Blaues Blut ist stärker - Gillian Roberts - E-Book

Blaues Blut ist stärker E-Book

Gillian Roberts

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Reverend Harvey Spiers ist ein glühender Moralapostel, der gegen die Verschmutzung des Geistes kämpft. Daß er dabei manchmal zu fragwürdigen und unsauberen Methoden greift, wird ihm zum Verhängnis. Amanda Pepper wird gegen ihren Willen in diesen Fall verwickelt, in dem der Kreis der Scheinheiligen und Verdächtigen ständig größer wird. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 333

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gillian Roberts

Blaues Blut ist stärker

Ein Amanda-Pepper-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Tatjana Kruse

FISCHER Digital

Inhalt

1234567891011121314151617181920

1

»Durch diese hohle Gasse muß er kommen.«

»Hier draußen gibt es keine Gassen, nur Straßen und stattliche Häuser und Auffahrten und Alleen und Chausseen«, sagte ich zu Mackenzie. »Das ist schließlich eine vornehme Gegend.«

Wir fuhren durch die breiten Straßen des Vororts mit seinen Skelettbäumen, die nur einen Hauch von Leben an ihren Zweigen trugen. Es war März, aber der Frühling schien nur ein Gerücht. Trotzdem war die Nacht warm und vielversprechend. Wir befanden uns auf dem Weg zu einer Benefizveranstaltung, nicht gerade typisch für uns. Ein Samstagabend mit Wein, Speisen und Tanz in einem berühmten Prachtbau, den ich nie zu betreten gehofft hatte. Die Vorfreude zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht.

Mackenzie warf mir einen Blick zu. »Du siehst aus wie eine Frau, die an etwas Schönes denkt. Ich darf doch davon ausgehen, daß es um mich geht?«

»Selbstverständlich. Darum, wie unwiderstehlich du in deinem Smoking aussiehst.« Was er auch tat, und das bereitete mir Kummer. Nicht seine Anziehungskraft, sondern wie sehr ich ihn liebte, wenn man ihm den Beamten der Mordkommission nicht ansah. Aber darüber wollte ich in einer solchen Nacht nicht nachdenken, nicht solange schon sein bloßer Anblick mich derart erfreute.

»Gut. Und obwohl ich es kaum für möglich halte, daß du es jemals müde werden könntest, über mich nachzudenken, wäre es in diesem Fall durchaus angebracht, über dich nachzudenken und wie strahlend und schön du aussiehst, denn das tust du. Dieses Kleid bringt das Kupfer in deinem Haar zur Geltung, läßt deine Augen so grün wirken …« Er hielt inne. »Dieses Kleid erinnert mich an dich. Ich weiß, du sitzt neben mir, und es ist auch nicht so, als ob ich dich nicht richtig ansehen würde, aber vielleicht war ich bis heute einfach blind.«

»Herzlichen Dank.« Ich wußte genau, was er meinte. Es war eine dieser wenigen Nächte im Leben, in denen mir klar war, daß er recht hatte. Ich war zwar nicht so schön, wie er es andeutete, aber ich hatte mich in jemanden verwandelt, in eine andere Person, die ich eigentlich nicht war.

Da es mir an formeller Abendkleidung mangelte und ich die Sammlung gebrauchter Kleidungsstücke meiner einsachtzig großen Freundin Sasha unmöglich ausfüllen konnte, hatte ich mir ein bronzefarbenes Seidenkleid ausgeliehen an einem Ort, der die ausgesonderten Modelle der Oberen Zehntausend wiederverwertete. Dieses Kleid war von einer Märchenfee mit einem Abschluß in Modedesign kreiert und geschneidert worden und hatte sich als magisches Kleidungsstück erwiesen. Wenn ich es trug, blickte mir jemand anderes aus dem Spiegel entgegen – jemand, der ich sein wollte, und von dem ich wußte, daß ich so sein konnte, zumindest solange ich das Kleid trug. Kleider mögen Leute machen, aber Frauen werden von Kleidern neu erschaffen. An diesem Abend umhüllte mich nicht nur ein Schimmer von Bronze, sondern das Gefühl unendlicher Möglichkeiten. Ich konnte mich auf jede Weise präsentieren, wie ich nur wollte, konnte mir das Stück aussuchen, in dem ich der Star sein wollte.

»Was auch immer dieses Lächeln auf dein Gesicht zaubert«, fuhr Mackenzie in dieser langgezogenen Sprechweise fort, die jedes Wort mit Honig zu überziehen schien, »ich hoffe, es sind nicht die Roederers. Oder ihr Palast.« Er schüttelte den Kopf. »Dann wärst du nur eine Bewunderin von Menschen, die nichts weiter geleistet haben, als in reiche Familien hineingeboren zu werden, die schon vor Generationen zu Geld gekommen sind. Angesichts eines Stammbaums große Augen zu bekommen erscheint mir doch reichlich ungewöhnlich von dir.«

»Sie zu besuchen ist nur ein Kurzurlaub ins Land des Geldes, um zu sehen, was eine Zillion Dollar und guter Geschmack bewerkstelligen können. Aber ich bewundere nicht das Geld der Roederers, sondern was sie damit anfangen.«

Er nickte widerwillig, alles andere wäre auch lächerlich gewesen. Das Ehepaar verteilte fröhlich Geld, in erster Linie für die Künste, und das nicht auf die antiquierte Art der alteingesessenen Familien Philadelphias. Sie saßen nicht in irgendwelchen Verwaltungsräten und grübelten vor sich hin. Sie beschlossen, was ihnen gefiel, dann überschütteten sie diejenigen, die es zustande bringen konnten, mit klingender Münze. Ihr Geschmack war eklektisch, ihre Großzügigkeit grenzenlos – und jetzt profitierte davon auch das Medienzentrum der Philly Prep.

Ich war ein bekennender Fan von Edward und Theodora Roederer, die üblicherweise etwas weniger formell Neddy und Tea genannt wurden.

»Ich könnte mir denken, daß dich ihre Geschichte fasziniert«, sagte ich. Neddy Roederers zweiter Vorname lautete Franklin. Wie in Benjamin, dem hochverehrten Gründervater und Erfinder von so gut wie allem. Ein Verwandter von Neddy. Höchstwahscheinlich.

Es ist eine historische Tatsache, daß William, der einzige Sohn von Benjamin Franklin, unehelich geboren wurde, und obwohl William sich von fast allem distanzierte, was seinem Vater wichtig war, Loyalist wurde und sich in England niederließ, folgte er der Familientradition, indem er seinen eigenen »natürlichen« Sohn zeugte, ein weiterer William, der schließlich als Sekretär seines Großvaters in Frankreich landete.

