Islamische Philosophie: - Muhammad Sameer Murtaza - E-Book

Islamische Philosophie: E-Book

Muhammad Sameer Murtaza

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Beschreibung

Wie kann die Philosophie dekolonisiert werden? Einen wichtigen Beitrag zu diesem Projekt kann ihre Geschichtsschreibung leisten, und gerade der Blick auf die islamische Geschichte in Europa bietet Ansätze für eine Transformation in globaler Perspektive. Die Auseinandersetzung mit dem Islam in Andalusien wirft nämlich grundlegende Fragen zum Umgang mit den europäischen Narrativen und Denktraditionen auf. Ebenso stellen sich ethische Fragen nach der Rolle von Religion und Islamfeindlichkeit in der europäischen Philosophiegeschichte sowie Aneignung von intellektuellem Erbe. Anhand der Philosophiegeschichte Andalusiens muss die Frage gestellt werden: Brauchen wir eine neue Philosophiegeschichtsschreibung?

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Seitenzahl: 276

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Muhammad Sameer Murtaza (Hrsg.)

Matthias Langenbahn

Ecevit Polat

Hakan Turan

Mohamed Turki

Hamid Reza Yousefi

Islamische Philosophie

Band 5:

Islamopäische Philosophie

Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Bisher erschienen:

Islamische Philosophie Band 1: Von den Anfängen bis zu Al-Kindi

Islamische Philosophie Band 2: Islamische Philosophie im Konflikt – von Al-Razi und Al-Farabi bis Ibn Miskawai

Islamische Philosophie Band 3: Die Blütezeit der Falsafa

Islamische Philosophie Band 4 Die Kritik an der Falsafa

Muhammad Sameer Murtaza (Hrsg.) Matthias Langenbahn

Ecevit Polat Hakan Turan Mohamed Turki

Hamid Reza Yousefi

Islamische Philosophie

Band 5:

Islamopäische Philosophie

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

All rights reserved.

No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, transmitted or utilized in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without permission in writing from the Publishers.

© 2024 Muhammad Sameer Murtaza

1. Auflage 2024

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 42

22359 Hamburg

ISBN Softcover:

978-3-384-14271-9

ISBN Hardcover:

978-3-384-1472-6

ISBN E-Book:

978-3-384-14273-3

Umschlaggestaltung: Jennifer Neef-Murtaza

Inhalt

Cover

Halbe Titelseite

Titelblatt

Urheberrechte

Geleitwort

Ibn Bāǧǧa: Das Erwachen der Individualität und der Beginn der Philosophie in Al-Andalus

Ibn Bāğğa: Wie man vernünftig unter unvernünftigen Menschen lebt

Literatur

Ibn Tufail und die östliche Philosophie

Literatur

Ibn Ruschd: Der Philosoph, der Europa die Aufklärung gab

Literatur

Ghazali und der Streit um sein Werk ›Tahafut al-falasifa‹

Die Metaphysik des Averroes neu gelesen: Der Andalusier und die Weltform(el)

Literatur

Ibn Sabʿīn – Das Gewissen des Islam

Literatur

Islamische Philosophie

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Titelblatt

Urheberrechte

Geleitwort

Ibn Sabʿīn – Das Gewissen des Islam

Islamische Philosophie

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Geleitwort

Muhammad Sameer Murtaza

Islamopäische Philosophie? Zugegeben, ein Neologismus, der aber dringend notwendig ist, um die eurozentrische Perspektive der Philosophie aufzubrechen, die es bisher vermochte, die Impulse der islamischen Philosophie auf europäischem Boden konsequent zu ignorieren.

Der vorliegende Band beschäftigt sich mit den bedeutenden Philosophen des multireligiösen Andalusiens: Ibn Bāğğa, Ibn Tufail, Ibn Ruschd und Ibn Sabʿīn, die in Wechselwirkung mit ihrer Aristoteles-Rezeption, ihren jüdisch-philosophischen Zeitgenossen und der Kritik Al-Ghazālīs an der falsafa ihre eigenen Philosophien entwickelten.

Islamopäische Philosophie ist darüber hinaus aber auch ein Begriff, der aufzeigt, wie die islamische Philosophie, die der Renaissance und Aufklärung fundamentale Anstöße gab, in der europäischen Philosophietradition ausgeschlossen wurde. Er kann folglich verwendet werden, um die Auswirkungen rassistischer Strukturen auf die europäische Philosophiegeschichte zu analysieren, und zuletzt kann er die Frage aufwerfen, wie diese Geschichtsschreibung in Zukunft erfolgen müsste.

Die Bereitschaft, die profunden Beiträge der islamischen Philosophie ernst zu nehmen, gab es schon einmal. Sie mündete in einen Kulturkampf zwischen Arabisten und Humanisten, Letztere beabsichtigten, den islamischen Einfluss zu tilgen. Eine Zeit lang gab es zwei Erzähltraditionen der europäischen Philosophiegeschichte, bis sich die Humanisten letztendlich durchsetzten und die islamopäische Philosophie zunehmend aus der europäischen Philosophiegeschichte herausgeschrieben wurde.

