Wer übrigbleibt kassiert - Gillian Roberts - E-Book

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Gillian Roberts

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Beschreibung

Das Opfer hat sie geschlagen und betrogen. Die Tatwaffe gehört ihr. Und sie war am Tatort … Für die Polizei ist alles klar. Doch Amanda Pepper, Detektivin aus Leidenschaft, glaubt Lydia Teller, die beteuert, ihren Mann nicht umgebracht zu haben. Amanda entdeckt nicht nur sehr unerfreuliche Seiten des Opfers, sondern auch eine zweite, rechtmäßig angetraute Mrs. Teller. Als der Mörder merkt, daß Amanda ihm und seinem lukrativen Motiv auf der Spur ist, zögert er nicht, dem ersten Mord noch einen zweiten hinzuzufügen … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gillian Roberts

Wer übrigbleibt kassiert

Ein Amanda-Pepper-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Edith Walter

FISCHER Digital

Inhalt

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1

T.S. Eliot hat gesagt, April sei der grausamste Monat, was beweist, daß er nie einen Februar in Philadelphia erlebt hat.

Der Februar ist der Monat, in dem Mutter Natur an einem praemenstruellen Syndrom leidet, und mir ging es auch nicht gerade glänzend. An einem Montagnachmittag, von der üblichen Wintererkältung geplagt und erst einen von fünf Unterrichtstagen hinter mir, kam mir der kleine, häßliche Monat wie der längste im Kalender vor. Der Winter konnte noch kommen und der Frühling quälend weit weg sein, gleichgültig was ein überschwenglich optimistischer Dichter behauptet hatte.

Mehrere Stockwerke unter meinem Klassenzimmer strömten die Schüler aus dem Schulgebäude – mit fröhlichem Radau, der bis zu mir heraufdrang, während ich mein Zimmer aufräumte und die Videokassette zurückspulen ließ. Die Porträts von Willie Shakespeare, Virginia Woolf und Mark Twain über der Tafel blickten verärgert oder geringschätzig auf mich herab.

Vielleicht waren sie empört, weil mein Unterricht tief unter meinem üblichen Niveau war. Je kürzer die Tage, je länger meine Erkältung, um so geringer die Begeisterung, die ich aufbrachte.

Ich wünschte mir, eines Tages dem verschrobenen Lehrplan- »konstrukteur« zu begegnen, der Englischlehrern, die mit der obersten Klasse und dem Februar an sich schon gestraft waren, außerdem noch zumutete, stockende Amateurlesungen des Hamlet über sich ergehen zu lassen. Sollte ich ihn je finden, werde ich ihn zwingen, sich Moose Moscowitz’ Porträt des Dänenprinzen vom ersten bis zum letzten Wort anzuhören.

Weil wir uns endlich durch Shakespeare durchgeackert hatten und weil ich noch immer hustete und nieste, schob ich ein Stück als Bonus ein, eine Komödie diesmal, Der Widerspenstigen Zähmung.

»Morgen werde ich mich mehr anstrengen«, erklärte ich den literarischen Ikonen über der Tafel. Der heutige Abend jedoch gehörte dem Selbstmitleid. Ich würde Hühnersuppe und Pfefferminztee trinken, Wollsocken anziehen und über der Tatsache brüten, daß mein Freund von einer seiner Ehemaligen mit Beschlag belegt wurde und daß es noch immer Februar war.

Mein Schwelgen wurde durch diskretes Räuspern unterbrochen. Ich drehte mich um und erblickte zwei Mädchen aus meiner Klasse.

Ich wußte, daß ich gleich Grund haben würde, mich noch viel mieser zu fühlen. Wenn Schüler der obersten Klassen sich länger als notwendig in der Schule aufhielten, hatte das gewöhnlich nichts Gutes zu bedeuten. »Hallo«, sagte ich. »Hab nicht gemerkt, daß ihr noch hier seid. Wo brennt’s?«

Rita, die aggressivere der beiden, stand, die Hände in die Hüften gestützt, das Kinn in die Höhe reckend, vor mir.

Ich wappnete mich.

Sie nickte. »Wollte mit Ihnen …«

»Über deine Arbeit reden, nehme ich an.« Jeder Schüler der obersten Klasse muß für die Prüfung eine Zulassungsarbeit schreiben. Keiner hatte Lust dazu.

»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd. »Darüber.« Sie zeigte mit dem Daumen auf den Videorecorder. »Dieses Stück von der Widerspenstigen. Ihnen gefällt es, Miss Pepper?«

Ehrlich gesagt, habe ich mit Der Widerspenstigen Zähmung so meine Schwierigkeiten. Und zwar mit der Prämisse, daß mit einer eigenwilligen Frau von Haus aus etwas nicht stimmt. Ist denn eine willenlose Frau das Ideal? Ich hätte das Stück gewiß nicht gewählt, hätte es nicht zufällig im Englisch-Regal gestanden.

»Er ist ein Schwein«, sagte Rita.

»Du meinst Petruchio?« fragte ich.

»Shakespeare!« fauchte Rita. »Er ist ein Schwein. Sie sah ihre Begleiterin und bedingungslose Gefolgsfrau Colleen auffordernd an, doch Colleen reagierte nicht; sie war damit beschäftigt, Papiere in eine hellgrüne Mappe zu stopfen, die mit den metallen glänzenden Sternen verziert war, die Grundschullehrerinnen als Belohnung für gute Buchstabier-Tests verteilen. Gold wenn der Test fehlerlos war. Silber bei einem, rot bei zwei Fehlern, wenn ich mich recht erinnere. Doch Colleen hatte aus ihren Sternen ein altes englisches Wort gebildet, das man in keinem Vokabelheft findet.