Laut einem Artikel im Inquirer – ja, ich gebe zu, daß ich alles gelesen hatte, was ich über sie finden konnte, was nicht viel war, weil die Roederers die Öffentlichkeit scheuten – hatte Edward Franklin Roederer behauptet (mit einem Augenzwinkern, wie der Reporter hinzufügte, als ob er sich einen Scherz erlaube oder es ihm auf die eine oder andere Weise sowieso egal wäre), daß er der Nachkomme des illegitimen Sohns und Enkels sei. Die »Willis«, wie er sie nannte, jene »leicht anrüchigen« Franklins.

Die glänzende Verwandtschaft von Tea, die angeblich das Geld in die Ehe mitgebracht hatte, fand sich im Gotha, dem »Who’s who«-Almanach von Europa.

»Weißt du, was Mark Twain einmal über deine Heimatstadt sagte?« fragte Mackenzie. »Twain sagte, in Boston würden sie fragen, wieviel ein Mann wisse. In New York würden sie fragen, wie hoch sein Vermögen sei. Aber in Philadelphia laute die erste Frage stets, wer seine Eltern seien. Da hat sich nicht viel verändert, oder? Neddy Roederers Verbindung zu den Franklins hat das Blut in seinen Adern kobaltblau gefärbt. Und das paßt harmonisch zu den vielen grünen Dollarnoten von Tea.«

Das stimmte wahrscheinlich, aber es war mir vollkommen egal.

Mackenzie lehnte sich vor und seufzte. »Die Vororte machen es Außenstehenden nicht gerade leicht, sich zurechtzufinden.«

Die Straße lag tatsächlich im Dunkeln; der Nachthimmel war bewölkt, es mangelte an Straßenlaternen, und an den Gehwegen waren keine Straßennamen verzeichnet. Genauer gesagt, gab es auch keine Gehwege. Das sprießende Märzgras der teuren Rasen endete direkt am Straßenbelag. Die ungeschriebene Botschaft war eindeutig – wenn wir nicht wußten, wo wir waren, gehörten wir hier auch nicht her.

Ich hätte allerdings gedacht, daß Mackenzie unbeleuchtete Orte gewöhnt war, wo er doch vor den Toren von New Orleans aufgewachsen war, einem Ort, den ich mir vor meinem geistigen Auge bemoost und feucht vorstellte – beleuchtet nur von Glühwürmchen und Sumpfgas.

Wir kamen an einem Areal vorbei, das mit beeindruckenden Bauten angefüllt war: Schlösser, Haziendas und neo-elizabethanische Fachwerkschöpfungen, alle ungeschützt den Elementen ausgesetzt, bis auf die wenigen Stellen, wo die Landschaftsgärtnerei einsetzte.

Ich sah auf der Karte nach. »Bieg hier ab«, konnte ich schließlich sagen. Wenn Häuser diese neue Straße säumten, dann standen sie zu weit entfernt und zu weit auseinander, um sichtbar zu sein. Wir bewegten uns in einem Tunnel der Nacht. »Es muß demnächst zu unserer Linken auftauchen«, sagte ich laut, um mir selbst gut zuzureden.

Sogar im Profil zeigte sich bei Mackenzie die ganze Kraft seiner Konzentration auf die dunkle, unvertraute Straße. »Du verhältst dich in dieser Situation wirklich großartig«, meinte ich. Ohne Widerspruch hatte er sich einverstanden erklärt, mich zu begleiten, obwohl ich wußte, daß eine Benefizveranstaltung der Philly Prep nicht seine erste Wahl war, wenn es um Freizeitaktivitäten ging. Meine auch nicht. Wie auch immer, ich hatte keine Wahl. Man hatte mir befohlen zu kommen und mir zwei Eintrittskarten überreicht. Ich sollte als Vorzeigefrau des Lehrkörpers fungieren, weil ich geholfen hatte, die Roederers durch ihren Sohn Griffin, einem Schüler an unserer Schule, auf den desolaten Zustand der Bibliothek aufmerksam zu machen. Außerdem hätte es nicht gut ausgesehen, wenn kein einziger Lehrer teilgenommen hätte. Dummerweise zahlte man uns nicht genug, um auch nur einen Cent – geschweige denn hundert Dollar pro Eintrittskarte – für eine Benefizveranstaltung auszugeben. Vor allem in diesem Fall; es bedeutete nämlich, gesellschaftlich mit den Eltern unserer Schüler zu verkehren – mit den Bäumen, von denen diese Äpfel nicht weit gefallen waren. »Danke«, sagte ich und tätschelte Mackenzies behandschuhte Rechte.

Sein Verständnis und seine Bereitwilligkeit machten mir Hoffnung für unser Zusammenleben. Vielleicht konnten wir zwei Dickköpfe doch genug Überlappungen finden, um ein gemeinsames Leben zu stricken.

»Ich verspreche, nicht zu rülpsen, in der Nase zu bohren oder beim Essen das Besteck zu verwechseln«, versprach er. »Und ich werde auch nichts in der Art sagen wie: ›Das ist Farleys Mutter? Der Hirnlose mit den Segelohren? Hab schon viel von ihm gehört.‹«

»Du bist wirklich ein einfühlsamer Mann«, entgegnete ich.

»Und trotzdem vermisse ich die Freuden einer ruhigen Nacht am heimischen Herd.« Er seufzte. »Nur du – in diesem Kleid – und ich, das knisternde Kaminfeuer …«

Ich wünschte, ich könnte glauben, daß ich das Objekt seiner häuslichen Wollust war, mit oder ohne mein Kleid, aber ich bezweifelte es sehr, gleichgültig, was er sagte. Ich wußte, insgeheim sehnte er sich nach seinem neuen Computer. Freunde hatten mir geschworen, daß er aus dieser Phase harauswachsen würde, aber in der Zwischenzeit sehnte sich Mackenzie unablässig danach, im Internet zu surfen, Suchläufe durchzuführen und über Themen von minimalstem Interesse einen elektronischen Schwatz zu halten.

»Ich glaube, wir sind jetzt ganz nah«, sagte ich. »Zur Linken taucht jede Minute das berühmte Glamorgan auf.«

»Schweig still, mein Herz«, meinte Mackenzie.

Glamorgan war nach einem Ort in Wales benannt, wie so viele andere Gebäude im Nobelvorort Main Line: Radnor, so hieß das Viertel, außerdem Bryn Mawr, Bala-Cynwyd, Narberth, Merion, Berwyn. Allesamt Erinnerungen an das Waliser Herrschaftsgebiet, das William Penn Quäkern aus Wales geschenkt hatte. Ich wußte nicht, was Glamorgan auf walisisch bedeutete, aber wenn ich den Namen des Hauses hörte, schimmerte und vibrierte der glamouröse Anteil, und Sternenstaub ergoß sich über die Besitzer.

