Mummenschanz - Gillian Roberts - E-Book

Mummenschanz E-Book

Gillian Roberts

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Beschreibung

Silvester in Philadelphia: Bei einem turbulenten Maskenfest werden Amanda Pepper und ihr Freund, Detective MacKenzie, Zeugen eines Mordes. Als einer der Verdächtigen Amanda zu seinem Alibi machen will, wird ihr Mißtrauen geweckt. Schon bald steckt sie bis über beide Ohren in Schwierigkeiten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gillian Roberts

Mummenschanz

Ein Amanda-Pepper-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg-Ciletti

FISCHER Digital

Inhalt

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1

»Ihr werdet euch den Tod holen.« Meine Mutter lebte schon lange in Florida, und ihr Verhältnis zum Wetter war entsprechend gestört.

Ich sagte nichts.

»Wär’s denn so schlimm, ab und zu mal auf mich zu hören? Es wäre vielleicht ein guter Neujahrsvorsatz.«

Rückblickend muß ich ihr recht geben. Aber hinterher ist man ja immer klüger.

»Ich kann nicht verstehen, daß du da ein fünfjähriges Kind hinschleppen willst«, nörgelte sie weiter. »Bei euch hat es minus fünfzehn Grad! Das steht hier in der Zeitung.«

Die Zeitung von Southland war stets voll von guten Nachrichten, und es waren immer die gleichen: »Hurra! Überall schlechtes Wetter, nur bei uns nicht!«

Und in der Tat waren wir seit Tagen mit knirschender Kälte geschlagen, die, wie es hieß, auch in den Januar hinein anhalten sollte.

»Ich hab dir gesagt, du sollst deine Winterferien hier verbringen«, fuhr sie fort. »Hier hatten wir heute neunundzwanzig Grad.«

Ich hatte angerufen, um meinen Eltern ein gutes neues Jahr zu wünschen, und dummerweise erwähnt, daß Mackenzie und ich mit Karen, der Tochter meiner Schwester, am nächsten Morgen zum traditionellen Maskenfestzug von Philadelphia, der Mummers’ Parade, gehen wollten.

»Minus fünfzehn bei euch und schönstes Sommerwetter hier«, wiederholte meine Mutter.

Seit die Frau nach Süden gezogen ist, bildet sie sich ein, ich wäre ganz scharf auf vergleichende meteorologische Daten. Je größer der Unterschied zwischen dem Stand des Thermometers hier und dem der Quecksilbersäule dort, desto dringender ist ihr Bedürfnis, mir das unter die Nase zu reiben.

»Wir haben bei Sonnenuntergang noch einen Spaziergang gemacht«, berichtete sie. »Dein Vater und ich. Es war unglaublich mild. Am Ende habe ich sogar geschwitzt.«

»Reib dich nur immer schön ein«, versetzte ich kurz. »Nicht daß dein Gesicht am Ende wie Hackfleisch aussieht. So, und jetzt sehe ich besser mal nach Karen und –«

»Das arme Kind wird sich zu Tode frieren.«

»Du tust ja gerade so, als wäre sie das Mädchen mit den Schwefelhölzchen. Es ist ihr kulturelles Erbe.«

»Was? Zu frieren?«

»Die Mummers’ Parade. Wenn wir für unsere Festzüge schönes Wetter brauchten, wären wir in New Orleans geboren. Wir sind hart im Nehmen, wir sind aus Philadelphia.«

»Karen wohnt überhaupt nicht in Philadelphia«, widersprach meine Mutter. »Sie lebt außerhalb. Die haben dort ihre eigenen Traditionen.«

Ich stellte mir die Mitglieder der Main-Line-Schickeria in ihren Golfklamotten vor, wie sie bei Banjogeklimper im gesetzten Schritt um das achtzehnte Loch herumstolzierten. Unmöglich. »Ja, Couponschneiden, Mutter, und dabei zuzusehen macht überhaupt keinen Spaß.«

»Ach Amanda«, seufzte sie. Das Jahr endete, wie es begonnen hatte, mit leiser Enttäuschung meiner Mutter über meine Wertvorstellungen. Nun ja, da bestand wenigstens eine gewisse Symmetrie.

 

»Na, Karen«, sagte ich am nächsten Tag, als wir fröstelnd auf dem Bürgersteig standen. »Was ist vier Kilometer lang, zwanzig Meter breit, vier Meter hoch und ganz mit Federn bedeckt?«

Sie überlegte angestrengt, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Die Mummers’ Parade!« sagte ich, obwohl es nicht ganz einfach war, mit klappernden Zähnen Witze zu machen. Während wir uns die letzten vorüberziehenden Clowns ansahen, fiel mir wieder ein, warum ich die letzten Umzüge hatte ausfallen lassen. Die Luft war bitterkalt und der Wind schneidend. Sich bei dieser Witterung auf die Straße zu stellen, um den Maskenzug zu sehen, war wirklich nur etwas für Masochisten. Sie nahmen darauf keine Rücksicht. Verschoben wurde das Schauspiel nur, wenn Regen oder Schnee die teuren und wenig widerstandsfähigen Kostüme gefährdeten. Ob die Zuschauer gefährdet waren, kümmerte niemanden.

»Diese Stadt sollte endlich mal umdenken und so ein Freiluftspektakel zu einer Jahreszeit veranstalten, in der man mit gutem Wetter rechnen kann«, bemerkte Mackenzie. Er zwinkerte dabei, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, aber das gelang ihm nicht.