Shakespeare ist ein Schwein. Ich dachte darüber nach. Ich hatte nicht erwartet, daß meine Schüler während des ganzen Films wachbleiben, geschweige denn auf seine philosophischen Nuancen reagieren würden.

»Ich hätte kotzen können, als Kate sagte, gute Ehefrauen sollen ihrem Mann die Hände unter die Füße breiten!«

Ich fühlte mich zu offizieller akademischer Verteidigung verpflichtet. »Es ist eine Posse. Leicht, komisch, soll nicht ernst genommen werden.«

Rita ballte die Hände. »Aber was er mit ihr macht, ist nicht komisch. Und was für ein glückliches Ende soll das sein? Sie hat kein bißchen Mumm – nicht einmal mehr Verstand. Er sagt, es ist Nacht, also sagt auch sie, es ist Nacht. Er bricht sie, und das soll komisch sein? Hab ich recht oder was, Coll?«

»Nun …« Colleen blickte wehmütig in die graue Welt draußen.

Trotz Colleens Gleichgültigkeit war mir schwindlig, und das kam nicht von meiner Erkältung.

»Wenn mich je ein Typ so behandeln würde …« Nur ein männliches Wesen mit Todessehnsucht würde Rita behandeln, wie sie nicht behandelt werden wollte. Erstens hatte sie sich eine große Stubenfliege ins Gesicht tätowieren lassen; zweitens kleidete sie sich genauso wie man es von jemand erwartet, dessen Wange durch ein Insekt entstellt ist. Und schlechtes Englisch war Ritas erste Fremdsprache. Ihr Vater war Anwalt, ihre Mutter Professorin für Pädagogik an der Universität von Pennsylvania. Wenn sie aufgeregt war, schlüpfte Rita unabsichtlich in ein Englisch, um das Königin Elizabeth sie beneiden würde.

»Colleens Freund ist ein Rüpel«, fuhr Rita fort. »Macho, Sie wissen schon? Aber sie läßt ihm auch einen Mord durchgehen. Er stößt sie herum und behauptet, er muß ihr zeigen, wo Bartel den Most holt, wie dieser Widerling in dem Stück.«

Colleen zuckte mit den Schultern und sah mich endlich direkt an. »Vielleicht können Sie Rita erklären, wie die Typen sind«, sagte sie.

»Ich?« Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. »Ich bin auf diesem Gebiet nicht kompetent.« Dreißig Jahre alt und noch immer keine Ahnung. Peinlich, daß ich so langsam von Begriff war.

Ich begann den Schreibtisch aufzuräumen. Unsere Schule steht für höchste erzieherische Ansprüche: Saubere Wandtafeln, ordentlich ausgerichtete Fensterrouleaus, aufgeräumte Schreibtische.

»Ich bin sicher, Ihr Typ ist keine Niete«, sagte Colleen zu mir.

»Nun, ich bin überzeugt, Miss Pepper läßt sich von ihm nicht so rumschubsen und rumkommandieren wie du von Ronny«, sagte Rita.

»Von wem reden wir eigentlich?« fragte ich.

»Ronny Spingle.« Colleen machte ein Gesicht, als fühle sie sich geehrt, seinen Namen aussprechen zu dürfen. »Er ist nicht an unserer Schule. Er ist zwanzig, und …«

»Nein. Ich habe gemeint, daß ihr mich nach jemandem gefragt habt, der mich nicht rumkommandiert. Wen meint ihr?«

»Zum Teufel, Miss Pepper, wir wissen, daß Lehrer auch Menschen sind. Und wir wissen, daß Sie und der Cop – der süße Typ, der damals hier war – Na ja, Sie wissen schon.«

Ich wußte nicht viel – nicht einmal den Namen des »süßen« Cops. Was ich jedoch wußte, war, daß ich C.K. Mackenzie oder meine romantische Seite nicht mit einer Siebzehnjährigen diskutieren wollte, die sich die Lippen schwarz anmalte und eine Frisur hatte wie ein Specht.

Auf jeden Fall gab es in meinem wackeligen Liebesleben keinen Mann mit hormonaler Überproduktion wie den, über den die Mädchen sprachen. Von Rambo-Typen hatte ich mich noch nie angezogen gefühlt. Außerdem waren wir von unserem ursprünglichen Thema, dem Shakespeare-Stück, weit abgekommen. »Vergeßt nicht«, sagte ich, Papiere in meine Aktenmappe packend, »die Umstände waren zu Shakespeares Zeiten ganz anders. Frauen waren Leibeigene, bewegliches Eigentum. Die Ehefrau gehörte ihrem Mann.« Ich blätterte im Text des Stücks, noch immer wie vom Blitz getroffen, weil es die Mädchen über die Unterrichtsstunde hinaus beschäftigte. Ich fand die Stelle und las:

»Ich will der Herr sein meines Eigentums:

Sie ist mein Landgut, ist mein Haus und Hof,

mein Hausgerät, mein Acker, meine Scheune,

mein Pferd, mein Ochs, mein Esel, kurz mein alles …«

»Mein Ochs, mein Ochs! Also wirklich!« Rita fuchtelte drohend mit der Faust und knallte mit ihrem Kaugummi. »Wieso nennt das Schwein sie eigentlich Spitzmaus?«

»Und was ist eine Spitzmaus?« fragte Colleen weinerlich wie ein Kind, das Angst hatte, wieder dumm genannt zu werden.

»Ein winziges Tier. Eine wütende Kämpferin, die sich mit viel größeren Tieren anlegt.«

»Nennen Sie Kate deshalb Spitzmaus?« Rita stützte wieder die Hände in die Hüften. »Das große Tier, mit dem sie sich anlegt, ist ein Mann? Bedeutet es das?«

Wir sprachen über Semantik. Regten uns über Etymologie auf. Unglaublich. »Sie bekämpft ihn mit Worten«, sagte ich. »Nörgeleien, wilden Temperamentsausbrüchen.« Es sind die Waffen der Schwachen und Hoffnungslosen.

