Schatten aus der Vergangenheit - Gillian Roberts - E-Book

Schatten aus der Vergangenheit E-Book

Gillian Roberts

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Beschreibung

Was nützt die schönste Zukunft, wenn man vorher stirbt …? Lisa, eine schöne und erfolgreiche Schauspielerin, ist tot. Und ihr Verlobter, ein angehender Senator aus feinster Familie, benimmt sich äußerst merkwürdig. Fast so merkwürdig wie seine Mutter, die vor nichts zurückschreckt, um die Vergangenheit ihres Sohnes zu vertuschen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gillian Roberts

Schatten aus der Vergangenheit

Ein Amanda-Pepper-Krimi

Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Ich hatte keine Lust auf Gesellschaft an diesem verregneten Montagmorgen um 7 Uhr 58, siebenundzwanzig Stunden nachdem ich das Rauchen und einen grünäugigen Discjockey aufgegeben hatte. Der Anblick meines Gesichts im Badezimmerspiegel hatte mir den letzten Rest Geselligkeit ausgetrieben; die Wahl von Rock und Pullover meine intellektuellen Reserven aufgebraucht.

Es klingelte trotzdem. Ich erwartete keine Lieferungen. Der Philadelphia Inquirer war schon gekommen; mit solchem Karacho ans Haus geschleudert, daß die Titelseite völlig zerfetzt war. Und Besuch hatte sich auch nicht angesagt.

Die einzigen unerwarteten Lieferungen, die ich erhalte, sind anständige, junge Männer. Sie werden mir per Nachnahme von Verwandten zugesandt, die es als unerträgliches Stigma empfinden, eine alte Jungfer von dreißig Jahren in der Familie zu haben. Ich habe versucht, ihre Zuwendungen zu unterbinden, indem ich ihnen Zeitungsausschnitte und Statistiken schickte, die belegen, daß immer mehr Frauen Heirat und Kinder auf später vertagen. Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, daß es unamerikanisch und völlig überholt ist, etwas anderes als eine High-Tech-Karriere ins Auge zu fassen.

Als Antwort schicken sie mir noch mehr anständige, junge Männer. Aber die A.J.M. kommen nie am frühen Morgen.

Ich schleppte mich zur Tür und blickte durch den Spion. Eine reine Formsache. Das Ding war so stark aufwärts gerichtet, daß ich zur richtigen Jahreszeit höchstens den Großen Bären hätte sehen können und sonst gar nichts.

»Mandy? Machen Sie bitte auf! Ich bin’s, Liza.«

»Liza wer?«

»Liza Nichols.«

Überrascht und neugierig öffnete ich Liza und dem Regen die Tür. Ich war zwar ziemlich in Hetze, aber ich wollte doch gern wissen, warum diese Frau, die mir praktisch fremd war, mich um diese Zeit besuchte. Liza stürzte mit einem Satz an mir vorbei, bremste ab und ging, eine nasse Spur hinter sich herziehend, in den Raum, der mir als Küche, Eß- und Wohnzimmer diente. Sie warf ihren Regenmantel auf meinen Velourssessel und schüttelte ihr schwarzes Haar wie ein junger Hund. Sie war eine dieser zierlichen, bildhübschen Frauen, die Männer so gerne wie Kinder oder Puppen behandeln. Im Moment jedoch wirkte ihr Gesicht nicht wie aus Porzellan, sondern einfach käsig.

»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« rief sie. »Ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte.«

Ich entfernte den Regenmantel unauffällig und bürstete den Sessel ab. Ich habe wirklich keinen Putzfimmel, aber Velours ist mindestens unpraktisch, und klitschnasse Regenmäntel haben nichts darauf verloren. Und jetzt, da ich den Discjockey – und vor allem das Rauchen – aufgegeben hatte, war mir nur der Sessel als Liebesobjekt geblieben.

Ich wartete auf einen Fingerzeig, warum Liza mir zu dieser unchristlichen Zeit die Ehre ihres Besuchs erwies. Normalerweise hatte sie frühestens um zwei Uhr nachmittags in meinem Leben aufzutauchen, und dann im Klassenzimmer und nicht bei mir zu Hause. Liza war eine Kollegin, keine Freundin. Sie war Teilzeitlehrkraft und leitete die Theaterwerkstatt unserer Schule. Sie war eine sehr gute Schauspielerin, auf der Bühne und im Leben, dennoch wollte sie das Rollenstudium vorzeitig an den Nagel hängen und lieber in drei Wochen heiraten. Zusammen mit den anderen Kollegen von der englischen Abteilung war ich vor einigen Wochen auf ihrer Verlobungsfeier gewesen; eine trostlose Angelegenheit, die man leicht für eine Pressekonferenz hätte halten können. Aber vielleicht bin ich ungerecht. Oder eifersüchtig. Lizas Gatte in spe war von edelstem philadelphischem Geblüt und reich dazu, bewarb sich derzeit um einen Sitz im Senat – den er wahrscheinlich auch erobern würde – schien sich, nach seinem Benehmen zu urteilen, schon als König von Amerika zu sehen.

»Ich bin völlig erschöpft«, sagte sie gewohnt theatralisch. »Ich bin einfach aus dem Bus gestiegen und stundenlang gelaufen. Ich wußte nicht, wohin. Wäre mir nicht eingefallen, daß Sie hier in der Litton Street wohnen …« Sie ließ sich in überspannter Manier auf meine Couch fallen und lehnte sich zurück.

»Aus welchem Bus? Von wo? Wozu?«

Sie fegte meine logischen Fragen auf eine hochmütige Art beiseite, die mich verdroß.

Ich legte ihren Mantel auf den Heizkörper, beschloß, ihren Worten weiter kein Gewicht beizumessen – wie gesagt, sie liebte die Übertreibung –, und wagte eine weitere ungastliche Frage. »Liza, warum sind Sie hergekommen?« Ich hob meine Kaffeetasse und trank von der lauwarmen Brühe.