Ja, es wäre wirklich schön, wenn eine so große und prachtvolle Veranstaltung zu einer Zeit abgehalten werden würde, die freundliches Wetter verspricht. Aber nein, es ist ein alljährlicher Kampf – die Masken gegen Mutter Natur. Beide treten in voller Ausrüstung an, und die Schlacht tobt vom Morgen bis zum Abend. Im allgemeinen endet sie unentschieden.

Allerdings kann man dafür nicht die Stadt Philadelphia verantwortlich machen. »Der Zug kann nur um diese Zeit stattfinden«, sagte ich.

»Warum?« fragte Karen.

Mackenzie verzog das Gesicht. »Nicht schon wieder.«

Ohne auf ihn zu achten, sagte ich zu Karen: »Weil er auf eine mehr als tausendjährige Tradition zurückgeht. Die Druiden machten Lärm, um in der dunkelsten Zeit des Jahres die bösen Geister zu vertreiben. Die Menschen in verschiedenen Gegenden Europas kleideten sich in Masken und Kostüme und führten Tänze oder Theaterstücke auf, und das stets in der Zeit, wenn das alte Jahr zu Ende ging.«

Mackenzie stöhnte.

Warum hatte ich diesen Ausflug vorgeschlagen? Soweit ich mich erinnere, entsprang die Idee einer hitzigen Debatte darüber, wer den besseren Maskenzug zu bieten hatte. Sie basierte auf reinem Lokalpatriotismus; keiner von uns beiden hatte je den Umzug in der Heimatstadt des anderen gesehen. Doch der Mardi Gras genießt solche Popularität, daß ich den Festzug immerhin am Fernsehen miterlebt hatte.

»Ist doch ganz klar«, hatte Mackenzie gesagt. »Der Mardi Gras ist bekannter, weil er besser ist.«

Ich mußte ihn belehren. »Falsch. Der Mardi Gras ist ein gesellschaftliches Ereignis. Einem bestimmten Kreis anzugehören, verleiht gesellschaftlichen Status, und ich bin sicher, da wird nicht jeder aufgenommen. Die Masken in Philadelphia hingegen gehören der Arbeiterklasse an, das war immer so. Die Maskenparade ist ein Volksspektakel, über das nicht in den Gesellschaftsklatschspalten berichtet wird. Da gibt es keine Hackordnung oder bestimmte gesellschaftliche Vorschriften innerhalb der einzelnen Vereine. Es gibt Konkurrenz, ja – aber die ist freundschaftlicher Art; sie betrifft den Stil der Kostüme und den Erfolg. Und natürlich müssen die Vereinsmitglieder einen Neuling mögen, ehe er aufgenommen wird. Er braucht einen Bürgen, muß zu ein paar Treffen kommen –«

»Es ist also genauso eine abgeschlossene Welt.«

Ich zuckte die Achseln. Er hatte recht, es war eine abgeschlossene Welt, aber von anderer Art als die der Mardi-Gras-Vereine. Und darum hatte ich Mackenzie zu einer vergleichenden Festzugsbegutachtung herausgefordert. Um ihm die Sache zu versüßen, hatte ich ihn mit einer Frage gelockt, die ihn als Kriminalbeamten dienstlich interessieren mußte: Was ist aus Theodore Serfi geworden?

Serfi hatte am Dienstag vor Weihnachten an einem Treffen seines Maskenvereins teilgenommen und war danach spurlos verschwunden. Seitdem wurde gemunkelt, er sei von einer rivalisierenden Familie in deren Blutwurst verarbeitet worden. Auf Reklameposter für Kings Wurst konnte man seit kurzem die natürlich nicht offiziell genehmigte Frage lesen: Wessen Blut steckt in Kings Wurst? Die – wenn auch unbestätigte – Antwort lautete: Ted Serfis.

Ich hatte eine andere Theorie. »Vor Jahren«, erklärte ich Mackenzie, »war es Brauch, die Männer konkurrierender Maskenvereine zu entführen und bis zum Neujahrsmorgen als Geiseln festzuhalten, um sie dann zu zwingen, beim Festzug in der eigenen Sektion mitzumarschieren. Vielleicht taucht Serfi in einer neuen Sektion wieder auf. Vielleicht ist das nichts weiter als ein historischer Gag.«

Mackenzie war der Meinung, Ted Serfi, von dem es hieß, er habe mit der Mafia zu tun gehabt, sei um die Ecke gebracht worden. Im Augenblick jedoch galt er lediglich als vermißt und war daher für einen Beamten der Mordkommission nicht von Belang. Immerhin hatte er, um seine Gutwilligkeit zu zeigen, gesagt, wenn Ted Serfi tatsächlich als Geisel einer konkurrierenden Sektion aufkreuzen sollte, würde er sich gern für seinen Zynismus entschuldigen.

Ich recherchierte seit mehreren Monaten für einen Artikel, den ich gerade schrieb – nein schreiben wollte. Der Chefredakteur unserer Schülerzeitung hatte mich als beratende Lehrkraft herausgefordert, die Behauptung: »Die, die’s können, tun’s; die, die’s nicht können, unterrichten‹ entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Er schrieb gerade an einem Aufsatz über unseren Lehrkörper, der auf diesem schrecklichen Sprichwort basierte. Was blieb mir also anderes übrig, als die Herausforderung anzunehmen? Auch ich würde mich als aktive Journalistin betätigen. Ich würde selbst einen Artikel schreiben und verkaufen.

