Die Giftküche - Gillian Roberts - E-Book

Die Giftküche E-Book

Gillian Roberts

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Beschreibung

Alle wollten dem erfolgreichen und skrupellosen TV-Produzenten die Ehre geben: ausgenutzte Ex-Ehefrauen, gelinkte Partner, betrogene Freunde. Als er auf dem Höhepunkt der Feier tot zusammenbricht, scheint nur Tante Bea Pepper als Täterin in Frage zu kommen. Aber deren Tochter Amanda, Detektivin aus Leidenschaft, hat im Laufe der Party so einiges mitbekommen. Und das ist dem Täter nicht verborgen geblieben. Um Haaresbreite wäre ein harmloses Kaffeekränzchen zu Amandas Henkersmahlzeit geworden … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 259

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Gillian Roberts

Die Giftküche

Ein Amanda-Pepper-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Es war eine dunkle, stürmische Nacht. Ehrlich. Und vorher war es ein düsterer, stürmischer Tag gewesen. Der März zeigte sich nicht gerade von seiner angenehmsten Seite – kalt und regnerisch, mit ungestümen Winden.

Und ich kuschelte nicht, wie es sich gehört hätte – mit irgendeinem verfügbaren Lustobjekt – Mann, Katze oder Buch – daheim am gemütlich warmen Kamin, sondern gondelte in der Strumpfhose meiner Schwester mit meiner Mutter durch den Regen, um gesellschaftliche Verpflichtungen wahrzunehmen, für die ich eigentlich gar nicht zuständig war.

Ich hielt mich am Lenkrad fest und dachte darüber nach, wie schwierig es ist, Eltern zu erziehen, besonders meine. Gerade heute hatte sich das wieder gezeigt. Nur mein Vater hatte mich durch eine Überreaktion, die an Überängstlichkeit und Gluckenhaftigkeit nichts zu wünschen übrigließ, in dieses Dilemma gebracht. Im allgemeinen ist er so ruhig, daß jede Frau an seiner Seite (das heißt meine Mutter) irgendwann das Verlangen packt, laut zu schreien, um das Geräuschdefizit auszugleichen. Am liebsten kommuniziert er mit den Frauen seiner Familie hinter seiner Zeitung verschanzt.

Heute nachmittag jedoch ritt ihn plötzlich der Teufel, und er verstieg sich zu einer Tat völlig überflüssigen Heldentums.

 

Wir saßen alle im Wohnzimmer im Haus meiner Schwester und ertrugen die manchmal zweifelhaften Wonnen eines langen elterlichen Besuchs. Bea und Gilbert Pepper, alias Mama und Dad, waren vier Tage zuvor angekommen. Seither zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ich ein für allemal klarstellen sollte, daß ich nicht bereit war, so lange Kind zu spielen, wie Gilbert und Bea bereit waren, Eltern zu spielen, d.h. auf immer und ewig. Es war nicht einfach, im allgemeinen Familientohuwabohu über diese heikle Frage oder sonst irgend etwas nachzudenken. Alle – mein Vater ausgenommen – redeten zu gleicher Zeit, und das Durcheinander wurde begleitet von laut dröhnender Musik: die beliebtesten Kinderlieder im Rap- Rhythmus, eine Platte meiner Nichte Karen. Ich erinnerte mich, wie sehr ich diese endlosen, eingesperrten Sonntagnachmittage immer gehaßt hatte, und ich erinnerte mich auch, warum.

Zwanzig Minuten noch, sagte ich mir, dann würde mein Aufbruch nicht allzu abrupt wirken. Ich bin Englischlehrerin, und das Gute daran ist, daß das viele Korrigieren immer einen glaubhaften Vorwand zum Verschwinden liefert. Als ich wußte, daß die baldige Erlösung bevorstand, entspannte ich mich und nahm wieder am allgemeinen Gespräch teil.

»Ich hoffe nur, der Bote hat unser Geschenk rechtzeitig abgegeben«, sagte meine Mutter gerade. »Ich hab’ das noch nie vorher ausprobiert.« Sie hatte in einer Zeitschrift davon gelesen, daß die vornehme Gesellschaft Geschenke häufig durch Boten schicken ließ. Offenbar fand sie, der Gastgeber der Festlichkeit, zu dem sie und mein Vater am Abend eingeladen waren, gehöre in diese Kategorie. »Was passiert eigentlich, wenn das Geschenk ankommt, noch ehe Lyle da ist? Nimmt das Hotel es dann für ihn an?«

Allgemeines beruhigendes Gemurmel, genau wie fünfzehn Minuten vorher, als sie sich das letzte Mal über diesen Punkt Sorgen gemacht hatte. Nur Karen, die hingebungsvoll zu ihren abgehackten Rhythmen tanzte, kümmerte das nicht.

Meine in Florida lebenden Eltern waren dem ausgehenden, aber immer noch unwirtlichen Winter zum Trotz nach Philadelphia gekommen, um an der fünfzigsten Geburtstagsfeier eines Mannes teilzunehmen, von dem sie behaupteten, er sei ein alter Freund, dessen Namen ich aber noch nie gehört hatte. Ich kontrolliere den gesellschaftlichen Umgang meiner Eltern weiß Gott nicht, aber diese Einladung war so großzügig – das Geburtstagskind hatte meinen Eltern die Flugtickets geschickt und ihr Zimmer in dem kleinen Hotel, in dem die Feier stattfinden sollte, bereits bezahlt –, daß ich neugierig wurde.

