kritische Rückfragen an die Offenbarung

Weiblichkeit im Islam

Männlichkeit im Islam

Die Emanzipation des (muslimischen) Mannes

Destruktive Mächte und Strukturen in der Welt

Destruktive Mächte und Gewalten

Der Welleneffekt der Nächstenliebe

Religionsgemeinschaften als aktive Akteure in der Welt

VI. Ethos und Ethik

Das islamische Ethos

Absicht, Gottesbewusstsein und Reflexion

Die ästhetische Dimension der Moral

Normativer Leitsatz zum moralischen Handeln im Islam

Die reumütige Umkehr

Widerstand

Die islamische Ethik

Ist islamische Ethik eine Gesetzesethik?

Ethische Prinzipien

Das ethische Prinzip im Islam

Šarīʿa: Der islamische Weg zu Gott

Was ist die Šarīʿa?

Die Folgen der Reduktion der Šarīʿa auf den Gesetzesaspekt

Die Zielsetzung der Šarīʿa

Beispiele zeitgenössischer Normenbeurteilung

Eine werteorientierte Šarīʿa

Islamische Sexualethik

Catcalling und Slutshaming

Sexualpraktiken

VII. Die Quellen des Islam

Der Qurʾān: Eine Annäherung

Der Islam ist keine Buchreligion, sondern eine Rezitationsreligion

Die Struktur des Qurʾān ernst nehmen

Qurʾānische Hermeneutik: Historisch-kontextuelle Exegese I

Qurʾānische Hermeneutik: Historisch-kontextuelle Exegese II

Historisch-kontextuelle Exegese, aber keine historisch-kritische Exegese

Einbettung in die abrahamische Tradition

Erzählformen und Stilmittel identifizieren

Auslegung als hermeneutische Wissenschaft

Grenzen des Verstehens

Kontextuelle Hermeneutik

Herausforderung Laien-Exegeten

Die lebendige Sunna

Was ist die Sunna?

Der Unterschied zwischen Sunna und Ḥadīṯ

Die Praxis von Medina

Al-Muwaṭṭaʾ

Ḥadīṯ: Das Prophetenwort

Was ist ein Ḥadīṯ?

Ein Bewertungsmaßstab für das Prophetenwort

Die Ṣaḥīḥ/Sunan-Bewegung

Sīra: Die Prophetenbiografie

Das Entstehen der Maġāzī-Literatur

Das Entstehen der Sīra-Literatur

Die Biografie des Muhammad b. Ishāq

Das Werk des Ibn Ishāq

Die Kritik an der Sīra des Ibn Ishāq

VIII. Islam: Die Religion des Tanzes

Alles begann mit einer Frau

Literatur

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Begriffe

Ethik: Der Begriff Ethik kann Folgendes meinen:

1. Ethik ist eine säkulare Wissenschaft von der Moral. Sie analysiert und systematisiert unterschiedliche Moralsysteme nach ihren Begründungen und Prinzipien. Ethik ist somit die Reflexionsebene über die Moral. Da sie wertfrei klassifiziert, ist der Gebrauch der Adjektive ethisch und unethisch sinnfrei.

2. Ethik ist ein Moralsystem einer Gemeinschaft von vernunftbegabten Menschen. Da der Mensch als soziales Wesen mit anderen Menschen zusammenlebt, haben seine Handlungen Einfluss auf die Tier- und Naturwelt sowie seine Mitmenschen. Ethik soll den Einzelnen anleiten, anderen durch seine Handlungen nicht zu schaden. Handlungen werden demnach als ethisch bzw. moralisch oder unethisch bzw. unmoralisch eingeteilt.

In dieser Abhandlung wird letztere Definition des Begriffs Ethik verwendet.

Moralsystem: Ein Moralsystem ist ein Normsystem, das richtiges Handeln von vernunftbegabten Menschen begründet und beschreibt und somit, im Unterschied zum subjektiven Urteil, auch für alle gültig sein soll.

Moral: Eine moralische bzw. ethische Handlung ist eine Handlung, die von einer Gruppe von vernunftbegabten Menschen als richtig oder gerecht angesehen wird. Eine gegenteilige Handlung wird als unmoralisch bzw. unethisch bewertet.

Wert: Werte oder Wertvorstellungen sind Abstrakta bzw. Ideale, die eine Wir-Gruppe für wünschenswert ansieht (z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe usw.).

Norm: Normen sind verhaltensorientierte Handlungen von vernunftbegabten Menschen in einer Wir-Gruppe, die sich aus der Umsetzung der Werte in konkretes Handeln ergeben.