Obwohl ich meine Dankesrede zur Verleihung des Pulitzer-Preises bereits im Kopf hatte, war ich bisher nicht zu mehr gekommen, als mir ein paar vorbereitende Notizen zu machen. Dafür hatte ich jede interessante kleine Tatsache, die ich entdeckte, sofort an Mackenzie weitergegeben und dabei die Feststellung gemacht, daß Mackenzie und ich uns nicht immer darüber einig waren, was interessant war.

Selbst hierher, zum Festzug, hatte ich meine Karteikarten mitgenommen. Nur war es leider viel zu kalt und zu kompliziert, die Fausthandschuhe auszuziehen und die Karten aus meiner Tasche zu fischen.

»Sind das Druiden?« fragte Karen, als eine Gruppe mit Bändern geschmückter Clowns in dem für die Masken typischen Paradeschritt, der an das Stolzieren flügelschlagender Gockel erinnerte, vorbeimarschierten.

»Tante Mandy wird all deine Fragen in ihrem Artikel beantworten«, sagte Mackenzie. »Vorausgesetzt natürlich, sie bringt ihn irgendwann zu Ende.«

»Mensch, bist du fies, Comus«, schimpfte ich.

»Fies?« echote Mackenzie. »Comus?«

Seit anderthalb Jahren versuchte ich verzweifelt dahinterzukommen, was das C.K. vor seinem Nachnamen bedeutete, und hatte immer noch keine Ahnung. »Comus war der Gott der Freuden und Gesänge. Aber für diesen Namen bist du viel zu fies.«

»Er ist nicht fies«, widersprach Karen.

Nein, er war einfach nur ein unerträglicher Typ, der immer das tat, was er sich vorgenommen hatte, und von allen anderen das gleiche erwartete. Von mir erwartete er, daß ich diesen Artikel schreiben würde, weil ich gesagt hatte, daß ich es tun wollte. Und er wußte, daß ich Angst hatte, mich darauf einzulassen und zu riskieren, daß dieses gemeine Sprichwort sich als richtig erweisen würde. Also gab er mir ständig kleinere und größere Tritte, und ich spielte die Empörte und fand tausend Entschuldigungen. Der Artikel blieb ungeschrieben.

»Sind das Druiden, Tante Mandy?« fragte Karen nochmals.

»Nein, aber es sind vielleicht die Nachfahren der Druiden. Und vieler anderer, die ihre Neujahrsbräuche in ihr neues Heimatland mitbrachten. Die Finnen maskierten sich, die Schweden begrüßten das neue Jahr mit Schüssen aus Gewehren oder Kanonen – die Teilnehmer an der Mummers’ Parade – sprechen selbst von sich als den Schützen.«

»Aber heute schießen sie nicht«, warf Mackenzie ein. »Das tun sie schon lange nicht mehr.«

Karen wirkte erleichtert.

»Die Engländer pflegten Maskentänze aufzuführen, die schottischen und irischen Männer verkleideten sich als Frauen –«

»Wie der da?« Karen deutete auf eine Gestalt mit langen Zöpfen, die ein Rüschenkleid und goldene Schuhe trug. Sie und ihr männliches Pendant im paillettenbesetzten Smoking entstammten der Varietétradition, aber aufgrund eines warnenden Blicks von Mackenzie unterließ ich es lieber, darauf hinzuweisen, und blieb bei den alten europäischen Einflüssen.

»Bei den Deutschen zum Beispiel gab es eine Maske, die den heiligen Nikolaus begleitete. Das war der Knecht Ruprecht.«

»Ein ganz gemeiner Kerl war das«, bemerkte Mackenzie. Ich strahlte ihn an. Er spottete nicht, er gähnte nicht, er beteiligte sich tatsächlich ernsthaft am Gespräch.

»Ich glaube, ich könnte den Artikel bald selbst schreiben«, fügte er hinzu. »Hm, vielleicht sollte ich das ja tun.«

Das Strahlen verging mir wieder.

»Hat der Knecht Ruprecht auch Geschenke mitgebracht?« fragte Karen fasziniert.

»Nein, der hat die bösen Kinder verhauen, und die guten hat er verschont. Das war das einzige Geschenk. Er hat ganz scheußlich ausgesehen, mit Haaren wie aus Stroh und einem langen Bart. Und meistens hatte er schwere Ketten dabei, und an seinen Kleidern hatte er Pelzstücke.«

Pelz. Ich fröstelte. Der schlimme Knecht Ruprecht hatte Pelz tragen dürfen, ich durfte nicht einmal daran denken.

Der einzige Pelz, den ich besaß, war zu Hause, miaute und zerkratzte mir die Polstermöbel.

»Kurz und gut«, sagte ich, »die Menschen feiern diese Zeit des Jahres schon seit uralten Zeiten auf die verschiedensten Weisen, aber in Philadelphia sind alle diese unterschiedlichen Bräuche miteinander verschmolzen, und es ist dieser Festzug daraus geworden.«

Mackenzie verdrehte die Augen. »Du brauchst dich wirklich nicht verpflichtet zu fühlen, dem Kind dein gesamtes Wissen mitzuteilen.«

»Sie hat doch danach gefragt. Wenn Kinder fragen, warum etwas so oder so ist, antwortet man als Erwachsener ganz einfach – und basta.«

Mein Bedürfnis, meine Gedanken und mein Wissen mit anderen zu teilen, störte ihn erst, seit wir zusammenlebten. So wie ich sein Bedürfnis, jeden ordentlich aufgereihten Schuh mit einem Spanner zu versehen, ausgesprochen zwanghaft fand.

