Sommer – Sonne … tot - Gillian Roberts - E-Book

Sommer – Sonne … tot E-Book

Gillian Roberts

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Beschreibung

Der Zeuge schwört Stein und Bein, Sasha zur fraglichen Zeit mit dem Opfer zusammen gesehen zu haben … … doch Sashas Alibi hat sich schnöde aus dem Staub gemacht. Schluß also mit den erholsamen Urlaubstagen für ihre beste Freundin Amanda Pepper – Lehrerin und Detektivin aus Leidenschaft. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gillian Roberts

Sommer – Sonne … tot

Ein Amanda-Pepper-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg-Ciletti

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Das Schuljahr ist um Monate kürzer als das Kalenderjahr, und darum glauben die Leute, die Lehrer hätten es leicht und bequem. In Wirklichkeit sind die Sommerferien dringend nötig zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Steigende Temperaturen treiben das instabile Gemisch von Lehrern und Schülern bis zum Siedepunkt hinauf; da ist eine Abkühlungsperiode unbedingt erforderlich. Sonst gäbe es keine Überlebenden für zukünftige Streßexperimente.

Nach zwei Tagen Ferien war mein Zustand immer noch kritisch, und ich hatte Angst, es könnte so bleiben. Ich war so fertig, daß mir klar war, ich müßte mal gründlich über mein Leben nachdenken – besser gesagt, meine Leben, das berufliche und das private – und darüber, was ich eigentlich ständig falsch machte. Der Haken war nur, daß ich jedesmal, wenn ich auch nur anfing nachzudenken, total allergisch reagierte und nichts als Frust und Ablehnung verspürte.

»Du siehst grauenhaft aus«, sagte meine Freundin Sasha auf unserem Sonntagsspaziergang durch das alte Kolonialviertel von Philadelphia, von dem ich mir etwas seelische Aufmunterung erhofft hatte. »Warum suchst du dir nicht einen richtigen Job mit richtigen Menschen?« fragte sie. »Worin liegt der Sinn des Erwachsenwerdens, wenn du dann den Rest deines Lebens Jahr für Jahr in die Adoleszenz zurückkehrst? Such dir einen Job, bei dem du es mit Erwachsenen zu tun hast.«

Ich versuchte, mir ein Arbeitsleben unter solchen Bedingungen vorzustellen. Mit Leuten, die mich als gleichgestellt betrachteten und nicht als Hindernis, das mit List und Schläue ausgetrickst werden mußte. Mit Leuten, die mich nicht dauernd auf die Probe stellten, mir nicht dauernd mit Ausreden, Entschuldigungen oder allen möglichen Anliegen kamen. Mit Partnern. Mit Leuten, die Teamwork schätzten.

Arbeitsessen. Kontakte. Erfolg.

Wär das schön!

Am Head House Square, dem ehemaligen Fleisch- und Gemüsemarkt, jetzt kameragerecht aufgetakelt, winkte in einem Straßencafé ein freier Tisch. Das war nicht etwa glückliche Fügung, sondern einfach darauf zurückzuführen, daß der Sommer es noch nicht bis Philadelphia geschafft hatte. Wir setzten uns trotzdem.

Es war kühl für Anfang Juni, draußen zu sitzen war eine rein symbolische Geste, aber ich hatte Sommerferien und war entschlossen, mich entsprechend zu verhalten. Ich bestellte mir also fröstelnd einen Cappuccino und ließ meinen Blick über den früheren Marktplatz schweifen. Wo einst gackernde Hühner und quiekende Schweine feilgeboten worden waren, verhökerte man jetzt Kunstgewerbliches – pseudoindianischen Silberschmuck, Taschen aus geprägtem Leder, Knüpfbatikgewänder nach Hippie-Art. Ganze modische Trends waren gestorben und hier wieder zum Leben erweckt worden, während ich Tag für Tag vergeblich mein Bestes getan hatte, Teenager davon zu überzeugen, daß die Interpunktion einen Sinn hat.

»Ach, das wird schon wieder«, sagte ich zu Sasha, die mir gerade vorschlug, es doch mal bei der Berufsberatung zu versuchen. »Ich muß nur eine Weile abschalten. Allein sein.«

Die Kellnerin brachte uns den Cappuccino und einen Teller biscotti dazu.

»Sei mir nicht böse, Mandy, aber allein bist du doch die ganze Zeit. Du solltest mal einen richtigen Urlaub am Meer machen.«

Sofort sah ich es vor mir – plätschernde Wellen auf weißem Sand, kreischende Möwen, die unter einem blauen Himmel dahinsegelten … Allein schon bei der Vorstellung begann ich mich besser zu fühlen. Ich sah mich allein mitten in hohen Dünen, ein Buch auf dem Schoß, köstlich erfrischt von Meeresluft und Einsamkeit.

»Das ist doch gerade der Vorteil an deinem Beruf«, sagte Sandy, »daß du diesen Wahnsinnsurlaub hast. Schau mich an, ich muß morgen wieder in die Tretmühle, während du –«

»Ja, aber leider zahlen die uns so wenig, daß wir diesen Wahnsinnsurlaub nicht genießen können. Ich kann mir genau zwei Wochen leisten«, erklärte ich, »dann fang ich wieder an. Als Lehrerin an der Sommerschule, um mir etwas dazuzuverdienen.«

»Das hatte ich vergessen. Das ist wirklich gemein. Und was fängst du mit deinen zwei Wochen an?«

Ich schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Ich werd mal meine Schränke saubermachen.« Die Möwen, die über meinem Traumstrand kreisten, verwandelten sich in Dollarscheine, die im Wind davonflatterten.