»Ich brauche Zeit«, sagte sie zwischen einem Niesen und einem Gähnen. »Ich muß nachdenken. Nach Hause gehen kann ich nicht. Meine Mutter ist unmöglich. Das war sie immer, aber seit der Verlobung ist es noch schlimmer geworden. Sie hat Angst, daß ich sie platzen lasse. Wenn es nach ihr ginge, sollte ich vor der Hochzeit wieder Jungfrau werden. Hier bei Ihnen, das ist genau richtig. Ich sage ihr immer, daß ich hier bin, wenn ich über Nacht ausbleibe.«

Ich stellte meine Kaffeetasse ab. »Was sagen Sie ihr?«

»Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?« fragte sie, ohne sich wirklich für meine Gefühle zu interessieren. »Wissen Sie, meine Mutter –«

Mutter – das magische Wort, und schon klingelte das Telefon. »Auch einen Kaffee, Liza?« fragte ich, weil ich sah, daß sie meine Tasse fixierte wie ein ausgehungerter nasser Pudel, und weil ich nicht ans Telefon gehen wollte. Ich ahnte, wer da dran war.

Meine Mutter scheint es jedesmal zu überraschen, daß ich selbst ans Telefon gehe, obwohl ich allein lebe. »Amanda?« fragt sie, voller Angst, ein Mann könne sich melden, und sie müsse sich entscheiden, ob sie empört oder entzückt sein solle. Um sicherzugehen, rief sie mich eine Zeitlang nur mit Voranmeldung an. Aber das wurde ihr dann auf Dauer doch zu teuer.

Sie ruft nur an, weil sie glaubt, daß ich irgendwann klein beigebe, wenn sie mir das Wort »Heirat« oft genug um die Ohren klatscht, ihre Hauptbotschaft »Heirate!« ständig wiederholt und auf die Dringlichkeit der Angelegenheit hinweist – »Heirate bald!«. Sie behauptet, sie hätte sich den Montagmorgen für diese Anrufe ausgewählt, weil ich sonst so schwer zu erreichen sei. Ich behaupte, sie rechnet damit, daß ich zu Beginn einer weiteren Woche mit verzogenen und begriffsstutzigen jungen Leuten so mürbe bin, daß ihre Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Und dann läßt sie von einer ihrer Schwestern wieder einen anständigen jungen Mann bei mir vorbeischicken.

»Gern«, sagte Liza, und ich kapierte erst, was sie meinte, als sie hinzufügte: »Ich nehme gern einen Kaffee.«

Ich nickte. Mutter zwitscherte Grüße aus Florida ins Telefon. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan.

»Ich brauche nur jemanden, mit dem ich reden kann«, sagte Liza auf der Couch. Meine Mutter hatte das gleiche Problem und sie ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Sie zählte ihre verschiedenen Körperteile und deren Befindlichkeit auf. Ich klemmte den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr, stellte eine zweite Kaffeetasse heraus und setzte Wasser auf. Mama kam über Ischias zu Hämorrhoiden. Ich öffnete eine Dose Katzenfutter, löffelte den Inhalt in eine Schüssel und stellte sie auf den Boden.

»Milch?« flüsterte ich in Richtung Liza. Leider sind die Ohren meiner Mutter ganz intakt, und sie beendete abrupt die Analyse ihrer Hitzewellen, um mich nach dem geheimnisvollen Milchtrinker auszufragen.

»Jemand aus der Schule, Mutter. Weiblich.« Ich weiß nicht, ob meine Antwort sie enttäuschte oder erleichterte. »Liza«, fügte ich hinzu. »Ich hab dir von ihr erzählt. Du weißt doch, daß sie Hayden Cole heiratet?« Mutter zeigte sich beeindruckt. Ich war in ihrer Achtung gestiegen; immerhin befand ich mich in einem Raum mit einer Person, die an die Institution Ehe glaubte.

»Sie wissen doch, manchmal hält man sich für so unglaublich schlau«, sagte Liza mehr oder weniger zu sich selbst. Sie nickte und schüttelte dann den Kopf. »Und dann erkennt man, wie dumm man in Wirklichkeit ist …« Vielleicht hatte sie sich zu mir geflüchtet, weil sie in der Nacht bei einem Intelligenztest durchgefallen war. Sie klopfte nervös mit den Fingernägeln gegen ihre Schneidezähne, spielte mit einem Medaillon an ihrem Hals, drehte an ihrem Verlobungsring. »Und die beiden zusammen …«

Ich hob den Finger, um Liza anzudeuten, sie möge doch mit ihren Geständnissen warten, bis ich Mama abgehängt hatte. Liza seufzte und schien zu schrumpfen. Sie zündete sich eine Zigarette an.

Ich inhalierte gierig den Rauch, der zu mir herüberwehte. Ganz bestimmt gingen mir die Zigaretten mehr ab als der Discjockey. Aber das Rauchen hatte ich ja auch Knall auf Fall aufgegeben, ihn hatte ich erst verlassen, nachdem schon längst nichts mehr zwischen uns gelaufen war.

»Zucker?« fragte ich flüsternd. Liza hob zwei Finger. Ihr Stoffwechsel mußte gut arbeiten. Ich selbst kippte ein Tütchen karzinogenen Süßstoff in meine Tasse.

Da mein Besuch nicht als zukünftiger Ehemann in Frage kam, erinnerte mich meine Mutter daran, daß ich auch nicht jünger würde. Ich gab Kaffeepulver in die Tassen und goß heißes Wasser zu, während ich ihr zuhörte.

Mutter teilte mir mit, daß sie dort unten Sonne und fast dreißig Grad hätten.

Liza nieste.