»Sei bloß nicht enttäuscht, wenn weder sie noch das Haus so sind, wie du es dir vorstellst«, meinte Mackenzie, als ob er meine Gedanken lesen konnte. »Schließlich handelt es sich hier um einen Vorort von Philadephia, wo der Snobismus derart kultiviert ist, daß man ihn auf den Kopf stellt. Das Wahrzeichen alten Geldes ist die Unsichtbarkeit. Man muß mittellos aussehen. Du weißt schon: Wenn Sie nicht wissen, wer ich bin, dann sind Sie ein Niemand, wen schert es also? Die übermäßige Schlichtheit ist der einzige Rest an Quäkertum, den ihr Leute noch habt, und sie ergibt absolut keinen Sinn«.

Ich hasse es, wenn er ihr Leute sagt und mich mit der gesamten Bevölkerung von Delaware Valley in einen Topf wirft, auch wenn der Topf diesmal ein unglaublich reicher war. »Wäre es denkbar, daß dein Sinn für Dekor auf den Bordellen basiert, die ihr Leute da unten in New Orleans habt?« brummte ich. »Die Roederers sind ganz und gar nicht schlicht. Am Tag des Schulfestes trug Tea Roederer ein Patchworkkostüm aus Samt mit Schnürstiefeln. Und Bernsteinschmuck, der einmal der Zarin gehört haben muß. Neddy trägt immer prächtig geschnittene Anzüge und lustige Brillen mit schwarzem Gestell – sie sind keineswegs schlicht. Nicht protzig, aber interessant, als ob sie mit sich im reinen wären.«

»Meine Güte«, entfuhr es Mackenzie, »ich habe noch nie zuvor gehört, daß du einen Modekommentar abgibst.«

»Das liegt nur daran, weil ich sie mir auch etwas schäbiger vorgestellt habe. Und älter. Sie sind in den Vierzigern, das scheint mir zu jung für die Menge an Spaß, die sie haben.«

Ich lugte durch die Windschutzscheibe und suchte die Silhouette des Prachtbaus, konnte aber nur Gartenanlagen und hohe Steinmauern erkennen.

Der Wagen fuhr langsam, während Mackenzie auf der Suche nach dem Haus die linke Straßenseite musterte.

Feuer! Ich versuchte, es auszusprechen, aber es wurde nur ein Ffff daraus. Wir waren um eine kleine Kurve gefahren, und was ich sah, drängte die Worte und das Entsetzen formlos aus mir heraus, zusammengequetscht zu einem Schrei.

Mackenzie trat so fest auf die Bremsen, daß der Wagen ins Schleudern geriet und beinahe auf einen massiven Steinpfosten geprallt wäre. »Was zur Hölle –«. Dann sah auch er es.

Er stieß seine Tür auf und rannte auf das flackernde Licht zu, auf das, was ich gesehen hatte – einen Mann, der von einem nackten Ast baumelte, mit gebrochenem Hals, über einem Scheiterhaufen. An seinen Hosen, seiner Jacke und seinen Haaren leckten die Flammen.

Er war nicht zu retten. Mackenzie mochte hinlaufen und heldenhafte Taten begehen und so tapfer sein, wie er wollte. Es war dennoch zu spät. Von meinem Platz im Wagen aus – ich konnte mich einfach nicht rühren – war das ganz offensichtlich. Die Brille des gelynchten Mannes war geschmolzen, ihr dickes Gestell lief tropfenförmig an ihm herunter. Es war zu spät.

Als Mackenzie näher kam, schien er die Sinnlosigkeit jedweden Einschreitens zu begreifen. Er starrte auf die baumelnde Leiche, dann drehte er sich um und ging in normalem Tempo auf den Wagen zu.

»Wir sollten – wir müssen – die Polizei – die Feuerwehr –« stammelte ich, als er in das Auto stieg. »Auch wenn er bereits –« Ich durchwühlte das Handschuhfach. »Dein Handy – hier drin?«

»Mandy. Warte.« Er legte seine behandschuhte Rechte auf meinen Arm.

Ich schüttelte den Kopf und fummelte weiter im Handschuhfach herum. Ich fand Karten und einen kleinen Rekorder, Batterien und eine Rolle mit Vierteldollarmünzen, aber kein Handy. »Wo ist es?« Meine Frage klang schriller, als ich es beabsichtigt hatte. Das wütende Orange der Flammen spiegelte sich in der Windschutzscheibe und färbte auch Mackenzies Gesicht ein. »Wir müssen die Leute im Haus bitten –«

»Schau doch mal genau hin«, bat er mich leise.

»Ich weiß, es ist zu spät und wir können ihn nicht mehr retten, aber trotzdem – er muß doch behandelt werden wie ein – man muß ihm seine Menschenwürde wiedergeben – wir können doch nicht einfach –«

»Schau hin«, wiederholte er sanft, »bitte.«

Ich schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Einmal hat gereicht.

»Versuch es. Ganz ruhig.«

Ich zwang mich dazu. Wieder sah ich geschmolzenes Glas. Und dann wurde mir klar, daß ich mehr nicht sehen konnte. Keine Nase, kein Mund oder andere Gesichtszüge. Wo waren seine Augen, seine Ohren? Wo war sein Gesicht?

»Sieh dir die Hände an«, bat Mackenzie im Tonfall eines geduldigen Lehrers.

Bleiche Halbkreise ohne Fingerglieder. Wie eine Stoffpuppe. Wie sein Gesicht.

»Er – ist gar kein Mensch, oder?« flüsterte ich. »War es nie?«

»Er ist eine Puppe.«

Die brennende Gestalt bestand nur aus ausgestopften Kleidungsstücken. »Niemand ist gelyncht worden.« Es tröstete mich, das laut zu sagen, es zu einer Tatsache zu machen. »Da ist gar niemand.«

Mackenzie nickte.

Ich hätte vor Erleichterung lachen sollen, aber das, was dort war – die Puppe nämlich –, war dazu gedacht, Schrecken hervorzurufen, und hatte damit Erfolg gehabt. Daß niemand hatte sterben müssen, war zweifelsohne tröstlich, aber daß jemand sich die Mühe gemacht hatte, auf diese Weise Furcht hervorzurufen, machte diesen Trost wieder zunichte.

Das Feuer war auf einem geschotterten Halbkreis neben der Straße entfacht worden. Möglicherweise eine Wendeplatte. Oder vielleicht der Platz, an dem die Müllcontainer gesammelt wurden, weil ich neben dem Scheiterhaufen einen Mülleimer sehen konnte.