»Sag mal, Mama«, fragte ich, »wie kommt es, daß ich nie von Lyle Zacharias gehört habe?«

»Das hab’ ich dir doch gesagt«, antwortete meine Mutter. »Wir hatten jahrelang keinen Kontakt mehr.«

Ungefähr in dem Moment jaulte meine Nichte einmal kurz auf. Mehr war es wirklich nicht, ein kleiner Aufschrei einer Fünfjährigen, die sich irgendeinen unwichtigen Teil ihres Körpers am Tisch angeschlagen hatte. Aber mein Vater hörte anscheinend einen Urschrei in höchster Not. Er sprang so entsetzt auf, als wäre Karen im Begriff, in Flugsand zu versinken, rief etwas wie »O weh!« und wollte sich – ohne Lianen oder sonstige Ranken zur Verfügung zu haben – durchs Zimmer schwingen, um sein Enkelkind vor dem sicheren Verderben zu retten.

Karens kleiner Bruder Alexander fing an zu weinen, meine Schwester Beth rief: »Dad?« Meine Mutter sagte: »Gilbert, was um Himmels willen –« Und selbst ich sprang auf und rief vergeblich: »Vorsicht!« Nur Karen, die den Zusammenstoß mit der Tischkante schon wieder vergessen hatte, sagte nichts. Sie schwang bereits wieder das Tanzbein.

Mein Vater landete nun mit einem Fuß auf einer pinkfarbenen Schallplatte Karens und rutschte quer durchs Zimmer, wobei er allerdings den anderen Fuß nicht mitnahm. Mit wild wedelnden Armen versuchte er, sich zu retten, dann versank er in einem Spagat, um den Baryschnikow ihn beneidet hätte. Noch einmal rief er »O weh!«, dann sank er zusammen, ein Bein auf höchst interessante Weise verdreht.

 

Es ist erstaunlich, was an Zeit, Material und Personal notwendig ist, um einen Bruch zu schienen. Als der regnerische Tag in einen dunklen Abend überging, humpelten wir zu Beth’ Haus zurück. Das Fest, zu dem meine Eltern hergekommen waren, rückte bedrohlich näher. Meine Mutter kaute auf ihrer Unterlippe und sah aus wie die verzweifelte Heldin eines Stummfilms. Mein Vater lächelte spitzbübisch. Ein ganz neuer Daddy dank der Schmerzmittel, die man ihm verabreicht hatte. Ich sagte ihm, es würde bestimmt sexy aussehen, wenn er mit Krücken auf die Party ginge.

Meine praktische Schwester, die verheiratet und daher nicht in Gefahr war, Mutter als Ersatzbegleitung mitgegeben zu werden, reagierte augenblicklich. »Wer weiß, ob dieses kleine Hotel einen Aufzug hat, Mandy. Es war früher schließlich nur eine Pension. Wie würde Daddy da in sein Zimmer kommen?«

»Wir können ja anrufen und fragen.« Ich war ziemlich bissig, aber nur, weil ich wußte, was kommen würde. »Und wenn kein Aufzug da ist, können Mama und Dad ja für die Nacht wieder hierherkommen.«

»Gilbert«, sagte meine Mutter, »Lyle geht es um dich, nicht um mich. Zu meiner Familie gehört er nicht.«

Hieß das vielleicht, daß dieser Lyle mit Vater verwandt und uns verschwiegen worden war? Das schwarze Schaf vielleicht? Das war schon beinahe wieder interessant.

»Wer ist der Mann?« fragte ich wieder.

Mein Vater strahlte. Mit Betäubungsmitteln im Blut war er gegen weibliche Äußerungen noch besser gefeit als sonst. Ich konnte nicht glauben, daß meine Mutter mit so einem abgedröhnten Typen auf das Fest gehen wollte, aber in der Not frißt der Teufel ja bekanntlich Fliegen.

»Er ist Produzent«, warf meine Mutter mir zur Antwort hin und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf meinen Vater. »Gilbert?«

Er antwortete mit einem kurzen Flattern der Augenlider.

»Am Broadway?« Das Wort ›Produzent‹ ist so geheimnisvoll. Was heißt es? Was tut ein Produzent?

»Beim Fernsehen.« Meine Mutter betrachtete bekümmert ihren komatösen Ehemann.

»Was für eine –«

»The Second Generation.« Beth machte ein verlegenes Gesicht. »Es läuft jeden Nachmittag. Ich schau’s mir manchmal an, wenn ich den Kleinen füttere.«

Meine Mutter sah ihre ältere Tochter besorgt an.

»Keine Angst«, sagte Beth. »Dr. Spock hat nichts dagegen, daß man sich beim Stillen Seifenopern ansieht.«

Ich konnte förmlich sehen, wie meine Mutter im Geist in ihrem Dr. Spock blätterte. Er war in unseren Kinderjahren ihr Guru gewesen, und sie bewunderte ihn immer noch. Aber wir sprachen jetzt nicht von Kinderärzten. Wir sprachen von Produzenten, und ich führte meine Mutter wieder zum Thema zurück.