»Wieso sollte sie auch nicht wild werden?« Ritas Kaugummi knallte. »Ihr Vater hat sie an den Meistbietenden verhökert. Sie würden nicht einmal Ihren Hund so behandeln.«

»Ich gebe dir hundert Prozent recht.« Diese Mädchen hatten sieben Monate lang in meiner Klasse Winterschlaf gehalten, und die plötzliche Aktivierung ihrer grauen Zellen war wirklich eindrucksvoll. Ich hätte diese Verwandlung noch länger bewundert, wären die Zeiger der Wanduhr nicht mit einem Summen und Klicken weitergerückt. Ich mußte weg. »Reden morgen weiter, im Unterricht und auch nach der Schule«, sagte ich, nahm meine Aktenmappe und ging zur Tür.

Die Shakespeare-Forscherinnen rührten sich nicht. Sie sahen sich zuerst gegenseitig an, dann mich, schluckten, seufzten, scharrten mit den Füßen. Vielleicht war ich zu abrupt gewesen. »Ich möchte, daß ihr eines wißt«, sagte ich. »Es war aufregender für mich, eure Ideen mit euch zu besprechen, als euch ständig über die Prüfungsarbeiten jammern zu hören.« Ich meinte es ernst. Meine Stimmung hatte sich gebessert, mein Kopf war klarer, und sogar die Sonne schien aus dem Ruhestand zurückzukehren.

Colleen biß sich auf die Unterlippe und kratzte sich am Kopf. »Na ja«, sagte sie. »Da Sie die Prüfungsarbeiten jetzt selbst erwähnen …« Sie gab Rita einen leichten Rippenstoß und schluckte trocken.

Ein paar Sekunden vergingen, während ich mich mit der Tatsache vertraut machte, daß die wunderschöne Diskussion heimtückisch geplant und ich wie ein Tölpel darauf hereingefallen war.

»Nehmen Sie’s nicht übel«, sagte Rita, »aber die Themen, die Sie uns gegeben haben, sind ganz großer Mist.«

Ich hatte mich bemüht, innovativ und nicht traditionell zu sein, weil ihnen die Recherchen Spaß machen sollten, hatte unwissenschaftliche, bisher unbeantwortete Fragen gestellt, damit die Schüler ihre eigenen Theorien entwickeln konnten. Es war offensichtlich falsch gewesen. Meine Stimmung sank noch tiefer.

»Es sind Themen für Idioten«, fügte Rita hinzu.

»Langweilig«, sagte Colleen.

»Sie haben gesagt, wir können uns aussuchen, was uns interessiert«, sagte Rita. »Nehmen Sie’s nicht übel, aber der Schrott ist das letzte.«

Ich trauerte den Augenblicken nach, in denen ich arglos geglaubt hatte, die beiden seien Shakespeares wegen geblieben. »Was würdet ihr denn lieber recherchieren?« fragte ich leise.

Sie schüttelten die Köpfe. Colleen hatte sich vor einiger Zeit das Haar gefärbt, und es hätte dringend nachgefärbt werden müssen, was sie zu der einzigen mir bekannten Person mit blonden Wurzeln machte.

»Ich muß gehen.« Ich nahm die zurückgespulte Videokassette aus dem Recorder, während ich nach einem Weg suchte, ihnen die Flügel zu stutzen. Und plötzlich wurde mir klar, daß ich die Lösung in der Hand hielt. Buchstäblich. »Aber etwas gibt es, das euch interessiert«, sagte ich, und sie zuckten zusammen, weil ich so vergnügt reagierte, und sie taten gut daran. »Ihr habt es selbst gesagt.«

Sie kniffen die Augen zusammen. Ihnen war klar, daß sie in ein Minenfeld geraten waren – und sie selbst hatten die Minen gelegt. Sie wußten aber nicht, wie und wohin sie sich retten konnten.

Ich winkte ihnen mit der Videoaufnahme. »Wir haben über etwas gesprochen, das euch interessiert. Anmaßende und hochmütige Frauen. Mißbrauch. Leibeigene. Heiratsbräuche. Männliche chauvinistische Schweine. Was es heißt, eine perfekte Ehefrau zu sein. Was es heißt, herumgeschubst zu werden.«

»Aber –« meinte Rita.

»Ihr selbst habt mir gesagt, diese Themen liegen euch am Herzen. Also schreibt über sie.«

Sie sahen mich an wie verlorene Geschöpfe des Waldes, die von näher kommenden Scheinwerfern gelähmt waren.

Was mich freute. Man wird hart bei dieser Arbeit. Ich nutzte meinen Vorteil, und als wir zu dritt das Klassenzimmer verließen, wollte eine von uns die Rechte verheirateter Frauen recherchieren, die andere die Vergewaltigung in der Ehe, und die dritte war so glücklich wie eine Englischlehrerin nur sein kann, wenn man davon absieht, daß sie stark erkältet ist und nicht ahnt, was für eine Lawine sie eben losgetreten hat.

2

Als ich das Auditorium betrat, hallte das Gespräch mit den beiden Mädchen noch immer in meinem Kopf nach.

»Da ist Amanda«, rief jemand auf der Bühne. Ich kam zu spät zu meinem Nachmittag sogenannter Freiwilligenarbeit für den alljährlich stattfindenden Flohmarkt. Die Bühne, die als vorläufiger Lagerplatz für die Spenden diente, ähnelte der Dekoration für ein Stück über die absurde Bedeutungslosigkeit – oder das totale Chaos – von einfach allem. Zwischen und auf willkürlich angeordneten Gegenständen, die nicht zusammenpaßten – einem Lampenschirm mit Tigerstreifen, einem Vogelbauer aus Korbweide, einem Teewagen, einem Aktenschrank, an dem ein Paar Skier lehnten, windschiefen Sesseln und auf Tischen ausgebreiteten formlosen Kleidungsstücken –, bewegten sich schlaff und träge andere freiwillige Helfer, prüften alles und warfen die unbrauchbaren Sachen weg.

