Adam und Übel - Gillian Roberts - E-Book

Adam und Übel E-Book

Gillian Roberts

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Beschreibung

Amanda Pepper, Lehrerin und Detektivin aus Leidenschaft, hat allen Grund, sich um ihren Schüler Adam Sorgen zu machen. Er verhält sich immer merkwürdiger und kapselt sich ab. Als kurz darauf eine Frau ermordet wird und Adam spurlos verschwindet, wird er für die Polizei zum Hauptverdächtigen. Doch nicht für Amanda, die alles daran setzt, seine Unschuld zu beweisen – auch wenn sie dabei selbst in die Schusslinie eines skrupellosen Verbrechers gerät … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gillian Roberts

Adam und Übel

Ein Amanda-Pepper-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber

FISCHER Digital

Inhalt

Dieses Buch ist allen [...]12345678910111213141516171819202122

Dieses Buch ist allen Bibliothekaren gewidmet, die mein Leben so sehr bereichert haben, besonders dem wunderbaren Personal der Free Library Of Philadelphia: William Lang, Karen Lightner, Jim O’Donnell, J. Randall Rosensteel und Connie King von der Abteilung für seltene Bücher. Euch allen gebührt meine ewige Dankbarkeit für euer Wissen, eure Erfahrung – und für eure Geduld und Verständnis; alles Eigenschaften, die mir völlig fehlen; am meisten aber danke ich Bernard Pasqualini, Inspiration und Rettungsanker, der nicht nur vorschlug, daß ich (fiktives) Ungemach in der Bibliothek anrichte, sondern danach auch möglich machte, daß ich es mit seiner geduldigen, perfekten und persönlichen Unterstützung bei meinen Recherchen tun konnte.

1

Merkwürdig ist keine nützliche Definition, wenn es um Halbwüchsige geht. Es ist schwer zu unterscheiden zwischen einem Teenager mit Problemen und einem, dessen einziges Problem darin besteht, dass er ein Teenager ist. Eine Englischlehrerin kann unmöglich wissen, ob mürrische Verschlossenheit ein Anzeichen von Depression ist, das Behandlung erforderlich macht, oder nur ein Anfall von Ich-möchte-sterben-Kummer, weil die Schulmannschaft ein Spiel verloren hat.

Man erwartet von mir, dass ich Sprachunterricht erteile und nicht, dass ich meine Schüler einer Psychoanalyse unterziehe. Außerdem spiele ich in ihrem Leben und Denken nur eine untergeordnete Rolle. Ein Querschnitt durch das Gehirn eines Teenagers zeigt, dass vierundfünfzig Prozent dieses Organs damit beschäftigt sind, den Hormonspiegel zu regulieren, einundzwanzig Prozent sind mit der Analyse ihrer Stimmungsumschwünge beschäftigt, und zehn Prozent befassen sich mit Überlegungen wie: welche Musik sie unbedingt brauchen, bei welchen Filmen sie sterben würden, wenn sie sie nicht ansehen, und welche Kleidungsstücke alle anderen haben, aber sie nicht. Weitere acht Prozent diskutieren, wie die Zeit nach der Schule totzuschlagen ist; vier Prozent kartographieren, wer sie so angesehen oder angesprochen hat, wie sie es sich wünschen, oder wer nicht; zwei Prozent kritisieren Leben und Garderobe ihrer Eltern und aller, die in Zeitschriften wie People oder Entertainment Weekly abgebildet sind. Das verbleibende eine Prozent befasst sich mit den schulischen Fragen, die ihnen gerade wichtig erscheinen.

Diese Prozentzahlen schwanken unter dem Druck der Ereignisse des Lebens, etwa wenn sie an einem Abschlussball teilnehmen, am College aufgenommen werden oder einen Pickel bekommen. Das macht aber im großen und ganzen das Gehirn eines Halbwüchsigen aus, und für mich und mein Studienfach bleibt da herzlich wenig Platz. Ich stehe außerhalb, rudere mit den Armen wie ein Fluglotse und versuche, meinen Lehrstoff in das bisschen Platz zu quetschen, das mir gerade zur Verfügung steht. Sie hören gar nicht zu und sehen in mir nur ein zunehmend alterndes Ärgernis mit zu auffälliger Haartracht (zu lang, zu braun), langweiliger Kleidung, einem (soweit ich das mitbekomme) jämmerlichen Sinn für Humor und einer Liebe zum Leben, die sie ärgert, weil sie den Status quo nicht verstehen. Ich auch nicht, aber ich kann damit leben.

Es ist ernüchternd, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, und es bleibt auch nicht viel Zeit oder Raum für Meditationen über die geistige Gesundheit der Klasse. So ist das immer gewesen.

Bis vor kurzem, als es noch schlimmer wurde. Die Kinder sind heute nicht mehr so, wie sie einmal waren, nämlich vorhersehbar, sondern auf tödliche Weise verschroben. Als wir gerade angefangen hatten, uns zu entspannen, uns anzupassen, auf die Erklärungen der Experten zu hören und die Eigenheiten der Teenager zu akzeptieren, haben sie noch einen draufgesetzt. Geschichten über Teenager, die ihren Launen Ausdruck verliehen, indem sie Klassenkameraden, Lehrer und alle, die sie sonst noch störten, über den Haufen ballerten, machten Schlagzeilen.

In jüngster Zeit muss ich oft über ihre Lehrer nachdenken. Habe Mitgefühl mit ihnen. Ich wünsche mir, ich hätte mit ihnen reden können – bevor ihre Schüler sie umbrachten. Ich frage mich, ob es mein Schicksal ist, wie sie zu enden.

In einer Schule voller Schüler mit Anpassungsproblemen über diese Schlagzeilen nachzudenken, ist etwa so, als würde man auf einer Erdbebenspalte leben. Man kennt die Gefahr, aber wenn man zu oft darüber nachdenkt, verliert man den Verstand, und diese Aussicht ist nicht weniger erschreckend. Dennoch entgeht einem die seismische Aktivität nicht, wenn man geistig normal ist, und man bemerkt, wie extrem die Beben in den Klassenzimmern geworden sind.

Adam Evans erreichte die Zehn auf meiner Richterskala. Ich hoffte, dass meine Maschine – nicht seine – eine Fehlfunktion hatte, glaubte es aber nicht.

Seinetwegen fürchtete ich, dass ich bei Teenagern generell zuviel des Guten getan hatte. Aber ob dem so war oder nicht, Adam Evans war ein Rätsel, das ich nicht lösen konnte, und er war das ganze Schuljahr über ein Anlass zur Sorge für mich. Wenn es um ihn ging, war ich meiner Sache nie sicher. Ich konnte nie zu meiner eigenen Zufriedenheit bestimmen, ob unser Problem seines oder meines war.

Jetzt, acht Monate nachdem Adam in seinem Abschlussjahr in meine Klasse gekommen war, tappte ich immer noch im Dunkeln. Ich wusste nur eines mit Sicherheit, dass er eine erstklassige Nervensäge war. An der Philly Prep gab es einen hohen Prozentsatz an erstklassigen – und zweitklassigen – Nervensägen. Sie sind gewissermaßen insofern unsere Spezialität, als wir uns an jene (hinreichend) jungen Leuten wenden, die in größeren, strenger reglementierten Schulen nicht zurechtkommen. Unsere Aufgabe ist es, das Licht in der geistigen Dunkelheit zu entzünden.

Das versuchte ich meinen Lieben und Teuren eines Sonntagnachmittags Ende April zu erklären. Meine Schwester Beth, ihr Mann Sam und die beiden Kinder hatten auf dem Weg zu einer Party in der Nähe einen Abstecher zu mir gemacht. Das war in keiner Weise ein typisches Ereignis. Beth und Sam waren eingefleischte Vorstädter. Sam fuhr jeden Tag mit dem Paoli Local in die Stadt zu seiner Anwaltskanzlei, aber danach so schnell es ging wieder hinaus nach Gladwynne. Und Beth tat immer so, als wäre ein Ausflug in die Stadt mit einer Safari ohne Führer vergleichbar. Daher kam diesem Besuch der Status eines Großereignisses zu. Wir tranken Kaffee und brachten uns auf den neuesten Stand.