»Vor Jahren«, sagte sie, »hatte Lyle mal ein Stück am Broadway. Es war ein großer Hit. Dann wurde eine Fernsehserie daraus, und so landete er in der Branche.« Sie wandte sich wieder meinem Vater zu, der inzwischen erwacht, aber kaum ansprechbar war. »Wir müssen wirklich hingehen«, behauptete sie. »Wo ich doch extra die vielen Törtchen gebacken und einen Boten genommen habe, um sie ihm zu schicken.«

Das war das Ausschlaggebende, da war ich sicher. Sie hatte sich solche Mühe gegeben mit dem Geschenk, und nun wollte – und verdiente – sie entsprechende Anerkennung dafür.

»Es geht doch nicht, daß wir uns erst die Flugreise bezahlen lassen« fuhr meine Mutter fort, »und dann auf dem Fest nicht erscheinen.«

»Ich hab’ ihn nicht gebeten, mich einzuladen.« Mein Vater sprach sehr langsam. »Du wolltest unbedingt, daß wir zusagen, obwohl du ihn auch nicht mehr gemocht hast nach –«

»Du bist viel zu hart«, unterbrach meine Mutter. »Sei doch ein bißchen tolerant. Denk daran, wieviel er gelitten hat. Jetzt sucht er den Kontakt mit uns.«

Die Beschuldigung meines Vaters, daß sie Lyle Zacharias nicht gemocht habe, bestritt sie nicht. Aber ihre übertriebene Neigung zu Schuldgefühlen und ihr ebenso übertriebenes Bestreben um Edelmütigkeit forderten, daß sie den Geburtstag eines Mannes feierte, den sie im Grunde genommen gar nicht mochte.

»Geh du doch«, drängte mein Vater.

»Allein?« Meine Mutter machte ein langes Gesicht.

Ich ignorierte die eindeutigen Blicke meiner Schwester. Daraufhin griff sie zu einem »Pst!«, das leider nicht zu überhören war. Hinter dem Rücken meiner Mutter formte sie mit ihren Lippen lautlos eine Frage, die ich sofort verstand.

»Hast du heute abend schon was vor?«

Nein, ich hatte nichts vor. Obwohl ich ursprünglich etwas vorgehabt hatte. Wir hatten ins Kino gehen wollen wie ganz normale Leute und danach zum Essen und danach – wer weiß?

Jedoch, normale Leute arbeiten nicht beim Morddezernat, und die Leute, die die Freunde beim Morddezernat sozusagen beschäftigen, sind auch nicht normal. Heute morgen, als ich gerade zum Sonntagsbrunch hatte losfahren wollen, hatte C.K. Mackenzie angerufen und sich entschuldigt. Er mußte mir absagen, weil er Dienst hatte und draußen in den Slums in der Nähe der Germantown Avenue eine fingerlose Leiche gefunden worden war. Mackenzie würde zweifellos weit über die normale Dienstzeit hinaus arbeiten müssen.

Bei der Polizei von Philadelphia gibt es für Überstunden keinen Urlaub. Die Überstunden werden bezahlt. Das vergrößert das Portemonnaie und schränkt das Privatleben ein. Nach beinahe einjähriger Bekanntschaft mit Mackenzie mochte ich ihn immer noch lieber als seinen Job und wußte trotzdem nicht, was ich tun sollte, um die beiden, die immer nur froh vereint erschienen, voneinander zu trennen.

Der springende Punkt war jedoch in diesem Moment, daß ich für den Abend nichts vorhatte. Und als hätte meine Mutter meine Gedanken lesen können, drehte sie den Kopf. »Mandy!« sagte sie im Ton plötzlicher Inspiration. Manchmal, wenn ich meine Mutter betrachte, sehe ich mich selbst, ein klein wenig verzerrt wie in einem freundlichen Spiegelkabinett. Sie ist klein und etwas rundlicher, und meine Züge sind wahrhaft nicht die ihren. Wir haben beide das gleiche kastanienbraune Haar, auch wenn bei ihr die Farbe inzwischen aus der Flasche kommt, und unsere Augen haben, ohne daß der Natur da nachgeholfen werden mußte, den gleichen verschwommenen Grünton, die Farbe abgegriffenen Geldes, wie das ein Yuppie-Bekannter von mir einmal allen Ernstes beschrieb. Aber mal abgesehen von der Farbe, leuchtet in den Augen meiner Mutter ein unschuldiger Optimismus, der meinen hoffentlich fehlt.

»Nein!« sagte ich mit Entschiedenheit. »Morgen ist ein Arbeitstag, und ich habe Aufsätze daliegen, die korrigiert –«

»Es wird bestimmt nett.«

»Für mich nicht. Ich fahr’ dich gern hin und hol’ dich wieder ab, aber ich möchte wirklich nicht –«

»Es ist doch eine einmalige Gelegenheit!«

»Wozu, Mama? Bitte.«

»Leute aus dem Show-Geschäft. Prominente.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich auf Straßen aufreihen oder an Bühnentüren Schlange stehen, um eine Berühmtheit zu sehen. Ich verstehe nicht das Bedürfnis dazu. Und selbst wenn es anders gewesen wäre – in diesem Fall handelte es sich um Prominenz aus einer Fernsehserie, die ich nie gesehen hatte. Da war der Kitzel gleich null.