Mülleimer. Ich sah auf die andere Straßenseite und zu dem Granitpfosten, den wir beinahe gerammt hätten. An ihm und seinem Zwilling lagen zwei schmiedeeiserne Tore vor Anker, und auf jedem Pfosten war in gothischer Schrift GLAMORGAN eingemeißelt.

»Das waren wieder sie«, sagte ich. »Es riecht förmlich nach ihnen.«

»Glaube ich auch. Diese Zombies.«

Die Gruppe, die er meinte – die Moralökologen –, hatten Bibliotheken und Buchgemeinschaften den Krieg erklärt. Sie waren wild entschlossen, die »mentalen Umweltgifte« auszurotten. Unsere kleine Privatschule war an dem Tag auf ihre schwarze Liste gerutscht, als die Roederer-Stiftung das Stipendium an uns vergab. In der vorausgegangenen Woche war ich mittels der Plakate, Megaphone und Flugblätter der Moralökologen, die den Eingang zur Schule pflasterten, darüber informiert worden, daß Die Farbe Lila den Geist der Jugend korrumpiere, Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug abnormales Sexualverhalten fördere und sowohl Das Tagebuch der Anne Frank als auch Die Canterbury-Erzählungen für unsere Schüler zu pornographisch seien. Ausgerechnet für unsere Schüler! Wäre es nicht so furchteinflößend gewesen, hätte es komisch sein können.

Die Moralökologen weigerten sich, die Verantwortung für eine Reihe von öffentlichen Buchverbrennungen zu übernehmen, die die Stadt heimsuchten, aber sie lobten diejenigen, die diese »gute Tat« begangen hatten und nannten sie »heldenhafte Staatsbürger«. Die Scheiterhaufen wurden ihnen dennoch zugeschrieben, obwohl bislang noch keine Verbindung nachgewiesen werden konnte.

Tea und Neddy Roederer, die wiederholt Bibliotheken finanziell unterstützten und mit jedem Dollar den Moralökologen und ihren Versuchen, uns in das finstere Mittelalter zurückzukatapultieren, eine Ohrfeige versetzten, waren ihr Hauptziel, aber auch ihre furchtlosesten Gegner.

»Sieh dir mal die Brille der Puppe an«, sagte ich leise. Neddy Roederers Markenzeichen, Buddy-Holly-Brille mit schwarzem Gestell. »Und den Mülleimer.« Die Moralökologen beschuldigten Neddy, er würde dem Müll Vorschub leisten. Sie nannten ihn den »Müllmann«. »Das Anzündmaterial. Lauter rechte Winkel. Sie verbrennen wieder mal Bücher. Nur, daß sie jetzt auch noch Neddy Roederer verbrennen, direkt vor seiner Haustür.«

»Nicht Neddy, eine Puppe«, korrigierte mich Mackenzie. »Woher wußten sie von heute abend? Sollen wir glauben, daß sie zwar keine Bücher lesen, dafür aber die Gesellschaftsspalten in der Zeitung? Obwohl die Spendengala eurer Schule da mit Sicherheit nicht aufgeführt ist. Wie haben sie davon erfahren?«

»Vielleicht ein Zufall. Oder geschickte PR. Sie bringen es immer fertig, ihre Inszenierungen so zu legen, daß sie die Aufmerksamkeit der Medien erregen. Soweit wir wissen, belästigen sie die Roederers schon längere Zeit«.

»Laß uns auf die Party gehen«, schlug Mackenzie vor.

Ich rührte mich nicht, konnte es nicht. Die Party war jetzt von dieser Böswilligkeit befleckt. Die Erregung, die ich verspürt hatte, schien nostalgisch, Teil einer früheren, unschuldigeren Zeit. Als ob ich vor einer halben Stunde noch ein Kind gewesen wäre. Das Feuer hatte den Glanz weggefackelt und alles mit Asche überzogen.

»Es ist niemand verletzt worden«, sagte Mackenzie. »Denk daran: Niemand wurde verletzt.«

»Trotzdem.« Ich zitterte, und das hatte nichts mit der feuchtkalten Abendluft zu tun. Meine Gedanken kreisten um die Vorstellung von Menschen, die einschüchtern und terrorisieren müssen für ihre tödliche Mischung aus Haß und Selbstgerechtigkeit, für ihre potentielle Macht, für ihre Ziele. Ich blickte auf die schwelenden Bücher auf dem Schotter und dann zu Mackenzie, eine strahlende Erscheinung im Smoking. Dann seufzte ich. »Niemand wurde verletzt – und trotzdem: Eines Tages wird es so kommen.«

Und das tat es auch. Im allgemeinen ist es ein gutes Gefühl, recht zu behalten, was ich letztendlich tun sollte. Aber ich fühlte mich zu keinem Zeitpunkt gut. Ich fühlte nie etwas anderes als Entsetzen.

2

Zu meinem großen Erstaunen zerstreute der mächtige Eindruck von Glamorgan, von nahem gesehen, das dunkle Brüten, das mich überkommen hatte. Ich blieb an der Eingangstür stehen und bewunderte die Großartigkeit des Hauses. Es war ein Monument des Anspruchsdenkens, saß auf seiner Hügelkuppe, als ob es diesen Ort immer schon besessen hätte, als ob immer noch Sklaven in heruntergekommenen Schuppen verstreut auf dem hügeligen Anwesen leben würden.

Die Macht dieses Ortes ließ den häßlichen Vorfall auf der Straße beinahe wie eine lächerliche Kleinigkeit erscheinen, die es nicht wert war, beachtet zu werden. Beinahe.

Im Innern konnte ich nur mit Mühe verhindern, daß mir der Unterkiefer herunterklappte. Überfluß kann wirklich phantastisch sein, wenn jedes Detail von auserleser Schönheit ist. Ich stand in der Eingangshalle und inhalierte den Duft des Geldes. Endlose Weiten aus herrlich gemasertem Marmor. Ein runder Tisch, in dem aus Halbedelsteinen eine Szene mit Pfauen und Palmen eingelegt war. Ein Paravent mit einer Täfelung aus pastellfarbenen Engelsköpfen, der einst den Medici gehört haben mußte. Und ein Lüster von gewaltigen Ausmaßen, der sein eigenes Licht in tausend Kristallflächen spiegelte. Eine nach oben geschwungene, gemeißelte Treppe.

»Damit könnte ich leben. Ich wurde dazu geboren, im Schoß von Luxus aufzuwachsen«, erklärte ich Mackenzie.

»Ich auch«, erwiderte er. »Das Problem war nur, daß der Luxus aufstand, bevor ich eintraf.«

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte ein Mann im Cut britisch-schneidig.