Ich sprach vom Unterrichten und meinen wachsenden Zweifeln. Ich sprach von Adam. Ich wollte Verständnis, wollte Mitgefühl. In letzter Zeit wollte ich häufig aussteigen. »Ich habe Angst um ihn«, sagte ich. »Er scheint sich nicht völlig unter Kontrolle zu haben. Gestern war ich sicher, er würde jemanden schlagen. Ich musste ihn festhalten. Und dann ist er ausgerastet. Tat so, als wäre es ein Verbrechen, ihn zu berühren.« Beth sah erschrocken drein – ihre Vorurteile gegenüber Leuten, die in der Stadt wohnten, wurden bestätigt. Ich schüttelte den Kopf. »Bei mir hört es sich schlimmer an, als es war. Er hat in dem Moment aufgehört, als ich ihn am Arm berührt habe. Er mag es nicht, angefasst zu werden. Das gehört zum Abnormalen an ihm. Wie auch immer, ich musste nicht mit ihm ringen, er hat dem anderen Kind nichts getan, aber seine Reaktion sowohl dem anderen Jungen als auch mir gegenüber war reichlich übertrieben. Er tickt nicht richtig. Ich kann es nicht erklären, mache mir aber Sorgen, was er anderen antun könnte – und ich mache mir Sorgen, was er sich selbst antun könnte.«

Vom oberen Ende einer Leiter grunzte C.K. Mackenzie und bekundete damit, dass er zuhörte. Natürlich hatte er das alles schon gehört, daher galt seine wahre Aufmerksamkeit dem Gemälde, das er aufhing. Mein Schwager half ihm bei diesem Unterfangen, indem er daneben stand, in einem J.-Crew-Katalog las und bereit war, falls erforderlich ein Werkzeug hinaufzureichen. Männerfreundschaften. Sie sahen einander weder an noch kommunizierten sie. Sie waren beide sehr glücklich.

Ich zog Adams Aufsatz aus dem Stapel auf dem Eichentisch. Immer sind Arbeiten da, die zensiert werden müssen. Auch das wurde allmählich langweilig. »Sag mir, dass das nicht sonderbar ist. Zitat: ›Ich werde lernen, in Harmonie mit meinen Follikeln zu singen.‹ Zitat Ende.«

»Was wirst du?« Mackenzie drehte sich um und geriet ins Schwanken. Sam ließ den J.-Crew-Katalog fallen und eilte ihm zu Hilfe, indem er die Leiter packte und sie stützte. Die Frauen gaben erschrockene Laute von sich, die Männer beschwichtigende, die zeigen sollten, dass sie alles unter Kontrolle hatten.

»Nicht ich. Adam.« Ich wiederholte den Satz. Mackenzie schüttelte den Kopf, was auch anderes. »Ich habe um ein Gespräch mit seinen Eltern gebeten«, sagte ich. »In letzter Zeit hat er zu viele seltsame Anwandlungen wie diese. Er sollte untersucht werden, Hilfe bekommen, bevor … ich weiß auch nicht, was. Er ist immer abwesend, kann sich nicht konzentrieren, reagiert bizarr, indem er bei unpassenden Gelegenheiten lacht oder gar keine Gefühlsregung zeigt …« Ich verstummte langsam, weil mein Vertrauen in meine eigene Meinung nicht ausreichte. Ich hatte den ausgeprägten Eindruck, dass Adam seelische und emotionale Probleme hatte, aber er hatte bei all seinen Prüfungen gut abgeschnitten, dieses Teil passte so wenig zum Rest des Puzzles, dass ich befürchtete, ich könnte womöglich zu ungerecht zu dem Jungen sein.

»Es muss schwierig sein, wenn man versucht, das Schreiben zu unterrichten«, sagte Sam auf seine ruhige, ultrabedächtige Weise.

»Es ist unmöglich.« Logisch zu schreiben heißt, logisch zu denken – und wie sollte man das unterrichten können? Aber – da wir von logischem Denken sprechen – kann man es nicht wenigstens versuchen? »Also, was meint ihr? Ist dieser Follikel-Satz als Schlussfolgerung so verschroben, wie ich mir einbilde?«

»Er ist, ähem, interessant. Echt. Ich verstehe nichts von Poesie, aber mir hat er irgendwie gefallen«, sagte Beth.

»Phantasievoll«, meinte Sam.

»Ausdrucksstark«, sagte Mackenzie. »Singende Follikel dürften sich besser anhören als ein Walkman.«

Die Kinder in ihren bunten Plastikschürzen, mit denen ich sie überrascht hatte, spielten weiter mit ihrer Knetmasse, gleichfalls ein Geschenk von Tante Mandy. Sie steuerten nichts zur Diskussion über Adam Evans’ Follikel bei.

Ein weiterer Grund, warum ich über die Maßen gern Tante bin. Ich kann aus geringem Grund großzügig sein, kurzfristig liebevoll und fürsorglich und mich den Rest der Zeit einfach dünne machen. Und sie lassen mir keine Arbeiten zum Korrigieren hier.

»Wirklich?«, fragte ich. »Interessant? Phantasievoll? Ausdrucksstark? Das fällt euch dazu ein?« Vielleicht erlebte Adam gerade einen kreativen Höhenflug, und in diesem Fall sollte ich ihn vielleicht ermutigen, auch wenn ich persönlich der Meinung war, dass es auf eine Bauchlandung hinauslief.

Meine Schwester sah auf die Uhr. »Räumen wir auf«, sagte sie. »Die Party hat schon angefangen.«

»Warum gehst du nicht schon vor?«, schlug Sam vor. »Die Kinder und ich werden dich in etwa einer Stunde abholen. Ich bleibe und helfe …«

Weder er noch Beth wissen, wie sie meine bessere Hälfte nennen sollen. Ich nenne ihn C.K., aber sie ertragen nicht, dass er auf zwei Initialen beschränkt bleiben sollte. »Nennt ihn Chico«, sagte ich.

»Falsch«, meinte Mackenzie.

»Ich meinte Czeslaw. Ich verwechsle die beiden immer.«

Derweil warf Beth ihrem Mann verdrossene Blicke zu, aber der beachtete sie gar nicht. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich. Sie hatte eingangs schon versucht, mich auf die Frau anzutörnen, die die Party schmiss, eine gewisse Emily Buttonwood, eine in Scheidung lebende, gerade erst wieder ins Stadtzentrum gezogene Freundin von ihr. Sie bestand unerbittlich darauf, dass wir uns einfach kennen lernen und neue beste Freundinnen werden mussten. Ich lenkte das Gespräch wieder auf Adam und hoffte, das würde in ausreichendem Maße belegen, wie sehr mein Leben schon im Chaos versank, auch ohne dass ich Stadtführerin für eine weitere desorientierte ehemalige Vorortbewohnerin wurde. Den Gefallen hatte ich Beth schon zweimal getan, jedesmal mit zeitraubenden, katastrophalen Resultaten.