»Und du behauptest, du hättest ein Faible für Geschichte.«

»Habe ich auch. Genauso wie für den Grundsatz »Alles in Maßen«.Und das gilt auch für den Maskenzug und den Aufenthalt im Freien bei arktischen Temperaturen.« Er kroch tiefer in seinen Parka und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Masken, die auf ziemlich derbe Art verschiedene Politiker verhöhnten.

Wir stampften mit den Füßen und rieben unsere Hände, während unser Atem in Dampfwölkchen in die Luft stieg. Wir waren erst angekommen, nachdem die Polizei- und Feuerwehrkapellen und ein großer Teil der Clown- und Komödiantengruppen bereits vorübergezogen waren. Seitdem hatten wir uns langsam immer weiter nach vorn durchgedrängt. Mit gereckten Hälsen beobachteten wir eine Gruppe Clowns, die sich dem grauen Winter zum Trotz in den schönsten Sommerfarben geschmückt hatten. In Apfelgrün, Butterblumengelb und Kornblumenblau leuchteten ihre pailettenglitzernden Satinkostüme und Gesichter.

Die Familie vor uns – Freunde oder Verwandte der farbenfrohen Gruppe – entschloß sich zu gehen, und wir drangen bis zur Absperrung vor. Karen lachte entzückt, als ein Clown, der aus der Reihe tanzte, ihr mit dem Zeigefinger einen lilafarbenen Strich auf die Nase malte.

»Wann kommt denn nun dein Freund?« Mackenzie hatte nicht viel Sinn für solche Spektakel. Für mich hingegen hatte dieses bunte Treiben, dem so viele Menschen sich mit Herz und Phantasie hingaben, etwas Magisches. Und immer hat es für mich etwas Mystisches, sich hinter einer Maske zu verbergen und für ein paar Stunden eine ganz andere Identität anzunehmen.

Mackenzie läßt so etwas kalt. Er war einfach nur ungeduldig.

Der Freund, von dem er gesprochen hatte, war Vincent Devaney, ein Lehrer an der Philadelphia Preparatory School, der mir bei meinen Recherchen geholfen hatte. Ja, er war derjenige gewesen, der mir das Thema vorgeschlagen hatte, und hauptsächlich seinetwegen standen wir jetzt fröstelnd in der Kälte dieses Neujahrstags. Er war vor vier Monaten an die Schule gekommen, nachdem er an der Temple-Universität sein Biologiestudium abgeschlossen hatte. Im Nebenfach schien er, nach seinen Interessen zu urteilen, die Geschichte der Masken von Philadelphia studiert zu haben.

»Vincent ist Mitglied in einem Maskenverein«, erklärte ich.

»Und was heißt das?«

»Es gibt vier Gruppen. Wir haben jetzt immer noch die erste vor uns, die aus den Clowns- und Komödiantenvereinen besteht.« Ich deutete zur Straße, wo immer noch Scharen von Spaßmachern vorüberzogen. Sie waren die am wenigsten streng organisierte, die spontanste und größte Gruppe.

»Und die Maskenvereine kommen als nächstes?«

»Ja. Das sind die mit den raffiniertesten Kostümen. Sie sind alle auf großen Gerüsten aufgebaut.«

»Das heißt also, daß der gute Vincent bald erscheinen wird?«

Er war schlimmer als ein Kind. Karen hingegen beobachtete hingerissen einen kleinen Jungen, der als Harlekin herausgeputzt war. Sein kleiner Anzug war ein Mosaik aus flitterglänzenden Karos, und auf dem Kopf trug er eine glitzernde Harlekinsmütze. »So möchte ich auch mal gehen«, sagte sie träumerisch.

»Es sieht wahrscheinlich lustiger aus, als es ist«, meinte ich. »Da draußen auf der Straße ist es noch kälter als hier im Gedränge, und der Anzug mit dem ganzen Klimbim drauf ist bestimmt sehr schwer.«

»Trotzdem, so möchte ich auch mal gehen«, wiederholte sie wie hypnotisiert.

Kein Wunder. Der glitzernde Kleine zog alle Aufmerksamkeit auf sich, wie er da im Takt zur Musik tanzte und herumsprang.

Mackenzie war weniger beeindruckt. »Ich wünschte, die würden ein bißchen schneller machen«, sagte er.

»Wieso? Saust der Mardi-Gras-Umzug mit Überschallgeschwindigkeit vorbei?«

Er zog sein Taschentuch heraus und schneuzte sich. »Das ganze Spektakel wird im Fernsehen übertragen«, sagte er leise. »Wir könnten nach Hause gehen, ein warmes Feuer machen, eine Kanne Kaffee kochen und uns das Ganze gemütlich vom Sofa aus ansehen. Ich meine, du machst dir ja nicht mal Notizen oder tust sonst irgendwas, was du nicht auch zu Hause tun könntest.«

Ja kapierte er denn nicht, daß meine Finger vor Kälte so steif waren, daß sie gar keinen Stift halten konnten? »Ihr Südstaatler seid doch die reinsten Gewächshauspflanzen«, gab ich zurück.