Doch ihr Einfluss lässt sich nicht länger verbergen, unterdrücken oder ignorieren. Die europäische Philosophiegeschichte muss neu geschrieben werden, sowohl aufgrund ihrer inhaltlichen Ursprünge als auch ihrer ideologischen Momente. Andernfalls verleugnet das Abendland seine eigenen aufklärerischen Werte und verliert sich in intoleranten Handlungsweisen wie etwa dem Verbrennen von Qurʾān-Ausgaben, was derzeit scheinbar en vogue ist. Damit verbrennen die Verfechter Europas aber nicht nur einen Grundlagentext ihrer eigenen Geistesentwicklung, sie leisten zugleich den Offenbarungseid, nicht argumentieren zu können.

Ibn Bāǧǧa: Das Erwachen der Individualität und der Beginn der Philosophie in Al-Andalus

Mohamed Turki

Anders als im Mashriq der islamischen Welt hat sich im Maghreb, d. h. in Nordafrika und in Al-Andalus, das damals den größten Teil Spaniens umfasste, mit einer zeitlichen Verzögerung eine Entwicklung der arabisch-islamischen Philosophie vollzogen, deren Höhepunkt zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert erreicht wurde. Die Gründe für diese Abweichung gegenüber dem Osten werden heute von den Forschern unterschiedlich gedeutet. Dennoch können sie auf zwei Faktoren zurückgeführt werden: Zum einen auf das Fehlen einer vorislamischen intellektuellen Tradition in Nordafrika und in Al-Andalus, die im Orient durch Übersetzung der antiken und hellenistischen Kultur begünstigt wurde, und zum anderen auf eine eher konservative Haltung der herrschenden Dynastien, vor allem in der ersten Phase ihres Bestehens, gegenüber der Philosophie und den weltlichen Wissenschaften.1 So erklärt z. B. der zeitgenössische marokkanische Philosoph Mohammed ʿAbid Al-Jabri, dass „Al-Andalus und die Region des Maghreb während dieser ganzen ersten Periode auf der kulturellen Stufe der Zeit der ersten Eroberer stehen geblieben waren, jener des Islam der Gefährten (ṣahāba) und der Nachfolgenden (tābiʿūn), deren wichtigste Quellen des Wissenserwerbs der mündliche Bericht (riwāya) und die Weitergabe (naql) sowohl des religiösen als auch des linguistischen oder anderen Wissens waren, und zwar im Gegensatz zum Orient, wo zahlreiche Schulen des Rechts, der Theologie und der Grammatik entstanden waren.“2

Alles reduzierte sich in jenem Raum zunächst auf eine Beschäftigung mit dem islamischen Recht, genauer gesagt mit dem Recht nach malikitischer Schulrichtung, die von dem medinensischen Rechtsgelehrten Mālik ibn Anas (711-795) gegründet wurde.

Hinzu kam die feindselige Einstellung der herrschenden Umayyaden-Dynastie in Al-Andalus gegenüber der von ihren Konkurrenten, den Abbasiden im Orient, geförderten Philosophie und Wissenschaft, weil sie darin „häretische“ Erneuerungen gesehen hatten, die den festen Glauben gefährden könnten. Dennoch gelang es im 10. Jahrhundert in Al-Andalus unter der Herrschaft von Abdurrahman III. (912-961) und dessen Sohn Al-Hakam II. (961-976), was zuvor im Orient geschah, nämlich die Entfaltung einer materiellen und geistigen Hochkultur, von der Nietzsche mit Wehmut sprach. Im Antichrist heißt es:

Das Christentum hat uns um die Ernte der antiken Cultur gebracht, es hat uns später wieder um die Ernte der Islam-Cultur gebracht. Die wunderbare maurische Cultur-Welt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland wurde niedergetreten – ich sage nicht von was für Füssen – warum? (…), weil sie zum Leben Ja sagte auch noch mit den seltnen und raffinirten Kostbarkeiten des maurischen Lebens!… (…) – eine Cultur, gegen die sich selbst unser neunzehntes Jahrhundert sehr arm, sehr „spät“ vorkommen dürfte.3

Zudem spielten nach Patric Schaerer zwei Bedingungen eine besonders wichtige Rolle: „Einerseits die kulturelle Abhängigkeit gegenüber dem Zentrum der islamischen Welt im Osten und die stete Übernahme bzw. der »Import« von Kunst und Wissenschaft nach Al-Andalus; andererseits die Schaffung eines eigenen andalusischen Stils und die charakteristische Gestaltung und Weiterentwicklung des Übernommenen, bis hin zu einer eigentlichen Rivalität zwischen West und Ost um die kulturelle Vorherrschaft.“4

Allerdings war das wichtigste Element bei dieser Entwicklung sicherlich die interreligiöse und auch die interkulturelle Atmosphäre, die aufgrund der Koexistenz von Muslimen, Christen und Juden in diesem Raum vorherrschte. Sie förderte nämlich den Geist der Toleranz und der gegenseitigen Achtung.5 Hier wurde keine Zwangsislamisierung durchgeführt, sondern die verschiedenen religiösen Gemeinschaften lebten nebeneinander und pflegten einen regen ökonomischen und kulturellen Austausch untereinander. Daraus entstanden ein besonderer Lebensstil,„convivencia“6 genannt, und eine Schicht von Christen in der Bevölkerung (die Mozaraber), die Arabisch sprach und sogar die Lebensgewohnheiten der Muslime übernahm. Aufgrund dieser Atmosphäre konnte das Umayyaden-Reich in Al-Andalus mit dem der Abbasiden im Orient kulturell wetteifern.