»Überleg es dir noch einmal, Mandy, und komm mit mir«, sagte Beth. »Ihr werdet einander mögen. Ihr habt soviel gemeinsam – sie ist eine Büchernärrin, genau wie du. Tatsächlich ist sie so fertig mit den Menschen, dass sie neuerdings nur noch Bücher liebt – mit wenigen Ausnahmen. Sie braucht Menschen wie dich. Einzigartige, interessante Menschen.«

Schmeichelnd, aber kein Treffer. Eine deprimierte, verbitterte Misanthropin als neue Freundin. Genau das, was mir zu meinem Glück noch fehlte. »Natürlich würde ich gerne«, log ich. »Aber ich muss diese Aufsätze korrigieren, einen Test vorbereiten und …«

Beth sah niedergeschlagen aus. Dann strahlte sie wieder. »Das hätte ich fast vergessen. Emmy wäre perfekt für deine Frauenbüchergruppe. Ich habe ihr davon erzählt, und sie freut sich wirklich darauf. Rufst du sie an? Oder soll ich ihr deine Nummer geben?«

»Sie haben gerade beschlossen, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Die Gruppe wurde zu groß und unübersichtlich. Keine Zeit mehr, dass sich jeder zu Wort melden konnte.« Das stimmte alles, und trotzdem hatte ich das Gefühl, als hätte ich Emily Buttonwood in der Stunde ihrer Not im Stich gelassen, ohne sie je kennen gelernt zu haben. Irgendwie stand ich jetzt in ihrer Schuld. Ich weiß nicht, wie es meine Schwester so leicht geschafft hatte, mir Schuldgefühle wegen einer Fremden einzuflößen, aber sie besaß diese Gabe. Sie hat alle nervtötenden schlechten Eigenschaften meiner Mutter geerbt. Sie hätten beide Aufsichtsratsvorsitzende großer Firmen werden sollen. Stattdessen konzentrieren sie ihre immense Macht auf Leute, die zur Räson gebracht werden müssen: Kinder, Schüler und mich.

Ich war nicht gerade erpicht darauf, eine Allianz mit noch einer von Beths entwurzelten Freundinnen einzugehen. Eigentlich mit gar niemandem. Ich steckte ohnehin schon bis zum Hals in Zuviel, und meine Phantasien kreisten momentan um Stille und Einsamkeit. Ich wollte ein Leben wie Georgia O’Keeffe, solange kein künstlerisches Talent dafür erforderlich war. Wenige Besitztümer und noch weniger Besucher in meinem schlichten weißen Zimmer. Keine Teenager. Keine Schwestern mit langweiligen, traurigen und hilfsbedürftigen Freundinnen.

»Ich versuche es«, sagte ich. »Ich werde die Gruppe bei unserem nächsten Treffen fragen.« Sie würden böse auf mich sein – das Thema war bei der letzten Sitzung abgehakt worden. Ich konnte nur hoffen, dass Beth ihre umgezogene Freundin schnell vergaß. Aus den Augen, und so weiter.

»Was haltet ihr von unserer neuen Aussicht?«, fragte Mackenzie. In der Wand schien nun ein Scheunenfenster zu sein, durch das wir ein Panorama von Feldern mit grasenden Kühen sahen, letztere ein paar Zentimeter über der gemalten Wiese schwebend. Wir Großstädter, die mehrere Stockwerke über der Straße hausten, fanden die schwebenden Wiederkäuer komisch. Ich für meinen Teil brauchte dringend etwas Komisches.

Außerdem verdeckte das Bild einen großen Teil der Wand. Am Preis pro Quadratzentimeter gemessen, war es ein Schnäppchen, wie meine Mutter gesagt hätte, wäre sie nicht sicher aufgehoben mehrere Staaten südlich in Florida gewesen.

»Ich finde es hängt gerade«, meinte Sam. Ich war nicht so sicher.

Beth machte sich an ihren Kindern zu schaffen. »Dir ist klar, dass du die Eltern des Jungen nervös machen wirst?«, sagte sie zu mir.

»Adams? Wegen des Termins?«

»Ich wäre nervös. Und wenn es stimmt, wären sie nicht die ersten, denen etwas auffallen müsste?«

An dieser Stelle überraschte mich der schweigsame Sam, indem er ungebeten seinen Senf dazu gab. »Pass auf, was du tust«, sagte er. »Eltern wollen so etwas nicht hören, und eingedenk der Tatsache, dass du keine psychologische Ausbildung hast …«

»Ich möchte, dass sie ihn untersuchen lassen. Damit er Hilfe bekommt, wenn er sie braucht. Es ist nicht so, dass ich ihnen etwas vorwerfen oder sie beleidigen würde.«

»Seine Eltern sehen es vielleicht nicht so wie du, mehr wollte ich damit nicht sagen. Überleg es dir zweimal.«

Wir sollten alle auf Sams Rat hören, der stets weise und stets konservativ war und für den er anderen verdammt viel Kohle in Rechnung stellte, aber mir ging er auf die Nerven. Was war aus dem Prinzip geworden, ein anständiger Mensch zu sein? Liebe deinen Nächsten. Gutes Samaritertum.

»Wann sollten die Leute eingreifen?«, fragte ich. »An welchem Punkt sollte jemand den Kopf ausstrecken und versuchen, zu helfen? Sollten wir nicht versuchen, Schlimmes zu verhindern? Oder sollen wir warten, bis ein Fernsehteam eintrifft, damit wir sagen können: ›Mir war aufgefallen, dass er sich komisch benahm, aber …‹ Ich habe in erster Linie Angst um Adam. Kennt ihr die Statistiken über Selbstmorde unter Teenagern?«

»Mandy!«, sagte Beth mit einem ängstlichen Blick auf ihre Kinder. »Sam, ich finde, wir sollten zu Emily gehen.«

Ich hatte den Eindruck, als wäre Sam ganz eindeutig nicht dieser Meinung gewesen, aber nachdem die Kinder herausgeputzt worden und viele Abschiedsgrüße und eine weitere Ermahnung von Sam ausgesprochen worden waren, dass ich mich nicht in das Leben eines Kindes einmischen sollte, gingen sie zu ihrer Party.

Auch nachdem er die Leiter weggestellt hatte, keifte Mackenzie wegen seiner Arbeit herum. »Bin nicht sicher, ob es gerade hängt«, sagte er. Ich wies ihn darauf hin, dass wir im ältesten Teil der Stadt lebten. In einer ehemaligen Fabrik. Die Böden waren nicht gerade, die Wände ebenso wenig, und es gab wahrscheinlich nirgendwo einen Neunzig-Grad-Winkel, was also sollte man bei einem Bild in der Mitte einer langen, ungeraden Wand sagen?

»Dann ein Anschein von Geradlinigkeit«, sagte er.

So etwas wie ein Anschein von Geisteskrankheit. »Mir ist gleich, was Sam gesagt hat«, sagte ich zu Mackenzie. »Wenn ich wegen des Jungen nicht Alarm schlage, wer dann?« Ich wollte mir selbst Mut zusprechen, denn wenn meine Schwester und mein Schwager Recht hatten, würde ich eine Menge Ungemach provozieren, und um ehrlich zu sein, konnte ich immer noch nicht sagen, ob Adams Aufsatz brillante Formulierungen enthielt, die sich meinem kleinkarierten Verständnis entzogen, oder Irrsinn. Oder ob ich so ein mürrischer, ausgebrannter Fall geworden war, dass ich Ärger förmlich suchte und Adam Evans zum Sündenbock machte.

»Erzähl mir von dem Jungen.« Mackenzie sah zur Wand, neigte den Kopf nach links und versuchte offenbar immer noch abzuschätzen, ob das Bild gerade hing oder nicht.

Und da hatten wir das Problem. Ich hätte ihm nichts von Adam erzählen müssen. Und hatte es bereits getan. Viel. Er hörte nicht zu. Er verteilte seine Aufmerksamkeit und stellte mir fast ebenso wenig Raum in seinem Hirn zur Verfügung wie meine Schüler. Hörte er mir jetzt zu, während er blinzelte und merkwürdige Posen einnahm und vor der Wand auf und ab ging? Vielleicht waren meine Geschichten ein wenig zu grausam für Mackenzies tägliche Diät. Aber verglichen mit einem Detective von der Mordkommission mussten meine Abweichungen von der Norm bestenfalls amüsant wirken.

Die von Mackenzie sind entweder tot oder haben sich versteckt. Meine sind direkt vor meiner Nase.