»Nur zum Essen«, sagte meine Mutter. »Okay? Wir brauchen ja nicht lange zu bleiben. Wer weiß? Vielleicht lernst du sogar jemanden kennen. Diese Schauspieler können sehr gut aussehen, weißt du.«

Ich sah meine Mutter schon, wie sie den Saal nach potentiellen Schwiegersöhnen durchforstete und dann auf einen Stuhl kletterte, um ihre übriggebliebene Tochter an den Meistbietenden zu verschachern. Je näher mein einunddreißigster Geburtstag rückte – und er war nur noch Tage entfernt –, desto größer wurde ihre Panik.

»Mama, bitte!« Ein Quengeln, von dem ich geglaubt hatte, ich hätte es mit meinem ersten wattierten Büstenhalter abgelegt, hatte sich in meine Stimme geschlichen.

Meine Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Ich meinte nur, du würdest vielleicht einen Mann kennenlernen, der im Gegensatz zu deinem Freund, dem Polizisten, seine Zeit mit Leuten verbringt, die noch leben.« Sie lachte warm, mütterlich, hinterhältig.

»Ich kenne Lyle Zacharias nicht«, entgegnete ich. »Ich habe heute das erstemal in meinem Leben von ihm gehört. Er hat keinerlei Verbindung zu meinem –«

»Cindy war Lyle Zacharias’ erste Frau.«

Ich sah meine Schwester an. Sie sah mich an. Dann sahen wir beide meine Mutter an. Mein Vater wiederum sah weg.

»Wer«, fragten Beth und ich im Chor, »ist Cindy?«

»Cindy war die Pflegeschwester eures Vaters«, erklärte Mutter laut, als hätte unser Unverständnis mit einem Gehörschaden zu tun. »Selbstverständlich habt ihr von ihr gehört.«

Mir dämmerte eine vage Erinnerung an den Namen, aber das war auch alles.

»Ihr habt sie sogar kennengelernt«, fuhr meine Mutter fort. »Sie lebten damals in New York, wir haben sie zwar nicht oft gesehen, aber ihr habt Cindy kennengelernt.«

»Du hast nie von ihr gesprochen«, stellte ich ungläubig fest. Bea Pepper, die Scheherazade des Familienklatsches, die Chronistin von Philadelphia hatte über eine Pflegeschwester ihres Ehemanns geschwiegen?

»Ich bin überzeugt, wir sind heute abend eingeladen, weil wir die einzigen sind, die Cindy kannten und die ihn noch aus dieser Periode seines Lebens kennen. Es war eine tragische Periode.« Sie seufzte. »Nicht wahr, Gilbert?«

Mein Vater schien in andere Sphären ausgeflogen zu sein und sich dort gut zu amüsieren.

Meine Mutter breitete die Hände aus. »Er spricht nicht gern darüber. Lyle hatte eine Pistole im Haus. Aus Sicherheitsgründen. Schließlich lebten sie ja in New York. Wir haben ihm immer gesagt, daß das gefährlich sei. Und eines Tages – mein Gott, es war grauenvoll – fand Cindys kleine Tochter doch tatsächlich die Waffe und tötete ihre Mutter damit.«

»Versehentlich.« Mein Vater war aus seligem Vergessen erwacht und machte ein verstörtes Gesicht. »Heutzutage gibt es für solche Fälle Gesetze. Er würde dafür ins Gefängnis wandern, daß er eine geladene Waffe so offen herumliegen ließ, daß eine Dreijährige sie finden konnte.« Immer noch entsetzt, schüttelte er den Kopf.

»Wann ist denn das alles passiert?« fragte Beth.

Meine Mutter begann auf ihre nervtötende Art zurückzurechnen. »Warte mal, das war kurz nach dem siebenundfünfzigsten Geburtstag von Onkel Lewis. Das müßte dann also wann gewesen sein? Er und Tante Gloria gaben am selben Tag, an dem du ein Jahr alt wurdest, ein Riesenfest. Zur Feier ihrer silbernen Hochzeit. Er hat ziemlich spät geheiratet, er war ein stadtbekannter Junggeselle und Lebemann. Das heißt also, es muß –«

»Herrgott noch mal!« fuhr mein Vater dazwischen. »Cindy ist vor fast zwanzig Jahren gestorben.«

Als ich zehn oder elf gewesen war. Wie hatte mir ein so sensationeller Ungücksfall in der eigenen Familie entgehen können? Was sonst hatte damals, als die Pubertät sich noch gar nicht rührte, meine Aufmerksamkeit so gefangengenommen? Beth schien genauso verblüfft zu sein wie ich.