Ich ärgerte mich über die Verwandlung meiner Eltern in lederhäutige Genußmenschen. Beim Verkauf ihres Hauses hier oben hatten sie sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen und mit ihren Pelzstiefeln zusammen auch Loyalität und puritanisches Ethos der Heilsarmee vermacht. Die Sonne Floridas hatte ihnen das Hirn geröstet und sie vergessen lassen, daß man das Wetter aushält und nicht genießt.

Mutter fragte eine Spur zu süßlich nach der hiesigen Witterung. Sie kannte den April in Philadelphia sehr wohl. War je ein Lied über ihn geschrieben worden?

Ein Regenguß klatschte ans Fenster und zerteilte sich an den Scheibensegmenten in mannigfaltige Muster. »Ein bißchen feucht hier, Mama«, sagte ich. »Mama? Ich muß Schluß machen. Ich muß zur Arbeit.« Gleichzeitig trug ich, in dem Bemühen, eine gute Gastgeberin zu sein, Liza ihren Kaffee zum Sofa. Der Kaffee kam auch dort an, ein Teil davon sogar in der Tasse. Aber die Telefonschnur riß die Milchtüte, die Zuckerdose und meinen Kaffee vom Küchentisch. Ich hörte das Getöse, und als ich zurückkam, fand ich die Bescherung – Katzenfutter mit Milchkaffee.

Dabei hatte ich gehofft, aus den tolpatschigen Jahren herauszusein.

Mutter überließ mich schließlich wieder meinem eigenen Leben. Wenn ich schon nicht bereit war, in den Süden zu ziehen oder mir einen Mann zu angeln, war es doch sicherer, ich behielte meine Stelle.

»Lassen Sie nur«, sagte Liza, als ich auflegte. »Ich mach das sauber.«

»Kein Problem.« Ich hob den tropfenden Milchkarton auf.

»Bitte, Amanda? Bitte?« Der flehende Unterton in ihrer Stimme verblüffte mich. »Reden Sie lieber mit mir.« Sie zündete sich ihre zweite Zigarette an. »Ich bin so durcheinander, und Sie sind so sicher, so eins mit sich. Sie wissen, was Sie wollen, was Sie tun …«

Menschenkenntnis war nicht Lizas Stärke, aber ich widersprach ihr nicht. Ich stieg über den Schmodder hinweg und ging ins Wohnzimmer.

»Sie imponieren mir einfach«, sagte sie.

»Wie schmeichelhaft.«

»Und meine Mutter ist mir überhaupt keine Hilfe.«

Ich hasse es, mit den Müttern in einen Topf geworfen zu werden. Ich bin zwar älter als Liza, aber nur nach Jahren. Wenn nur die Hälfte ihrer Erzählungen stimmte, hatte sie ihr Vierteljahrhundert schon doppelt auf dem Buckel.

Ich verbarg meinen Ärger und legte Lippenstift auf, eine dunklere Farbe als sonst. Ich weiß, daß Mutter Natur es gut mit mir gemeint hat, und im Prinzip bin ich ganz zufrieden mit mir. Ich bin gern groß. Ich mag mein Haar, obwohl ich mir manchmal wünsche, es könnte sich zwischen rot und braun entscheiden. Ich habe ausgesprochen schöne Knie, auch wenn das kaum jemandem auffällt. Ansonsten kann ich von mir sagen, daß selbst an meinen schlechtesten Tagen mein Anblick niemanden in eine Salzsäule verwandeln wird.

Aber neben der zierlichen Liza mit ihren gefälligen Rundungen, dem schwarzglänzenden Haar und der glatten weißen Haut komme ich mir fad und plump vor. Das ging mir selbst an diesem Morgen so, wo sie weiß Gott nicht strahlte.

Darum steigerte ich meine Farbigkeit mit einer Extraration Make-up. Wenn ich mir einmal eine Analyse leisten kann, werde ich die tiefere Bedeutung dieser Selbstwertprobleme klären. Doch bis dahin ist Rouge billiger.

Liza blies dicke Rauchwolken in die Gegend, und bei dem köstlichen Duft hatte ich Mühe, mich zu erinnern, was ich eigentlich durch den Verzicht auf die Zigaretten beweisen wollte.

»Ich würde ja tun, was ich will«, sagte sie plötzlich, »wenn ich nur wüßte, was ich will. Wenn die anderen mich in Ruhe lassen und aufhören würden, mir ihre Ratschläge aufzudrängen. Jeder hat eine Antwort, aber ich weiß nicht, ob es meine Antwort ist. Woran merkt man das?«

»Keine Ahnung. Aber ich weiß, was Sie meinen. Ich habe mich gerade von jemandem getrennt, der mir immer wieder sagte, was ich will, wer ich bin und –«

»Wie sie sich aufgeführt hat! Dabei hab ich ihr nie was getan. Und dann hat er – ich meine, das kann doch nicht alles gelogen sein. Woher weiß ich, ob sie –?«

Es klang wie meine Mutter bei schlechter Verbindung. Entweder hörte ich nur jedes dritte Wort, oder Liza ließ eine Menge aus. Auf jeden Fall brachten mich ihre unbestimmten Pronomen fast zur Weißglut.

»Wer, Liza? Wer ist er? Und wer ist sie? Ihre Mutter?«

»Meine Mutter?« Sie sah mich verwirrt an. »Was hat meine Mutter damit zu tun …? Großer Gott, red ich so ein Durcheinander? Ich bin nur müde. Mehr als müde. Ich bin –« Sie sah aus, als würde sie gleich losheulen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Müde. Sonst nichts. Vergessen Sie’s. Sie kommen zu spät zur Arbeit.«

»Ich hab noch ein bißchen Zeit.«

»Vielen Dank jedenfalls.« Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. »Ich kann eigentlich gar nicht darüber reden. Ich hab da draußen im Regen wahrscheinlich Panik gekriegt, aber ich komm schon zurecht. Wenn ich hierbleiben darf, leg ich mich ein bißchen aufs Ohr, dann kommt schon wieder alles in die Reihe.« Sie lächelte, als wäre alles in bester Ordnung, aber sie konnte die Hände vor Nervosität keinen Moment ruhig halten.