Doch gerade als ich nahe daran war, den Rückzug anzutreten, erschienen die ersten Banner eines Maskenvereins. Doch es war nicht Vincents Verein. Die Zuschauer klatschten, als sie die Schar nahender, prächtig mit Federn und Glitzer herausgeputzter Gestalten sichteten.

Auch mich packte erwartungsvolle Erregung.

»Ich muß aufs Klo«, sagte Karen neben mir. »Dringend.«

»Na, da müssen wir uns beeilen«, sagte ich.

»Ganz in meinem Sinn«, bemerkte Mackenzie.

Der Festzug bewegte sich nicht schneller vorwärts als zuvor, und das war gut so, denn wir brauchten lange, um uns durchs Gewühl nach hinten zu drängen, während Mackenzie an der Absperrung blieb, um unsere Plätze zu sichern. Nachdem wir über Dutzende von Füßen gestolpert und zahllose Zuschauer verärgert hatten, mußten wir in einer schier endlosen Schlange vor den im Wind wackelnden Wanderklos warten, die die Stadt aufgestellt hatte. Trotz der relativ großen Entfernung und des allgemeinen Lärms konnten wir die Festmusik hören, und ich lauschte ständig mit einem Ohr, um festzustellen, ob eine neue Truppe herankam.

Als Karen ihr Geschäft erledigt hatte, setzte die Musik vorübergehend aus, und ich nahm mir die Zeit, um auf dem Rückweg heiße Brezeln mit Senf für uns alle zu kaufen, hauptsächlich aber für Mackenzie – als Friedensangebot.

Wir kauten füßestampfend, während wir auf die nächste Gruppe warteten. Mackenzie sah auf seine Uhr. »Kannst du nicht einfach lügen und sagen, du hättest dir den ganzen Zug angesehen?« fragte er mich hinter Karens Rücken.

»Ich kann nicht gehen, bevor Vincent vorbei ist.« Ich fand, das wäre ich ihm schuldig. Immerhin hatte er mir Einblick in seine Welt gewährt; da war es das mindeste, daß ich ihm am Tag seines Triumphes zujubelte.

Sein Beruf als Lehrer war Vincent wichtig. Er ernährte ihn, seine Frau und seinen kleinen Sohn. Und Vincent war gut in seiner Arbeit und mit Enthusiasmus dabei. Doch seine Leidenschaft galt den Masken, sein Jahr richtete sich nach dem Kalender des Umzugs. Er war ganz außer sich gewesen, als in seinem Verein Probleme persönlicher und finanzieller Natur aufgetreten waren, die ihn an den Rand der Auflösung gebracht hatten. Man hatte es geschafft, die Risse so zu kitten, daß wenigstens die Teilnahme des Vereins am diesjährigen Umzug nicht ins Wasser fiel. Es war wichtig, daß ich ausharrte, denn niemand wußte, ob es den Verein nächstes Jahr noch geben würde. Mackenzie seufzte nur und machte sich dann trotz der Brezeln und der Thermosflasche voll heißer Schokolade, die ich mitgebracht hatte, davon, um noch etwas zu essen zu kaufen. Um die Zeit totzuschlagen, dachte ich.

Der Himmel verdunkelte sich, und der Wind blies immer stärker, fegte ein Sammelsurium von Papierfetzen und anderen Abfällen die Broad Street hinunter. Ich dachte an die Bands und die Vereine, die noch am Start standen und Kilometer vor sich hatten, ehe sie die Richtertribüne am Rathaus erreichen würden. Was trugen sie wohl unter Federn und Satin, um sich vor der bitteren Kälte zu schützen?

Dann näherte sich endlich langsam der nächste mit Bannern geschmückte Festwagen – Vincents Verein. Seine Gruppe war mehrere hundert Mann stark und zog bei weitem nicht so beschwingt heran wie vorher die Clowns und Spaßmacher. Die Kostüme dieser Angehörigen der Maskenvereine sind echte Kunstwerke mit riesigen gefiederten und kunstvoll gestalteten Kopfbedeckungen, mit Gesichtsmasken, großen Halskrausen und Schleppen, die häufig so üppig sind, daß sie getragen werden müssen. Und jeder Zentimeter des Kostüms ist verschwenderisch dekoriert.

Viele dieser Masken schmücken sich mit ganz besonderen Kostümen, die auf umfangreiche Gerüste aus Holz und Metall montiert sind und den Träger umgeben wie eine gewaltige Krinoline, die am Hals beginnt. Man braucht kräftige Schultern, um so ein Gerüst, das an die fünfzig Kilo wiegen und einen Umfang von sieben Metern haben kann, stundenlang durch die Straßen zu schleppen, selbst wenn die Vertikalstreben mit Rollen oder kleinen Rädern versehen sind. Und das schon an einem windstillen Tag.

Bei einer steifen Brise wie an diesem ersten Januar können Capes und Umhänge wie Segel wirken, der Träger des Gestells wird entweder zum Spielball des Windes oder aber das ganze Gerüst bricht zusammen und endet als unansehnlicher Haufen Holz, Stahl und Stoff.