»Zunächst einmal riecht er«, sagte ich. »Weißt du noch? Ich habe es dir erzählt. Ich glaube, er wäscht sich nicht mehr. Gar nicht. Seit ein paar Monaten. Trägt immer nur Schwarz – alles in Schwarz, einschließlich eines langen Schals, egal bei welchem Wetter –, daher sieht man den Dreck nicht, aber man riecht ihn. Sein Haar ist fettig, und manchmal hält man es kaum in seiner Nähe aus.« Mir missfiel, wie oberflächlich, mitleidslos und engstirnig ich mich anhörte, und ich kannte sämtliche Gegenargumente. Ein siebzehnjähriger Junge sucht nach Selbstbestätigung, und die beste Methode dafür ist, seinen Alten den letzten Nerv zu rauben. Wenn zu Hause Sauberkeit geschätzt wird, wäre schmutzig sein die beste Methode. Wenn niemand Einwände gegen langes oder kurzes oder kahlrasiertes Haar hat, wie wäre es dann mit fettigem, strähnigem, stinkendem? Das alles wusste ich, und dennoch blieb das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. »Er benimmt sich … unangemessen. Ich kann es nicht erklären.«

»Schlecht?«

»Eigentlich nicht. Nicht so, wie du meinst.«

»Aufbrausend?«

»Manchmal. Aber mehr … schräg.«

»Ist dir je der Gedanke gekommen, dass … nun, es ist schwer in Worte zu kleiden, aber vielleicht treibt dich dieser Junge zur Weißglut, aus welchen Gründen auch immer, drückt Knöpfe, von denen du gar nichts weißt, und du reagierst überempfindlich auf Sachen, die dich bei anderen nicht stören würden? Hast du schon eimmal darüber nachgedacht, du könntest … oh, wie heißt der Fachausdruck dafür …« Er sah zur Decke, als suchte er nach Inspiration. »Ah, ja, auf ihm herumhacken?«

Wie konnte er es wagen? Anzudeuten, dass ich – eine erfahrene, halb-idealistische, unterbezahlte, überarbeitete Lehrerin, die Heldin der Unterprivilegierten – nicht fair spielte? Dass ich trotz allem, was ich wusste und gelernt hatte und woran ich glaubte, Vorurteile gegen einen meiner eigenen Schüler haben könnte?

Natürlich war es so. Aber es war trotzdem unhöflich, es mir ins Gesicht zu sagen. »Ich habe einen Artikel über den Jungen gelesen, der diese Leute in der Klinik getötet hat. Er war schizophren, nicht diagnostiziert, und sein Verhalten die ganze Zeit davor – das hörte sich nach Adam Evans an. Isoliert, introvertiert, ungepflegt …«

»He«, sagte Mackenzie leise, drehte dem Gemälde endlich den Rücken zu und setzte sich mir und dem Aufsatzstapel gegenüber an den Eichentisch. »Diese Beschreibung trifft auf die Hälfte der Weltbevölkerung zu, einschließlich Supermodels und Kinder im Fernsehen. Es ist doch so, du bist nicht befähigt, eine Diagnose …«

»Weiß ich. Das sage ich mir auch immer wieder. Darum möchte ich ja, dass ihn jemand anders untersucht. Jemand, der weiß, wie man das macht.«

»Denken seine anderen Lehrer auch so?«

Sein Blick war wie blaue Flammen, die sich bis in alle Ewigkeit spiegelten, und im Moment gefiel mir gar nicht, dass ich Gegenstand seiner Aufmerksamkeit war. »Ist das ein Verhör?«, fuhr ich ihn an. Er sah überrascht, verwirrt und besorgt aus, alles in einem einzigen blauen Blinzeln. Und wenn schon. Ich hörte mich geistig instabiler an als es Adam Evans je gewesen war. »Okay, tut mir Leid. Er hat eine Menge Fächer sausen lassen, und ja, er wird als ein Problem betrachtet.«

»Was für ein Problem? Akademisch, oder als ein potentiell so gefährliches wie du …« Er suchte nach einem gefahrlosen Wort. Ich hatte ihn nervös gemacht, und jetzt wählten wir unsere Worte behutsamer, um einen regelrechten Streit zu verhindern. Ich schämte mich, war aber entschlossen, keinen Zentimeter nachzugeben. »Wie du … fürchtest?«

Gute Wahl. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, was ich sehe. Ich habe mit der Schulpsychologin gesprochen, aber sonst bis jetzt mit keinem. Ich bin sicher, alle machen sich Sorgen – wie sollte es anders sein? Bei den vielen Berichten über Kinder, die in der Schule durchdrehen.«

»Spricht er davon, etwas anzustellen, etwas Dummes zu tun, Menschen zu töten, wie man es von diesen Kindern behauptet?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Singende Haarfollikel sind nicht das furchteinflößendste Bild, das ich mir vorstellen kann.« Mackenzies Miene war freundlich, teilnahmsvoll und … mitleidig?

Ich wusste, was er sah – eine alte Schachtel, eine altjüngferliche Schulmadame wie aus böswilligen Karikaturen und den Klassenzimmern seiner Jugend. Die Lehrerin, die entschieden hatte, dass er dumm war und ihn wie einen Störenfried behandelte, weil die Mackenzies eine kinderreiche Familie waren, schwer arbeiten mussten und er geflickte Kleider trug.

Ich war zu einem bösen Klischee geworden. Irgendwo zwischen Weihnachtsferien und Frühlingsanfang hatte ich unter dem Druck von Nebensächlichkeiten und dem täglichen Unterrichten – plus der zusätzlichen Belastung durch Empfehlungsschreiben an Colleges für Schüler, die es nicht verdienten, von diesen Colleges angenommen zu werden – mein Anpassungsvermögen, meine Fähigkeit, mein Verständnis für verschrobene Teenager sowie meine ganze Perspektive verloren. Und die Schlagzeilen über mordende Teenager hatten das alles nicht gerade verbessert.

»Singende Follikel wären wie unter der Kopfhaut eingepflanzte Kabel«, sagte er. »Toller Sound.«

Ich vergewisserte mich, ob er scherzte, aber er meinte es ernst. Angesichts seiner Arbeit sollte man meinen, dass Mackenzie derjenige ist, der an der Menschheit verzweifelt. Aber er hat ein Gleichgewicht gefunden, das mir durch und durch fehlt.

»Wenn Adam sich als exzentrisches Genie entpuppen sollte, wird es Zeit, dass er mit einer Entdeckung oder einem großen Kunstwerk daherkommt, das den Gestank wert ist.« Sogar seine Handschrift erboste mich, weil er nicht auf den Linien blieb, die Richtung änderte, Krakel kritzelte und es sogar mit einem Kugelschreiber schaffte, Kleckse zustande zu bringen. »Ich habe mit Rachel Leary gesprochen …«

Er sah verwirrt drein. Nie hörte er richtig zu. »Die Schulpsychologin«, erinnerte ich ihn. »Sie nimmt auch an dem Treffen mit Adams Eltern teil.«

»Dann ist sie mit dir einer Meinung?«

»Sie unterrichtet ihn nicht. Sie weiß, seine Noten werden schlechter und er schwänzt. Das alles weiß sie.«

»Aber du hast gesagt, seine Prüfungen hat er gut gemeistert.«

»Jedenfalls besser, als ich für möglich gehalten hätte. Er ist klug. Das weiß ich – ich habe nie verstanden, warum er die Philly Prep besucht. Aber in letzter Zeit ist etwas schief gegangen. Er kann sich selten konzentrieren.«

»Es wäre gut für dich, wenn du Rachel das Thema Geisteskrankheit anschneiden und professionelle Gründe dafür anführen lässt.«

»Er wohnt bei ihnen, es muss ihnen doch etwas aufgefallen sein …«Ich sah es in den Augen meines Liebsten. Ich war eine Fanatikerin, eine Irre, die mit aller Gewalt eine Welt retten wollte, die keinen Notruf abgegeben hatte.

»Das Bild hängt schief«, sagte ich. »Es ist nach links geneigt.« Bei diesem Thema nahm Mackenzie mich ernst. Kaum hatte er den Blick seiner blauen Augen wieder auf die Landschaft gerichtet, setzte ich meine Lehrerinnenmaske auf und wandte mich wieder Adams Aufsatz zu. Aber ich bekam eine Gänsehaut als ich daran dachte, was auf mich zukommen würde.