Ich mußte wirklich zur Arbeit. Dennoch schlüpfte ich nur widerstrebend in meinen Regenmantel. Es war noch nicht mal neun Uhr, und schon hatte ich etwas verdorben.

Sie zog die Decke um sich und streckte sich auf dem Sofa aus.

»Aber Sie kommen doch um zwei Uhr zum Unterricht?« fragte ich. Ich brauchte Gewißheit.

»Natürlich. Ich werde Sie nicht versetzen.« Sie grinste. »Ich werde da sein. Ordentlich. Mit BH.«

»Was soll das bedeuten?«

»Als ich das letztemal da war, hielt mir der Vorzimmerdrachen einen Vortrag über Unterwäsche. Lehrerinnen, auch Teilzeitkräfte, haben keine Brustwarzen zu haben.« Sie lächelte. »Jetzt gehen Sie aber. Ich muß schlafen. Machen Sie sich keine Gedanken über meine Stimmung. Ich habe sie schon vergessen.«

Ich ging mit dem dumpfen Gefühl, daß ihr Lächeln und ihre schreckliche Müdigkeit nur Maske waren, die sie ablegen würde, sobald sie allein war.

 

Um ein Uhr, montags meine Tischzeit, verlangte mein Magen dringend nach Nahrung. Ich versuchte, ihn mit einem Polyäthylen-Soufflé des Tages zu bestechen, aber nach wenigen Bissen beschloß ich zu fasten.

»Ich geh rauf und korrigiere«, sagte ich.

»So schlimm ist das Essen auch wieder nicht«, konterte Gus Winston. »Es prickelt im Magen. Leiste mir wenigstens Gesellschaft.«

Er lächelte. Ich mag sein Gesicht. Es erinnert mich an eine ausdrucksvolle leicht verwitterte Sandsteinskulptur. Ich warf einen Blick auf meinen Stapel unbenoteter eselsohriger Aufsätze; sobald sie erledigt waren, würde ruck-zuck die doppelte Menge an ihrer Stelle liegen. »Vielleicht kann ich einen Teil davon in der nächsten Stunde aufarbeiten, wenn Liza unterrichtet.«

»Dann arbeite lieber jetzt. Auf Liza ist kein Verlaß. In nichts.« Gus war der örtliche Experte in Sachen Liza. Sie hatten an einem halbprofessionellen Repertoiretheater zusammengearbeitet. Sie hatten auch noch anderes miteinander gemacht, zwar nur kurz, aber die Geschichte hatte bei mir mehr Narben hinterlassen als der Vietnamkrieg.

»Sie hat’s versprochen.«

»Das tut sie doch immer. Sehr bereitwillig. Und nach einer Woche hat sie’s vergessen.«

»Es war aber erst heute morgen. In meinem eigenen Wohnzimmer.«

Gus legte seine Gabel nieder. »Kaffeeklatsch am frühen Morgen? Oder war es der Morgen nach einer Pyjamaparty?«

»Keine Ahnung. Der Regen hat sie heute morgen reingespült.«

Gus kaute nachdenklich den letzten Bissen seines Soufflés.

»Ist sie noch bei dir zu Hause?« fragte er.

»Wahrscheinlich. Sie wollte sich hinlegen. Warum?«

»Wir – Ich muß mit ihr reden. Ich wollte es schon gestern abend nach der Vorstellung. Aber sie hatte ihren Rappel.«

»Sie war heute morgen auch ganz merkwürdig. Was ist passiert?«

»Das frag ich dich. Mir fehlt für Liza Nichols jedes Verständnis. Hat sie dir das nicht gesagt? Sie hat es doch sonst allen erzählt.« Er stocherte in seinem Planquadrat roter Grütze, sah zu, wie sie wabbelte, stieß ihr die Gabel ins Herz und schob sie beiseite. »Ich höre, sie wird schon feste auf das neue Leben als Gattin von Hayden Cole gedrillt: Wie sie sich zu kleiden hat, wie zu reden, sie krempeln sie völlig um. Ein Senator darf Starallüren haben, seine Frau hat den Tee zu servieren und sich gefälligst im Hintergrund zu halten.«

»Immer mit der Ruhe, Gus. Sie ist noch nicht seine Frau. Und er ist noch nicht Senator.«

»Haarspalterei. In drei Wochen ist sie seine Frau, und er gewinnt die Wähler oder kauft sie sich, wie er Liza gekauft hat.«

Darauf konnte ich nichts sagen. Gus hatte vom Leben und von Liza nicht das bekommen, was er sich erwartet hatte, und ich konnte nichts daran ändern.

Er brummelte vor sich hin; zu leise, um verstanden, aber zu laut, um überhört zu werden.

»Red deutlich oder halt den Mund, Gus. Ich höre nur Gebrabbel, und das geht mir auf die Nerven. Dämliche Sissie – das klingt nach Kindergarten.«

»Sissie Bellinger. Erinnerst du dich an sie? So eine magere Blonde, die auf der Verlobungsfeier war. Sie ist an allem schuld. Von ihr stammte die Idee zu der Wohltätigkeitsvorstellung für Hayden Cole, zu der die gesamte High Society antanzte. Und keiner konnte es ihr abschlagen, weil sie eine der tragenden Säulen des Theaters ist. Selbst eine verhinderte Schauspielerin. Sie ist dauernd drüben – im Theater, meine ich – und macht alle verrückt, aber sie muß ja schließlich ihre Abschreibung überwachen. Zum Teufel mit ihr.«

Er stand auf und hinkte zum Mülleimer. Ich folgte ihm mit meinem vollen Tablett und versuchte, nicht an die Kinder in den Anzeigen der Hungerhilfe zu denken, die verhungerten, während ich meinen Teller unberührt zurückgehen ließ.