Die Vermittlung der Philosophie fand zuerst über die Logik statt, die von einem Gelehrten namens Muhammad ibn ͑Abdun (ca. 930-995) aus dem Osten vermittelt wurde. Dieser kehrte nach einem langen Studienaufenthalt in Bagdad nach Al-Andalus zurück und machte seine Zeitgenossen mit dem Organon von Aristoteles bekannt. Das erweckte Interesse an der Logik seitens der Theologen und Juristen wie dem berühmten Gelehrten Ibn Hazm (997-064). Danach gelangten die Schriften der Lauteren Brüder über den Mathematiker und Astronomen Maslama Al-Magiri (gest. 1007) und einige Werke von Al-Fārābī und Ibn Sīnā nach Al-Andalus. Mit der Zeit wuchs die Beschäftigung mit philosophischen Themen bei den Gelehrten und so erlebte die Philosophie in diesem Raum eine weitere Phase ihrer Entfaltung. Nach Al-Jabri „hatte das theoretische Denken in Al-Andalus das Glück, die Philosophie zur rechten Zeit zu empfangen, nachdem die Gelehrten sich fest in der Kenntnis der Mathematik, Astronomie, der Medizin und der Logik eingerichtet hatten, Disziplinen, die am Ursprung des philosophischen Denkens in Griechenland gestanden hatten und sogar den Weg für die einzige ›wahre‹ Philosophie eröffnet hatten, die des Aristoteles, dem Magister primus.“7

Diese Gelehrten haben sich nicht so sehr um die theologische Problematik des Verhältnisses von Vernunft und Glaube bzw. von Philosophie und Religion gekümmert, die damals im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen im Mashriq stand. So konnten sich die andalusischen Philosophen von den ideologischen Hemmnissen freimachen und den wissenschaftlichen Themen zuwenden, die der Stagirit als seine Hauptaufgabe betrachtet.

Aufgrund dieser Voraussetzungen entstand nach Einschätzung einiger Forscher wie Al-Jabri der eigene philosophische Diskurs andalusischer Denker, der sich mehr auf die epistemologischen Grundlagen des Aristotelismus stützte und sich vom Neuplatonismus und seinem gnostischen Hintergrund fernhielt. Dieser Diskurs konnte sich gleichzeitig „von der Tendenz der orientalischen philosophischen Schule abgrenzen, die Wissenschaften zu benutzen, um die Religion in der Philosophie und die Philosophie in der Religion zu begründen.“8 Der eigenständige Weg des theoretischen Denkens im Maghrib der islamischen Welt wurde wesentlich von drei bedeutenden Philosophen beschritten, nämlich von Ibn Bāǧǧa, Ibn Ṭufail und Ibn Ruschd. Vorbereitet wurde er jedoch von Abdullah ibn Masarra (883-931),9 einem Naturphilosophen und Muʿtaziliten mit einem Hang zur Mystik und zu den esoterischen Wissenschaften, der unter der Herrschaft von Abdurrahman III. in Cordoba gelebt haben soll. Von seinen Werken ist kaum etwas überliefert worden, aber bei dem, was berichtet wurde, besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen seinem Denken und dem frühen kalām, der spekulativen Theologie.

Ibn Bāǧǧas Leben und Werk

Als Abu Bakr Muhammad ibn Yahya Al-Saigh, bekannt unter dem Namen Ibn Bāǧǧa, lateinisch „Avempace“ genannt, am Ende des 11. Jahrhunderts (vermutlich 1085) in Zaragoza geboren wurde, war die bestehende Harmonie zwischen den Religionen nicht mehr vorhanden und die lange Zeit gelebte „convivencia“ bereits verschwunden. Das Land Al-Andalus zerfiel in Kleinstaaten (die tāʾifa-Reiche), die sich gegenseitig bekriegten, bis die sehr strenge berberische Reformbewegung der Almoraviden (Al-Murābiṭūn) aus Südmarokko die Macht über die iberische Halbinsel übernahm und die fortschreitende christliche Rückeroberung für eine kurze Zeit aufhielt. Ihr folgten die Almohaden (Al-Muwaḥḥidūn), die noch ein Jahrhundert lang für eine gewisse Stabilität in der Region sorgten und der maurischen Kultur eine letzte Blütezeit auf der Halbinsel gewährten.

Über den Verlauf des Lebens von Ibn Bāǧǧa ist wenig bekannt. Dennoch spricht Franz Schupp in seiner Einleitung zu den ersten von ihm auf Deutsch erschienenen Schriften Ibn Bāǧǧas von einem „unruhigen Leben“10.