»Butler.« Mackenzies Stimme war leise. »Findet man heutzutage kaum noch.«

»Der Majordomo«, verbesserte ich ihn. »Der Ober-Butler.« Meine diesbezügliche Bildung verdanke ich dem Masterpiece Theatre.

Mackenzie hob zweifelnd eine Braue.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich zu dem Mann. »Sie sind doch der Majordomo der Roederers, nicht wahr?«

»Soll das etwa eine Beleidigung sein?« Sein Akzent war plötzlich reines Philly. Außerdem klang er verschnupft. »Das würde ich nämlich gar nicht zu schätzen wissen. Ich bin Musiker. Meinem Vetter gehört der Partyservice. Und weil ich gerade kein Engagement habe, arbeite ich für ihn. Ich muß ja schließlich auch essen.« Dann nahm er seine unverdiente Arroganz wieder ein und drehte uns den Rücken zu. Wir folgten ihm erneut. »Cocktails werden in der Bibliothek serviert«, deklamierte er. »Hier entlang, bitte.« Auch sein Philly-Akzent war wieder britisch.

Wir kamen an mehreren, verschiedenartig dekorierten Räumen vorbei, visuelle Hämmer aus Farbe und Struktur: bordeauxfarbenes Leder, helle Seide, dunkles Holz und eine Blumentapete, eine Harfe, ein Globus, geblümter Chintz, eine Marmorbüste auf einem Sockel.

»Ich brauche einen Fotoapparat«, meinte Mackenzie.

»Bitte den Minidomo darum.« Ich war damit beschäftigt, mich gelüstend zu verzehren. Ich bin nicht materialistisch eingestellt. Wenn ich das wäre, müßte ich auch Masochistin sein, weil mein Beruf mir keine Brocken von dem ermöglicht, wofür man das nötige Kleingeld braucht. Darum gelüstet, giert oder verzehrt es mich auch nicht danach. Für gewöhnlich. Aber jede Regel hat ihre Ausnahme, und dies war eine Ausnahme.

Wir gelangten an eine geöffnete Doppeltür. »Die Bibliothek«, erklärte der falsche Butler. »Hier befindet sich die Bar. Eine weitere finden Sie im Musikzimmer.«

Ich wäre beinahe in Ohnmacht gesunken.

»Bin gleich zurück«, sagte Mackenzie.

»Wieso?« Ich hatte kaum gefragt, als ich mich an den Grund erinnerte, und ich konnte nicht glauben, daß ich es vergessen hatte. Offensichtlich führt galoppierender Materialismus zu Verlusten im Kurzzeitgedächtnis.

»Falls die Polizei noch nicht Bescheid weiß.« Er ging davon, gefolgt von der Butlerattrappe.

Ohne Mackenzie als Schutzschild und Verbündeten war mir nur allzu deutlich bewußt, daß mein Kleid geliehen war, ich für den Zutritt zu dieser Benefizveranstaltung nicht bezahlt hatte und mich wahrscheinlich niemand außer meinem Direktor hierhaben wollte. Ich betrat mit unangenehmen Vorahnungen die Bibliothek. Niemand begrüßte mich oder winkte mich zu sich. Der typische Partyalptraum.

Ich unterdrückte den Drang, mich auf der Damentoilette zu verstecken. Hatte ich alles schon hinter mir. Mit über Dreißig war es an der Zeit, pubertäre Verhaltensweisen abzulegen. Ich versuchte, so auszusehen, als ob ich von meiner eigenen Gesellschaft angetan wäre, und betete, daß Mackenzie nicht allzulange brauchen würde.

Ich kannte Häuser, in denen jeder Raum, in dem ein Buch stand, schon als Bibliothek bezeichnet wurde, aber dieser Raum war wirklich eine. Jeden Zentimeter, der nicht anderweitig durch Fensterflügel mit Buntglas oder den überdimensionalen gothischen Kamin belegt war, füllten Regalwände vom Boden bis zur Decke, einige mit Glastüren mit geätzten Motiven, alle voller Bücher. Eine Bibliotheksleiter auf Rädern stand für leichten Zugang zu allen Winkeln zu Verfügung.

Das Kaminfeuer verlieh den ledernen Ohrensesseln und Sofas Glanz. Es spiegelte sich auf der polierten Oberfläche des Bibliothekstisches und in den Schnitzereien eines zierlichen Sekretärs und hob das Indigoblau und Rubinrot der Buntglasfenster und der Juwelen der Gäste hervor.

Ich schlich auf Zehenspitzen über die Teppiche mit den verschlungenen Mustern, bis mir auffiel, was ich da eigentlich tat, und ich mich zwang, normal weiterzugehen und mich so zu verhalten, als ob ich an private Bibliotheken von der Größe normaler Einfamilienhäuser mit Möbeln aus kostbaren und höchstwahrscheinlich vom Aussterben bedrohten Rohmaterialien gewöhnt sei. Zweifelsohne würde jeden Moment jemand seine Brauen heben und »Was tun Sie denn hier?« fragen.

Ich ließ mir von einem lächelnden Domestiken eine Champagnerflöte reichen. Am liebsten hätte ich damit ausgiebigst meinen trockenen Mund und meine flattrigen Nerven gelabt, aber ich nippte nur. Elegant betuchte Eltern beäugten mich von der Seite. Sie sieht vertraut aus, stand in ihren Gesichtern zu lesen, doch woher nur? Normalerweise schenkten sie mir nicht mehr Aufmerksamkeit als irgendeinem frisch erstandenen Elektrogerät. Für viele von ihnen war ich zu meinem Bedauern eine bessere Subalterne, angestellt, um die Tage und den Kopf ihrer Kinder zu füllen. Eine Funktion mit einem Gesicht, getrost zu vergessen. Doch an diesem Abend war ich anders kostümiert und nicht im Kontext, folglich nicht wiederzuerkennen.

Mir fiel es leichter, mich an sie zu erinnern, obwohl auch sie anders aussahen. Ich war an rote Gesichter gewöhnt, rot vor Peinlichkeit auf Elternabenden oder noch röter mit zu Hause vergessenen Medikamenten, Essensgeld oder Hausaufgaben in der Hand. Die Philadelphia Prepatory School war ein Dienstleistungsunternehmen, das ihnen Freizeit schenken sollte, und sie konnten es stets kaum erwarten, diesen Ort wieder zu verlassen. Vielleicht hatten sie Angst, man könnte ihnen sagen, daß ihre Nachkommenschaft ebenso geworden war wie sie selbst.

Auch sie waren an diesem Abend in Verkleidung, verwandelt durch Lipgloss und Kummerbund. Möglicherweise war das aber auch ihre natürliche Bekleidung, denn sie schienen unglaublich locker.