2

Ich habe noch nie eine derart steife Frau wie Dorothy Evans gesehen. Wenn ich es nicht besser gewusst und sie das Zimmer betreten hätte, hätte ich geschworen, dass sie an einem Faden in der Mitte ihres Schädels hing.

Sie war eine kleinwüchsige Frau, aber ihre Haltung verwandelte sie in eine geladene Waffe und machte die fehlende Größe mehr als wett. Sie saß am einen Ende der Couch in Rachel Learys Büro und hatte die Hände im Schoß gefaltet. Sie hätte aus Beton gegossen sein können.

Hätte ich diese steife Person vorher getroffen, hätte ich vielleicht nicht auf diese Sitzung gedrängt. Ich hätte am liebsten die Flucht ergriffen, aber nachdem ich die Sache ins Rollen gebracht hatte, saß ich nun in dem engen Büro der Schulpsychologin fest, und zwei feindselige Menschen saßen mir gegenüber auf dem Schmusesofa.

Allerdings passte der Ausdruck Schmusesofa in keiner Weise zu der steifen Haltung des Duos. Mr. Evans saß so weit von seiner Frau entfernt, wie es nur ging, fast auf der Armlehne. Aus der Personalakte von Adam wusste ich, dass der Vorname seines Vaters Parke lautete, aber er zog es vor, uns das nicht mitzuteilen.

Von dem Moment an, als das Ehepaar widerwillig und erbost Rachel Learys unordentliches und gemütliches Büro betrat, wusste ich, dass nichts Gutes bei diesem Treffen herauskommen würde. Ich wollte fliehen, Entschuldigungen rufen und zugeben, dass dies ein schwerer Fehler gewesen war. Unsere Begegnung wurde zu einer Konfrontation, noch ehe ein einziges Wort gesprochen worden war.

Das Gespräch entspannte die Situation kein bisschen. Und das obwohl es auf die denkbar zurückhaltendste Weise geführt wurde. Rachel besitzt die Gabe, mitfühlende Schwingungen auszusenden, auch wenn sie nicht unbedingt so empfindet. Ich wusste mit Sicherheit, das einzige, woran ihr momentan wirklich etwas lag, waren ihre inneren Organe und deren neue Bewohner. Rachel befand sich im Frühstadium ihrer ersten Schwangerschaft und war selbst überrascht, sagte sie, dass sie sich wie Scarlett O’Hara verhielt. »Ich dachte, ich wäre von bäuerlicher Abstammung und würde alles wie ein Kinderspiel überstehen und das Baby zwischen zwei Terminen auf dem Feld bekommen.« Trotzdem wurde sie von morgendlicher – und nachmittäglicher und abendlicher – Übelkeit geplagt, und an diesem Morgen geriet sie in Panik, weil sie befürchtete, sie könnte eine Im-Gespräch-mit-den-Evanses-Übelkeit erleben. »Wahrscheinlich würde es einen unprofessionellen Eindruck machen, wenn ich mich auf seine polierten Schuhe übergebe«, sagte sie wenige Minuten vor dem Eintreffen unserer Gäste zu mir. »So oder so, ich mag den Mann nicht. Er ist ganz versessen darauf, dass sein Sohn einen nicht näher bestimmten Triumph erlangt, damit ihrer beider Namen wie ein Fanal am Himmel leuchten.

»Warum haben sie Adam hierher geschickt? War er immer ein Problemkind?«

»Das glaube ich nicht.« Rachel zuckte die Achseln. »Meine Theorie? Parke Evans dachte, dass Adam in diesen halbdunklen Hallen des Lernens die besten Chancen hätte, mit seinem Licht zu leuchten. Hier hätte er Primus sein können, der Beste seiner Klasse. Ich weiß, das hört sich zynisch an, aber Mr. Evans bringt einen auf solche Gedanken. Er ist von Konkurrenzdenken zerfressen, und du solltest ihn besser nicht übertrumpfen. Ich würde nicht ausschließen, dass er – verzeih mir – eine Schule voller Nieten aussucht, nur damit sein Sohn bessere Chancen hat, ein Gewinner zu sein.«

»Adams Mutter?«

Rachel zuckte die Achseln. »Sie hat kaum ein Wort gesprochen. Nur vibriert. Nervöses Ding.«

In Wahrheit hätte sich der olle Adam überall hervortun können und würde mit Sicherheit alle Ehrungen bekommen, die Philly Prep zu bieten hatte. Die Machiavellische Schulauswahl seines Vaters hätte sich als akkurat erwiesen, wenn Adam nicht in ein Paralleluniversum abgerutscht wäre.

Nun beugte sich Rachel zu dem Paar und sagte mit einer samtweichen, teilnahmsvollen Stimme, die nichts von ihrer Abneigung verriet: »Ich weiß, Sie sind viel beschäftigt, daher finde ich es nett, dass Sie so schnell reagiert haben.«

Um diese Bemerkung zu untermauern sah der viel beschäftigte Mr. Evans auf die Uhr.

Rachel kam gleich zur Sache. »Wir machen uns Sorgen wegen Adam.«

»Was soll das heißen?«, wollte Mr. Evans wissen. »Ich bin hergekommen, weil ich mir Sorgen mache, dass mein Sohn Gegenstand Ihrer Besorgnis ist. Welches Recht haben Sie, sich Sorgen zu machen?«

Bei ihm hörte sich Sorge an wie eine Waffe, für die einzig und allein er die Lizenz hatte, sie zu tragen. Rachel und ich waren Usurpatoren, Sorgen-Diebe. Und ich machte mir die traurige Notiz, dass Mr. Sorge persönlich nicht von einem Jungen namens Adam sprach, sondern von einem Besitz – auf den er den alleinigen Anspruch hatte. »Mein Sohn«, nur seiner, als wäre Dorothy Evans eine Passantin, eine neugierige Schaulustige.

»Vielleicht geht es um seine Zulassung zu einem College?«, fragte Mr. Evans. »Er hat noch nicht von allen eine Rückmeldung. Und hat dem, das ihn akzeptiert hat, noch nicht geantwortet. Macht Ihnen das Sorgen?«

»Uns Sorgen«, wiederholte Rachel. »Keine Bange wegen der Schulen. Es ist noch Zeit.« Sie schluckte heftig, und ihr Gesicht nahm eine grau-grüne Farbtönung an.

»Adams Verhalten macht mir Sorgen«, sagte ich.

»Sie!« Parke Evans sah aus, als würde er gleich explodieren. Seine Stimme drückte so viel Wut aus, dass ich mich wahrhaftig umdrehte, um nachzusehen, ob Satan gerade zur Tür hereingestürmt war.

Ich wollte, dass Rachel das Problem in angemessenen wissenschaftlichen Termini darlegte. Dass sie möglicherweise ein Diagramm oder eine Balkengrafik vorlegte, um zu zeigen, was normal war und was nicht. Aber es sah aus, als würde sie jeden Moment umfallen und sich auszählen lassen, daher fuhr ich fort. »Er hat sich dramatisch verändert und ist nicht mehr der Junge, den ich in der neunten Klasse kurz unterrichtet habe. Damals war er so aufmerksam und begeistert bei der Sache. Jetzt ist er …«

»Neunte Klasse! Für ihn liegt das so etwas wie eine ganze Lebensspanne zurück! Inzwischen besucht er die Abschlußklasse der Highschool, eine vollkommen andere Kategorie. Wieso erwarten Sie, dass er noch derselbe ist?«

Parke Evans war wie ein unablässig kläffender Hund. Ich kompensierte das, indem ich mit noch sanfterer Stimme sprach. »Ich erinnere mich, wie hervorragend seine Arbeiten und sein Verhalten waren, ich erinnere mich an seine Persönlichkeit, und jetzt …«

»Das ist abstoßend. Es bestätigt, was ich schon befürchtet hatte – Sie verstehen nichts von Teenagern«, sagte Mr. Evans. »Dabei ist das doch angeblich Ihr Beruf, oder nicht? Ihrer beider Beruf.« Er sah von mir zu Rachel. »Ist das nicht Ihr Spezialgebiet? Sind Sie nicht deshalb in der Fakultät dieser schicken und teuren Schule?«

Wir zogen es beide vor, nicht zu antworten. Rachel war emsig damit beschäftigt, tief durchzuatmen, während ich fieberhaft überlegte, wen ich anrufen und zu einer Unterredung wegen Mr. Evans’ Verhalten bitten konnte. Ein Punkt auf der wachsenden Liste von Dingen, die ich nicht mochte, waren Eltern von Schülern, die mich als Hilfsarbeiterin betrachteten. Als ich den Beruf des Lehrers ergriffen hatte, hatte ich nie daran gedacht, mich mit Eltern herumärgern zu müssen. Was zeigt, wieviel ich damals wusste.