Nach seinem Studium in Zaragoza übernahm Ibn Bāǧǧa unter der Herrschaft des Sultans der Almoraviden Ali ibn Yusuf ibn Tašufin (reg. 1106-1143) und seines Schwagers Ibn Tifilwit, der als Gouverneur über Zaragoza ernannt wurde, als Arzt, Dichter, Musiker und Astronom die Funktion eines Wesirs, die er lange Jahre innehatte. Dies lag daran, dass er über „beste gesellschaftliche Qualitäten“ verfügte, die von seinen Zeitgenossen, etwa seinem Kritiker, dem Dichter Ibn Ḥaqān, hervorgehoben und von ihm später in seiner Schrift Die Leitung bzw. Richtschnur des Einsamen kritisiert wurden. Darin heißt es:

Man strebt nach dem Vergnügen wie z. B. [durch] die Umgänglichkeit (basm), die Freundschaft, oder das Wohltun (birr); auch das Geschenk (naul) gehört zu dieser Art, und vieles von der Kleidung (malābis), von dem Wohnsitz (masākin) und dem schönen Äußeren (hai‘at), das Bewunderung hervorruft; zu der Art wird auch die Gewandtheit im Gespräch (husn ḥadīṭ) gezählt sowie das im-Gedächtnis-Haben von Geschichten (ḥifz al-aḫbār), von Sprichwörtern (amṯāl) und Gedichten (aš ͑ār).11

Nachdem Zaragoza 1118 im Zuge der christlichen Reconquista erobert wurde, zog Ibn Bāǧǧa nach Játiva an den Hof des Gouverneurs von Murcia Ibrahim ibn Yusuf ibn Tašufin, dem Bruder des Almoraviden-Herrschers, der ihm aber aufgrund einer Feindschaft mit seinem Hofdichter Ibn Ḥaqān nicht wohlgesonnen war und ihn verhaften ließ. Doch die Inhaftierung dauerte nicht lange und Ibn Bāǧǧa zog nach seiner Freilassung nach Sevilla, wo er in den Dienst des dortigen Gouverneurs Abul-Hasan ibn Al-Imām trat, der sein treuester Schüler und Freund war.12 Ab 1136 unternahm er eine Reise nach Oran und wollte weiter nach Ägypten, zog sich aber zuletzt nach Fez zurück, wo er 1139, angeblich vergiftet, starb.

Neben der politischen Tätigkeit beschäftigt sich Ibn Bāǧǧa hauptsächlich mit den Naturwissenschaften und der Philosophie, aber auch mit Dichtung und Musik. Er verfasste mehrere Schriften über Logik, Physik und Metaphysik und schrieb als einer der ersten Denker im westlichen Raum der arabisch-islamischen Welt Kommentare zu den Werken des Aristoteles. In diesen Schriften hat sich aber Ibn Bāǧǧa nach der Aussage von Tjitze de Boer „kaum von al-Farabi entfernt. Auch seine physischen und metaphysischen Lehren stimmen im Allgemeinen zu den Ansichten des Meisters. Nur die Art und Weise, in der er die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes und die Stellung des Menschen in Wissenschaft und Leben darlegt, darf einiges Interesse beanspruchen.“13

Hingegen meint Mohammad ͑Abid Al-Jabri, dass Ibn Bāǧǧa einen neuen philosophischen Diskurs eingeleitet habe, der sich vom Neuplatonismus befreit und eine rationalistische Richtung eingeschlagen habe..14 Seine Einschätzung unterstrich er mit dem Hinweis auf Ibn Ṭufails Vorwort zu seinem Werk Ḥayy ibn Yaqzān, in dem es heißt: „Unter ihnen [den Zeitgenossen von Ibn Bāǧǧa] gab es keinen mit einer durchdringenderen Denkkraft, richtigeren theoretischen Einsichten und einem zuverlässigeren Blick als Ibn Bāǧǧa.“15

Sein philosophisches Hauptwerk Die Leitung des Einsamen (Tadbīr Al-Mutawahhid) galt als Legitimation der Philosophie in einer schweren Zeit, in der die traditionalistischen Rechtsgelehrten (fuqahā) immer mehr Einfluss auf die Staatsgewalten bekamen und ihre neu gewonnene Macht nutzten, um die spekulative Theologie (kalām) und die Philosophie zu unterdrücken.16 Außer dieser Schrift schrieb er eine ganze Reihe von Episteln zur Logik, Musik und Natur, die zum Teil verloren gegangen sind oder noch als Handschriften existieren. In den letzten Jahren seines Lebens hatte er weitere Traktate wie Die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen, Über das Ziel des menschlichen Lebens, Über die diesseitige und jenseitige Glückseligkeit und den Abschiedsbrief an seinen Freund Abul Hasan Al-Imām verfasst. Von diesen Schriften liegen nun drei in deutscher Sprache vor, die von Franz Schupp zum Teil übersetzt worden sind.17

Hauptthemen der Philosophie von Ibn Bāǧǧa

Mit Ibn Bāǧǧa beginnt in der Tat trotz des Einflusses aus dem Mashriq ein neuer Diskurs in der arabisch-islamischen Philosophie, der dem Individuum besondere Aufmerksamkeit einräumt und dem Menschen im Allgemeinen mehr Wert verleiht, sodass man schon von einer Anthropologie bei Ibn Bāǧǧa sprechen kann. Der Titel des Hauptwerkes Die Leitung des Einsamen (Tadbīr Al-Mutawahhid) unterstreicht diese Tendenz zur Individualität, die durch den Bezug auf die Einzelheit und Einsamkeit des Menschen im Fokus der Erkenntnis rückt.18 Aber in dieser Schrift behandelt Ibn Bāǧǧa noch andere Themen wie das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft sowie die Aufgabe des Philosophen in der Gemeinschaft und schließlich die Frage nach der „Glückseligkeit als Ziel des menschlichen Lebens“. Diese Themen werden nun im Einzelnen untersucht.