Mackenzie war seinen Pflichten als guter Bürger nachgekommen und kehrte zurück. »Sie wußten schon Bescheid. Ungefähr 15 Anrufe sind eingegangen. Sie sind jetzt draußen – ohne Sirenen, ohne großen Wirbel.«

Ich betrachtete die Menschen, die an mir vorbeiflanierten. Viele von ihnen mußten ebenfalls angerufen haben, doch keiner schien über den Vorfall auf der Straße reden zu wollen, und ich verstand auch, warum nicht. Er war so häßlich, so abstoßend, daß jede Erwähnung Tod und Verwesung auf die Party geladen hätte, ein eklatanter Bruch der Etikette. Trotzdem war es merkwürdig, als ob wir mit einem ängstlichen Phantom in unserer Mitte Blinde Kuh spielen würden.

Mackenzie und ich lungerten an der Peripherie herum, bis eine hartherzige Frau, mit der ich eine bittere Auseinandersetzung über eine Benotung ihres Sohnes gehabt hatte, uns mit einer Haltung zuwinkte, die an päpstliche Dispensation erinnerte. Oder an mangelndes Wiedererkennungsvermögen. Wie auch immer, sie war unser erstes freundliches Gesicht, und wir brauchten jede gesellschaftliche Nettigkeit, die wir aus dieser Menge herausquetschen konnten.

Die Frau trat auf uns zu, und Mackenzie und ich stellten uns ihr vor. Obwohl ihr daraufhin klar wurde, wer ich war, blieb sie höflich. Ein vielversprechendes Zeichen für den Fortgang dieses Abends.

Wir tauschten viele Ahs und Ohs über das Haus aus, aber obwohl sie sich scheinbar mit mir unterhielt, sah sie mich nie an. Sie sah Mackenzie an. Sie war nicht zu uns getreten, um Konversation zu machen, sondern um zu verführen. Glücklicherweise war sie darin nicht besonders gut. Ich entschuldigte uns mit den Worten, wir wollten jemanden im Musikzimmer treffen. Dann visierte ich mit meinem Mann am Arm die Tür an. Es gibt eine Grenze dafür, wie entgegenkommend ich zu den Eltern meiner Schüler zu sein habe.

Auf dem Weg zum Ausgang ließen wir unsere Blicke über die Buchregale schweifen. Meine Aufmerksamkeit war noch zur Hälfte von der Arroganz und den Krallen jener Frau mit Beschlag belegt, daher war es Mackenzie, der bemerkte, von welch hohem Seltenheitswert der Inhalt des Glasschrankes neben uns war. »Wenn das keine Faksimile sind, was ich nicht glaube, dann sind diese Bücher unbezahlbar. Schau her, Corneilles Le Cid, frühes 17. Jahrhundert, Vaughans Poems, Izaak Waltons Life of Donne – die erste professionelle Biographie«, flüsterte er. »Das ganze Regal stammt aus dem 17. Jahrhundert.«

Ich drängte mich neben ihn und sah mir die Einbände, die vergoldeten Buchrücken an. Dieses Haus entspricht absolut meiner Vorstellung«, flüsterte ich zurück. »Nein, eher im Gegenteil: Meine Vorstellung war zu kümmerlich, um diesem Haus zu entsprechen.«

»Miss Pepper?«

Meine kultivierte Reaktion darauf war, mit dem Kopf – lautstark – gegen die Glastür des Bücherschrankes zu knallen, so sehr hatte mich Neddy Roederers Stimme erschreckt. Wäre das geätzte Glas von minderer Qualität gewesen, hätte ich genäht werden müssen. So, wie die Dinge lagen, war nur mein Ego angekratzt.

Ich hatte ihn eine Woche zuvor bei der Bibliotheksfeier zu Ehren der Roederer-Stiftung, die uns eine Sammlung von Kunst- und Fotobänden sowie ein jährliches Legat geschenkt hatte, getroffen. »Mr. Roederer«, krächzte ich mit gedemütigter Stimme.

Das Merkwürdige daran war nicht, daß ich mich an ihn erinnerte, es kam nur als umwälzender Schock, daß er sich an mich erinnerte. An mich! Ich hätte nicht erstaunter sein können, wenn er der echte Traumprinz gewesen wäre, mit schriftlichem Zertifikat.

Was er nicht war. Er war ein großer, schlaksiger Mann mit leicht zu vergessenden Gesichtszügen, dunkler Brille und einem Schopf schwarzer Haare, und er hatte alles in allem eine unglückselige Ähnlichkeit mit der Puppe auf der Straße.

»Haben Sie angenommen, ich hätte Sie vergessen?« erkundigte er sich mit einem warmen Lächeln. »Wer außer Ihnen hat die Leute von der Zeitung dazu gebracht, über die Nöte der Bibliothek zu schreiben? Wer hat unseren Sohn Griffin die Fotos für den Artikel schießen lassen? Sie sind der Grund, warum wir in dieser Sache überhaupt aktiv wurden.« Er gestikulierte in den Raum voller Leute. »Also sind Sie auch der Grund für den heutigen Abend.«

Ich hielt die Luft an. So mußte sich Harriet Beecher Stowe gefühlt haben, als Lincoln sie die kleine Dame nannte, die den Bürgerkrieg ausgelöst hatte. Glücklicherweise hatte ich keine Ahnung, wie zutreffend dieser Vergleich sein sollte.

»Für Ihre Hilfe, Ihre Unterstützung und Ihren Ansporn bin ich sehr dankbar«, fuhr er fort.

»Wir haben gerade Ihre Sammlung bewundert«, warf Mackenzie ein und bewahrte mich davor, eine Antwort formulieren zu müssen, während ich noch völlig platt war. »Sie scheinen eine besondere Vorliebe für Werke aus dem 17. Jahrhundert zu haben.«

»Eine interessante Zeit für die Literatur, finden Sie nicht auch, Mr. …«

Ich fand meine Stimme wieder, oder doch einen Großteil davon, und machte mich daran, die Herren einander vorzustellen. Mit jedem gestammelten Ansatz an das Geheimnis von Mackenzies C.K. fühlte ich mich weniger sicher. Zur Hölle damit. »Das ist Caleb«, erklärte ich. »Caleb Mackenzie.«

Mackenzie zwinkerte mir zu. Das war also auch nicht sein richtiger Vorname.

Roederer schüttelte Mackenzies Hand mit jungenhaftem, halb linkischem Charme. »Möglicherweise gefällt Ihnen eines meiner Lieblingsstücke, eine interessante Ausgabe von Pilgrim’s Progress, wenn auch nicht das Original, nicht die Erstausgabe. Diese Ausgabe wurde erst 1690 gedruckt, aber sie ist wirklich schön.« Er beugte sich nach vorn und steckte einen winzigen Schlüssel in das Schloß. »Diese Schränke sind temperiert«, fügte er hinzu, »aber es schadet den Büchern nicht, wenn sie hin und wieder mal etwas richtige Luft atmen.«

Ich trat einen Schritt zurück, aus Angst, nach meiner unglückseligen Begegnung mit der Schranktür einem der unbezahlbaren Objekte zu nahe zu kommen. Mit Sicherheit würde ich meinen Champagner über die Seiten kippen oder einen Niesanfall erleiden.