Mrs. Evans sah starr geradeaus, und die schnurgerade Linie ihrer Lippen bildete ein exaktes Kreuz mit der ihrer Wirbelsäule. Sie bestand nur aus Ecken und rechtwinkligen Kanten.

»Ich verkaufe Haushaltsgeräte«, sagte Mr. Evans. »Und das schon seit kläff, kläff, kläff … das ist mein Beruf. Ich würde Sie nicht zu einem Gespräch bitten, weil Herde heiß werden und Kühlschränke kalt sind. Sie sind, was sie sind. Teenagerjungs sind, was sie sind. Diesbezüglich habe ich ebenfalls Erfahrung. Erfahrung als Adams Vater. Siebzehn Jahre Beobachtung.« Er lehnte sich zurück. Thema erledigt.

»Entschuldigen Sie mich!« Rachel lief zur Tür.

Die Evanses sahen dorthin, wo sie gesessen hatte, und dann wegen einer Erklärung zu mir. Ich hatte nicht die Absicht, ihnen eine zu geben.

»Ich bin durchaus vertraut mit dem Verhalten von Teenagern«, sagte ich. »Darum bin ich ja wegen Adams Verhalten so besorgt.«

»Drogen? Wollen Sie das damit andeuten?«, herrschte Parke Evans mich an.

»Ich weiß es ehrlich nicht. Könnte sein.« Ich hatte tief im Innersten das Gefühl, dass Drogen möglicherweise, sogar wahrscheinlich, ein Teil des Problems waren, es aber noch etwas geben musste – diesen X-Faktor, der Adam veränderte. Aber selbst wenn es sich »nur« um Drogen handelte, hätten die Evanses nicht besorgter reagieren sollen? »Er ist verschlossen, seine Hygiene, seine Arbeitsgepflogenheiten, seine Zensuren leiden darunter …«

»Er ist ein Junge«, sagte Parke Evans. »Warum dieses Aufhebens? Sein Abschlussjahr geht dem Ende zu. Was soll der Aufstand? Im Grunde genommen muss er doch nur die Prüfung bestehen, also wozu dieses Getue?«

»Das ist mir bekannt, glauben Sie mir.« Ich war diejenige, die im letzten Semester verhindern musste, dass ihre Schüler ins Koma fielen. »Davon spreche ich nicht.«

»Er nimmt keine Drogen«, sagte sein Vater. »Ich habe Bücher gelesen und auf die Anzeichen geachtet. Er kommt nach der Schule gleich nach Hause, hat keine fragwürdigen Freunde, macht keine seltsamen Besuche.« Er schüttelte den Kopf. »Keine Drogen.«

Der Junge ging mitten in der Stadt zur Schule und musste sich nicht in ein anrüchiges Viertel schleichen, um Drogen zu beschaffen. Er hatte keine fragwürdigen Freunde, weil er überhaupt keine Freunde hatte. Aber warum sollte ich mir die Mühe machen? »Er ist introvertiert«, wiederholte ich. »Pflegt keinen Umgang mit …«

»Es ist eine schwierige Zeit für ihn.« Dorothy Evans setzte sich noch steifer hin, obwohl ich das für unmöglich gehalten hätte. Sie warf ihrem Mann einen über die Maßen gehässigen Blick zu und wartete.

Er sagte nichts.

»Inwiefern schwierig?«, drängte ich.

Sie machte ein verkniffenes Gesicht und sah mich mit fast blicklosen Augen an, eine Frau, die maximale Anstrengung aufbrachte, damit der Druck in ihr nicht zur Explosion führte.

»Wenn Sie nicht darüber reden wollen, müssen Sie nicht«, sagte ich. »Wir haben immer noch sein Problem in der Schule.«

»Sie haben ein Problem, Miss Pepper«, bellte Mr. Evans. »Wir nicht.«

»Sein Vater und ich lassen uns scheiden«, stieß Dorothy Evans hervor, sah mir aber immer noch nicht direkt in die Augen. »Es ist nicht … es war …« Sie schaute mit eisern gefalteten Händen zur Decke hinauf. »Eine Zeit schwerer Belastungen. Das habe ich gemeint.«

»Wie auch immer«, sagte ihr Mann, »das hat nichts damit zu tun, worüber wir uns unterhalten. Als nächstes werden Sie mir noch die Schuld am Ozonloch geben! Davon abgesehen hat Adam kein Problem. Er ist ein Teenager.«

»Adam und ich stehen uns sehr nahe«, sagte Dorothy Evans. »Er macht sich meinetwegen Sorgen. Über die Zukunft. Was aus mir werden wird. Ob das Geld für seine Ausbildung reicht. Ob sein Vater und die Geliebte seines Vaters, die vier Jahre älter ist als Adam, überhaupt Zeit für ihn haben werden. Ob …«

»Es reicht, Dorothy! Bitte lass uns wie Erwachsene reagieren und beim Thema bleiben.«

»Das Thema ist Adam!«, schrie Dorothy. »Das Thema ist die Belastung, unter der der Junge steht!«

Mr. Evans sah mich an, als wären die Worte seiner Frau Staub, der die Atmosphäre verpestete, und ob ich ihn bitte wegfächeln könnte? Dann wurde seine Miene gallig, als ihm einfiel, dass ich ebenfalls Teil des Problems war. »Adam ist ein begabter Junge, dessen ganze Zukunft noch vor ihm liegt, und wenn sein Zuhause nicht so ruhig ist, wie es sein könnte, nun, so etwas passiert eben und er wird es überstehen.«

»Du konntest nicht warten, was?« Adern traten an Mrs. Evans’ dünnem Hals vor. »Nicht die lausigen paar Monate bis zu seinem Abschluss. Konntest nicht warten und ihm helfen, es durchzustehen. Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast.«

»Bitte«, sagte ich, »könnten wir – ich habe Sie heute hierher gebeten, weil ich glaube, Adam könnte davon profitieren, wenn er jemanden trifft.«

»Ein Rendezvous?« Mrs. Evans sah entsetzt drein. »Warum? Sie sind wie sein Vater und glauben, ein Mädchen könnte alle Probleme lösen.«

»Nicht so ein Treffen. Er sollte zu einer Beratung gehen.«

»Nun, Mrs. Leary will offenbar nichts damit zu tun haben.« Mr. Evans zeigte auf den freien Stuhl.

»Wenn er auf Drogen ist«, sagte Dorothy Evans, »wenn Sie das … Sie meinen eine Entziehungskur?«

»Das wissen wir nicht. Das ist es ja: Wir wissen nicht, warum sein Verhalten …«

»Wir? Sie meinen Sie. Er ist mein Sohn, und ich weiß ganz genau, warum er sich so verhält.«

»Ist er schlecht?«, fragte Mrs. Evans.