Erklärung des Leitungsbegriffs

Der Text von Tadbīr Al-Mutawahhid besteht aus drei Episteln, die sich mit Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik befassen. Im ersten Teil geht Ibn Bāǧǧa auf den Begriff Tadbīr näher ein, der mehrere Deutungen wie Leitung, Ordnung, Regelung, aber auch Lebensführung und Richtschnur19 impliziert. Er selbst betrachtet ihn unter vier Aspekten, nämlich als

▪ Regelung der Welt durch Gott; diese Handlung wird in ihrer Absolutheit erfasst.

▪ Staatsführung; diesen Vorgang hat nach Ibn Bāǧǧa bereits Platon ausführlich behandelt und es sei müßig, darauf noch einmal einzugehen.

▪ Haushaltsführung; diese gilt als Teil der Stadt- und Staatsführung und braucht deshalb nicht vereinzelt berücksichtigt zu werden.

▪ Leitung des Menschen, „sei es allein als einzelner oder mehrerer, dessen und deren Meinung weder von einer Gemeinde noch von einem Stadtstaat wahrgenommen wird.“20 Diese Art steht im Mittelpunkt der Erkenntnis und könnte wie eine Art Wissenschaft verstanden werden, die mit einem ethischen Anspruch versehen ist, nämlich der Verwirklichung der Glückseligkeit.

In diesem Rahmen verweist Ibn Bāǧǧa auf die Stellung des Menschen unter den verschiedenen Seienden der Welt und zeigt, wie dieser durch seine Handlungen, die er frei entscheidet und eigenwillig durchführt, gekennzeichnet wird: „Alles, was der Mensch freiwillig tut, ist menschliches Handeln, und jedes menschliche Handeln ist freies Handeln, d. h. es entspringt dem freien und überlegten Willen“21, schreibt er zu Beginn der Schrift Tadbīr Al-Mutawahhid. Dabei unterscheidet Ibn Bāǧǧa zwischen aktiven bzw. bewussten und reaktiven Handlungen des Menschen; Letztere teilt er mit den Tieren wie etwa die Angst oder die Furcht vor einer Gefahr oder auch die Begierde. Hingegen entspringen die aktiven vom Menschen überlegten Handlungen dem aktuellen Intellekt, der mit dem aktiven Intellekt in Verbindung steht. Solche Handlungen verleihen dem Menschen einen ethischen Charakter, der ihn als tugendhaft oder frevelhaft kennzeichnet. Alles hängt also von den Zwecken dieser Handlungen ab, ob sie physische oder geistige Ziele verfolgen. Mit den physischen Zwecken behauptet der Mensch seine Existenz in der Welt, aber erst mit den geistigen Zielen wird er tugendhaft und strebt nach Vollkommenheit. Auf dieser Stufe befindet sich der Philosoph, der, ohne seine physischen Lebensziele zu vernachlässigen, sich bemüht, bei allen Handlungen tugendhaft zu sein.22 Gerade aufgrund seines Wissens und Handelns sondert sich der Philosoph oft von der Gemeinschaft ab und wird zum „einsamen“ bzw. „fremden“ Siedler innerhalb der Gesellschaft.

Das Verhältnis des Philosophen zur Gemeinschaft

Im zweiten Teil der Epistel diskutiert Ibn Bāǧǧa in Anlehnung an Platons Politeia und Al-Fārābīs Musterstaat die verschiedenen Staatstypen der beiden Philosophen und versucht, sich von deren Idealtypen abzusetzen. Dabei dekonstruiert er die besondere Rolle des Philosophen bei der Leitung des vorzüglichen Staates und befasst sich vielmehr mit dessen Beitrag in einem unvollkommenen Staatswesen. Dabei entfaltet er Ansichten zur Ethik und Politik, die sich von beiden Philosophen unterscheiden.

Im Gegensatz zu Al-Fārābī, der in jedem vorzüglichen Staat die Existenz gewisser störender Elemente nicht ausschließt, die der Allgemeinheit schaden können, und sie Unkraut bzw. Wildwuchs (nawābit) nennt, betont Ibn Bāǧǧa, dass es solche Elemente nicht geben dürfe, genauso wie Richter oder Ärzte, sonst wäre dieser Staat nicht mehr vollkommen. Stattdessen neigt er dazu, den tugendhaften und einsamen Philosophen in einer fehlbaren Umwelt oder in einem korrupten Staat als Wildwuchs23 zu bezeichnen, weil er aufgrund seiner Haltung oft von der Mehrheit, die nicht tugendhaft handelt, abgelehnt wird. Selbst in seiner Heimat und unter seinen Nachbarn oder Gefährten fühlt sich der Philosoph oft wie ein Fremder, weil seine Ansichten meistens nicht wahrgenommen werden. Der berühmte französische Spruch „Nul n’est prophète dans son pays“, d. h. „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“ unterstreicht diese Einschätzung. Hier unternimmt Ibn Bāǧǧa eine Art „Umwertung“ des Begriffs Wildwuchs, dessen negative Verwendung bei Al-Fārābī vorkommt, und wandelt ihn in einen positiven Sinn um. Dabei erhält dieser Begriff nach der Ansicht von Montgomery Watt „eine generelle Bedeutung, wenn damit jede dissidierende Minderheit in jeder Art von sozialer Organisation gemeint ist“24, was eigentlich nicht von Ibn Bāǧǧa intendiert wird. Franz Schupp hingegen bringt ihn in die Nähe von Sokrates, „der sich vor einer Welt hütet, deren hoffnungslose Verderbtheit er begriffen hat. Er hat sich von den Begierden der Welt gelöst und widmet sich ausschließlich der Bildung der Seele und folgt dem Verstand des Herzen“25. In diesem Kontext soll der Philosoph eine therapeutische Funktion innerhalb des Gemeinwesens erfüllen und durch sein Wirken die Gemeinschaft zum tugendhaften Handeln animieren. Ibn Bāǧǧa nennt diese heilende Funktion Tibb Al-Mu ͑asharat,26 d. h. Die Heilkunst der Seelen27 oder die Therapie der Gemeinschaft.