Ein Mann mit breiten Gesichtszügen und einem regelrechten Sims an Augenbrauen hatte unsere traute Dreisamkeit beobachtet, und als Edward Franklin Roederer das Buch herausnahm, kam dieser Beobachter näher und reckte seinen Hals, um einen Blick auf den Titel zu erhaschen.

Roederer schien über die Neugier des Mannes amüsiert und erfreut. »Bibliophile sind jederzeit willkommen«, sagte er. Pilgrim’s Progress, Ausgabe von 1690, herrliche Illustrationen. Sehen Sie selbst.«

Der Mann schien verblüfft, als ob er eine andere Reaktion erwartet hätte. »Sie mögen also auch alte Bücher, hm?« Er verlieh seinen Worten einen halb fragenden, halb spöttelnden Ton.

Roederers Lächeln wurde vorsichtig, aber er nickte. »Seit geraumer Zeit eine meiner Leidenschaften. Teilen Sie diese Leidenschaft, Mr. …« Er hielt inne und studierte den Mann, der nichts darauf erwiderte. »Wir sind uns schon begegnet, nicht wahr? Sie kommen mir bekannt vor. Aber ich scheine Hilfe zu brauchen, wo das war.« Er streckte seine freie Hand aus. »Edward Roederer. Aber ich fürchte, alle nennen mich Neddy. Unglücklicherweise übersteigt mein Gedächtnis für Gesichter bei weitem meine Fähigkeit, mich an Namen zu erinnern.«

Der andere Mann wartete länger, als höflich war, bevor auch er seine Hand ausstreckte. Die ganz Zeit über starrte er seinen Gastgeber an. Während sie dann die Hände schüttelten, hatte er offenbar genug ausgekundschaftet, um zu antworten. »Ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal persönlich begegnet sind«, sagte er, »aber Sie kommen mir auch bekannt vor. Ich meine, ich weiß natürlich, wer Sie sind, aber ich dachte, nur durch Ihren Ruf. Wie auch immer, ich kenne Ihr Gesicht. Wahrscheinlich aus der Zeitung, eh?«

Roederers Lächeln wurde merkwürdig.

Fotos der Roederers erschienen selten in der Zeitung, wenn überhaupt. Sogar bei der Bibliotheksfeier hatten sie sich geweigert, fotografiert zu werden. Es gibt zu viele Verrückte, hatten sie erklärt. Ich dachte an das Feuer auf der Straße und mußte ihnen recht geben.

»Sind Sie eventuell Kanadier?« erkundigte sich Roederer. Seine gute Erziehung kam zum Tragen. Er spielte weiterhin den jovialen Gastgeber gegenüber einem ungehobelten Klotz, der sich nicht die Bohne um Pilgrim’s Progress scherte und keinen einzigen Blick mehr darau warf, seit er den Titel gelesen hatte, und der sich selbst nicht vorstellte, wenn man ihn danach fragte.

»In Toronto geboren, aufgezogen und zur Schule gegangen. Woher wußten Sie? Sind Sie auch Kanadier?«

Neddy Roederer lachte und schüttelte den Kopf. »Ich bin leider gar nichts Bestimmtes. Geboren in Frankreich und in Holland und Hongkong zu Schule gegangen. Schon bevor ich Tea mit ihrer Wanderlust traf, habe ich an allen möglichen Orten gelebt, und seither ist es noch schlimmer geworden. Zum Entsetzen unserer Familien leben wir frei und unbeschwert. Wir haben es auch einmal mit Kanada versucht, aber es war uns zu kalt, deshalb zogen wir nach Bali. Oder Südafrika. Ich erinnere mich nicht mehr. Wir sind Nomaden.«

»Das eh hat mich fragen lassen«, meinte Roederer lächelnd.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich selbst höre mich das nie sagen, aber mein Ehegespons meint, ich würde es ständig von mir geben.« Er zeigte hinter sich, obwohl er sich nicht umdrehte, um nachzusehen, ob »sein Ehegespons« auch wirklich da war.

Offenbar war sie es. Eine einigermaßen attraktive Frau in einem unerklärlich unattraktiven Aufzug. Das Kleid, hellgraue Seide, aus der alles Leben herausgezogen schien, war extra dafür entworfen, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, aber bei dieser Veranstaltung stach die absichtliche Freudlosigkeit heraus. Ihre offenen langen Haare waren eine ausgebleichte graubraune Mischung, ihr Gesicht war frei von Make-up, ihre Ohren, ihr Hals und ihre Armgelenke frei von Schmuck. Sie beobachtete den Rücken ihres Mannes wie ein gut dressierter Hund, der auf seinen nächsten Befehl wartet.

»Mein Ehegespons kommt nicht aus Kanada«, erklärte der Mann. »Stammt ursprünglich aus Jersey, hat jedoch lange genug da oben gelebt. Ihr fällt es auf. Mir nicht.«

»Vergeben Sie mir, ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen.« Roederer blieb hart. Als ob der Name jemals gefallen wäre. Er konnte sich nicht wirklich für diesen Mann interessieren, noch erwarten, ihn jemals bei einem gesellschaftlichen Anlaß wiederzusehen. Aber seine Freundlichkeit schien tief eingebrannt, und er wartete geduldig, die Lippen in herzlichem Lächeln gekräuselt.

»Spiers.« Die Stimme war flach und resolut. »Reverend Harvey Spiers.«

Die freudlose Frau, die den Reverend beobachtete, steckte ihren Daumennagel in den Mund und kaute geistesabwesend daran. Zwischen ihren Augenbrauen wuchsen tiefe Falten.

Ich konnte mich nicht an einen Schüler namens Spiers erinnern. Neu an der Schule? Die Eltern eines künftigen Schülers? Der Freund einer unserer Alleinerziehenden?

Ich spürte den fast lautlosen Ausruf von Mackenzie mehr, als daß ich ihn hörte. Er sah mich an, als ob ich dasselbe denken würde. Sein Gesichtsaudruck verzeichnete Erkennen, aber keine Freude. Ich wandte mich wieder an Reverend Spiers und fragte mich, warum er diese Reaktion hervorrief.

Und mehr. Neddy Roederers wohlerzogene Züge verzogen sich vor Abscheu. »Der Reverend Spiers?« fragte er.