»Entschuldigt, daß ich zu spät komme«, sagte ich, als ich auf die Bühne stieg. »Ein paar Schülerinnen aus der obersten Klasse haben mich nach dem Unterricht aufgehalten.«

Meine kurze Erklärung wurde verständnisvoll aufgenommen, außer von Caroline Finney, der immer freundlichen Latein- und Geschichtslehrerin, die so tat, als seien derartige intellektuelle Diskussionen nach Schulschluß gang und gäbe. Sie lächelte mir zu, während sie einen Stapel Kleidungsstücke sortierte und ein fadenscheiniges burgunderrotes Samtcape herauszog, in dem ich das altgediente Prunkstück meiner Freundin Sasha erkannte. Ich hatte Sasha überredet, den Flohmarkt zu nutzen, um die schlimmsten Geschmacksverirrungen aus ihrer recht exzentrischen Garderobe auszusondern, doch als ich das Cape sah, beschloß ich spontan, es zu kaufen und ihr Weihnachten zu schenken, weil sie es bis dahin bestimmt vermissen würde.

Rachel Leary, die Schulrätin, hatte ein Klammerbrett in der Hand und schien die Oberaufsicht zu führen. »Könnten Sie die Buchhaltung machen?« fragte sie mich.

»Ich? Also Zahlen sind nicht meine …«

Rachel blinzelte. »Es ist wirklich ganz einfach. Die gebundenen kosten einen Dollar. Genau einen. Die Taschenbücher fünfundzwanzig Cents.«

»Oh, ich soll den Bücherstand übernehmen?«

Sie sah mich fragend an. »Sortieren Sie sie nach Kategorien getrennt in mehrere Kartons. So können wir sie, wenn wir das ganze Zeug in den Turnsaal bringen, gleich in die Regale räumen. Sie lassen sich besser verkaufen, wenn sie scheinbar nach einem System geordnet sind.«

Ich machte eine kleine Anzahlung auf Sashas Cape und versprach, zehn Dollar dafür zu bezahlen, sobald der Flohmarkt eröffnet war.

Dann richtete ich mich zwischen mehreren Dutzend Kartons ein. Links von mir sortierte Neil Quigley Brettspiele und fahndete nach fehlenden Teilen. Rechts klebte Edie Friedman Preisschilder auf die Unterseiten eines scheußlichen Imbißsets mit kaugummirosa Herzen auf Tellern und Tassen.

Edie seufzte. »Für romantische Knabbereien, nehme ich an«, sagte sie.

Edie war eine begnadete sehnsüchtig Seufzende. Sie war attraktiv und intelligent, doch die einzige Eigenschaft, die Männer an ihr wahrzunehmen schienen – kurz bevor sie Fersengeld gaben –, war ihre Verzweiflung. Edie bezog die Zeitschrift Die moderne Braut, war voller Hoffnung und ins Detail gehender Hochzeitspläne und hatte das unerschütterliche Vertrauen, daß die wahre Liebe sie bald finden werde.

Ich unterdrückte meinen Kommentar zu dem Übelkeit erregenden Imbißset. Statt dessen sortierte ich Bücher und teilte die Kartons ein in Allgemeine Belltristik, Spannungsliteratur, Diät und Liebes- und Eheberater. Männer, die nicht konnten oder nicht wollten. Frauen, die nicht sollten.

Nach einiger Zeit saß ich inmitten halbvoller Kartons. Ich legte ein paar Bücher für mich zur Seite – eine Agatha Christie, einen Band über die nicht mehr so neue Psychologie der Frau, einen dünnen Roman mit dem Titel Vertrauen, der mein Interesse weckte.

»Schau mal.« Edie hielt eine kleine Kristallampe mit bauchigem Schirm in die Höhe. Sogar im Halbdunkel der Bühne glitzerten die Facetten. »Sie gehört in ein Boudoir«, sagte sie wehmütig.

»Boudoir bedeutete ursprünglich einen Ort, an dem man schmollen konnte«, sagte ich. »Wer braucht dazu schon eine Lampe. Es macht viel mehr Spaß im Dunkeln.«

»Eine solche Lampe ist für große Verführungsszenen bestimmt.«

Manchmal kam Edie mir vor wie ein mythisches Wesen unter einem Zauberbann. Der nächste unverheiratete Mann, der ahnungslos um die Ecke kam, würde ihr Schicksal sein. Und man konnte sich die richtigen kristallenen Liebesutensilien nicht früh genug beschaffen. »Ich wünschte, ich könnte sie mir leisten.« Edie stellte die Lampe ab.

Ich wünschte, ich könnte es mir leisten könnte das Motto eines jeden Lehrers sein. Mit meinen persönlichen Finanzen habe ich mich in letzter Zeit in Gedanken häufig beschäftigt. Auch das tut der Februar einem an. Mit Geld kann man sich zwar kein Glück erkaufen, aber auf jeden Fall in den Winterferien einen Strandurlaub leisten. Eine warme Zone, frei von Halbwüchsigen, mit einer Sonne, die wie ein Kraftwerk wärmt. Gebt mir den Strand, ich sorge für das Glück, das dazugehört. Nach diesen Halluzinationen über einen tropischen Fluchtpunkt, hatte ich mich endlich entschlossen, mir das nötige Kleingeld dafür mit Schwarzarbeit zu verdienen. Die nächste Hürde war, jemanden zu finden, der Schwarzarbeit zu vergeben hatte. Morgen nach Schulschluß hatte ich einen Termin bei einem Amt, das in der ganzen Stadt und in den Vororten Repetitoren-Zentren unterhält.