»Ich kann es nicht schlecht nennen, weil es nicht vorsätzlich zu sein scheint. Ich habe den Eindruck, als … als würden Botschaften nicht verstanden werden. Als würde … nun, ich habe seinen letzten Aufsatz dabei, und vielleicht macht der deutlicher, worauf ich hinaus möchte.«

»Was meinen Sie damit, dass Botschaften nicht verstanden werden?«, wollte Mr. Evans wissen. »Das hört sich an, als wäre Adam verrückt!« Er fuhr halb von seinem Sitz am Rand der Armlehne hoch.

Wenn Philadelphia nur Vulkane besäße, von denen einer jetzt ausbrechen und Lava in unsere Richtung strömen lassen würde. Dann wären wir davongelaufen – in verschiedene Richtungen. Wenn sich nur ein riesiges Loch auftun und mich mitsamt der Schule verschlingen würde. Hätte ich nur auf die Warnung von Mackenzie gehört, von meiner Schwester und ihrem Mann und Rachel, dann hätte ich Adam eine schlechte Zensur gegeben und fertig.

Aber hier saß ich ohne Hoffnung auf eine Naturkatastrophe, und ich glaube nicht, dass es funktionieren würde, wenn ich einfach sagte »Vergessen Sie’s« und aufstehen und gehen würde. Jetzt war mir klar, wie diese Jugendlichen, die herumliefen und ihre irregeleiteten und destruktiven Pläne verkündeten, einfach ignoriert wurden, bis sie tatsächlich jemand anders oder sich selbst erschossen. Ich sah ein, wie verlockend es war, die nächste Erwachsene zu sein, die sich nicht einmischte. »Ich würde nie ein Wort wie verrückt gebrauchen«, sagte ich leise. »Oder denken. Oder ernst meinen. Aber mir scheint es wichtig, dass sich Adam untersuchen oder beurteilen lässt.«

»Sie halten ihn für gestört?«, fragte Dorothy Evans. »Ich bin eine schlechte Mutter, wollen Sie das damit sagen? Das sagt man doch generell, oder? Es ist immer die Schuld der Mutter.«

»Ganz und gar nicht. Es gibt Krankheiten, die typischerweise in diesem Alter anfangen. Es gibt Medikamente und Behandlungsmethoden, die wirklich helfen …«

Sie sahen mich mit leeren, versteinerten Mienen an, eine großstädtische Version von American Gothic. Anstelle einer Heugabel hatten sie Aktenkoffer und Designerhandtasche. Ich wartete darauf, dass Rachel zurückkehren und etwas Wissenschaftliches und Erhellendes sagen würde, aber sie blieb abwesend und kämpfte mit ihren eigenen Nachwuchsproblemen. »Ich habe Angst um ihn«, sagte ich leise. »Ich möchte nur sicher sein, dass er sich selbst kein Leid zufügt.« Oder einem anderen, fügte ich in Gedanken hinzu.

Sie starrten mich mit versteinerten Mienen an. Schließlich ergriff er das Wort, und seine Stimme klang eiskalt. »Ich glaube, mit Ihnen stimmt ganz entschieden etwas nicht, Miss Pepper. Ich glaube sogar wirklich und wahrhaftig, dass Sie den Verstand verloren haben. Was haben Sie gegen mich oder meinen Sohn? Was ist in Sie gefahren, dass Sie derartige Anschuldigungen vorbringen?«

»Ehrliche Sorge.« Ich brachte die Worte kaum heraus. Ein Taifun würde auch schon genügen, dachte ich. Ein Tornado. Mit dem Epizentrum in diesem Zimmer. Niemand sollte verletzt werden – nur alle davongewirbelt, auf dass wir einander nie wieder sahen.

»Sie sind eine alleinstehende Frau, nicht.« Keine Frage.

Ich nickte trotzdem.

»Kinderlos«, sagte Dorothy Evans. »Sie waren niemals Mutter, richtig?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich wusste es. Frauen wie Sie … sie sind frustriert, eifersüchtig …«

»Nein«, sagte Parke Evans. »Ich weiß, warum Sie das angesprochen haben. Sie halten sich für sehr schlau, aber so läuft das nicht, also vergessen Sie Ihr Täuschungsmanöver. Sie versuchen, uns zu erwischen, bevor wir Sie erwischen.«

»Pardon?«

»Die Tätlichkeiten! Die Prügel! Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, dass Sie meinen Sohn misshandelt haben!« Er war halb aufgestanden, sein Gesicht hatte den Malvefarbton der Wut.

»Ich habe niemals …«

»Sie haben ihn geschlagen! Ihn gepackt und angegriffen, und wir werden das nicht durchgehen lassen. Sehr schlau, dieses Ablenkungsmanöver, aber es wird nicht funktionieren.«

Ich hatte ihn geschlagen? Ich einen Schüler geschlagen? Das war mehr als lächerlich – »Das kann nicht Ihr Ernst sein –« Es konnte nicht ihr Ernst sein. Es war Wahnsinn. »Gestern musste ich Ihren Sohn festhalten, damit er nicht …«

»Festhalten, ha!« Aus dem Kläffen war ein Bellen geworden.

»Er war im Begriff, einen anderen Schüler zu schlagen. Ich habe ihm eine Hand auf den Arm gelegt, um ihn daran zu hindern. Das ist alles.«

»Heben Sie sich Ihre Geschichte für den Gerichtssaal auf«, sagte Parke Evans.

Plötzlich war alle Luft aus dem Raum entwichen. Meine Geschichte? Gerichtssaal? Ich konnte diese Worte nicht verarbeiten. Die Sprache hatte jeglichen Sinn verloren.

Aber nicht für Parke Evans, der Blut gerochen hatte. »Was ist mit seinen Collegebewerbungen? Haben Sie es da auch auf ihn abgesehen? Haben Sie Ihre wahnsinnigen Anschuldigungen in seine Beurteilung geschrieben? Adam hat Ihnen vertraut.«

Ich wollte mich nicht auf das Niveau hinunterziehen lassen, das dieser kleine Hund suchte. »Ich habe Sie zu diesem Gespräch eingeladen, damit wir eine Möglichkeit finden, Ihrem Sohn zu helfen.«

»Jede Wette, zumindest jetzt wollen Sie das. Sie würden Recht bekommen, und das würde sich in Bewerbungen echt gut machen, was? Liebe Schule, Adam befindet sich übrigens in psychiatrischer Behandlung, steht unter Medikamenten oder was immer Ihnen sonst noch einfällt!«

»Sie mögen ihn nicht, richtig?«, fragte Dorothy Evans streng, und ihre Stimme passte exakt zu ihrer verkrampften Haltung. »Er hat mir gesagt, dass Sie ihn nicht mögen, kein Lehrer mag ihn. Ich hielt das für jugendliche Übertreibung, aber jetzt weiß ich, dass er Recht hatte. Sie mögen Kreativität nicht. Sie betrachten Originalität als Problem. Sie müssen ihn wirklich hassen, wenn Sie versuchen, in diesem Abschnitt sein Leben zu zerstören.«

»Wir glauben nicht, dass Sie zur Lehrerin geeignet sind«, sagte Mr. Evans. »Sie sind eine Gefahr für die Kinder.«

Immerhin sprach er jetzt von wir. Sie stellten die Einheitsfront zur Schau. Wenn die Sitzung noch länger dauerte, würden sie sich gleich hier im Büro der Schulpsychologin versöhnen.

»Welche Meinung hat Dr. Havermeyer zu Ihren Anschuldigungen?«, wollte Mr. Evans wissen.

»Niemand hat Anschuldigungen ausgesprochen«, sagte ich. »Bitte, können wir nicht Adam helfen, anstatt … uns hier weiter gegenseitig zu zerfleischen?«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, fauchte er.

»Dr. Havermeyer weiß nichts …« Meinen Rektor, für den die einzige Sünde darin bestand, Eltern vor den Kopf zu stoßen, die für die Ausbildung ihres Sohnes bezahlten, hätte ich als allerletzten in diesem Raum dabei haben wollen; ich wollte nicht einmal seinen Namen aussprechen. »Es ist nicht Vorschrift, ihn über jedes Gespräch in Kenntnis zu setzen, das hier stattfindet, aber selbstverständlich wird er eine dementsprechende Notiz in Adams Personalakte finden.«

»Sie haben es vor ihm verheimlicht. Das ist eine persönliche Vendetta für Sie, nicht?«

Ich hatte nicht die Absicht, auf seine gemeinen, beleidigenden Worte einzugehen, aber das spielte keine Rolle, denn er brauchte gar keine Antwort.