»Ich glaube schon.« Der andere verbeugte sich scheinheilig. »Ich glaube, ich bin der einzige dieses Namens und dieses Amtes in der Gegend.«

»Reverend Spiers von den Moralökologen?«

Natürlich. Das war es. Die festliche Party hatte mich nicht gleich daran denken lassen. Es war der letzte Ort, an dem ich diesen Mann erwartet hätte.

Roederers Stimme war in einer aufwogenden Welle der Ungläubigkeit angestiegen, bis sie brach, was ich jetzt gut verstehen konnt. Die Moralökologen hatten ihn verunglimpft, ihn als Müllmann etikettiert und, da war ich ganz sicher, die Puppe vor seiner Tür angezündet. Das wußte Neddy auch. Zweifelsohne hatte er als erster die Polizei verständigt.

»Sie –« entfuhr es Roederer, »Sie und diese Frau –«

Spiers neigte den Kopf, als ob er demütig eine Ehrung entgegennahm. »Sie meinen sicher Mutter Vivien, meine rechte Hand.«

Soweit ich gehört hatte, besaß sie noch andere Beinamen. Mutter Vivien hatte die Moralökologen gegründet, obwohl sie von dem Reverend in den Schatten gestellt und angeblich auch verführt worden war. Ich kannte ihr hartes Gesicht und ihre hüftlangen Zöpfe aus dem Fernsehen, hatte ihre schrillen Behauptungen und Forderungen gehört.

»Leider kann sie heute abend nicht hiersein«, sagte Spiers. Hinter ihm blickte finster »das Ehegespons«.

»Wenn ich etwas sagen dürfte …« Roederer schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Ich … ich hätte nie gedacht, daß Sie mein Haus betreten würden, Reverend«, brachte er schließlich heraus. »Ich dachte, unsere Interessen und … und Gesellschaftskreise … würden an entgegengesetzten Enden von …« Er schien zu niedergeschmettert und entnervt, um mehr herauszubringen.

Tea Roederer tauchte auf, als ob sie gerufen worden wäre. Ich hatte sie nicht kommen sehen, dabei war sie eine Frau, die man nicht so leicht übersah. So groß wie ihr Ehemann und ebenso sportlich durchtrainiert. Theodora Roederer besaß die Art von markanten Gesichtszügen, die man gutaussehend nennt, im Gegensatz zu hübsch. Sie hatte nicht die eingesunkene unsichere Haltung von Frauen, die versuchen, ihre Größe oder ihre Durchschnittlichkeit zu verbergen. Schließlich gab es niemanden, dem sie gefallen, kein gesellschaftliches Ideal, dem sie entsprechen mußte. Sie war mit einem Nachkommen des großen Ben Franklin verehelicht und ein milliardenschweres Mitglied einer jener Familien, deren Namen man in aller Welt kennt. Warum sollte sie jemand anderes sein wollen als nur sie selbst?

Harvey Spiers Lächeln wurde leicht nervös. »Wir sind gekommen, weil sich mein Ehegespons unbedingt feinmachen, feiern und zur Abwechslung einmal weltlich sein wollte. Normalerweise haben wir weder die Zeit noch die Neigung für Frivolitäten.«

Das Ehegespons sah keineswegs wie in Partystimmung aus, aber ich ahnte plötzlich, warum ihr Ausdruck so unerbittlich angespannt war.

Spiers hob seine Hände mit den Handflächen nach oben in der traditionellen Geste vorgetäuschter männlicher Hilflosigkeit. »Ich tue, was sie mir sagt.« Er zwinkerte Mackenzie zu. Von einem Mann zum anderen. Verabscheuungswürdig.

»Neddy?« fragte Tea Roederer zögernd. An diesem Abend entsprach ihr Outfit wieder einmal ganz und gar nicht der üblichen Main-Line-Nachlässigkeit. Sie trug ein silbernes Kleid mit einer Perlenkette aus schwarzem Bernstein, die sie von einer modebewußten Ahnin aus den zwanziger Jahren geerbt haben mußte. Die Kette verlieh ihr einen Hauch von Verwegenheit und ließ verrauchte Flüsterkneipen erahnen, ebenso wie ihr seidig-schwarzes, altmodisch frisiertes Haar, mit einem Pony bis zu den Augenbrauen und einem Bubikopf, Kennzeichen der Rebellion in den wilden Zwanzigern.

Ein Schüler, der mit Roederers Sohn eng befreundet war, hatte mir erzählt, daß Tea stets eine Perücke trug und in ihrem Haus sogar ein ganzes Zimmer dieser seltsamen Vorliebe gewidmet hatte.

»Neddy, Liebster?« fragte sie erneut.

»Vergib mir«, antwortete er. »Die Vorstellungsrunde ist längst überfällig. Darf ich dich mit Miss Pepper bekannt machen.«

»Wir kennen uns – von der Bibliothek.« Sie nickte mir freundlich zu.

Mir war damals schon ihre merkwürdige Aussprache aufgefallen, einschließlich des Wortes »Bibliothek«. Ihr Englisch hatte einen hörbaren Akzent, aber vielleicht lag die gelegentliche falsche Aussprache an ihrer mehrsprachigen Erziehung. Möglicherweise war es auch eine komische Laune der Oberen Zehntausend.

»Und das ist Mr. Mackenzie und …« Neddy schwieg kurz. »Reverend Harvey Spiers.«

Teas Gesicht wurde schlagartig so bleich, daß die Sommersprossen auf beiden Wangen hervortraten. Sie riß sich zusammen, und ich konnte fast sehen, wie ihre gute Erziehung ins Schwitzen geriet. »Willkommen in unserem Haus«, sagte sie. Dabei sah sie jedoch nur Mackenzie und mich an.

Spiers kicherte, ergötzte sich an ihrem Unbehagen.

»Tatsache bleibt, daß dieser Abend der Schule meines Sohnes zugute kommt«, sagte Reverend Spiers. »Wir tun, was wir können.«

»Ihr Sohn geht auf die Philly Prep?« Ich klang etwas zu fröhlich, in der Hoffnung, der Unterhaltung eine neue Richtung zu geben und sie zu entschärfen. »Ich unterrichte dort Englisch. Kenne ich ihn?«

Er blickte argwöhnisch. »Sind Sie für die Schulzeitung verantwortlich?«

»Ich berate die Schüler dabei.«

»Mir war so, als ob ich Ihren Namen schon gehört hätte. Jake geht dermaßen in der Kolumne auf, die er für Sie schreibt, daß ich mir Sorgen mache. Das verschlimmert nur seine Computerbesessenheit. Menschen sollten keine Maschinen anbeten und nicht zu viel Zeit mit ihnen verbringen.«