Ich fuhr fort, die Bücher zu sortieren und stieß auf eine Kassette der Kleinen Goldenen Büchlein. Meine Nichte war vermutlich schon zu alt dafür und der Sohn meiner Nachbarn auf jeden Fall zu klein, aber ich legte sie mir trotzdem beiseite. Dann sah ich mir eine hübsche Ausgabe von Fanny Hill an und überlegte, ob es Zensur war, wenn ich Pornographie auf einem High-School-Flohmarkt nicht zuließ. Ich beschloß, das Problem zu lösen, indem ich das Buch selbst kaufte.

Neben mir stand Neil Quigley und streckte seine lange Gestalt.

»Die Leute bringen mir Puzzles mit achthundert Teilen. Woher soll ich wissen, ob etwas fehlt oder nicht?«

Ich lächelte mitfühlend, doch seine Aufmerksamkeit galt schon etwas anderem. Er knackte mit den Fingerknöcheln und setzte sich wieder auf den Boden.

»Ich habe morgen einen Vorstellungstermin«, sagte ich zu ihm.

»Seit Jahren habe ich das nicht mehr gemacht. Hast du irgendeinen Rat für mich?«

Er sah mich sehr direkt, überrascht und unglücklich an. »Nur den, die Finger von diesen Leuten zu lassen. Sei nicht so blöd wie ich einmal war.« Er nahm ein Spiel in die Hand und ließ es wieder fallen. Sah mich an. »Ich meine es ernst. Ich bedaure zutiefst, daß ich mich je mit dieser Behörde eingelassen habe.«

»Aber wieso denn? Ich dachte, du verdienst dort so gut. Was stimmt nicht?«

»Mach, was du willst, okay.« Das klang fast zornig.

»Ich will mich doch nur als Nachhilfelehrerin bewerben.«

Neil war Geschichtslehrer, liebte seine Frau und Benjamin Franklin. Über letzteren schrieb er eine Biografie. Er tanzte auch großartig, spielte Banjo – bis vor kurzem, denn seit einiger Zeit gab es für ihn nicht mehr viel zu singen und zu tanzen. Zuerst hatte seine Frau eine Umweltallergie entwickelt, die sie gezwungen hatte, den Lehrberuf aufzugeben, und dann mußten sie in eine eigens für solche Fälle erbaute und entsprechend teure Wohnung umziehen. Jetzt war sie mit ihrem ersten Kind hochschwanger und mußte einen Teil ihrer Schwangerschaft im Bett verbringen. Berücksichtigte man Belastung und Rechnungen, sagte einem der gesunde Menschenverstand, daß Neil Glück hatte, von den Teller-Schmitt Learning Centers – kurz TLC – ein zweites Einkommen zu beziehen.

»Wäre nett, wenn du mir das erklären könntest«, sagte ich.

»Wenn du eine Ahnung hättest von dem, was ich durchgemacht habe.« Neil preßte den Mund so fest zusammen, daß der Kieferknochen gegen die Haut drückte. Er war ein langer, dünner Mann und erinnerte mich an eine Stange Dynamit, für die der Countdown lief und die bald explodieren würde. »Entschuldige«, sagte er. »Ich bin müde. Angela hatte wieder eine schlechte Nacht. Vergiß, was ich gesagt habe.«

»Wie geht es der lieben Angela?« fragte Caroline Finney.

Sie und Neil besprachen mit sehr vagen Ausdrücken die für Angela so qualvolle Zeit vor der Geburt und die vielen Veränderungen, die wegen Angelas Allergien in der Wohnung vorgenommen werden mußten.

Ich widmete mich wieder meiner Arbeit und stellte fest, daß Fanny Hill nur ein Musternugget gewesen war. Ich war auf eine ganze Goldader von Erotika gestoßen: schmale Bände mit schlichten weißen Schutzumschlägen von Anonymus, und heiße zeitgenössische Soft-core-Bestseller, durchwegs Hardcover-Erstausgaben, bis zurück zu Peyton Place.

Verstohlen blätterte ich in der Sammlung, überzeugt, daß der Schulleiter mich jeden Moment ertappen und hinauswerfen werde. Daher zuckte ich auch heftig zusammen, als Neil mir auf die Schulter tippte.

»Entschuldige«, sagte er. »Jetzt muß ich mich doppelt entschuldigen. Ich wollte dich nicht erschrecken und vorhin nicht so anfauchen. Ich meinte nur – wenn es um das TLC geht, bin ich nicht der richtige Ansprechpartner. Sie wären die ersten, die sagen würden, ich sei voreingenommen – und ein schlechter Geschäftsmann.«

»Warum?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht darüber reden – ein andermal«, sagte er fest.

Nun ja, meiner Vorstellung von einem Industriekapitän entsprach Neil auch nicht. Recherchen waren sein ganzes Entzücken, nicht Quittungen oder Rechnungen. Das hätte aber nichts ausmachen dürfen. Ich hatte noch eine Menge Fragen, doch da er ganz offensichtlich über das Thema nicht mehr sprechen wollte, kehrten wir an unsere Arbeit zurück.

Ich warf einen Blick in ein weiteres pikantes Buch mit dem Titel M’yladys Boudoir und legte es in den Karton zu seinesgleichen. Dann begann Neil zu sprechen, obwohl er so fest entschlossen schien, nichts zu sagen: »Sie verschicken Werbebriefe, in denen sie uns auffordern, uns ihrem Team anzuschließen. Wahrscheinlich jeder Lehrer im Delaware Valley hört mindestens einmal im Jahr von ihnen. Aber sie erwähnen nie, wieviel du nicht verdienen wirst. Wieviel für die Werbung weggeht. Weißt du, was Zeit im Fernsehen kostet? Und wie teuer die Broschüren und das Gebäude und das Mobiliar sind? Keine Ahnung hast du.«

An meiner anderen Seite stöhnte Edie. Anscheinend hatte der Spender der Kristallampe sich eines ganzen Boudoirs an Nippes entledigt – einer Puderdose, einem Spiegeltablett mit Kristallgriffen, einer Knospenvase, eines Weihwasserkesselhalters. Ich fragte mich, welch furchtbares Schicksal die Besitzerin der kristallenen Schätze veranlaßt haben konnte, sich von ihnen zu trennen.