»Wohltätigkeit! Für Liza war es jedenfalls nicht gut. Sie trifft den Herrn Kandidaten und wirft alles weg, wofür sie gearbeitet und was sie sich erhofft hat. Goodbye New York, goodbye Schauspielerei. Und Hallo Hayden, Hoffnung der schlichten Gemüter.«

»Machst du nicht ein bißchen viel Wind? Vielleicht hat sie genau das immer gewollt.«

»Hayden?« Er stellte krachend sein Tablett nieder. »Hayden Cole? Ja, sein Geld vielleicht. Seine Macht. Sein Ansehen. Vielleicht schmeichelt es ihr auch, von ihm auserwählt worden zu sein. Aber Hayden selbst? Du kennst ihn doch – er könnte ihr Vater sein. Er sieht aus wie eine Dörrpflaume – kann ja sein, daß ich nicht das war, was sie wollte. Vielleicht versteh ich sie nicht. Aber eins weiß ich: Einen Typen wie Hayden Cole wollte sie nie.«

Wir gingen zusammen nach oben. Mir blieben vierzig Minuten bis zu meiner letzten Stunde. Ich konnte ja später immer noch Hefte korrigieren.

»Gehen wir eine rauchen?« fragte Gus.

»Ich rauche nicht.«

»Wieder mal?« Er sah auf seine Uhr. »Ich werde versuchen, Liza Ende der nächsten Stunde zu erwischen. Wenn sie aufkreuzt.«

»Das hoffe ich doch sehr.« Das war alles, was mich im Moment an Liza interessierte.

 

Gus hat einmal ein Wappen für unsere Schule entworfen. Auf einem Schild aus Linealen und Stiften lag eine Narrenkappe. Und darunter stand in eleganten Schnörkeln zu lesen: Philadelphia Prep School: Für die Reichen und die Zurückgebliebenen. Es wurde nicht als offizielles Schulemblem angenommen, obwohl es ein Körnchen Wahrheit enthielt. Unser Haus, ein imposantes Bauwerk in der Stadtmitte, ist wesentlich beeindruckender als der Geist unserer Schüler. Da ich noch nicht ganz sicher bin, was ich einmal werden möchte, wenn – oder falls – ich je erwachsen werde, und da mir mein Abschluß nicht erlaubt, an einer öffentlichen Schule zu lehren, will ich mich nicht allzusehr über die Philly Prep lustig machen. Immerhin hatte ich ihren laxen Zulassungsbedingungen Schüler und Einkommen zu verdanken.

Ich saß an meinem Schreibtisch und korrigierte Aufsätze. Ich kämpfte gegen den Drang, die plumpen Sätze einfach sein zu lassen, und natürlich verlor ich den Kampf. Ich legte den Kopf auf den Schreibtisch und fragte mich, warum ich meine Schüler nicht wie Liza inspirieren konnte. Ich sagte mir gern, es läge daran, daß ich immer da war, während Liza, die Unzuverlässige, sich rar machte und daher um so mehr geschätzt wurde. Fest stand, daß sie ein Theaterstück wirklich lebendig machen konnte und ihre Freude daran ansteckend war.

Derzeit arbeitete sie mit einer Abschlußklasse an Macbeth. Die jungen Leute hatten nur noch zwei Monate Schulzeit vor sich und waren nie von Wissensdrang geplagt gewesen. Ihre Zeugnisse waren längst an Colleges weitergeleitet, ihr weiterer Weg vorbestimmt, und die verbleibenden Schulmonate waren in ihren Augen nur noch ein Jux. Aber sie hörten auf Liza und auf William Shakespeare. Wenn Sie noch nie einer Abschlußklasse gegenübergestanden haben, die ihre Zeugnisse schon im Sack hat, wissen Sie nicht, was Apathie bedeutet, und können die heroische und historische Leistung nicht würdigen, die Liza vollbracht hat.

Sie ging in ihrer Arbeit auf. »Ich möchte dieses Stück neu schreiben«, sagte sie mir einmal über Macbeth. »Mit einer sympathischeren Lady M. So böse war die gar nicht. Eigentlich nicht anders als wir alle. Sie wollte es zu was bringen im Leben. Sie war nur ungeschickt und hat sich viel zu sehr von ihrem Gewissen tyrannisieren lassen. Sie hätte warten sollen, bis sie die Krone fest auf dem Kopf hatte. Nach einer gewissen Zeit hätte kein Hahn mehr danach gekräht.«

»Jetzt machen Sie aber ’nen Punkt«, protestierte ich. »Sie hatte mehrere Morde auf dem Gewissen.«

»Sie sind naiv, Amanda. Wenn man erst einmal am Ziel angekommen ist, interessiert niemanden mehr, wie man dorthin gekommen ist. Niemand guckt hinter die Geldstapel. Haydens schönes Imperium ist auf wackeligen Grundstücksübertragungen, Sklavenhandel und Gott weiß was sonst noch aufgebaut. Aber das ist lange her. Wen interessiert das heute noch? Wen interessierte es vor zwanzig Jahren, als sein Papa Gouverneur war? Die Zeit wäscht das Blut ab, Mandy.«

Sie stapfte herum und dachte nach. »Mein Verlobungsring zum Beispiel. Sie wären entsetzt, wenn der Verdacht bestünde, ich hätte ihn gestohlen. Wenn er aber eine Antiquität ist – wenn er schon vor Generationen gestohlen worden ist, kümmert das keinen Menschen. Schauen Sie sich dieses Medaillon an. Haydens Mutter schenkte es mir, und Sie hätten sehen sollen, was für ein Brimborium sie darum machte.«

Sie krümmte den Rücken und verwandelte ihren kurvenreichen Körper in eine geschlechtlose plumpe Masse. »Meine liebe Liza«, sagte sie mit tiefer, nasaler Stimme, »sie gehörte Großmutter Lucy Bolt Hayden, ihr Sohn, mein Vater, Benjamin Sedgewick Hayden, schenkte sie meiner Mutter, und meine Mutter schenkte sie mir. Jetzt sollst du sie haben, und eines Tages …«