Glückseligkeit als Telos menschlichen Lebens

Im dritten Teil seines Buches Tadbīr Al-Mutawahhid entwickelt Ibn Bāǧǧa seine metaphysische Anschauung, die sich vorwiegend auf die „geistigen Formen“ konzentriert, aus denen die Gedanken und Handlungen des Menschen hervorgehen. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen Seele und Geist, da beide im aristotelischen Sinne dasselbe meinen. So scheinen bei ihm die „geistigen Formen“ wie „stille Substanzen zu sein, die der Bewegung alles Seienden zugrunde liegen.“28 Dennoch teilt er diese Formen in vier Kategorien:

▪ Die Formen der himmlischen Körper, die in ihren Bahnen kreisen und rein von materieller Zusammensetzung sind.

▪ Der aktive Intellekt und der intellectus habitus, die ebenfalls frei von jeglicher Materie sind, jedoch mit den materialisierten Dingen in Verbindung stehen.

▪ Die allgemeinen Begriffe und Universalien, die sich auf die Dinge beziehen, aber zugleich von ihnen abstrahiert werden, wie etwa die Begriffe Baum, Pferd oder Mensch.

▪ Die in der Seele vorhandenen Gedanken, die im allgemeinen Verstand existieren und aus den jeweiligen Kräften des Intellekts wie Gedächtnis oder Einbildungskraft hervorgehen.

Wesentlich bei dieser Aufteilung ist die Trennung der ersten „geistigen Formen“ von den übrigen, die hauptsächlich mit den Gedanken und Handlungen des einzelnen Menschen zu tun haben und nicht wie bei der Emanationslehre von oben zufließen. Sie entspringen im Grunde der sinnlichen Realität und werden mithilfe des aktiven Intellekts transzendiert. Insofern vollzieht sich der Prozess der Erkenntnis von der sinnlichen Wahrnehmung über die „geistigen Formen“ bis hin zur abstrakten Anschauung. Diese intellektuelle Stufe bildet die höchste, zu der der Einzelne emporsteigt. Doch dieser erkenntnistheoretische Prozess wird nach Ibn Bāǧǧa von einem zweiten Strang der politisch-praktischen Handlungen begleitet, die der Mensch im Staatswesen zu gewährleisten hat und deren Zweck in der Erfüllung der Glückseligkeit besteht.

Hier wird deutlich, wie die Verwirklichung der Glückseligkeit sowohl durch die Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem aktiven Intellekt im Sinne eines intellektuellen Vorgangs als auch durch ethisch-praktisches Handeln erzielt werden kann. Sie bedarf insofern keiner mystischen Erfahrung, wie etwa bei der Sufimystik. Damit reagiert Ibn Bāǧǧa vor allem auf Al-Ghazālī, der behauptet, ein solcher Zustand der geistigen Vereinigung könne nur über die mystische Erfahrung erreicht werden.

Nach Mohammed ͑Abid Al-Jabri weist dieser doppelte Strang auf eine zweifache Zielsetzung hin:

Auf der einen Seite bezweckt die Leitung des Intellekts eines jeden einzelnen Menschen die Orientierung zum Streben nach Vollkommenheit, d. h. den Aufstieg bis zur höchsten Stufe des intellektuellen Lebens bzw. zur Stufe des Philosophen, der alles mit dem Blick des Verstandes erfasst; und dies ist der Zustand der ›Glückseligkeit‹ des einsamen Philosophen. Auf der anderen Seite zielt die Leitung im Endeffekt auf die Errichtung eines vollkommenen Stadtstaats, da die Leitung nicht außerhalb, sondern innerhalb des Staates vonstattengeht, und der Einzelne als politisches Wesen möchte nicht nur die Vervollkommnung seiner intellektuellen sondern auch die seiner zivilen und sozialen Fähigkeiten erzielen.29

Al-Jabri fasst diese doppelte Orientierung der Leitung auf einer Abbildung zusammen, die folgendermaßen aussieht:30

Aus dieser Abbildung geht hervor, wie die Tendenz zur Einheit des allgemeinen Intellekts ausgehend von der Leitung der einzelnen Individuen zur Glückseligkeit voranschreitet und von da aus auf der Ebene des Staates abläuft, der sich von der Stufe der Unzulänglichkeit hin zur Vollkommenheit entwickelt. Diese Tendenz kann also nicht losgelöst vom Beitrag der jeweiligen Mitglieder der Gesellschaft realisiert werden, die kraft ihres Intellekts, aber auch ihres moralischen Verhaltens an der Verwirklichung des vollkommenen Staates teilnehmen und infolgedessen an der Vervollkommnung ihrer selbst mitwirken. Dieser Ansatz lässt trotz der pessimistischen Einstellung von Ibn Bāǧǧa einen Hauch von Optimismus erkennen, indem eine Verbesserung des Staatswesens über das Handeln und die Moralität der einzelnen Mitglieder zu erwarten ist.31