Sitte: Sitten sind Verhaltensweisen oder Bräuche, die aufgrund von spezifischen Umweltbedingungen, sozioökonomischen Umständen oder Krisensituationen eine Wir-Gruppe um des Überlebens willen annimmt. Sie können in Konflikt mit dem Moralsystem stehen, aber aufgrund der Notwendigkeit oder Gewohnheit weiterhin praktiziert werden.

Ethos: Ethos bezeichnet die grundlegende moralische Gesinnung einer Person oder Gruppe, die das eigene Selbstverständnis darstellt. Hiervon abgeleitet kann von einer jüdischen, christlichen oder islamischen Ethik gesprochen werden, die die Frage aufwirft, wie ein Gläubiger der jeweiligen Religion leben soll, um ein rechtschaffenes Leben zu führen. Im Kontext einer solchen Ethik kann zwischen einem ethisch und einem unethisch geführten Leben unterschieden werden.

Das islamische Ethos: Wann immer du etwas vorhast, frage dich, ob du dein Handeln Gott gegenüber als Hingabe und den Menschen gegenüber als Friedenmachen verständlich machen kannst, sodass sie sich genauso verhalten könnten wie du.

Vorwort

Gelobt sei Gott, mit dem alles beginnt und endet. Gesegnet seien der abschließende abrahamische Prophet Muhammad sowie seine Angehörigen, seine Gefährten und die Rechtschaffenden, die für den Frieden in der Welt wirken.

Nichts ist so einfach, wie den Islam zu verstehen. Jeder Muslim weiß, was mit Islam gemeint ist und gerade heute umso bewusster, je mehr wir als Muslime diesem Wissen zuwiderhandeln. Islam bedeutet, sich vertrauensvoll und aktiv Gott zu ergeben/hinzugeben, um Frieden zu erfahren und Frieden zu machen. Der Muslim ist jener, der sich vertrauensvoll und aktiv Gott ergibt/hingibt, um Frieden zu erfahren und Frieden zu machen. Oder kürzer gefasst: Islam ist das Friedenmachen und Muslim einer, der (für Gott) Frieden macht.1

Umso mehr erstaunt es, dass es Muslime selbst sind, die hartnäckig den Islam zu einer Gewaltbotschaft pervertieren. Die zunehmende Gleichsetzung von Gewalt und Islam, für die wir Muslime selbst verantwortlich sind, ist das Gegenwartsproblem der muslimischen Gemeinschaft (umma) in unserer Zeit. Bezeichnend empfand ich dies während einer Forschungsreise nach Pakistan im Dezember 2018, als ich in Karachi in der Beech Wali Moschee mein Gebet verrichtete, während zeitgleich ein Lehrkreis stattfand. Einer der Studenten trat an mich heran und fragte vorsichtig, warum ich mich in der Moschee aufhalte. Da ich etwas irritiert war, erklärte er mir, dass aufgrund zahlreicher Bombenanschläge in Moscheen man gegenüber fremden Muslimen argwöhnisch geworden sei. So weit ist es also gekommen: Muslime fürchten Muslime.

Die Misere der Gegenwart wirft die Frage auf, was es eigentlich bedeutet, Muslim zu sein und was für eine Art von Gemeinschaft wir Muslime sein wollen. Wenn ein Muslim ein Friedensmacher ist, wie kann dem im 21. Jahrhundert wieder Geltung verschafft werden?

Des Weiteren: Wie beurteilen wir dann muslimische Gewalttäter, die die islamische Botschaft in ihr Gegenteil verkehren? Mit all diesen Fragen befinden wir uns bereits inmitten der Thematik dieses Buches.

Islam ist Frieden, so skandieren Muslime immer wieder, doch was bedeutet dies in der Praxis? Und nur weil Islam Frieden ist, bedeutet dies nicht, dass diese Botschaft nicht pervertiert werden kann, um im Namen des Friedens auch Böses zu tun. Anhand welcher Maßstäbe können Muslime daher ihrer Botschaft treu bleiben und Gut und Böse voneinander unterscheiden, wenn muslimische Friedensstifter und muslimische Gewalttäter die gleichen Texte lesen, doch deren Verständnis zu unterschiedlichen Handlungen führt? Auf diese zentralen Fragen sollen Antworten gefunden werden.

Doch der Leser sei gewarnt: Dieses Buch zeichnet sich durch das langsame Denken aus. Es lässt sich nicht von Überschriften einzwängen, sondern von ihnen bloß an interessante Orte treiben. Es scheut sich auch nicht vor Wiederholungen, wenn sie thematisch sinnvoll und notwendig sind. Es will aber auch denkbar weit hinaus und gibt sich nicht damit zufrieden, eine weitere anklagende Modeschrift mit steilen Thesen und Forderungen an die Muslime zu sein.