Sie wurde rot, als hätte ich durch das Kristallglas in ihre Vorstellungswelt hineinsehen können. Sie packte den Kerzenhalter weg. »Sie stellen alles ganz großartig dar«, fuhr Neil fort, während er eine zerbrechlich aussehende Spielzeugeisenbahn begutachtete. »Du solltest mal den Artikel lesen, den das Philadelphia Magazine über das TLC gebracht hat.« Er schüttelte den Kopf.

»Oh«, sagte Edie, »ich wollte dir ja erzählen, daß ich ihn gesehen habe – den Artikel und das Bild von dir.« Sie wandte sich mir zu. »Neil sieht richtig toll aus«, sagte sie.

Neils Miene wurde noch finsterer und angespannter. »Ist mir nicht aufgefallen. Ich habe nur gesehen, wie gut Wynn Teller bei ihnen weggekommen ist.«

»Neil!« quiekte Edie. »Du solltest nicht eifersüchtig sein. Der Mann sieht phantastisch aus, stimmt, aber du bist auch süß.«

»Das habe ich nicht gemeint.« Neil sah aus, als werde er gleich explodieren.

Caroline Finneys sanfte Stimme mischte sich ein. »Wynn Teller«, sagte sie. »Sein Sohn Hugh war an unserer Schule, nicht wahr? Ein so interessantes Kind. Er war in meinem Kurs für Geschichte der Antike. Hatte einen guten Kopf, hat dann aber die Schule ganz plötzlich verlassen. Hat sein Vater dir je erzählt, wo Hugh jetzt ist, Neil?«

Neil schüttelte den Kopf. »Über solche Dinge sprechen wir nicht. Außerdem habe ich Hugh nie kennengelernt, also habe ich auch nicht nach ihm gefragt.«

Hugh Teller war vor einigen Jahren in meiner neunten Klasse gewesen, ein ballonartiger Junge, dessen unglücklicher Name und nicht minder unglückliche Figur der Anlaß zu unzähligen Witzen wurden. Aber als sei er eine Figur aus einer der Broadway-Shows, die er so liebte, triumphierte Hugh und wurde ein Star. Der kleine Junge hatte eine riesige Stimme, die auch noch einen Schwerhörigen im obersten Rang erreichte. Er war der Hit unserer alljährlichen Schulaufführung gewesen und unmittelbar danach, mitten im Semester, von der Schule genommen worden.

Wann immer ich irgendwo die Ankündigung einer Broadway-Premiere las, suchte ich Hugh Tellers Namen.

»Ich habe gehört, daß er jetzt eine Internatsschule besucht«, sagte Eddie. »In einem anderen Staat. Mehrere Internatsschulen sogar.«

Nachdem ich noch eine Zeitlang gewühlt und das meiste aussortiert hatte, stieß ich auf ein Taschenbuch über mißhandelte Frauen. Ich sah es mir näher an. Rita recherchierte derzeit Fälle von Vergewaltigung in der Ehe. Wenn ich das Buch kaufte, konnte ich für fünfundzwanzig Cents ihrem Projekt die Starthilfe geben, die sie vielleicht brauchte. Natürlich nur, wenn das Buch etwas taugte. Ich schlug es auf.

Es gab viele unterstrichene Stellen, und die Seitenränder waren mit Grafitti »verziert«. Ich verabscheue es, mich durch das Dickicht fremder Fußnoten durchzukämpfen, und Rita würde sich bestimmt genauso darüber ärgern. Oder schlimmer, sie würde die Bemerkungen dieses Unbekannten benutzen. Ich warf das Buch in den Karton zurück.

Andererseits. Für einen lumpigen Vierteldollar. Ich hob es wieder auf, blätterte darin, um mir das Ausmaß der Beschädigungen anzusehen und las mich bei einem besonders gekennzeichneten Absatz fest.

Fast stockte mir der Atem. Er drückte mir eine Pistole an die Schläfe zitierte der Text eine vergewaltigte Ehefrau. Furchtbar. Aber noch viel furchtbarer war die Randbemerkung in einer winzigen, wie gestochen wirkenden Druckschrift: Das hat er bei mir getan und tut es noch. Ich habe solche Angst.

Winzige, ordentliche Druckbuchstaben. Eine leise Stimme, zurückhaltend, als ducke sie sich. Eine einfache Sprache und eine um so eindrucksvollere, schrecklichere Botschaft.

Ich suchte vorn nach einem Namen, doch ich fand keinen – weder dort noch auf den letzten Seiten und auch nicht an einer anderen Stelle im Buch. Dann blätterte ich noch einmal und diesmal langsam zu dem Absatz weiter, den sie so sorgfältig markiert hatte und der ihre Lebensgeschichte erzählte.

Mißhandelte Frauen überleben manchmal nur, indem sie ungewöhnliche Verhaltensweisen an den Tag legen, die zu Fehldiagnosen wie Schizophrenie, Paranoia oder schweren Depressionen führen. Manchmal werden sie wegen ihrer Zustände sogar in Nervenheilanstalten eingewiesen und Therapien unterzogen, die nie zu den Wurzeln ihrer Probleme vorstoßen.