»Vielleicht entführt dich ja dein Bulle auf eine einsame Insel.«

»Ha! Ha! Sehr komisch.« C.K. Mackenzie, der Bulle, war ein Teil des Problems, das gründliches Nachdenken verlangte, nicht seine Lösung. Und eben in dieser Angelegenheit hätte ich mir etwas wie eine Erleuchtung von den plätschernden Wellen erhofft. Ich weiß, der Weg soll das Ziel sein. Ich weiß auch, daß Kahlil Gibran, der alte Philosoph, vor langer Zeit darauf hingewiesen hat, daß es im Zusammensein von Mann und Frau Freiräume geben müsse. Soweit ich mich erinnere, sollten die Winde des Himmels zwischen ihnen tanzen.

Aber Kahlil ist es damals nicht eingefallen, diesen Räumen Maße zu geben, und in meinem Fall schienen sie manchmal größer zu sein als Flugzeughangars, und die Himmelswinde tanzten nicht, sie heulten. So sehr ich Freiräume und Zusammensein in meiner Beziehung zu Mackenzie genoß, so sehr ich mich im Lauf des vergangenen Jahres auf den Weg konzentriert hatte – wenn nicht gerade seine Polizeipflichten die Entwicklung gestört, unterbrochen und hinausgeschoben hatten –, so sehr hätte mich doch auch die Aussicht auf ein glückliches Ende gefreut.

Ich mag nun mal keine losen Fäden und unvollendeten Geschichten. Es tut mir gut zu wissen, daß ein spannender Roman eine Auflösung haben wird. Warum sollte ich von meinem eigenen Leben weniger verlangen?

Nur – und das machte die Sache erst richtig kompliziert – ich wußte nicht, was für eine Art von Ende ich mir wünschte. Vielleicht waren die riesigen Räume zwischen uns das Beste für mich – und von mir selbst gewählt. Als ich das dachte, mir das eingestand, kehrte sofort die mir mittlerweile vertraute ängstliche Beunruhigung zurück.

Drei Schritte von uns entfernt brüllte eine Mutter, die ungefähr so erledigt aussah wie ich mich fühlte, ein dickes Kind mit Ohrklappenmütze an. »Hör auf zu essen! Nichts mehr vor dem Abendbrot. Ich sag’s dir zum letzten Mal: Keine Süßigkeiten mehr.«

Was das Kind zurückschrie, ging im Rattern des Busses unter, der an der Ecke hielt.

Ich zauberte mich zurück an den weißen Strand und blendete alle Geräusche außer dem beruhigenden Rauschen der Wellen aus.

Doch dann holte mich Sashas Stimme in die Wirklichkeit zurück. »Deine Eltern würden dir bestimmt ein Flugticket schicken«, sagte sie.

»Sehr witzig. Seh ich vielleicht noch nicht gestreßt genug aus?« Gewiß, Boca Raton in Florida hatte einen herrlichen Strand, aber ein längeres Zusammensein mit meinen Eltern war, wie ich aus Erfahrung wußte, alles andere als erholsam. Seit meinem einunddreißigsten Geburtstag hatte sich das Entsetzen meiner Mutter darüber, daß ich immer noch ledig war, in einem Maß gesteigert, daß sie das Thema nicht einmal mehr direkt ansprechen konnte. Früher hatte sie sich Sorgen über mein Liebesleben gemacht, vor allem darüber, ob es so was bei mir überhaupt gab. Heute lautete der Euphemismus für »nun heirate endlich«, »kümmere dich um deine finanzielle Sicherheit«. Sie schickte mir Zeitungsartikel über langfristige Geldanlagen und, weit deprimierender, über verwöhnte Ehefrauen. Die Botschaft war klar: Schnapp dir einen tattrigen Millionär, dann bist du für alle Zeit jeglicher finanzieller Sorgen enthoben.

Die grausame Wahrheit war, daß die Vorstellung manchmal – wie heute, da ich vergebens von einem Luxusurlaub träumte und mein kümmerliches Leben als kleine Lehrerin mal wieder restlos satt hatte – etwas beinahe Verlockendes hatte. Wie ich allerdings im Rahmen meines Alltagslebens dem Industriebaron anstelle seines pubertären Urenkels begegnen sollte, mußte mir erst mal einer sagen.

»Dann liegt dir anscheinend doch nicht soviel an einem Urlaub am Meer«, meinte Sasha.

»Jedenfalls nicht soviel, daß ich mir dafür den ganzen Tag die Vorhaltungen meiner Mutter anhören würde. Du kannst froh sein, daß deine Eltern dich dein eigens Leben führen lassen.«

»Die haben Angst, ich könnte wieder heiraten und so werden wie sie.«

Sashas Eltern hatten zur Scheidungs-Avantgarde gehört. Lange, ehe so etwas gang und gäbe geworden war, hatten sie die Ehepartner gewechselt wie die Hemden – zu ihrer eigenen Verwirrung und auch all derer, die sie kannten. Eine Unfähigkeit, mit Verstand zu wählen und Beziehungen aufrechtzuerhalten, schien zum Familienerbe zu gehören. Sasha selbst hatte bereits zwei katastrophale Ehen hinter sich, und ihr Blick für Qualität schien sich, was Männer anging, seither nicht merklich gebessert zu haben.