Dieses Buch beginnt nicht bei null, sondern ist in die Tradition des muslimischen Denkens eingebettet, insbesondere desjenigen auf dem Subkontinent, wo Muslime seit jeher durch die Koexistenz mit zahlreichen unterschiedlichen Religionen und innerislamischen Konfessionen vor der Herausforderung standen, die gemeinschaftliche Identität und den universellen Horizont des Islam beständig zusammenzudenken. Mit dieser reichen Tradition, ihren Gelehrten, Philosophen, Mystikern, Dichtern, Politikern und Aktivisten möchte ich ins Gespräch kommen. Sie sollen mich auf den Denkwegen dieses Buches begleiten, mich anregen, fordern und korrigieren, damit ich dank ihrer Hilfe zu den Antworten auf meine Fragen gelange.

Es schadet nicht, an dieser Stelle eines klar hervorzuheben: Ich nehme freimütig von allen Gesprächspartnern in diesem Buch das, was wesentlich für den Fortgang meiner eigenen Gedanken zu einem jeweiligen Thema ist. Es geht nicht darum, sich auch den Denksystemen all dieser klugen Köpfe vollends zu verpflichten.

Dieses Buch ist letztendlich ein Dokument und eine Zusammenführung eines bislang 14 Jahre andauernden islamisch-philosophischen Denkens, das nun ein vorläufiges Ende findet. Es gibt einen Einblick, nach welchen Maßstäben und Richtlinien ich islamische Philosophie betreibe und lehre sowie weiterhin gedenke zu betreiben und zu lehren, nämlich mit dem Hammer.

1 Vgl. Denffer, Ahmad von; Al-Mahgary, Muhammad Ali (1995: 6).

I. Ohne Gott und Religion keine Ethik?

 

Human beings in a mob.

What’s a mob to a king?

What’s a king to a God?

What’s a God to a non-believer?

Who don’t believe in anything?

Kanye West & Jay-Z, No Church in the Wild

Körperlichkeit

Das Gedankenexperiment von der Fraglichkeit der Welt ist ein modernes Konzept, das vermitteln soll, dass der Glaube an Gott eine rational begründete Entscheidung ist.36 Doch wir müssen uns klarmachen, dass eine rein theoretische Zustimmung zu Gott einem existenziellen Schock niemals standhalten kann: der plötzliche Tod eines geliebten Menschen, der Verlust unseres Zuhauses, der Sturz auf die unterste Stufe der sozialen Leiter; sie alle können zu Sinnverlust, dann Depressionen, Aggressionen, vielleicht sogar Sucht führen; also dem Zusammenbruch des ganzen religiösen Sinnsystems.37 Der Glaube muss tiefer reichen, um eine Stütze sein zu können. Er muss eine gelebte Erfahrung sein.

Als ich mit 16 Jahren ein spirituelles Erlebnis hatte, führte dieses mich schnurstracks in eine lokale Moscheegemeinde, ohne dass ich diesen Weg bewusst eingeschlagen hatte. Hinterher versuchte ich, diese Erfahrung rational einzuordnen und zu hinterfragen. Nur weil meine Füße mich zu einer Moschee brachten, bedeutete dies doch noch lange nicht, dass der Islam die für mich wahre Religion ist. In der darauffolgenden Zeit beschäftigte ich mich – soweit dies für einen Jugendlichen eben möglich ist – mit dem Judentum, Christentum, Islam und Buddhismus. Doch all das Grübeln verwirrte mich nur umso mehr. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es einen Buddhisten, der am Waldrand ein Grundstück erworben hatte, um dort als Mönch zu leben. Er wohnte in zwei einfachen Lehmhügeln, der eine diente ihm als Wohn-, der andere als Schlafzimmer. Oft trug der wohl 36-jährige Mann, dessen Gesicht ein dichter schwarzer Bart schmückte, einen einfachen grünen Mao-Anzug. Wir verbrachten damals viel Zeit miteinander und unterhielten uns über die verschiedenen Religionen. Zu keinem Zeitpunkt versuchte er, meine Suchbewegung dahingehend zu beeinflussen, dass ich mir den Buddhismus erwähle. Als er merkte, dass meine Vernunft, die darauf aus war, einen unumstößlichen Beweis zu finden, damit ich mich meiner Entscheidung absolut sicher sein konnte, mich von der notwendigen Antwort auf mein Erlebnis abbrachte, riet er mir Folgendes: „Die Wahrheit ist es für dich, wenn dein Körper darauf reagiert. Wenn du Gänsehaut bekommst und sich die Härchen auf deinem Arm aufrichten, dann hast du die Antwort, die du suchst.“ Nachdem die Vernunft mir bei meiner Suche eher hinderlich gewesen war, vertraute ich meinem Körper, so wie damals, als er mich zu einer Moschee führte. Ich las noch einmal etwas in der Bibel, im Qurʾān und tatsächlich reagierte mein Körper auf letzteren und meine Härchen richteten sich auf. Diese körperliche Erfahrung war ein Glaubensmoment, dem ich vertraute und es bis heute nie bereut habe.