Eine dieser überdimensionalen Masken, ganz in lange Bahnen irisierenden Stoffs gehüllt, näherte sich jetzt, umringt von Männern in silbernen Anzügen mit federgeschmückten Capes, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Von dem Menschen unter dem stoffbehängten Gerüst war nichts zu sehen. Er präsentierte sich als ein bewegliches achteckiges Zelt mit dem Kopf eines Vogel Greif, als prachtvolles Ungeheuer, dessen Gewänder und Gefieder im stürmischen Wind flatterten.

Dies war der echte Abkömmling der mittelalterlichen Dämonen, die von den Alten mit Rasseln und allerhand anderen Lärminstrumenten in Schach gehalten worden waren. Hier war das Ungeheuer eingefangen und in Besitz genommen. Unter Kontrolle.

Aber nicht ganz. Die Maske taumelte und schien sich aufzubäumen, und ähnlich erging es den anderen phantastischen Fabelwesen in seiner Schar. Bei diesem scharfen Wind mußte es für die Maskenträger eine Tortur sein, gefangen unter den schweren Gerüsten.

Eine der Masken schien besonders große Schwierigkeiten zu haben. Die Männer um sie herum halfen mit wehenden Umhängen, das Gerüst zu steuern, das schwankte wie ein Schiff im Sturm. Helfer aus den Reihen der Zuschauer übersprangen die Absperrung, um zusätzlichen Beistand zu leisten.

Sichtbar von dem Mann unter der Maske war einzig ein Teil seines Gesichts, das wie das eines Pierrots geschminkt war, totenbleich mit schwarz aufgemalten Wimpernstrichen und einer rubinroten Träne unter dem rechten Auge.

Der Kopf unter dem gewaltigen Kopfschmuck sah aus wie ein Spielzeug.

Und schon näherte sich die nächste Maske. Ich hielt nach Vincent Devaney Ausschau, aber es war unmöglich, unter den wehenden Federn und Stoffbahnen erkennbare Gesichtszüge auszumachen. Ich wußte nicht einmal mit Sicherheit, ob Vincent überhaupt ein Gerüst trug. Er hatte mit einem Freund zusammen an einem gearbeitet, aber sie hatten auch an einem Kostüm ohne Gestell gebastelt und im letzten Moment mit einem Münzwurf entscheiden wollen, wer was tragen würde.

Karen zitterte vor Kälte. Ich roch den nahenden Schnee in der Luft. Es reichte. Ich konnte Vincent nicht entdecken, aber ich konnte ihm ja dennoch zu der gelungenen Vorstellung gratulieren. Es war Zeit, den Dämonen den Rücken zu kehren und sich der Errungenschaften der modernen Technik, wie zum Beispiel der Zentralheizung, zu erfreuen.

»Sobald C.K. wieder da ist«, sagte ich, »sollten wir gehen.«

»Ich will aber nicht!« quengelte Karen. »M-mir ist überhaupt n-n-nicht k-k-kalt.«

»Du willst aber doch nicht krank werden, und –«Ich wurde auf wachsende Unruhe auf der anderen Straßenseite aufmerksam. Irgend etwas schien da im Gange zu sein. Ich erwartete, ein vom Wind entkleidetes und niedergerissenes Gerüst zu sehen, aber ich sah nichts dergleichen.

Die Menge drängte vorwärts. Die Unruhe schwoll zum Lärm an. Mackenzie kam zurück, beide Hände voll mit Hot dogs.

»Ich kann nichts sehen!« beschwerte sich Karen. Wir hatten unseren guten Platz im Gedränge verloren. Mackenzie drückte mir die Hot dogs in die Hände und hievte sie auf seine Schultern. »Siehst du jetzt?« fragte er.

»Ja, aber es ist immer nur das gleiche.« Es klang verdrossen. Der Lärm auf der anderen Seite wurde klarer, Rufe waren zu hören. »Und da drüben zeigen die Leute auf irgendwas.«

»Auf was denn?« fragte Mackenzie mit mehr Interesse als er bis dahin an den Tag gelegt hatte.

»Auf das Vogelungeheuer«, antwortete Karen. »Es wird immer kleiner.«

»Ist es gestürzt?«

Ich hörte Mackenzie an, daß er frustriert war. Nicht nur war ihm die Sicht durch einen massigen Mann versperrt, der sich vor ihn gedrängt hatte; Karen hielt auch noch ihre Hände, die in dicken Fäustlingen steckten, auf seine Augen.

»Ja«, sagte sie. »Nein – nur sein Kopf fällt runter.«

Und da sah auch ich es – gerade als die Zuschauer auf der anderen Seite schreiend in die Straße hineinrannten. Der Kopfschmuck des Vogel Greif sank immer tiefer, bis das Gesicht seines Trägers von seinem Gerüst verschluckt wurde. Der Kopfputz knallte auf das Gestell, Straußenfedern nickten, und es regnete goldene Pailletten. Das irisierende Zelt hielt schwankend an, und als hätte sich von ihm aus eine ansteckende, lähmende Krankheit ausgebreitet, kam nach und nach der ganze folgende Zug zum Stillstand, und die Musik der Band versiegte mit ein paar letzten kläglichen Tönen.

»Ist hier irgendwo ein Arzt?« schrie jemand aus den Reihen des Zugs. »Ein Herzinfarkt! Hilfe!«

Der Wind trug die Worte weiter, die Broad Street hinauf, in der es unnatürlich still geworden war.

Eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand löste sich aus der Menge. Sie hob eine in Silber bestickte Stoffbahn an und drückte sie dem kleinen Jungen in die Hand, als wollte sie ihn so verankern. Dann verschwand sie selbst unter der Hülle aus Stoff.

Schon wenig später tauchte sie kopfschüttelnd wieder auf.

Die Stille wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch tiefer, als alle die Hälse reckten, um zu hören, was sie zu sagen hatte. Mackenzie ließ Karen zum Boden hinunter.

Die Worte der Ärztin pflanzten sich wie Wellen durch die Straße fort. »Tut mir leid. Tut mir leid. Er ist …«

Tot, tot, tot, ging es von Mund zu Mund.

Ich fragte mich, wie die Ärztin so schnell zu ihrem Urteil gekommen war. Hatte sie Wiederbelebungsversuche unternommen? Wie konnte sie so sicher sein?

Irgend jemand hatte ihr offenbar genau diese Frage gestellt; sie hob nämlich plötzlich die Hand. Und wieder wurden ihre Worte von Mund zu Mund weitergegeben und wirkten gerade darum noch erschütternder.

»Dieser Mann ist erschossen worden.«

Erschossen! Erschossen! Erschossen!

Es schien unmöglich. Er hatte sich seit Stunden mitten unter Hunderttausenden von Menschen befunden, unter aufmerksamen Zuschauern, die ihn in seinem Gehäuse aus Stahl und Holz und Stoff beobachtet hatten.

Aber es war geschehen. Er hatte sich den Tod geholt.

2

Karen und ich gingen durch die stille Stadt zu unserem Loft zurück. Ich hätte mir öffentliches Jammern und Wehklagen gewünscht, eine menschliche Reaktion. Es war etwas Furchtbares geschehen – aber nichts regte sich als der Wind.

Ich schaltete kurz den Fernseher ein. »Mord bei der Mummers’ Parade«, hieß es in den Kurznachrichten. »Einzelheiten in den Abendnachrichten.« Und auf einem anderen Programm: »Der Fluch der Masken? So bezeichnen einige Leute das heutige Unglück, das zweite innerhalb von zwei Wochen, in das ein Mitglied der Masken verwickelt ist.«

Das zweite Unglück, wieso? Von Ted Serfi wußte man bisher nur, daß er verschwunden war. Das war etwas ganz anderes, als vor Tausenden von Zuschauern erschossen zu werden.

Ich machte den Apparat wieder aus. Karen mußte die schaurigen Bilder dieses Tages nicht unbedingt noch einmal sehen. Wir konnten etwas spielen, während ich auf Nachricht wartete, ob mein Kollege noch am Leben war. Sicher wußte man es inzwischen – Freunde hätten ihn zweifellos sofort identifiziert.

»Der Festzug!« protestierte Karen, als ich den Fernseher ausschaltete. »Du hast gesagt, wir schauen ihn uns an.«

»Ja, aber das war bevor … meinst du nicht … wollen wir nicht lieber lesen oder war spielen?«

»Nein! Ich will den Maskenzug sehen. Du hast es versprochen.« Sie zog einen Flunsch und verschränkte trotzig die Arme.

Ich hielt es für besser, sie nicht daran zu erinnern, was beim Festzug geschehen war, und machte den Apparat wieder an.

Wir kuschelten uns aufs Sofa, schlürften Hühnersuppe und sahen uns die Bilder an. Der Sturm trieb Papierfetzen und abgeknickte Ästchen an den hohen Fenstern des Loft vorbei. Es war das richtige Wetter, um es sich in den eigenen vier Wänden gemütlich zu machen. Schöner wäre es gewesen, wenn wir alle drei zusammengewesen wären, aber Mackenzie hatte sich, da er nun schon mal am Tatort gewesen war, verpflichtet gefühlt zu bleiben – völlig richtig natürlich, aber mir paßte es trotzdem nicht.

Als Karen und ich gegangen waren, hatte der ganze Zug gestanden, und keiner hatte recht gewußt, was tun. Man hatte sich damit begnügt, die Menge zurückzuhalten, um den Toten aus seinem beengenden Gehäuse befreien und zum wartenden Krankenwagen bringen zu können.

Von Mackenzies Vorschlag, nach Hause zu gehen, hatte ich zunächst nichts wissen wollen. Ich hielt immer noch nach Vincent Ausschau und fürchtete, als ich ihn nirgends entdeckte, er wäre vielleicht der Tote.

Aber Mackenzie hatte natürlich recht, es war besser zu gehen, schon Karens wegen. Die Masken waren, wie ich später erfuhr, erst einmal unschlüssig, was sie tun sollten. Dann beschlossen sie, den Zug aus Respekt vor dem Toten zu stoppen. Doch noch ehe die Nachricht alle erreicht hatte, rechnete sich jemand aus, daß die Vereine der Clowns und Komödianten längst am Rathaus vorübergezogen waren und sich den Preisrichtern präsentiert hatten. In ihrer Sektion war die Preisverleihung wahrscheinlich schon entschieden. Alle anderen Vereine aber würden bei einem Abbruch leer ausgehen. Die Arbeit und das Engagement eines ganzen Jahres wären umsonst gewesen. Vielleicht sah die Gleichung aber auch so aus: zwanzigtausend lebende Festzugsteilnehmer gegen einen toten. Außerdem würde es natürlich jeder Maskenträger als schreckliche Schande empfinden, am Abbruch des ganzen Zugs schuld zu sein.