»Es ist bei ihnen zu Hause passiert. In New York«, erklärte meine Mutter. »Ihr habt Cindy sowieso kaum gekannt. Sie hat nie in unserer Nähe gewohnt. Außerdem wart ihr damals bei Grandma am Meer. Wir wollten euch mit dieser Schreckensnachricht nicht belasten. Schließlich ist es Aufgabe der Eltern, ihre Kinder vor so schlimmen Dingen zu behüten, wo es nur geht. Und das haben wir getan.«

Ich wußte diese Fürsorglichkeit zu würdigen, dennoch war mir unbehaglich.

»Was ist aus dem kleinen Mädchen geworden?« fragte Beth leise.

»Betsy?« sagte meine Mutter. »Sie war nicht Lyles leibliche Tochter. Cindy war so ein typisches Blumenkind der damaligen Zeit. Und dann wurde sie Blumenmutter, und der Blumenvater war nicht aufzuspüren.«

Mein Vater wandte sich ab, als wäre ihm Cindys Geschichte immer noch peinlich.

»Hat er die Kleine – Betsy –, hat er sie bei sich behalten, nachdem …« Beth sprach nicht weiter.

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Er war völlig durcheinander. Hattie, Lyles Tante, die auch ihn schon großgezogen hatte, nahm die Kleine zu sich. Lyle konnte sie nicht in seiner Nähe haben. Dein Vater und ich haben überlegt, ob wir sie adoptieren sollen.«

»Aber inzwischen war der leibliche Vater aus Vietnam zurück«, warf mein Vater ein, um die Story etwas abzukürzen, »und als er hörte, was geschehen war, nahm er Betsy zu sich. Er hat danach nie wieder mit der Familie gesprochen.«

Meine Mutter stand auf. »Und wir waren auch nicht viel besser. Wir haben danach im Grund keine Anstrengungen mehr gemacht, Lyle mal wiederzusehen, den armen Mann.«

»Er hätte das Kind behalten sollen. Außerdem ist er auch ohne uns ganz gut zurechtgekommen.« Die Stimme meines Vaters hatte einen ungewohnt feindseligen Ton.

»Ich hoffe nur, niemand hat diesem kleinen Mädchen je gesagt, was es getan hat«, bemerkte Beth, und es folgte ein langes Schweigen.

Meine Mutter brach es schließlich, indem sie pragmatisch, wie sie ist, zur Grundfrage zurückkehrte. »Trotzdem fände ich es nicht in Ordnung, dem Fest einfach fernzubleiben. Lyle möchte offensichtlich Frieden schließen. Habt ihr die Einladung gesehen, Mädels?« Sie kramte in ihrer Handtasche und zog eine große cremefarbene Karte heraus.

Auf den ersten Blick war die Einladung nichts Besonderes. Schweres Büttenpapier mit halbfetter Schrift. Sie hätte eine Hochzeitseinladung sein können, wäre sie nicht so geschwätzig gewesen.

›Der größte Teil unseres Lebens galoppiert im doppelten Tempo vorüber, zu schnell, um jede einzelne Szene wahrzunehmen und zu verstehen. Aber hat man einmal ein halbes Jahrhundert hinter sich, so wird es Zeit, innezuhalten, Bilanz zu ziehen, vielleicht über einen Kurswechsel nachzudenken. Ich bin gespannt auf die kommenden fünfzig Jahre, zumal ich vorhabe, auszusteigen und noch einmal von vorn anzufangen.

Jetzt jedoch, bevor ich weitergehe, möchte ich mit Euch zusammen noch einmal die Vergangenheit heraufbeschwören und dort ein Wiedersehen mit Euch feiern, wo meine Reise einst begann. Ihr seid ein Teil meiner Geschichte, wie ich einer der Euren bin, und das einzige Geburtstagsgeschenk, das ich mir wünsche, ist eine Chance, mein Leben in seiner Gänze vor mir zu sehen, in Euren Gesichtern, um Wunden zu heilen, die der Heilung bedürfen, und um einen Toast auf alte Zeiten auszubringen.‹

Beth blickte auf. »Tut mir leid, aber ich finde das eine merkwürdige Einladung«, sagte sie. »Beinahe ein bißchen unheimlich. Übertrieben. Und es klingt so, als hätte er eine Menge Feinde. Außerdem – aber vielleicht liegt das nur an der unglücklichen Wortwahl, ich weiß nicht. Jedenfalls, so wie er es sagt – er will sein Leben vor sich sehen –, hört sich das nicht nach einem Geburtstagswunsch an, sondern eher nach dem, was angeblich in einem Sterbenden vorgeht.«

Meine Mutter ließ sich von Beth’ Worten nicht abschrecken. »Du kommst doch mit?« sagte sie zu mir. »Ganz allein würde ich mich unbehaglich fühlen. Und es ist wichtig.«

Die flehentliche Bitte im Blick meiner Mutter, das Bild eines seit langem verstorbenen Blumenkinds und der seltsame Text der Einladung waren schuld daran, daß ich mir am Ende eine Strumpfhose und ein Cocktailkleid von meiner Schwester auslieh und zur Geburtstagsfeier eines Mannes ging, den ich nicht kannte.

2

Ich habe ein tiefsitzendes Vorurteil gegen die Schickeria und erwartete, daß Lyle Zacharias sich als Kulisse für seine Jubelgala mindestens das Kunstmuseum ausgesucht hätte; auf jeden Fall aber etwas Aufwendigeres als ein bescheidenes kleines Hotel in einem nicht allzu edlen Viertel.