Liza streckte sich und wurde wieder sie selbst. »Und woher hatte Oma Lucy sie wohl? Ihr Vater hatte wahrscheinlich unten im Süden eine Schiffsladung Sklaven verschleudert und einen Teil des Profits in ein Schmuckstück für sein Kindchen gesteckt. Interessiert es jemanden, ob dieses Medaillon ein Menschenleben gekostet hat? Die Zeit hat es reingewaschen.« Sie griff nach dem Band mit Macbeth. »Der springende Punkt ist doch der: Lady Macbeth hätte durchhalten sollen. Die arme Irre, da wäscht und wäscht sie sich die blutigen Hände, wo es doch nur Zeit gebraucht hätte. Sie war viel zu moralisch.«

Das Zwei-Uhr-Läuten riß mich aus meiner Träumerei. Schüler drängten durch die Tür und suchten nach Liza.

Ihre Enttäuschung war nichts im Vergleich mit meiner. Ich wartete. Ich verlas die Anwesenheitsliste. Ich schmorte. Dann begann ich zu kochen. Liza glaubte wohl jetzt, da sie sich im Dunstkreis von Geld und Macht bewegte, die Regeln mißachten zu können, an die wir alle uns hielten.

Aber das hieß noch lange nicht, daß ich es schweigend hinnehmen mußte. »Bitte lesen Sie inzwischen das Stück noch mal. Ich werde sehen, ob ich Miss Nichols finden kann.«

In der Hoffnung, auf Liza zu stoßen, stürmte ich durch den Flur. Ich sah aber nur Gus, der gerade die Tür zu seinem Klassenzimmer schloß.

»Die Schauspielerin ist durchgegangen«, schnauzte ich ihn an, als wären seine pessimistischen Vorhersagen schuld daran. Ich stürmte an ihm vorbei zum Sekretariat. Ich wußte nicht, was ich dort ausrichten konnte, aber ich hatte eine Wut, und die mußte ich an irgend jemandem auslassen.

Aber nicht an Helga Putnam, dem Vorzimmerdrachen. Als ich mich ihr näherte, zog sie ihre Strickweste enger, als wäre ihr plötzlich kalt geworden. Sie mochte es nicht, wenn Lehrer in ihr Reich eindrangen. Oder Schüler. Oder Eltern.

»Miss Pepper!« Helga hielt sich nie lange bei Vorreden auf.

»Ich wollte eben einen Boten in Ihre Klasse schicken. Sobald Miss Nichols ihre Stunde beendet hat, schicken Sie sie her. Sie hat sich nicht angemeldet, und sie muß sich wie alle anderen an die Spielregeln halten!« Ihre Nasenspitze glühte – Fleischgewordener Ausdruck ihrer Wut.

So wütend ich auf Liza auch war, mit dieser Furie würde ich mich nicht verbünden. »Ich werd’s ihr sagen«, sagte ich. Das war nicht einmal gelogen. Ich würde ihr schon etwas sagen – wenn ich sie zu Gesicht bekommen sollte. Ich ging zum Telefon am anderen Ende des Raums. Gleich an der Wand daneben waren die Lehrerfächer. Ich hatte meines erst am Morgen leergemacht, aber es war schon wieder voller Papier.

Das Fach mit dem Etikett »L. Nichols« quoll fast über: alte Rundschreiben, neue Rundschreiben und ein kleines braunes Paket. Verstohlen stopfte ich alles in meine Handtasche, da ich Helga in dem Glauben lassen wollte, Liza sei im Haus.

Als ich den Hörer des Telefons abnahm, sackte ich noch tiefer in den Sumpf der Lüge. Ich spürte förmlich, wie sich Helgas Augen in meinen Rücken bohrten, ich sah schon das nächste Rundschreiben über private Telefonate vor mir. Ich drückte auf den Knopf und sprach in die tote Leitung: »Fräulein? Geben Sie mir bitte die Vorwahl von Fargo, North Dakota.« Ich hörte, wie Helga erregt nach Luft schnappte. »Ich laß mir natürlich die Gebühren geben, Helga«, sagte ich, ohne mich umzudrehen.

»Danke«, flötete ich in den toten Anschluß und tippte noch eine mehrstellige Nummer ein, ehe ich die Knöpfe losließ und bei mir zu Hause anrief. Ich ließ es vierzehnmal läuten, dann knallte ich den Hörer hin. Da war sie auch nicht. Sie war nirgends.

Helga schnaubte wütend, als ich das Büro verließ.

Meine Klasse war mitten in einer kriegerischen Auseinandersetzung oder einer Orgie. »Auf Ihre Plätze, bitte«, sagte ich.

»Wir lesen das Stück jetzt gemeinsam.«

Der Raum war überheizt, und das monotone Rauschen des Regens vor den Fenstern schläferte uns alle ein. Die Schüler leierten ihren Text monoton herunter, ohne Liza war’s eben nichts.

Lance Zittsner, der nur mit Mühe ein Notausgang-Schild entziffern konnte, stotterte und stammelte sich durch seine Rolle.

»Den bl-bl-blut’gen Unterricht, er, kaum gelernt« – er blickte schwitzend auf – »Zurückschlägt, zu bestrafen den Erfinder.«

»Zu bestrafen den Erfinder, das bedeutet –«

Aber da läutete es, und die Schüler, die sich herzlich wenig für meine oder Shakespeares Worte interessierten, trampelten wie eine Herde Ochsen in die Freiheit. Und damit war’s dann vorbei mit dem blut’gen Unterricht.