So war denn, als Karen und ich nach Hause kamen, der Umzug bereits wieder in vollem Gang. Karen vertiefte sich, eine Hand auf Macavitys Rücken, in das Spektakel, und ich nutzte die Gelegenheit, um den Anrufbeantworter abzuhören, weil ich hoffte, Mackenzie hätte mir vielleicht eine Nachricht hinterlassen, während wir auf dem Heimweg waren.

Statt seiner Stimme hörte ich die meiner Mutter. Sie wünschte mir ein gutes neues Jahr und stellte mit stummem Vorwurf in der Stimme fest, daß ich offensichtlich wieder einmal nicht auf sie gehört hatte. Sie hoffe, sagte sie, ich würde den Festzug wenigstens genießen. »Bei uns ist etwas Trauriges passiert«, fuhr sie fort. »Du kannst dich erinnern, daß ich dir von Frau Dr. Landaus Katze erzählt habe?«

Ich schüttelte den Kopf, ich konnte mich an gar nichts erinnern, hatte aber deswegen kein schlechtes Gewissen.

»Sie ist weggefahren – Frau Dr. Landau, meine ich«, sagte meine Mutter, »um über Weihnachten ihre Kinder zu besuchen, und hat für die Zeit Violet engagiert, die immer auf die Katze aufpaßt.«

Meine Ungeduld wuchs, aber ich blieb und hörte weiter zu.

»Gerade hat Violet mich völlig aufgelöst angerufen. Sid – das ist die Katze – ist krank. Unheilbar. Ich bin fix und fertig, weil ich keine Ahnung habe, wo ich Allen erreichen kann.«

Wer war denn das nun wieder? Eine zweite Katze? Oder ein zweiter Katzensitter?

»Und der Tierarzt sagt, daß Sid eingeschläfert werden muß. Ist das nicht schrecklich? Einerseits bin ich ganz froh, daß sie nicht hier ist, Sie liebt das Tier ja so sehr. Und noch dazu ist sie Ärztin und sieht ihre Aufgabe darin, Leben zu retten. Sie wäre –«

Ich gab auf und spulte ohne Rücksicht auf meine Vorbildfunktion für meine Nichte zur nächsten Nachricht weiter. Aber auch die war nicht von Mackenzie, sondern von Renata Fields, einer Schülerin von mir, die ich gar nicht leiden konnte.

Es beunruhigt mich immer, wenn ich einen Schüler oder eine Schülerin nicht leiden kann, mag es noch so gerechtfertigt sein. Zum Glück kommt es selten vor. Bei Renata jedoch war es so, und es ließ sich auch nicht mehr ändern.

»Gutes neues Jahr, Miss Pepper.« Ihr frostiger Ton sagte klar, daß sie mir das Gegenteil wünschte. »Ich hoffe, Sie denken an mich. Ich denke jedenfalls an Sie. Es ist ja ein neues Jahr und ein neuer Anfang. Außerdem ist es mein letztes Jahr an der High-School, und ich hoffe, es wird ein gutes Jahr für mich. Bis bald.« Und Ende.

Würde Renata ebensoviel Energie ins Lernen stecken wie jetzt in ihre Bemühungen, um die Folgen ihrer Betrügereien herumzukommen, hätte sie eine reelle Chance auf einen ordentlichen Schulabschluß. Aber anstatt ihre Aufgaben zu machen, hatte Renata mehrmals einfach behauptet, ich hätte sie verloren, und zur Krönung einen Hausaufsatz abgegeben, den sie wortwörtlich von einer Schülerin abgeschrieben hatte, die zu den Besten der Klasse gehörte. Ich hatte beiden ein dickes F gegeben.

Das war vor den Weihnachtsferien gewesen, und seither hatte Renata mich ungefähr jeden zweiten Tag angerufen, was sie mir nicht sympathischer machte.

Ich setzte mich wieder zu Karen, und wir verfolgten beide das Spektakel auf dem Bildschirm. Vier oder mehr Generationen tanzten an uns vorüber, vom Kind, das gerade dem Krabbelalter entwachsen war, bis zum Mann, der sich mit der vorsichtigen Gemessenheit des hohen Alters bewegte. »Das friedliche Königreich«, so lautete das Thema der Gruppe, und da stolzierten Phantasielöwen mit Federmähnen Seite an Seite mit weißen und silbernen Lämmern. Die Band-Mitglieder trugen Umhänge in den Farben der UN-Flagge, und auf den Satin ihrer Kopfbedeckungen waren silberne Tauben aufgenäht.

Ich liebe die sogenannten String Bands. Ihre einzigartige Musik verkörpert für mich die Seele der Mummers’ Parade, auch wenn mir schleierhaft ist, warum sie so genannt werden, da doch neben Gitarren, Mandolinen, Banjos und Geigen auch Instrumente ohne Saiten, wie Klarinetten, Saxophone, Flöten, Keyboards, Glockenspiele und Trommeln, vertreten sind. Aber ganz gleich, diese beliebig zusammengestellten Instrumente sorgen für den unvergleichlichen Klang der Bands, der eine überschäumende Lebensfreude ausdrückt.

»Zeit, daß du das lernst«, sagte ich zu Karen und stand auf, um ihr meine eigene Variante dieses eigenartigen Tanzschritts, der an das Stolzieren eines flügelschlagenden Gockels erinnert, vorzuführen.