Ja, hatte sie neben diesen Absatz an den Rand geschrieben. Aber ich bin nicht verrückt, ich habe nur Angst, und selbst wenn ich es wagen könnte, jemandem zu erzählen, was mir passiert, würde niemand die Wahrheit hören wollen.

Mißhandlungen gibt es in allen sozialen Schichten, war doppelt unterstrichen. Prügelnde Männer findet man in jedem Beruf und jedem Lebensbereich. Diese Notiz verriet, daß sie mit einem erfolgreichen und geachteten Mann verheiratet war. Nicht der Typ im Unterhemd und einer Bierflasche in der Hand, was ich automatisch angenommen hatte, sondern ein wohlhabender, elegant gekleideter Mann, der seine Frau in einem gutausgestatteten Haus verprügelte.

Manchmal stand am Rand nur ganz einfach ja, das stimmt.

Muß die Frau gesellschaftlich repräsentieren, hören die Schläge manchmal vorher auf, damit keine verräterischen Spuren zu sehen sind.

Das stimmt.

Mißhandelte Frauen isolieren sich oft, weil der mißhandelnde Mann in jedem, der freundlich zu ihr ist, eine Bedrohung sieht.

Das stimmt.

Der mißhandelnde Mann ist oft auch gewalttätig gegen seine Kinder.

Das stimmt.

Nach und nach ergaben die unterstrichenen Abschnitte und die Randbemerkungen in Form eines Mosaiks aus traurigen Fragmenten ein Bild.

Ich sah mich um, fast überrascht, die Unbekannte nicht neben mir auf der Bühne zu finden, weil ich sie so deutlich um Hilfe rufen hörte. Noch vor einer Stunde hatte ich ganz beiläufig von mißbrauchten Mädchen gesprochen, doch jetzt war die abstrakte Vorstellung Wirklichkeit geworden – eine Frau wurde so terrorisiert und hatte so wenig Hoffnung, daß sie anonym einen Schrei in die Welt schickte wie ein gestrandeter Seemann, der eine Flaschenpost ins Meer warf.

Ich bin allein und habe furchtbare Angst. Hört mich! Helft mir!

Es gab lange, unkommentiert gebliebene Abschnitte über die Entwicklung der Gewalt in Amerika. Ich blätterte weiter, bis ich, kurz vor dem Ende des Buches, einen anderen unterstrichenen Absatz fand.

Früher oder später eskaliert die Gewalttätigkeit. Oft tötet der Mißhandler entweder sich selbst oder seine Frau.

Und am Rand, nur geflüstert, in verkrampften Lettern, als wollten sie sich selbst und ihre Botschaft verstecken: Ich weiß, er wird mich töten. Er sagt es, und ich glaube ihm. Er wird mich bald töten.

Ich legte das Buch auf meine Knie und senkte den Kopf, ich fühlte mich nicht wohl und wußte nicht recht, wo ich war, und ich fragte mich, ob sie wohl noch lebte oder ob er sie schon ermordet hatte.

Wer bist du? Noch einmal nahm ich mir jede Seite vor, fand aber noch immer keinen Namen. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal gewagt, in ihrer Schrift zu schreiben und statt dessen Druckbuchstaben benutzt, die man nicht identifizieren konnte.

Warum? fragte ich sie. Du willst gehört werden, mußt gehört werden, willst gerettet werden, machst es uns aber unmöglich. Wer bist du, wieso spendest du etwas für unsern Flohmarkt? Hast du ein Kind an unserer Schule? Werde ich dir begegnen und dich nicht erkennen? Wirst du meinen Stand beobachten, um zu sehen, wer dein Buch kauft?

Und während ich so dasaß, den Kopf gesenkt, und nachdachte, entdeckte ich eine Absenderadresse auf dem Karton, dem ich das Buch entnommen hatte. Der Absendervermerk trug Sasha Bergs Namen.

Sasha? Ausgeschlossen. Sie war nicht einmal verheiratet. Aber schließlich war dazu nur ein Mann nötig, kein Ehering.

Sasha. Mit zusammengekniffenen Augen studierte ich wieder die Randbemerkungen. Ihre Schrift hätte ich erkannt, nicht aber diese anonyme Druckschrift. Sasha? Sie war wild, ging zu viele Risiken ein. Oft und oft hatte sie mich gerufen, hatte ich sie retten müssen, doch nie auf diese heimliche, verstohlene Art. Es ergab keinen Sinn. Und was am Rand stand, war die Wahrheit: Niemand will es hören. Vielleicht hatte ich nie richtig hingehört?

Noch heute nachmittag – als Rita so hartnäckig behauptet hatte, Colleens Freund sei grob und ausfallend, hatte ich da nachgefragt, geholfen? Nein, ich hatte mich mit Nebensächlichkeiten beschäftigt. Ich wollte es nicht hören.

Um ehrlich zu sein, der weitaus größte Teil meines Ich wollte es noch immer nicht. Ich wünschte, ich hätte das Buch nie aufgeschlagen.

Doch da ich es getan hatte, konnte ich es nicht ignorieren. Ich nahm Sashas Cape, meine Agatha Christie, meine Psychologika, Erotika und die Kleinen Goldenen Büchlein und ging. Die Vorschriften besagten, daß die Waren bis zum Freitag auf der Bühne bleiben und dann bezahlt werden mußten. Ich entschied mich für eine kleine private Nische hinter der Bühne. So konnte kein anderer freiwilliger Helfer vergessen, daß das Cape verkauft war.

In dem Durcheinander von Stricken und Kulissen fiel Dämmerlicht durch ein kleines Fenster und half mir, einen Stuhl zu finden, auf dem ich meine Schätze lagern konnte. Ich nächsten Moment stolperte ich über meine eigenen dämlichen Füße und landete der Länge nach auf dem Boden.