Ich blieb einen Moment an den regenverschmierten Fenstern stehen. Die bunten Regenmäntel und -schirme davonlaufender Teenager sprenkelten den kleinen Park auf der anderen Straßenseite. Erst als es im Haus ganz still geworden war, nahm ich den Stapel immer noch nicht korrigierter Hefte und ging ebenfalls.

Ich ging hinter die Schule und sprang über die Pfützen auf dem behelfsmäßigen Parkplatz. Da ich am Morgen so spät gekommen war, war wenigstens heute ich die Blockiererin und nicht die Blockierte. Aber restlos glücklich machte mich das auch nicht. Erst der Gedanke an Gene Kelly, wie er fröhlich durch einen Wolkenbruch tanzte, stimmte mich etwas freundlicher. So freundlich sogar, daß Nächstenliebe aufkam. Bei Gus’ Wagen, der mit der Schnauze zur Wand vor meinem stand, war ein Rückfenster offen, so daß der Regen auf die zerschlissenen Polster fiel. Ich versuchte, meine Hand durch den Spalt zu quetschen und die Tür zu öffnen. Dann versuchte ich es an den anderen Türen. Fehlanzeige. Am Ende stand ich mit klitschnassem Kopf und der Erkenntnis da, daß Gene Kelly für seinen Freudentanz im Regen einen Haufen Geld bekommen hatte. Ich fuhr heim.

Oder zumindest in die Nähe. Ich wohne in einer reizenden kleinen Straße. Sie hat Tradition, Kopfsteinpflaster und Pfosten, wo man die Pferde festmachen kann. Parkplätze hat sie nicht. Mein Parkplatz ist zwei Häuserzeilen von meiner Wohnung entfernt. Das gestattet mir den uneingeschränkten Genuß sämtlicher Wetterlagen Philadelphias. Im Sommer kann ich nach Herzenslust schwitzen. Im Winter kann ich mir Frostbeulen wachsen lassen. Und an diesem speziellen Frühlingsmontag konnte ich erforschen, wieviel Nässe bei einem kreislaufbelebenden Trab durch Wildlederschuhe eindringt.

Als ich den Schlüssel im Türschloß drehte, tat sich nichts. Im ersten Moment dachte ich, man hätte mein Schloß ausgetauscht oder ich würde langsam verrückt. Dann hatte ich einen Geistesblitz und drehte den Schlüssel in der anderen – der falschen – Richtung.

Die Tür ging auf.

Liza hatte nicht abgeschlossen, als sie gegangen war. Soviel Verantwortungslosigkeit riß mich nun doch um. Ich stieß die Tür auf, schlug sie wütend hinter mir zu und patschte in meinen nassen Schuhen zur kleinen Garderobe im Erdgeschoß. Während ich aus dem Regenmantel schlüpfte, warf ich einen Blick in die Küche. Die Bescherung vom Morgen lag immer noch auf dem Boden.

Ich schwor mir, wenn ich Liza wiedersähe, würde ich –

Aber mitten in meinem heiligen Eid drehte ich mich zum Wohnzimmer, und alle Verwünschungen blieben mir im Hals stecken. Liza war da. Ich sah einen kleinen Fuß in einem grauen Schuh, der beim Kamin hinter dem Sofa hervorlugte.

Alles mögliche schoß mir durch den Kopf. Kein Mensch schläft in Schuhen. Komische Stellung. Keine Antwort auf meinen Anruf. Unverschlossene Tür.

Langsam ging ich durch das Zimmer.

Kein Mensch schläft vor dem Kamin, wenn ein Sofa da ist.

»Bitte nicht«, hörte ich mich selbst sagen und hoffte, Liza würde es auch hören. »Bitte –«

Kein Mensch schläft vor dem Kamin.

Da lag sie, gekrümmt und klein, wie ein zerbrochenes Spielzeug, der Mund stand halb offen und die Arme waren ausgestreckt, als hätte sie irgendwo Halt gesucht. Ihr grünes T-Shirt war verdreht, ein Hosenbein hochgerutscht und entblößte helle Haut. Ihre dunklen Augen starrten mich an.

Aber es waren nicht ihre Augen. Das waren Puppenaugen, ohne einen Funken Leben.

»Nein«, sagte ich den Tränen nahe. »Bitte nicht!« In der verzweifelten Hoffnung, daß sie noch am Leben sein könnte, beugte ich mich über sie; wollte selbst angesichts der bläulich verfärbten Schramme an ihrer Schläfe nicht glauben, daß sie tot war.

»Nein!« schrie ich und legte mein Ohr auf ihre Brust. »Bitte!« Ich lauschte, drückte, suchte und fand keinen Puls.

Ich schüttelte sie schreiend, als könnte ich sie mit Gewalt wieder ins Leben zurückholen. Dann besann ich mich auf die Erste-Hilfe-Regeln. Und doch schüttelte ich sie noch einmal und fühlte, wie mir die Galle hochkam, als ihr Kopf leblos hin und her wackelte.

»Liza! Bitte!«

Ich stolperte zum Telefon, stützte mich auf den Küchentisch und kämpfte gegen eine schwarze Wolke, die mich zu verschlingen drohte.

Ich begann die Nummer der Polizei zu wählen und hielt inne.

Als ich ging, war sie barfuß. Sie hat Schuhe angezogen, weil jemand herkam. Sie ist nicht gestürzt. Sie hat Schuhe angezogen, um jemanden hereinzulassen.

Es war jemand hier gewesen. Hatte sie gestoßen. Keine Hilfe geholt. Hatte sie sterben lassen.

Ich legte den Hörer leise auf den Tisch und lauschte.

Mein Herzschlag dröhnte die Treppe hinauf und wurde von den Wänden des Schlafzimmers zurückgeworfen. Hörte ihn jemand? Jemand, der sich oben versteckt hielt?

Am Ende des Wohnzimmers konnte ich Lizas kleinen Fuß sehen, hörte nichts als meinen eigenen zaghaften Atem.