»Warum gerade das Boarding House?« fragte ich auf der Fahrt.

»Er ist in Queen Village aufgewachsen. In einem Haus gleich gegenüber der Pension«, antwortete meine Mutter. »Hattie, die ihn großgezogen hat, wohnte dort. Wenn ich mich nicht irre, hat sie als junge Frau sogar eine Weile in der Pension gewohnt. Oder vielleicht auch in einer anderen.«

Die Scheibenwischer flogen hin und her und bescherten uns zwischen wäßrigen, verschwommenen Bildern immer wieder einen klaren Blick auf unsere Umgebung. Ich ließ Society Hill hinter mir und überquerte die South Street mit ihren grellen Lichtern, die Schick und Ramsch bestrahlten.

Meine Mutter kauerte in ihrem alten Persianer so tief in ihrem Sitz, als hätte sie Angst, gesehen zu werden. Sie haßte es, ihren Pelz anzuziehen, aber sie war nicht dazu zu bewegen, sich etwas anderes zu kaufen, weil sie in Florida keinen brauchte. Erst als die gedämpfte Musik aus dem Autoradio zu Ende ging und der Nachrichtensprecher sich mit gewichtiger Stimme meldete, richtete meine Mutter sich etwas auf und stellte das Radio etwas lauter. Sie war seit dem Umzug nach Boca Raton ganz gierig auf den Wetterbericht und hoffte dauernd auf irgendwelche klimatischen Exzesse. Sehr aufregend konnte das Ruhestandsleben in Florida nicht sein.

»Nur vier Grad in Fargo!« pflegte sie beispielsweise auszurufen. »Das ist ja unglaublich. Zu Hause haben wir wahrscheinlich zwischen vierundzwanzig und sechsundzwanzig Grad.«

Zu Hause hatten sie immer zwischen 24 und 26 Grad, selbst wenn es in Wirklichkeit glühend heiß war oder gerade wieder mal ein Hurricane tobte. Es war schwer zu ertragen.

»Flutartige Regengüsse in Paoli und nördlich«, berichtete der Sprecher, noch ehe er zu den internationalen Nachrichten kam. Meine Mutter verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge.

»Zu Hause scheint bestimmt die Sonne«, sagte sie mit einem glücklichen Seufzer.

»Nachts scheint keine Sonne. Nicht mal in Florida.«

Sie wechselte das Thema. »Es ist mir richtig unangenehm, daß ich das Zimmer nicht benütze, das Lyle uns gemietet hat. So eine Verschwendung.« Der Nachrichtensprecher berichtete dazu von Revolution, Blutvergießen und Unmenschlichkeit. Meine Mutter drehte das Radio leiser.

Ich hatte eingewilligt, meine Mutter zu begleiten. Ich hatte eingewilligt, das schwarz-weiße Cocktailkleid meiner Schwester anzuziehen, nachdem ich versucht hatte, mich damit herauszureden, daß ich nichts anzuziehen hätte, was zu Champagner und Kaviar paßte. Ich hatte es mir gefallen lassen, daß mir nur eine Stippvisite in meinem eigenen Haus gestattet wurde, um meinen Kater Macavity zu füttern, meinen stummen Anrufbeantworter zu prüfen und meinen Lippenstift und meine schwarzen Schuhe zu holen. Aber alles hat seine Grenzen, und ich war nicht gewillt, auch nur eine Minute länger als unbedingt nötig bei den Festivitäten zu verweilen. Die im Hotel gemieteten Zimmer waren für jene Gäste Lyle Zacharias’ gedacht, die von außerhalb kamen. Ich war weder Gast, noch kam ich von außerhalb. Dennoch war meine Mutter enttäuscht.

»Aber du würdest doch Dad nicht die ganze Nacht allein lassen wollen, nicht wahr?« sagte ich, und das war ein weit wirkungsvolleres Argument als die Wahrheit, nämlich daß ich möglichst bald wieder zu Hause sein wollte. Es konnte ja sein, daß Mackenzie und Kollegen entweder den Killer oder die Finger des Toten aufstöbern und für heute abend Schluß machen würden.

»Ich habe ihm versprochen, ihm etwas Gutes mitzubringen. Erinnere mich daran, ja?« Meine Mutter war so aufgeregt wie ein Kind. »Ich hoffe nur, er ißt immer noch gern Törtchen.«

»Daddy? Er ist doch ganz verrückt –«

»Lyle. Vor Jahren sagte er einmal, sie wären das Paradies für ihn, und die einzige Schlange in diesem Paradies sei, sie teilen zu müssen. Deswegen habe ich heute ›Diesmal brauchst du nicht zu teilen‹ auf die Karte geschrieben. Meinst du, er wird verstehen, was ich meine? Glaubst du, er erinnert sich noch?«

Ich hoffte es jedenfalls. Ich hoffte außerdem, er würde über Bea Peppers Törtchen in solche Ekstase geraten, daß ihm die Anwesenheit ihrer uneingeladenen Tochter nicht auffallen würde.