»Ich brauche nur einen Mann zu erwähnen, da kriegen sie schon die Gänsehaut. Als ich meiner Mutter von dem Mann erzählt hab, den ich morgen treffe –« Sie brach plötzlich ab. »Hey, ich hab’s. Cinderella Pepper vor dir steht deine gute Fee.«

Gute Feen hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Sasha mit ihren eins achtzig, dem wilden schwarzen Haar, im Minirock mit Glitzer und hochgeschnürten Basketballstiefeln entsprach nicht dem Märchenbild, aber ich spitzte trotzdem die Ohren.

»Du hast soeben eine fast kostenlose Reise ans Meer mit echtem Sandstrand gewonnen.«

»Wie das?«

»Ich habe einen Fotoauftrag. Direkt am Meer. Unterkunft und Verpflegung eingeschlossen. Wer soll was dagegen haben, wenn ich mein Zimmer mit dir teile, hm? Du müßtest nur für dein Essen aufkommen, und das mußt du ja hier auch.«

»Ist das dein Ernst?« Ein richtiger Urlaub am Meer und ganz umsonst? Schon sah ich wieder weiße Möwen über blauen Meereswellen segeln.

»Klar. Wozu sind Freunde sonst gut?«

Hin und wieder beklagte sich Sasha zwar über die Unsicherheiten der freiberuflichen Tätigkeit – kein festes Einkommen, keine festen Arbeitszeiten –, aber dafür führte ihr Beruf als Fotografin sie manchmal in ausgesprochen exotische Gegenden. Ich dachte an Aufnahmen am Mittelmeer oder in der Karibik, selbst die kalten Gewässer Maines sollten mir recht sein. Das Geld für den Flug würde ich schon irgendwo herbekommen.

Der Kleine mit der Ohrenklappenmütze hatte sich einen Beutel Chips erobert, und seine Mutter keifte mit hochrotem Gesicht: »Weg mit dem Zeug! Was hab ich dir eben gesagt? Du sollst das lassen!« Sie riß ihm den Beutel aus der Hand und schob sich selbst eine Ladung Chips in den Mund. Wenn das keine doppelte Botschaft war! Kein Wunder, daß der Junge Klappen über den Ohren trug.

Sasha aß das letzte Biskuit. Ich konnte nicht gut protestieren, schließlich bot sie mir dafür einen Urlaub an. Stille, Wellengeplätscher, Ruhe, um nachzudenken und zu genießen – herrlich.

»Danke«, sagte ich. »Tausend Dank.«

»Bedank dich beim Toffeekonsortium von Atlantic City.«

Atlantic City! Von allen Meeresstränden dieser Welt ausgerechnet der von Atlantic City. Meine gute Fee hatte mir ein Geschenk mit Haken gemacht. Sand und Wasser, ja, aber Atlantic City! Spielhöllen und Slums und Fast food und Krach die ganze Nacht durch. Mehr Würfelspiel als Wellenspiel, mehr Gimpel als Möwen.

»Atlantic City ist Amerikas bevorzugter Urlaubsort«, erklärte Sasha. »Abenteuer pur, nur eine Stunde entfernt. Würdest du wirklich lieber deine Schränke saubermachen? Übrigens – mein Auto macht Mucken. Ich brauch es nicht – ich habe eine Assistentin in Atlantic City angeheuert, und sie mietet die gesamte Ausrüstung. Könntest du also fahren?«

So kam es, daß ich, die ich auf der Suche nach den Wonnen der Natur gewesen war, am Montag morgen meinen Mustang in einem unterirdischen Labyrinth aus Stahl und Beton parkte. Sasha und ich marschierten durch ein Hotelfoyer, das einen mit einer unbekümmerten Vielfalt architektonischer Stilblüten erschlug: Griechische Säulen, Wandgemälde in Renaissancemanier, klassizistische Marmorstatuen, plätschernde Wasserfälle, und alles von kleinen weißen Glitzerlichtern illuminiert. Vergebens suchte ich nach einem verbindenden Thema oder Motiv.

Draußen war es grau und trübe gewesen, hier aber war ewig strahlender Tag, von tausend Sonnen erleuchtet. In der hermetischen Abgeschlossenheit dieser blendenden Räume gab es keinen Wandel der Zeiten.

»Warum ein Casino, Sash? In Atlantik City gibt’s doch auch normale Hotels? Wieso haben die Toffee-Leute dich hier einquartiert?«

»Weil ich sie drum gebeten habe. Ich dachte ja, ich würde allein sein, und in so einem Casino ist mehr los. Ich war früher schon mal hier …« Wir passierten den Eingang zu einem höhlenähnlichen Raum, der mit dem passenden Namen »Grotte« gekennzeichnet war. Sasha stellte ihren Koffer nieder, sagte, »Augenblick mal«, und tauchte hinein.

Ich wartete in der Nähe des Eingangs zum Casino und lauschte den Sirenenklängen von perlender Musik und Geldgeklimper.

»Er arbeitet noch hier«, sagte Sasha, als sie ungefähr eine Minute später zurückkam. »Der Barkeeper, Frank. Ein netter Kerl.«

Was wahrscheinlich bedeutete, daß er sie als Mann nicht interessierte. Es sind die Frauen wie Sasha, die – gewiß ohne Absicht, aber eben mit verheerenden Folgen – Männer glauben machen, sie müßten sich uns gegenüber wie gemeine Schweine verhalten. Ich mag nette Männer – es sei denn man setzt in semantischer Schlamperei »nett« gleich mit langweilig. Aber Sasha ist anders. Sie ist auf Herausforderung aus, und das bedeutet oft Gefahr oder Misere.