Ein weiterer Grund, mir selbst leid zu tun. Oder vielmehr zwei Gründe, da ich mir beide Knie aufgeschürft hatte. Ich klopfte mir den Staub von den Kleidern, warf meine Einkäufe auf den Sessel und hinkte davon. Nur das unterstrichene Buch kam mit mir.

Es hatte mir schon viel mehr erzählt, als ich wissen wollte. Jetzt mußte es mir nur noch sagen, was ich tun sollte.

3

Sashas Wohnung liegt in der Nähe des Flusses, an den Ausläufern des Society Hill mit seinen geschickt restaurierten Straßen aus der Kolonialzeit. Ich hätte zu Fuß hingehen können und hätte es auch getan, wären das Wetter, der Zustand meiner Nebenhöhlen und meine Stimmung besser gewesen.

Was heißen soll, daß ich fuhr, jedoch nicht heißt, daß ich es gemütlich hatte oder allein war. Ich fahre einen Mustang, Baujahr ’65 Burgunderrot. Ein Kabrio. Klassisch. Einst war es ein Teil von meines Schwagers Sam kurzer Jugend. Als er Partner in einer Anwaltspraxis wurde, paßte ein gebraucht gekaufter Sportwagen nicht mehr zu seinem Image, doch da war ich, die zwar kein Image hatte, aber mit heraushängender Zunge nach dem Wagen lechzte.

Das war viele Jahre und viele Ratenzahlungen her. Beide waren wir inzwischen entsprechend älter geworden, mein fahrbarer Untersatz und ich.

Ich parkte den Wagen, sperrte aber nicht ab. Warum sollte ich Diebe verärgern, die zu blöd waren, um zu merken, daß sie durch die Heckscheibe hineinspazieren konnten?

Das Foyer des Hauses, in dem Sasha wohnte, war wunderbar überheizt, und ich badete in heißer, trockener Luft. Mit einer Hand drückte ich auf die Klingel neben dem Namen Berg, mit der anderen und einem Papiertaschentuch putzte ich mir die Nase.

»Ich bin es«, rief ich in das kleine Sprechgitter.

»Bea wer?«

»Mandy! Erinnerst du dich? Von der dritten Klasse an?«

»Deine lächerliche Erkältung wird allmählich langweilig«, sagte Sasha, hatte jedoch Mitleid mit mir und drückte auf den Türöffner.

Als mein Kopf auftaute, bemühte er sich wieder zu funktionieren, was nicht unbedingt positiv war. Ich wollte nicht an das Buch und nicht an die Fragen denken, die mich hergeführt hatten.

»Glühwein«, sagte Sasha, als sie die Tür öffnete. Sie trug eine Robe mit Kapuze, nach der es den Zauberer Merlin gelüstet hätte. Ihr jettschwarzes Haar wurde seitlich von einem spiralenförmig eingeflochtenen Silberband gehalten.

»Ist das das heimliche Paßwort?« fragte ich.

»Es wird heilen, was dich plagt.« Ich ging ihr in die Küche nach und sah zu, wie sie Wein und Gewürze in einen Topf gab. Gleich darauf zog der Duft von Zitrone und Zimt durch den langen, schmalen Raum. Die Düfte waren sein einziger Schmuck. Der Rest von Sashas Apertment war ein üppiges Chaos aus Art déco, viktorianischem Krimskrams, Sitzkissen, Jukeboxen, kurz aus allem, was ihr gefiel. Die Küche jedoch hatte eine Doppelfunktion – war auch noch Dunkelkammer; ein spartanisches, rein zweckmäßiges Labor.

»Hast du immer Glühweingewürze bei der Hand?« fragte ich. Die Küche war nämlich auch deshalb so kahl, weil Sasha im Haushalt so tüchtig war wie ein Erdferkel.

»Hat das nicht jeder?« Wir saßen um den kleinen Kessel herum.

»So. Und was bringt dich an einem so scheußlichen Abend vor meine Tür? Hast du nichts Besseres zu tun? Wo steckt Eliot Ness?«

»Er – hm – erwartet Besuch. Einen Freund von außerhalb.«

»Was für einen Freund?«

»Einen von der uralten Sorte.« Ich räusperte mich. »Ich habe die gespendeten Bücher für diesen idiotischen Flohmarkt sortiert, und …«

»Dafür habe ich eine ganze Tonne gespendet«, sagte sie.

»Das ist auch der Grund, warum …«

»Ich arbeite nicht an der Schule, habe auch keine Kinder dort, aber ich habe es für das höhere Allgemeinwohl von Phili Prep getan. Ist das nun selbstlos oder nicht?«

»Sehr eindrucksvoll, und da du es schon erwähnt hast – da ist eine Spende, nach der ich dich fragen möchte. Aber es ist ein bißchen peinlich …«

Es ist für eine über einsachtzig große, üppige Frau in einem mittelalterlichen Gewand aus besticktem Samt schwierig, verlegen auszusehen, doch Sasha brachte es fertig. »Ich wollte sagen, du weißt, wieviel ich euch gebracht habe, aber da war eine Sache …«

»Ja?«

»Oh, es ist – ach, vergiß es.« Sie beugte sich über die Pfanne und inhalierte. »Mach das mal«, sagte sie. »Der Dampf wird dich kurieren. Heiße Luft ist das ganze Geheimnis. Ehrlich.«

Ich tat ihr den Gefallen. Sashas tiefe Atemzüge brachte ich jedoch nicht zustande. Es war mir auch nicht möglich, in dieser Stellung viel zu sagen. Ich stand auf. Sasha holte Glühweingläser heraus und rumorte in ihrer Speisekammer. »Ich habe heute einen Pflanzenmenschen kennengelernt«, sagte sie. »Keinen von der Sorte, der zu dir ins Haus kommt und die Pflanzen gießt. Nein, er studiert sie.«

»Wir haben über deine Spende gesprochen«, erinnerte ich sie.