Mit dieser philosophischen Betrachtung konnte Ibn Bāǧǧa einen beachtlichen Einfluss auf seine Nachfolger ausüben. Seine Wirkung zeigt sich vor allem in der Überwindung der Emanationslehre als Basis metaphysischer Erkenntnis, aber auch in Bezug auf die aristotelischen Kategorien, die eine Verbindung des menschlichen Intellekts mit dem aktiven Intellekt vorsehen. Außerdem ebnet er den Weg für eine Öffnung des Intellekts zur Erlangung der Glückseligkeit durch Wissen und nicht vermittels irgendwelcher mystischen Erfahrung. Auf dieser höchsten Ebene verwirklicht sich bei Ibn Bāǧǧa nach den Worten von Al-Jabri „die Einheit des Wissens, und durch sie die Einheit der Wissenden und folglich realisiert sich der vollkommene Staat, der Staat des Wissens und derjenige der Philosophen“32. Diesen rationalen Aspekt bringen später die beiden Philosophen Ibn Tufail und Ibn Ruschd mit deutlicher Klarheit zum Ausdruck, wenngleich etwas differenzierter sowohl in der Vorgehensweise als auch in Bezug auf den Inhalt.

Das Fortwirken von Ibn BāǧǧasDenken auf seine Nachfolger

Ein ganzes Kapitel seiner Studie über La morale d‘Avempace33 (Die Moral bei Ibn Bāǧǧa) widmet Georges Zainaty dem Einfluss des Philosophen aus Zaragoza auf seine Nachfolger, seien diese aus Al-Andalus oder dem christlichen Mittelalter und der Neuzeit. Besonders die arabischen Denker Ibn Tufail und Ibn Ruschd sowie der jüdische Philosoph Ibn Maimūn (lateinisch Maimonides genannt) werden in den Mittelpunkt dieser Untersuchung gestellt. Was das christliche Mittelalter und die Neuzeit anbetrifft, so nennt Zainaty Albert den Großen, Thomas von Aquin und Meister Eckard, die trotz ihrer Kritik an Ibn Bāǧǧas Theorie der Einheit der Seelen nicht weniger von seinen Ideen fasziniert waren, genauso wie später Spinoza.

Ibn Tufail und Ibn Ruschd alsdirekte Nachfolger Ibn Bāǧǧas

Bei seiner Beurteilung des Wirkens von Ibn Bāǧǧas Denken auf Ibn Tufail stützt sich Zainaty hauptsächlich auf das Vorwort des Autors des Romans Ḥayy ibn Yaqẓān, das als einziges Werk von Ibn Tufail überliefert wurde. Darin sprach dieser öfters von Ibn Bāǧǧa und erklärt:

Unter ihnen (den Zeitgenossen) gab es keinen mit einer durchdringenden Denkkraft, richtigeren theoretischen Einsichten und einem zuverlässigeren Blick als Ibn Bāǧǧa; doch er war so sehr von weltlichen Belangen eingenommen, daß ihn der Tod dahinraffte, bevor seine ganzen Vorräte an Wissen zu Tage treten und die verborgenen Kostbarkeiten seiner Weisheit allgemein bekannt werden konnten.34

Anhand dieser Aussage wird deutlich, wie sehr Ibn Tufail das Denken von Ibn Bāǧǧa schätzte, zugleich bedauerte er, dass sein philosophischer Vorgänger aufgrund seiner Beschäftigung mit weltlichen Angelegenheiten kaum Zeit hatte, sein Wissen zu vertiefen. Deshalb blieben seine Schriften meistens unvollendet, wie z. B. „sein Buch überdie Seele oder Die Richtlinien des Einsiedlers sowie seine Schriften zur Logik und Physik.“35 Ibn Tufail ging so weit zu behaupten, dass die wichtigsten Gedanken von Ibn Bāǧǧa leider nicht das Licht der Welt erblickt haben. Doch was bisher von seinen Werken überliefert wurde, widerlegt eindeutig diese Behauptung und zeigt, dass Ibn Tufail möglicherweise nicht alle Schriften von Ibn Bāǧǧa rezipiert hat. Was aber ins Auge fällt, sind die Parallelen zwischen dem Buch Tadbīr Al-Mutawahhid und Ḥayy ibn Yaqẓān, die Zainaty hervorzuheben versucht.

Schon auf der Formalebene zeigt sich diese Parallele am Anfang der beiden Werke in der Ansprache eines fiktiven Lesers. Bei Ibn Bāǧǧa findet sich diese Ansprache sowohl im Abschiedsbrief als auch im Traktat Über die Verbindung des Menschen mit dem Intellekt.36 Im Abschiedsbrief war der Adressat von Ibn Bāǧǧa sein ehemaliger Schüler und Freund Abūl-Hasan ibn Al-Imām. Allerdings fehlt eine solche Ansprache in seinem Hauptwerk Die Richtschnur des Einsamen, worauf Zainaty nicht hingewiesen hat. Ibn Tufail hingegen verwendet denselben Vorgang einfach anonym im Vorwort von Ḥayy ibn Yaqẓān.