Na ja, ich will mich hier nicht über Sashas Vorliebe für Verlierer auslassen. Meine eigene Heiß-Kalt-Beziehung zu M.C. Mackenzie war ja, wie sie mir nur zu gern unter die Nase rieb, auch nicht gerade ein glänzendes Beispiel für gutes Gespür.

»Ich war früher schon mal hier«, sagte sie jetzt. »Vor zwei Jahren ungefähr.«

»Mit Frankie, dem Barkeeper?«

»Nein, nein, mit diesem anderen Kerl, Dimples. Ein ganz mieser Kerl. Frankie, der Barkeeper, hat mich damals gerettet – vielleicht sogar vor dem Knast. Ich hätte nicht gedacht, daß er noch hier ist.«

»Vor dem Knast? Wieso das? Oder will ich das überhaupt wissen?«

»Weil Dimples nicht ganz sauber war, und die Polizei damals glaubte, ich wäre seine Komplizin.« Sie lachte bei dem Gedanken. Ich fand ihn weniger lustig.

Wir hatten unser Ziel erreicht, den Empfang, der nach Art mittelalterlicher französischer Paläste dekoriert war. Ich überlegte, welche Stilepoche und Klimazone wir in unserem Zimmer vorfinden würden. Art déco? Byzantinisch? Griechisch rustikal?

Es war Bestes Bordello. Klein, die Wände mit Silberfolie bespannt, Bettüberwurf, Vorhänge und Teppich mit glitzernden Metallfäden durchwirkt. Wo kein Silber war, waren Spiegel. Auch an der Decke.

»Ein Geldmotiv, was meinst du?« fragte Sasha.

»Da wär mir eine Tapete aus Dollarscheinen schon lieber.«

»Das Zimmer, das ich mit Dimples hatte, war ganz anders. Aber wir hatten auch eines mit Meerblick.«

Unser Blick ging weder aufs Meer noch auf die Bucht. Vielmehr hatten wir Dächer und Feuerleitern schmutziger Backsteinhäuser vor uns, deren Rußgrau sich mit der Farbgebung unseres Zimmers schlug. Ich zog die Vorhänge zu.

»Ich nehme die Schubladen rechts und die rechte Hälfte vom Schrank.«

Sasha nickte. Doch ehe wir mit dem Auspacken anfangen konnten, läutete das Telefon. Sie hob ab. »Sasha Berg«, sagte sie mitten im Gespräch. »Die Fotografin. Haben Sie sich auch nicht verwählt?« Und dann: »Das Toffeekonsortium bezahlt nicht für –« Dann verstummte sie und hörte nur noch zu.

Schließlich legte sie auf. »Wir bekommen eine Suite.« Ihr Ton verriet Verwunderung. »Kostenlos. Ich dachte immer, die Ehre wird nur den Leuten zuteil, die das dicke Geld hier lassen.«

»Es ist nicht möglich, daß wir diese Ehre dem Kerl zu verdanken haben, mit dem du damals hier warst? Der nicht ganz sauber war? Vielleicht glauben die hier, du wärst immer noch mit ihm zusammen.«

»Damals haben sie ihm auch keine Suite bezahlt. Warum also jetzt, wo er tot ist? Das wissen die hier bestimmt. Es stand ja in allen Zeitungen.«

»Sag mir, daß der Mann eines natürlichen Todes gestorben ist. Bitte.«

»Der Mann ist eines natürlichen Todes gestorben.«

Ich atmete erleichtert auf.

»Ich meine«, fuhr Sasha fort, »es ist doch ziemlich natürlich zu sterben, wenn man eine Kugel in den Hinterkopf kriegt.«

Ich habe mich oft gefragt, wieso ihr unglaubliches Pech mit Männern Sasha so gar nicht abschreckt oder verbittert und auch nicht die geringste Spur eines posttraumatischen Schocks hinterlassen hat. Sie ist weder dumm noch masochistisch. Vielleicht kommt es daher, daß sie soviel Spaß hat, ehe die Affären in die Brüche gehen. Oder vielleicht ist sie die größte Optimistin der Welt.

»Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul«, erklärte sie jetzt.

Ich hoffte nur, daß weder das Pferd noch sein Maul noch die Wände der Suite in Silber ausgeschlagen waren.

 

Die Suite war hochelegant, und das gab mir zu denken. Waren die kleinen Spieler alle Typen mit einem Faible für Spiegeldecken, während die anderen, die mit dem Geld um sich warfen, durchweg ein Auge für das Erlesene hatten?

Salon und Schlafzimmer waren mit bequemen modernen Möbeln eingerichtet, chinesische Teppiche in weichen Pastellfarben bedeckten den Boden, Porzellan und Jadeschnitzereien schmückten asiatische Tansu-Truhen.

»Ein Jacuzzi!« rief Sasha aus dem Badezimmer. »Wie schade, daß ich mit dir hier bin.«

Die Zimmer waren in ihrem stilvollen Understatement die Antithese der Welt unten. Ein Sonnenstrahl am Horizont. Dieses Zimmer konnte mir als Rückzugsort dienen. Ich packte in Rekordzeit aus.

Sasha ließ sich Zeit. Sie legte ihre Kameras und ihr Arbeitszeug zurecht. Sie wechselte die Handtasche und überlegte in aller Ruhe, was sie brauchen würde. Sie leerte ihren Koffer zur Hälfte auf das Bett aus, fand, sie brauche dringend eine Maniküre und überlegte laut, ob sie die wohl auf ihr Spesenkonto setzen konnte.

»Hab ich dir eigentlich gesagt, daß ich heute abend ausgehe?« fragte sie.