»Die Sache ist in diesem Büro nicht zu Ende«, fügte er hinzu. »Sie sind eine Gefahr, Miss Pepper. Eine Fanatikerin. Wie viele junge Leben haben Sie schon zerstört? Und Sie haben kein Jota Mitgefühl. Ich mag nur Inhaber eines Haushaltsgeräteladens sein, weil mir in meiner Jugend keine Möglichkeiten offen standen, aber ich habe dafür gesorgt, dass Adam alles bekommt, was ich nicht hatte. Darum ist er hier, damit er seinen Weg gehen kann. Diese Schule behauptet, dass sie außergewöhnlichen Schülern offen steht, die nicht ins übliche Schema passen. Sie sollten sich schämen.« Er stand auf, strich sich Jackett und Hose glatt und wartete, bis Dorothy ebenfalls aufgestanden war. »Ich mache seit zwanzig Jahren Werbung in Rundfunk und Fernsehen«, sagte er. »Ich habe Freunde bei den Medien. Diese Sache wird nicht heimlich, still und leise unter den Tisch gekehrt werden, damit Sie ungestört weiter Kinder schlagen und ihr Leben zerstören können.«

»Ich möchte Ihrem Sohn helfen.« Ich sah, wie meine Worte schwebten, abstürzten, verbrannten. Kamikaze-Hoffnungen.

Mr. Evans blieb kurz stehen. »Das wird Sie Ihren Kopf kosten.«

Rachel erschien hinter ihm und trat beiseite, als er und seine Frau hinaus staksten. »Autsch!«, sagte sie. »Wenn Blicke töten könnten – was ist passiert?«

»Im Wesentlichen haben sie mit mir gemacht, was du vermutlich mit der Toilettenschüssel gemacht hast.«

Sie seufzte und sammelte Unterlagen und eine Broschüre von ihrem Schreibtisch ein. »Das hätte ich dir vorher sagen können.«

»Sie haben mir den ganzen Sie-werden-in-dieser-Stadt-nie-wieder-arbeiten-Mist erzählt. Und den Ich-lasse-Sie-verhaften-Mist. Ich bin jetzt eine Gefahr für die Gesundheit der Kinder. Ich bin entbehrlich. Er nicht.« Ich streifte den Gurt meiner Tasche über die Schulter. »Ich habe es geschafft, die Lage so sehr zu verschlimmern, wie es ging.«

Wieder falsch.

3

Ich verließ die Schule hastig und mied die Verwaltung und die aufgeregte Konferenz zwischen den Evanses und Maurice Havermeyer. Durch meinen schnellen Rückzug behielt ich vielleicht meinen klaren Kopf und meinen Job noch etwas länger. Was meine geistige Gesundheit anbetraf, war ich nicht so sicher.

Ich war auf der Heimfahrt so voll von brodelnden Emotionen, dass die Windschutzscheibe beschlug. Wenn Adams Eltern doch nur gesagt hätten: »Oh, dieser Junge. Er ist seit seiner Kindheit so.« Oder: »Adam ist bereits in Behandlung, um seine Probleme in den Griff zu bekommen.« Oder: »Ist Ihnen auch schon aufgefallen, wie verdreht Adams Schreibstil jedesmal wird, wenn er Finnegan’s Wake liest?« Irgendetwas, das mir gezeigt hätte, dass sie verstanden, wovon ich sprach. Aber sie zwangen ihn, allein durchs Leben zu stolpern, und ich wusste nicht mehr, wie ich ihm helfen sollte. Nicht, dass ich ihm bis jetzt überhaupt geholfen hätte.

Würden seine Eltern ihm von der Zusammenkunft erzählen? Was würden sie sagen – und welche Auswirkungen würde es auf den aufbrausenden, unberechenbaren Jungen haben? Bald würde ich es wissen – seine Klasse sollte sich morgen Vormittag in der Bibliothek treffen. Das war ein Versuch, die Abschlussschüler zu unterhalten und wenn möglich zu etwas mehr Arbeit vor der Abschlussprüfung zu motivieren. Vielleicht würde Adam die Truppe mit einer Beschimpfung meiner Person unterhalten. Und vielleicht wäre das gut – würde beweisen, dass er immer noch Ursache und Wirkung begriff, ein Zeichen für geistige Normalität.

Auf halbem Weg nach Hause sagte der Sprecher während der stündlichen Nachrichtensendung: »In der Vermont Highschool, die letzte Woche Schauplatz eines tragischen Massakers war, bei dem es während einer Schulversammlung zwei Dutzend Verletzte gab und zwei Mitglieder der Fakultät sowie vier Schüler tödliche Schussverletzungen erhielten, wurde heute im selben Auditorium ein Gedenkgottesdienst abgehalten, um mit dem Heilungsprozess zu beginnen, sagte Rektor …«

»Seht ihr?«, sagte ich laut. Ich konnte nicht sagen, an wen ich die Frage adressierte oder was die Betreffenden tatsächlich sehen sollten. Was sah ich eigentlich genau? Vielleicht hatte der Schütze von Vermont nichts mit Adam Evans gemein. Ich hatte so viele Berichte gehört, vielleicht vermutete ich an jedem Pult einen mörderischen Jugendlichen.

Pass auf – Adam würde sich als ein Genie erweisen und in kommenden Jahren die provinzielle Englischlehrerin der zwölften Klasse beschämen, die angedeutet hatte, er könnte geisteskrank sein. Ich würde buchstäblich zur Lachnummer werden. Sie, die große Literatur unterrichtete, aber Größe nicht erkannte, wenn sie lebend vor ihrer Nase stand. Pepper wird zum Synonym für künstlerische Unwissenheit und mangelnde Weitsicht werden.

»Ich war nicht glücklich«, hatte der Junge aus Vermont als Erklärung für seinen Amoklauf genannt. Als verstört hatte der Nachrichtensprecher ihn bezeichnet, ein Wort, das ein sanfteres Bild als das eines Killers mit Baseballmütze und einer halbautomatischen Waffe in der Hand beschwor, der seine Schulkameraden niedermähte.

»Nachbarn und Klassenkameraden bezeichneten Todd als stillen jungen Mann, der sich kunstvolle Phantasiestücke ausdachte und Computerspieldesigner werden wollte. Laut einigen Klassenkameraden hatte er sich in letzter Zeit verändert. ›Vielleicht so, als würde er andauernd eines seiner Spiele spielen, ein Kriegsspiel‹, wurde einer von ihnen zitiert. ›Irgendwie unheimlich, um ehrlich zu sein.‹«

»Seht ihr?« Ich schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Hatte seine Lehrerin versucht, mit seinen Eltern zu reden? Und war sie angebrüllt worden? Bedroht? Müssen Kinder ein Dutzend Menschen umbringen, damit sich jemand für sie interessiert? »Warum sieht keiner, was los ist?«

Ich hämmerte so fest auf das Lenkrad ein, dass mir der Handballen wehtat, so ein Schock war es, mich selbst zu hören. Ich drehte durch, ironische Folge der Tatsache, dass ich mir um den Geisteszustand von jemand anders Sorgen machte.

Ich regte mich etwas ab, aber Parke Evans’ versteinerte Miene ging mir nicht aus dem Sinn, ebenso das grenzenlose Ausmaß der Verachtung in seiner kläffenden Terrierstimme. Kein Wunder, hatte sich niemand eingemischt, als der Junge in Vermont immer verschrobener wurde. Warum sollte sich jemand Vorwürfen, Hohn und Spott und Arbeitslosigkeit aussetzen? Warum diese schreckliche Mischung von Wut, Sorge und Verzweiflung spüren?