Erfahrungsmedium Körper

Nach der ursprünglichen islamischen Lehre war der Mensch zunächst ein lebloser Körper und wurde dann durch die rūḥ belebt. Es heißt in der Offenbarung:

Dann formte Er ihn und blies von Seinem Geist (min rūḥihi) in ihn. (…) (32:9)

Der pakistanische Gelehrte Ghulam Ahmad Parwez (gest. 1985) überträgt den Begriff rūḥ, der üblicherweise mit Geist Gottes übersetzt wird, mit göttliche Energie.38 Es ist diese, die schließlich den Menschen belebt und über das Gehirn zur Entstehung eines Bewusstseins führt:

(…) Und Er gab euch Gehör, Gesicht, Gefühl und Verstand. (…) (32:9)

Durch das Elternhaus und soziale Einflüsse formt schließlich ein jeder von uns eine einzigartige Persönlichkeit. Dieser ganze Mensch wird in der qurʾānischen Terminologie als nafs (Selbst) benannt und es ist diese nafs, nicht die rūḥ, die von Gott am Jüngsten Tag befragt wird. Der Tod bedeutet immer nur den Tod des Körpers, aber nicht des Bewusstseins, das durch die ontologische Verbindung zu Gott mittels der rūḥ erhalten bzw. abgespeichert wird. Die Auferweckung ist schließlich die Zurückführung des Bewusstseins in den restaurierten Körper. Diese Phase des Getrenntseins nimmt der Mensch, laut der Offenbarung, so gut wie gar nicht wahr:

Und am Tage, an dem Er sie versammelt, wird es ihnen sein, als hätten sie nur eine Stunde des Tages verweilt (…). (10:45)

Der Mensch ist demnach Materie und er erfährt die Realität durch seinen Körper. Zugleich ist er aber mehr als nur rohe Materie; körperlich, aber durch sein Bewusstsein mehr als nur ein Körper.

Und was ist mit der Seele? Seele ist eine griechische, keine abrahamische Vorstellung. Schon dem Volk Israel war eine vom Körper getrennt existierende Seele unbekannt. Den Menschen stellten sich die Israeliten als eine Einheit vor, der durch den Atem Gottes belebt wurde. Wer aufhört zu atmen, war leblos, da jegliche Lebensenergie aus dem Körper geflossen war. Dieser Zustand dauert an, bis, so ist es Daniel 12,1-3 zu entnehmen, die Körper wiederbelebt werden. Würde es eine vom Körper unabhängige Seele geben, wäre eine körperliche Wiederauferstehung überflüssig. Diese Sicht war auch jene von Jesu, der an die Wiederauferstehung des ganzen Menschen glaubte und nicht an eine unsterbliche Seele. Ewiges Leben gibt es nur als eine körperliche Existenz. Den Gedanken einer Seele verdankt die Welt dem Philosophen Platon (348/347 v. Chr.), die Propheten Israels und Jesu waren jedoch Juden und in ihrer Tradition, nicht der griechischen, bewegen sich Christen und Muslime.

Das Sehen wird im Zusammenhang mit Erkenntnis im Qurʾān immer wieder betont, was zugleich eine Absage an ein Vernunftverständnis ist, das der Vernunft einen erhabenen Sitz über den Wolken zuschreibt. Schöpfung ist Sehen. Sehen ist Entdecken. Entdecken kann zu Einsicht und Wissen führen. Augen, Ohren und Hände, der Kern des Menschen; sie sind es, die uns das Universum erfassen lassen. Und sie sind es, die unsere Vernunft antreiben.

Das Leben ist kein theoretisches Erleben, sondern eine körperliche Erfahrung. Nicht cogito ergo sum, sondern „Solange ich handle, bin ich“ lautete die Losung des Philosophen Muhammad Iqbal (gest. 1938).39 Ihre Richtigkeit kann ein jeder praktisch nachvollziehen, indem er mit seinen Fingernägeln über seinen Arm streicht. In dieser Berührung erfährt und spürt man sich um so viel mehr als in einer bloßen Vergeistigung. Daher schreibt die Philosophin Stangneth: „Es ist etwas ganz Unterschiedliches, Körper zu sein und zu wissen, dass man körperlich ist.“40