Es machte mir nichts aus. In diesem Zimmer konnte ich es mir gutgehen lassen. Das war ein Lebensstil, an den ich mich gern gewöhnte.

Ich hatte vier Tage Ferien vor mir und drei Bücher zur Auswahl. Krieg und Frieden, das seit Jahren jeden Sommer auf meiner Leseliste steht, weil jedesmal der Herbst kommt, ehe ich es angefangen habe. Gift from the Sea, eines meiner ewigen Lieblingsbücher. Und ein abgegriffenes Taschenbuch von zweifelhaftem literarischem Wert und mit dem verheißungsvollen Titel Lust und Ausschweifung. Eine Schülerin hatte es zurückgelassen, als sie in die Ferien abgaloppiert war. Ich las es natürlich lediglich aus wissenschaftlichem Interesse.

»Als ich das letztemal hier war, vor drei Wochen, hab ich einen ganz interessanten Mann kennengelernt. Im Trump’s, der Bar im Trump Plaza. Wir haben uns für heute abend verabredet. Ich hoffe, er hat’s nicht vergessen. Er erinnert mich an Cary Grant.«

Ich wagte nicht zu fragen, in welcher Hinsicht? Grübchen im Kinn? Ein englischer Akzent? Eine Begabung für das Komische – oder, was wahrscheinlicher war, fliegenden Ehefrauenwechsel?

»Er ist sehr elegant. Europäisch. Ein richtiger Gentleman.« Sie betrachtete aufmerksam ihre Hand und ihre Fingernägel. »Aber nicht steif, wie das vielleicht klingt.« Sie stand auf und warf die Nagelfeile aufs Bett, ging zum Fenster und schob die Sonnenjalousie hoch. Einen Moment sah sie zu Strand und Meer hinunter, die kalt wirkten, aber dennoch einladend, dann seufzte sie und setzte sich wieder aufs Bett.

Ich fühlte mich plötzlich gar nicht mehr so wohl in diesem Zimmer und dieser Atmosphäre. Es war alles zu friedlich, zu heiter, zu luxuriös für mich und die Umstände meines Lebens.

Was tue ich hier? Ich gehöre nicht hierher. Das stimmt alles nicht.

Dieser asiatische Palast war nicht der Ort, an dem ich mit mir ins reine kommen konnte. Wozu ich mich im übrigen sowieso unfähig fühlte.

Was tue ich? Was soll ich tun?

Wieder rührte sich diese ängstliche Unruhe in mir. Ich wußte, daß ich jetzt unmöglich hier herumsitzen und auf Sash warten konnte, die mit nervtötender Langsamkeit ihre Sachen einzuräumen begann.

»Ist es dir recht, wenn wir uns später irgendwo treffen?« fragte ich. »Unten. Vielleicht in der Bar, an der wir vorbeigekommen sind. Ich muß – ich muß mich ein bißchen bewegen.«

»Willst du rauf in den Fitneßraum?«

»Nein, ich glaube, ich gehe an den Strand. Also – bis nachher.« Ich zog mir einen Pulli über und ging.

Im Salon unserer Suite stand ein seltsames holzgeschnitztes Kunstwerk, ein Fabeltier, pferdeähnlich, das sich auf dicken Vogelbeinen zum Sprung aufbäumte. Es hatte dichtbewimperte Mandelaugen, die mich zu fragen schienen, weißt du eigentlich, was du tust?, und sein Maul war aufgerissen und zeigte keine Pferdezähne, sondern lange, gefährliche Fänge.

Ich starrte das Maul und diese Riesenfänge an. »Sag mir, daß du nicht der geschenkte Gaul bist«, flüsterte ich.

2

Vielleicht hätte ich überhaupt nicht hierherkommen sollen. Das war entschieden nicht die Strandlandschaft, von der ich geträumt hatte. Zunächst einmal lag auch nicht der kleinste Hauch von Salz und Meer in der Luft. Wenn ich als Kind hinten im Auto meiner Eltern gesessen hatte, hatte stets ein unvergleichlicher Duft angekündigt, daß die Herrlichkeit des Meeres nahe war. Die Gerüche von Salz, Fisch, Seetang und etwas Undefinierbarem hatten sich damals zu einem Parfüm gemischt, das mir das liebste auf der Welt war.

Heute riecht das Meer von weitem nach nichts, es sei denn, es ist massiv verschmutzt. Ich weiß nicht, was aus diesem köstlichen Duft geworden ist. Entweder ist er untergegangen in Beton und anderen Gerüchen, oder aber meine Nase ist unsensibel geworden.

Trotz des kühlen Windes und obwohl es noch früh in der Saison war – Sommerferien hatten bis jetzt nur die Privatschulen wie die Philadelphia Prep School –, ging es auf dem Boardwalk – der ganz aus Holzplanken gezimmerten erhöhten Strandpromenade – lebhaft zu. Es wimmelte von Menschen, die Brezeln, Zuckerwatte und Toffee aßen; von Menschen mit breitkrempigen Schlapphüten, nackten tätowierten Hängebäuchen und T-Shirts mit flotten Sprüchen. Statt nach würziger Meeresluft roch es durchdringend nach Erdnüssen, Pizza und Hot dogs. Statt des rhythmischen Brandens der Wellen hörte man überall das Piepen und Krachen der Spielsalons mit ihren elektronischen Maschinen, das Geschrei der Kartenleger und Handleser, die Warnrufe – »Vorsicht! Aus dem Weg!« – der Atlantic-City-Kulis, die überdimensionale, mit Markisen versehene Korbsessel auf Rädern vor sich her schoben. Die Insassen dieser Gefährte wirkten leicht verlegen, waren jedoch offensichtlich froh, ihren Füßen eine Weile Ruhe gönnen zu können.