Inhaltlich gesehen, tauchen die Parallelen nach der Ansicht von Zainaty in der Ähnlichkeit der Personen beim Einsamen von Ibn Bāǧǧa und Ḥayy von Ibn Tufail auf der spirituellen Ebene auf.37 Beide Denker setzten ihre Protagonisten bei der Suche nach absoluter Erkenntnis und ihrem Streben nach Glückseligkeit in einem unwirtlichen bzw. menschenleeren Raum aus: Ibn Bāǧǧa wählte für den Philosophen eher eine innere Einsamkeit, während Ibn Tufail seinen Ḥayy auf einer menschenleeren Insel aussetzt, auf der er keinen äußeren Einflüssen ausgesetzt ist. Was beide hier am meisten beschäftigt, war die Frage: Wie kann der Mensch eine Verbindung mit dem Intellekt erkenntnistheoretisch erreichen und gelingt eine solche Vereinigung überhaupt?

Um dieses Problem zu lösen, bediente sich Ibn Tufail der Terminologie von Ibn Bāǧǧa, verwendete sie aber auch im Sinne der Mystiker, denen er näher stand als Ibn Bāǧǧa, denn für ihn können Mystiker wie Al-Ghazālī genauso die höchste Stufe der Glückseligkeit erreichen wie Ḥayy durch die Erkenntnis der Vernunft.38 Er rechtfertigte diesen Standpunkt mit der Aussage von Al-Ghazālī am Schluss der Waagschale des Handelns, wonach „wer nicht zweifelt, der überlegt nicht; wer nicht überlegt, der erlangt keine Einsicht, und wer keine Einsicht erlangt, der verharrt in Blindheit und Verwirrung.“39 Insofern bietet der Zweifel als Erkenntnismethode den Weg für die Suche nach der Wahrheit und darüber hinaus die Möglichkeit für das Streben nach der Vereinigung mit dem Intellekt. Bei Ibn Bāǧǧa hingegen spielt die natürliche Veranlagung des Einzelnen (al-fiṭra al-͑ulyā) bei der Erkenntnis eine bestimmende Rolle. Auf dieser Stufe treffen sich der Einsiedler von Ibn Bāǧǧa und Ḥayy von Ibn Tufail.

Zuletzt erwähnt Zainaty den Einfluss Ibn Bāǧǧas auf die Ethik von Ibn Tufail, die Ḥayy in seiner Einsamkeit auf der Insel entwickelt hat.40 Diese lässt sich auf drei Ebenen feststellen: erstens im Rahmen seines täglichen Handelns und der Beschäftigung mit seinem Körper. Dabei geht es um die Perfektion der körperlichen Form durch Nahrung und Kleidung. Die zweite Ebene umfasst die Handlungen des Menschen im Hinblick auf seine moralischen Werte. Diese bilden die Perfektion der geistigen Form. Zum Schluss kommen die Handlungen zum Tragen, die zur intellektuellen Form des Menschen beisteuern. Es sind die Handlungen, mit denen der Mensch seine Essenz als göttliche Wesenheit erfasst. All diese Schritte, die zur Entfaltung der Ethik bei Ibn Tufail beigetragen haben, erinnern nach der Aussage von Zainaty im Grunde an die jeweiligen Stufen der Ethik von Ibn Bāǧǧa. Deshalb kann man schlussfolgern, dass Ibn Tufail sie nur expliziter formuliert, aber nichts Neues hinzugefügt hat.41

Was den Einfluss von Ibn Bāǧǧa auf Ibn Ruschd angeht, so meint Zainaty, dass der Philosoph aus Cordoba denselben rationalen Weg des Wissens wie sein Vorgänger aus Zaragoza beschritten hat. Beide verbindet dieselbe kritische Haltung gegenüber Al-Ghazālī bei seiner Widerlegung der Philosophen.42 Zainaty fügt hinzu, dass Ibn Ruschd „genauso wie Ibn Bāǧǧa ein großer Verteidiger der Freiheit des Denkens [sei]: sein ganzes Buch über die Harmonie zwischen der Religion und der Philosophie ist eine Apologie für das Recht derjenigen, die in der Kunst der Interpretation versiert und fähig sind, den tieferen und verborgenen Sinn des Textes des Korans zu verstehen, der der breiten Masse unzugänglich bleibt.“43

Mit dieser Haltung folgt Ibn Ruschd seinem Vorgänger und ahmt ihn nach, was besonders für seine Kommentare zu den Werken des Aristoteles gilt. So legt er z. B. im Kommentar De anima, Über die Psyche, eine ähnliche Erkenntnistheorie vor wie die von Ibn Bāǧǧa in dessen Traktat Über die Verbindung des Intellektes mit dem Menschen. Darin unterscheidet er drei Stufen der Erkenntnis44, nämlich:

▪ die Stufe der Massen, die den Bereich des Sensiblen und der Imagination nicht überschreitet,

▪ die Stufe der Gelehrten oder theoretischen Intelligiblen und

▪ die Stufe der Intelligiblen, die von jeder Form von Materie getrennt sind und keinen Gegenstand haben.