»Was kann jemand wie ich sonst einem Mann wie ihm schon schenken«, fuhr meine Mutter fort. »Den Einfall hatte eigentlich dein Vater. Er meinte, meine Törtchen könnte sich Lyle bei all seinem Erfolg nicht kaufen. Ich habe fünfzig Stück gebacken, für jedes Jahr eines. Aber was ist, wenn er mit dem Essen aufpassen muß oder sein Cholesterinspiegel zu hoch ist?«

Meine Mutter hielt Selbstgespräche und brauchte keine Anstöße dazu. Das Gute war, daß das Hotel nicht mehr weit war, ihre Solodebatten also nicht bis ins Unendliche fortdauern würden.

»Ich habe Angst, daß ich sie zu dicht gepackt habe. Wahrscheinlich sind sie völlig zerkrümelt angekommen. Wenn dieser Bote so rasend gefahren ist wie manche, die ich gesehen habe. Ich habe Pappe zwischen die einzelnen Schichten gelegt, aber …«

Der Radiosprecher erzählte etwas von einem Stau infolge eines Großfeuers. Es schien unmöglich, daß bei diesem Regen irgend etwas Feuer fangen konnte, aber das Wetter war die Spezialität meiner Mutter, nicht die meine. Ich hörte aufmerksam zu, um den Stau nötigenfalls umfahren zu können.

»Und die Dose«, fuhr meine Mutter zu ihrem unsichtbaren Zuhörer gewandt fort. »War das vielleicht ein bißchen zu plump? Im Laden fand ich es komisch, aber jetzt …«

Die Dose, die der Bote hatte überbringen müssen, war riesengroß und schwarz und trug auf der Seite in silbernen Lettern die Aufschrift ›Die besten Jahre kommen erst noch‹. Das Schlimmste an dem Sprüchlein war seine Banalität, aber das sagte ich ihr nicht. Ich war zu sehr damit beschäftigt, dem Bericht über das Feuer zuzuhören. Die Brandstelle befand sich außerhalb der Stadt, in Cheltenham. Kein Problem also. Aber da traf es mich plötzlich wie ein Keulenschlag.

»Das Cavanaugh Hotel erlangte in der Zeit der Prohibition eine gewisse Berühmtheit und wird all jenen unvergessen bleiben, die –«

»Nein!« rief ich. »Das Hotel!«

»Wo? Hier? Sind wir da?« fragte meine Mutter.

Ich schüttelte den Kopf. Unsere Schule hatte Ende Mai im Cavanaugh Hotel die Abschlußfeier veranstalten wollen. War es möglich, so ein massiges viktorianisches Gebäude innerhalb von sieben Wochen wieder aufzubauen?

Die Antwort war mir klar. Und ebenso klar war mir, was für ein Theater es werden würde, einen Ersatz zu finden. Ausgerechnet im Mai, wenn alle Welt Hochzeitsfeste veranstaltete und sämtliche Schulen der Stadt ihre Abschlußfeiern steigen ließen.

»Du hast recht. Wir sind da!« rief meine Mutter hörbar entzückt. Und ich fand sogar einen Parkplatz, der nicht allzu weit vom Hotel entfernt war.

Sobald wir die Tür öffneten, überschwemmten uns Stimmengewirr und Gelächter von Leuten, die zunächst einmal das enorme Glück ihrer eigenen Geburt zu feiern schienen. Sie waren nicht auf den ersten Blick sichtbar. Vielmehr sahen wir uns einem kahlköpfigen, aber freundlichen Mann gegenüber, der an einem kleinen Mahagonipult saß. Das war der Empfang. Meine Mutter ließ sogleich eine weitschweifige Erklärung darüber vom Stapel, weshalb sie nun doch nicht in dem für sie gemieteten Zimmer übernachten würde. Dem Mann am Pult war das völlig schnuppe, aber er ließ sie reden, und als sie fertig war, reichte er ihr einen riesigen Messingschlüssel und sagte, sie solle sich wie zu Hause fühlen.

In dem Raum zu unserer Rechten brach die heitere Gruppe in Gelächter aus, dann brachte jemand einen Toast auf Lyle und auf Geburtstage im allgemeinen aus. »Was gibt es schließlich für Alternativen?« hörte ich. Das Mobiliar, altmodisch und gediegen, war auf Hochglanz poliert: dunkles Holz, gewachste Tischplatten, Einlegearbeiten, burgunderroter Plüsch, verschwenderisch gemusterte Teppiche.

Die Gäste hingegen waren absolut modern und strahlten so viel Selbstsicherheit aus, daß ich gar nicht hinzusehen brauchte, um zu wissen, daß ihre Zähne alle perfekt überkront waren, ihr Haar tadellos saß, ihre Körper fit waren, ihre Garderobe der letzte Schrei. Und ich wußte auch, daß dies die Fernsehprominenz aus der Weltstadt New York war, worauf ich mir prompt wie die letze Landpomeranze vorkam.

»Schau, da!« flüsterte meine Mutter. »Der Mann da am Kamin. Das ist Dr. Sazarac.«

»Euer Hausarzt ist auch hier?«

In ihrem Lachen schwang Ungläubigkeit. »Doch nicht unser Arzt. Er ist der Arzt aus Second Generation.«

Er war um die Fünfzig, mit rosiger Haut und silbergrauem Haar, wie sich das für einen Fernseharzt gehörte.