Und doch war nur wenige Meter entfernt das Meer. Ich eilte über die Planken und stieg die Treppe hinunter zum Strand, versuchte, mir die lang vergangenen Zeiten vorzustellen, als dieses Stück Marschland den Lenape-Indianern und den Wildenten gehört hatte. Wäre ich die erste Fremde gewesen, die diese vom Wind gestreichelte Marschlandschaft entdeckte, so hätte ich auch gerufen: »Hey, das ist ja paradiesisch! Kommt, wir bauen hier einen schicken Badeort auf und machen alles kaputt.«

Philadelphia war von Menschen gegründet worden, die ein neues Leben, neue Freiheit, mehr Würde gesucht hatten. Atlantic City war von Menschen gegründet worden, die Geld machen wollten. Und man merkte es.

Das Marschland war verschwunden, aber der Strand war noch da. Auch wenn er langsam ausgewaschen, langsam vom Schmutz erstickt wurde – er war noch da. Und an diesem kühlen Tag teilte ich ihn mit nur einem einzigen Mann, der mit einem Metalldetektor in der Hand vornüber gebeugt durch den Sand streifte. Auch er war noch da – vertraute Gestalt aus der Kindheit –, der Strandläufer, der nach verlorenen Ringen und vergessenen Geldstücken suchte.

Ich zog Schuhe und Socken aus, krempelte meine Jeans hoch und rannte zum Wasser. Der Sand war kalt unter meinen Füßen, und das Wasser war eisig.

Dafür aber war der Strand relativ sauber – keine roten Müllsäcke, die von New Yorks Krankenhäusern angetrieben wurden, keine Kloakenströme, die sich aus Abflußrohren ungefiltert ins Meer ergossen, keine toten Delphine wie ein paar Jahre zuvor. Ich holte ein paarmal tief Atem und beobachtete die winzigen Krebse, die sich, sobald das schäumende Wasser zurückwich, blitzartig in den feuchten Sand bohrten. Vor Jahren hatte ich wie jedes andere Kind die kleinen Tiere eimerweise aus dem Sand gewühlt, und es tröstete mich, daß sie überlebt hatten, daß ein Strand immer noch ein Strand war, wenn auch in seiner Existenz gefährdet.

Langsam ging ich zur Treppe zum Boardwalk zurück und blieb stehen, um einem Seevogel zuzusehen, der, eine dunkle Silhouette, vom Himmel herabstieß und wieder in die Höhe stieg.

Von irgendwo hörte ich ein Zischen. Laut und deutlich. Der Vogel war zu hoch oben, und sonst sah ich nichts, was das Geräusch hätte erklären können – keine Katze oder Schlange, kein leckes Heißwasserrohr, keinen angepiksten Luftballon.

Das Zischen wiederholte sich. Der Mann mit dem Metalldetektor war längst weitergezogen. Kein Mensch war zu sehen außer einem Mann, der im Jogging-Anzug mit einem Golden Retriever am Wasserrand entlanglief.

Sssss.

War dies der legendäre singende Sand?

Die späten Schatten unter dem Boardwalk gerieten plötzlich in Bewegung und zerbrachen. Eines der Fragmente bewegte sich auf mich zu, wurde zu einer Gestalt, die in mehrere Lagen Pullover und Röcke vermummt war. Ihr Haar war hellbraun, wirr und dünn. Es erinnerte mich an eine Puppe, die ich als Kind bis zur Glatzköpfigkeit beschmust hatte.

Zusammengekrümmt wie sie unter dem Boardwalk gekauert haben mußte, sah sie mich mit dunklen Augen an, die tief in ein zerknittertes Gesicht eingebettet waren, und als sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte, richtete sie sich langsam auf. »Stufen«, zischte sie. »Meine Stufen. Hab mich nur ‘ne Weile verkrochen, weil’s frisch ist. Aber ich bin noch am Leben, auch wenn’s Geld mich vergessen hat.« Ihre Stimme wurde drohend. »Das hier ist mein Platz. Such dir was andres.«

»Aber –«

»Eine Ecke ist so gut wie die andere.« Sie wedelte mit beiden Händen. Sie hatte einen roten und einen blauen Handschuh an. »Die Leute sind Schweine. Kaum kommt der Sommer, liegen hier überall Flaschen und Dosen rum. Da kannst du dir überall ein paar Kröten verdienen. Aber du kannst sein, wo du willst, immer wollen sie dich vertreiben, wegjagen. Jeden Abend. Von hier auch.«

»Aber ich – ich bin nicht – ich bin nur für ein paar Tage hier. Im Casino.« Ich hätte es gern komisch gefunden, daß meine zerschlissene Jeans und mein schäbiger Pulli sie auf den Gedanken gebracht hatten, ich wolle in ihrem Revier wildern. Aber es gelang mir nicht. Sie hatte meinen schlimmsten Ängsten, den schlimmsten Ängsten fast jeder unterbezahlten, unterversicherten alleinstehenden Frau, vermute ich, ein Gesicht gegeben. Eine Obdachlose zu werden, eine Pennerin – allein, ausgeliefert, mittellos und vielleicht leicht verrückt. »Ich wollte Sie nicht belästigen.«

»Es gibt eben Gewinner.« Sie machte mit beiden Händen eine Bewegung, als würfe sie etwas in die Luft. »Denen fällt das Geld in den Schoß. Und dann gibt’s die Verlierer. Was zum Teufel sagen die? Ich weiß, wie’s ist.«

»Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.« Ich wandte mich ab.

»Hast du vielleicht ‘nen Dollar?«

Zu Hause habe ich immer einen Schein oder ein paar Münzen für solche Fälle in der Tasche; aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß mir hier am Strand so jemand begegnen würde.

»Ich habe nur meinen Zimmerschlüssel dabei«, erwiderte ich betreten. »Aber ich komme wieder.«

»Na klar«, brummte sie.

»Nein, ehrlich. Sind Sie – immer hier?« Was tut eine ehemals nette, ordentliche Frau wie Sie hier an diesem einsamen Strand? Ich wollte ihre Geschichte wissen – von Anfang bis Ende. Wenn ich wußte, wie und warum es mit dieser Frau so weit gekommen war, würde ich dann auch wissen, wie ich ein gleiches Schicksal von mir abwenden konnte? Leider war es so, daß die Möglichkeiten der Talfahrt ins Abseits nur um so vielfältiger und einfacher zu werden schienen, je mehr solcher Geschichten ich zu hören bekam.

Sie starrte mich mit zusammengekniffenen Augen aufmerksam an und sagte, als hätte sie meine Gedanken und meine tiefsten Ängste gelesen, in sachlichem Ton: »Ich war auch mal wie du. Du glaubst es vielleicht nicht, aber es ist wahr.« Sie lachte leise.

Ihre Worte klangen wie einstudiert oder zumindest häufig gebraucht, und wahrscheinlich traf beides zu. Außerdem schien sie leicht übergeschnappt zu sein und war es vermutlich auch. Das hätte sie und ihre Worte eigentlich weniger bedrohlich machen müssen, aber so war es nicht.

»Ja!« Sie riß beide Arme in die Höhe. »Fertig und ruiniert!« schrie sie. Dann senkte sie ihre Arme und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Die Männer, verstehst du?«

War sie wirklich einmal so gewesen wie ich?

»Ich beobachte den ganzen Tag.« Sie wies mit dem Zeigefinger im roten Handschuh auf mich.

»Mich?«

»Alle. Die Urlauber und die Gäste. Letzte Woche hab ich Donald gesehen. Du weißt doch, wer er ist? Hab mich mit ihm über die Hochfinanz unterhalten.« Sie lachte wieder. Ihr rechter Schneidezahn fehlte.

Das stimmte natürlich nicht, dennoch mußte ich fragen. »War er großzügig?«

»Großzügig? Der?« Sie fiel vor Lachen in den Sand. »Keinen Penny hat er mir gegeben. Er hätte nie Kleingeld bei sich, hat er gesagt.« Sie warf sich auf den Rücken und starrte zu mir herauf. Dann sagte sie in einem Ton tiefsten Weltverdrusses: »Die reichen Kerle sind die schlimmsten, stimmt’s?«

Ich half ihr wieder auf die Beine und klopfte ihr den Sand von den Kleidern. »Alles in Ordnung?« fragte ich.

»Ich bin Georgette.«

Sollte das eine Antwort auf meine Frage sein? »Und ich bin Mandy«, antwortete ich. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.«

Plötzlich ernst, sah sie mir direkt in die Augen. »Ja«, sagte sie. »Ich war auch mal wie du. Ich hatte auch Vorhänge an den Fenstern.«

 

Sasha war noch nicht in der Bar. Doch bevor ich hinaufging, um sie und etwas Geld für die Pennerin zu holen, machte ich einen Abstecher zur Toilette, um mir, unter anderem, den Schmutz von den Händen zu waschen.

Ich mußte unaufhörlich an Georgette denken, und das war vermutlich der Grund, warum ich beinahe mit einer nervös wirkenden, ziemlich aufgedonnerten älteren Frau zusammengestoßen wäre, die mir den Ausgang versperrte. Ich wartete darauf, daß sie mir ausweichen würde, aber sie tat es nicht.

»Wollen Sie hinaus?« fragte ich schließlich.

»Bitte?«

»Ob Sie hinaus wollen«, wiederholte ich lauter. »Die Tür ist direkt hinter Ihnen. Erlauben Sie, daß ich sie benütze?« Das klang ziemlich blöd, und sie machte einen verwirrten Eindruck auf mich. »Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung?« wiederholte sie und neigte den Kopf zur Seite, um über die Frage nachzudenken. Ihr Haar war kükengelb, ihre Locken steifgelackt. »Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, Kind. Ihr jungen Leute habt euer eigenes Leben. Ich komme schon zurecht.«

Eindeutig etwas daneben. Eindeutig nicht meine Sache. Ich streckte den Arm nach der Türklinke aus.

»Das heißt«, bemerkte sie, »ich hoffe, ich werde zurechtkommen.«

Ich atmete einmal tief durch. Ich hatte für heute mein Quantum an verschrobenen älteren Damen genossen. Ich mußte jetzt meinen Urlaub gestalten. »Wie meinen Sie das – Sie hoffen es?« Wieder einmal machte mein Mundwerk sich selbständig.