Meine Mutter rammte mir den Ellbogen in die Rippen. »In Wirklichkeit heißt er McCoy. Shepard McCoy. Er ist geschieden«, zischte sie mir zu. »Ich hab’s in Parade gelesen.«

»Der wär’ eher was für dich als für mich.« Nur war sie eben verheiratet, und ich nicht.

Eine Frau im langen, schwingenden Nerz und ohne die Pelzskrupel meiner Mutter rauschte ins Foyer. Wie die kleinen Bäuerlein traten meine Mutter und ich ehrfürchtig einen Schritt zurück, um der großen Dame Platz zu machen. Meine Mutter sprach lautlos den Namen der Frau, aber ich verstand nicht, und es war mir auch egal. Noch irgendeine Person aus Second Generation.

»Bringen wir doch unsere Mäntel weg und gehen wir zu den anderen Gästen«, schlug ich mit gesenkter Stimme vor. »Wir können euer Zimmer ja wenigstens als Garderobe benützen.«

Sie sah besorgt aus. »Mutter!« flüsterte ich. »Was ist denn?«

»Meine Törtchen. Was meinst du, wo sie sind?«

Ich sah mich nach dem Empfangsangestellten um, aber der war mit der Dame im Pelz davongeeilt. Ein Geschenketisch wie bei einer Hochzeit schien nicht dazusein. Die auswärtigen Gäste, die sich im Salon amüsierten, hatten ihre Gaben wahrscheinlich oben in ihren Zimmern gelassen, und die Ortsansässigen trafen nur allmählich ein.

»Was mach’ ich, wenn sie gar nicht angekommen sind?« flüsterte sie. »Oder wenn sie warm stehen? Manche haben Schlagsahne obendrauf. Wenn die zu lange in der Wärme stehen … Wie konnte ich mich nur von deinem Vater zu so einem unpraktischen Geschenk überreden lassen?«

Die Resolutheit meiner Mutter war im Glanz dieser Pseudoprominenz dahingeschmolzen. Ich wartete fast darauf, daß sie die vapeurs bekommen oder vor der versammelten Fernsehmannschaft einen Hofknicks machen würde. Kopfschüttelnd nahm ich sie beim Arm und machte mich auf die Suche nach der Küche.

Wir fanden eine offene Flügeltür, die in eine helle, moderne und etwas chaotische Küche führte. Ein gehetzt aussehender junger Mann war damit beschäftigt, einen kleinen Berg gekräuselten Salat in riesige Plastikschüsseln zu füllen. »Du meine Güte!« brummte er dabei unaufhörlich und lief dann mit einem kurzen Winken zu uns aus der Küche.

Sämtliche Arbeitsflächen waren bedeckt mit den Zeugnissen früheren Schnipselns und Schälens und Hackens, aber es war nur noch eine weitere Arbeitskraft zu sehen: eine rundliche Gestalt in Weiß, die über das Spülbecken gebeugt stand.

Das Boarding House hatte erst vor kurzem eröffnet, und trotz begeisterter Urteile über die Zimmer und die Küche war Lyles Party wahrscheinlich die größte organisatorische und kulinarische Herausforderung für das Hotel seit der Eröffnung. Kein Wunder, daß man es in der Küche förmlich knistern hörte vor Spannung.

Meine Mutter klopfte an den Türpfosten. Die Gestalt an der Spüle rührte sich nicht. Mutter rückte näher. »Ach, entschuldigen Sie«, zwitscherte sie wie eine Matrone aus dem Kintopp der dreißiger Jahre. »Ich störe wirklich nicht gern, aber –«

Die Spülerin drehte wenigstens das Wasser aus. Ich hörte rhythmisch blechernes Tschingdarassassa, dann sah ich den gelben Walkman auf dem Fensterbrett.

»– durch Boten eine große Dose hierherbringen lassen –« fuhr meine Mutter fort.

»Sie kann dich nicht hören«, sagte ich.

Mutter legte ein paar Dezibel zu. »Ich hätte gern gewußt«, brüllte sie, »ob sie angekommen sind und –«

»Mama, schrei doch nicht so. Sie hat Kopfhörer auf.«

Natürlich hörte meine Mutter mich gar nicht. Sie schrie viel zu laut. »Es sind welche mit Sahne dabei. Die könnten schlecht werden.«

Mitten in dieser letzten Tirade zog die Spülerin sich die Ohrenstöpsel heraus. Sie fuhr herum und schrie. Ich konnte sie verstehen. Schließlich stand da eine Wildfremde in ihrer Küche und brüllte sie an.

Sie drückte eine Hand auf ihre Brust. Ihr Gesicht unter dem türkisgrünen Tuch, das sie sich um die Haare gebunden hatte, war schreckensbleich, und die Sommersprossen auf ihren Wangen hoben sich wie goldene Pailletten von der blassen Haut ab.

»Warum schreien Sie?« fragte meine Mutter verblüfft.

Die junge Frau klappte den Mund zu und schluckte. »Tut mir leid«, sagte sie, was ich ganz unpassend fand, da sie ja nichts getan hatte, als ihren Schrecken zu äußern.