»Tja, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.« Sie verschränkte die Arme über ihrem üppigen Busen und begann mit solchem Gusto zu sprechen, daß ich wußte, daß ich die unglückselige kleine Fliege war, auf die diese Spinnenfrau gelauert hatte. »Ich werde belästigt.« Sie neigte sich näher und flüsterte. »Sexuell, meine ich.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Kindchen«, sagte sie beschwörend, »meine Grenzen werden verletzt.«

»Das klingt schmerzhaft, aber ich bin mit einer Freundin verabredet und kann jetzt leider –«

»Haben Sie ein Herz aus Stein oder glauben Sie mir nicht? Sagen Sie schon. Sie finden, ich bin zu alt? Er ist zu alt? Haben Sie schon mal den Ausdruck ›schmutziger alter Mann‹ gehört? Oder glauben Sie, daß Männer mit zunehmendem Alter besser werden, genau wie Wein?«

Ich seufzte. »Wenn Sie ein Problem haben, dann melden Sie es doch einem der Angestellten oder der Geschäftsleitung oder auch der Polizei.«

»Ihm kann niemand was anhaben. Er steht über dem Gesetz.«

»Also, das glaube ich nun wirklich nicht, Miss –«

»Mrs. Rudy …« Der Nachname klang wie Smirtz. Sie tupfte sich die Augen und plapperte weiter. »Mein verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, war ein guter Mann. Lala. Nennen Sie mich Lala.«

»Das ist ein ungewöhnlicher Name.«

»Ein Spitzname unserer Familie. Meine Großmutter und meine Tante werden auch so genannt. In Wirklichkeit heißen wir alle drei Henrietta.« Wieder neigte sie sich dicht zu mir. »Tommy steht über dem Gesetz. Niemand würde es wagen, ihm zu nahe zu treten. Er knabbert an meinem Hals und sagt, ich hätte einen heroischen Busen wie eine Walküre. Er sagt, meine Fesseln seien eine Augenweide. Aber ich bin fertig mit den Männern, seit mein Rudy gestorben ist. Tommy hat mir erklärt, er liebe meine Seele, er sei ein Romantiker und würde niemals aufgeben. Er fährt immer mit dem Bus mit mir hier herunter und fährt auch wieder mit mir zurück. Und auf der Fahrt versucht er immer, zudringlich zu werden.«

»Warum sagen Sie ihm nicht klipp und klar, er soll Leine ziehen?«

»Ich habe Angst. Er hat Verbindungen, verstehen Sie? Ich kann mein Leben nicht genießen. Ich kann nicht einmal im Casino meinen Spaß haben. Für was für eine Frau hält er mich eigentlich?«

»Also wirklich, ich muß jetzt gehen. Ich würde Ihnen raten, in Zukunft einen anderen Bus zu nehmen.«

Sie schüttelte den Kopf mit den gemeißelten Locken. »Ich hab keinen Geldscheißer, Kindchen. Ich bin eine alte Frau, und jeder Penny zählt, der Bus ist gechartert. Wir zahlen jeder acht Dollar für die Fahrt. Das ist an sich schon ein echtes Geschäft. Aber dann geben sie uns außerdem noch fünf Dollar für den Tag und einen Fünf-Dollar-Gutschein für den nächsten Bus. Wie soll ich da einen anderen Bus nehmen?«

»Dann fahren Sie doch gar nicht her.«

»Hab ich etwa nicht das Recht auf ein bißchen Spaß? Ein bißchen Vergnügen?«

»Hm, das ist wirklich ein Problem.« Ich bin ungern unhöflich zu älteren Leuten, aber ich war bereit, sie niederzuschlagen, wenn sie mich nicht endlich durchlassen würde. »Benehmen Sie sich wie eine moderne Frau. Riskieren Sie es. Sagen Sie ihm, daß Sie nicht interessiert sind. Fahren Sie mit einer Freundin zusammen. Oder mit einem anderen Mann. Erwirken Sie eine einstweilige Verfügung gegen ihn. Lernen Sie Selbstverteidigung. Gebrauchen Sie Ihren gesunden Menschenverstand.«

»Ganz ehrlich gesagt.« Sie legte ihre blaugeäderte Hand auf meinen Arm. Ihr Nagellack hatte die Farbe von Bubble-Gum. »Sie können doch etwas für mich tun.«

Hatte die Frau mir denn überhaupt nicht zugehört?

»Nein«, sagte ich. »Tut mir leid. Ich kann nichts für Sie tun.«

»Es ist so einfach.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Tun Sie so, als würden Sie mich kennen. Bitte.« Sie trat einen Schritt zurück und sah zu mir hinauf. »Retten Sie mich.« Ich war mit meinen eins siebzig gut einen Kopf größer als sie und meiner Schätzung nach ungefähr vierzig Jahre jünger.

»Tut mir leid, aber –« Ich hab schon einen Fall, die Frau, die unter dem Boardwalk wohnt, wissen Sie. Das Büro für Schuldgefühle ist geschlossen.

»Fünf Minuten, mehr verlang ich ja gar nicht. Bitte, sagen Sie ja, Kindchen. Machen Sie mit. Im Namen der Frauensolidarität.« Sie hob eine geballte Faust.

Schamlose Manipulation. Sich als Feministin auszugeben. Aber was zum Teufel? Sie schien vor diesem Mann wirklich Angst zu haben.

»Also gut, fünf Minuten«, sagte ich, und Arm in Arm traten wir in die schummrige Bar. Ich hielt nach einem finsteren Typen Ausschau, dem man seine »Verbindungen« auf den ersten Blick ansah.

Lala führte mich zu einem schmächtigen Dörrpflaumenmännchen.

Dieser lüsterne Schurke, der Lala in einen Taumel der Angst versetzt hatte, stieß seinen Stuhl zurück und sprang auf, um Haltung anzunehmen. Trotz der beinahe winterlichen Temperaturen draußen trug er einen leichten Seersucker-Anzug und weiße Schuhe. Nur die Kreissäge fehlte, um das Bild des Dandys der Jahrhundertwende zu vervollständigen.