Ich stand wie erstarrt und lauschte dem pochenden Schweigen, das die Treppe herunterkam.

»Hilfe«, krächzte ich. »Hilfe.«

Ich ließ den Telefonhörer liegen und rannte hinaus in den Regen. Auf der ersten Stufe blieb ich stehen und atmete tief ein, dann rannte ich los.

2

Ich saß ruhig auf dem Sofa und beobachtete die beiden Männer, die den Kamin untersuchten.

Der Kleinere der beiden, schlank und dunkel, strich sich den schmalen Schnurrbart. »Das ist eindeutig Blut auf dem Stein.« Er bückte sich etwas. »In Kopfhöhe. Sie war klein. Eins fünfundfünfzig vielleicht. Hier ist sie aufgeschlagen.« Er richtete sich auf. »Sind Sie fertig, Mann?« fragte er seinen Kollegen.

Der andere schien wie hypnotisiert. »Hmmm?« sagte er und riß sich zusammen. »Oh! Nein. Ich brauch noch ein bißchen. Muß noch was mit Miss Pepper hier bereden.«

Er hatte eine weiche Stimme und die gedehnte Sprechweise des Südstaatlers. Aber mir war mittlerweile alles zuviel.

»Ich hab doch den anderen Beamten schon alles gesagt«, begann ich.

»Hm«, sagte er gedehnt. »Ja-ah, ich weiß.« Aber er rührte sich nicht vom Fleck.

»Dann schau ich jetzt bei den Nachbarn vorbei«, sagte der Dunkelhäutige und schlüpfte in seinen Regenmantel. »Das wird zwar nichts bringen, liefert ihnen höchstens Gesprächsstoff zum Abendessen, auf das ich wieder mal verzichten muß. Ist es in dieser Straße immer so ruhig, Miss Pepper? Kommt mir vor wie im Museum. Philadelphia anno dazumal. Kein Verkehr, keine Menschen, gar nichts.« Er sah mich nicht an. »Kopfsteinpflaster!« knurrte er geringschätzig, schon auf dem Weg zur Tür.

»He, Ray? Wenn Sie die Straße hier erledigt haben, kümmern Sie sich um die anderen Adressen, ja? Ich komme ungefähr in zwanzig Minuten nach.« Er setzte sich in meinen Verloursledersessel.

Ray öffnete die Haustür. »Ich möchte wissen, wieso Ihr Weißen immer im Warmen hockt, während ich im Regen rumlaufe.« Er schmiß die Tür hinter sich zu.

Jetzt waren fast alle weg. Liza war weg. Der Fotograf war weg, die Uniformierten, die Leute von der Spurensicherung und die beiden, die mich bereits ausgefragt hatten – all diese toten und lebenden Menschen, die stundenlang mein Haus belagert hatten, waren weg. Alle, bis auf diesen einen, der es sich mir gegenüber bequem machte.

»Geben Sie nichts auf Raymond«, sagte er und fuhr sich mit den Fingern durch sein lockiges, nicht gerade tadellos frisiertes Haar. »Der hält sich gern an feste Gewohnheiten und haßt es, wenn er vor lauter Arbeit nicht zum Abendessen kommt. Mir geht’s ähnlich, und Sie sind sicher auch nicht beglückt über ein weiteres Verhör. Aber ich habe noch einige Fragen und möchte Sie bitten, mir noch einmal alles zu erzählen.«

Weder seine lässige Art zu sprechen noch sein hübsches Gesicht, die freundliche Miene, die entspannte Pose konnte verbergen, daß die Bitte ein Befehl war. Ich hatte allerdings keine Ahnung, was es noch zu sagen gab.

»Miss Pepper?« begann er ohne Umschweife.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe schon alles gesagt. Mehrmals sogar. Ich kam nach Hause und fand –«

»Wann war das genau?«

»Ungefähr um drei Viertel vier.«

»Wo waren Sie nach der Schule noch?«

»Nirgends.«

»Miss Pepper.« Sein Ton wurde fast amtlich. »Die Philadelphia Prep ist zu Fuß vielleicht fünfzehn Minuten von hier. Warum brauchten Sie mit dem Auto eine Dreiviertelstunde?«

»Was soll die Frage? Ich blieb nach dem Unterricht noch eine Weile in meinem Zimmer. Außerdem regnete es. In der Fünfzehnten Straße waren Absperrungen wegen Schlaglöchern, und mein Parkplatz liegt zwei Straßen von hier entfernt. Warum muß ich Ihnen das alles erzählen? Was hat es mit der ganzen Geschichte zu tun?«

Er zuckte die Achseln und sah mich mit seinen blauen Augen an, als wäre ich begriffsstutzig. »Kann jemand bezeugen, daß Sie nach dem Unterricht in der Schule geblieben sind?«

»Was soll das heißen?«

»Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?«

Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich bemühte mich schon seit Stunden – mit wechselndem Erfolg. »Ich habe niemanden gesehen«, schnauzte ich ihn an. »Warum behandeln Sie mich so? Es war schlimm genug, wie ich sie gefunden habe. Warum behandeln Sie mich, als ob –«

Er verzog den Mund. Ich bemerkte, daß er nicht viel älter sein konnte als ich, trotz der grauen Strähnen im braunen Haar. Und so beängstigend wirkte er eigentlich gar nicht. Er war nur sehr groß, und da er die geballte Macht des Gesetzes hinter sich hatte, konnte er einen leicht einschüchtern.

»Tut mir leid«, sagte er auf seine weiche, gedehnte Art. »Ich weiß, es ist hart für Sie. Aber ich bin Ermittler, also muß ich ermitteln. Wir müssen bestimmte Fragen stellen, und wenn wir das nicht tun, landen wir wieder im Streifenwagen. Seien Sie nett und helfen Sie mir, hm?« Er seufzte und fuhr fort: »Sie sagen, Sie seien um drei Viertel vier nach Hause gekommen. Bei uns wurde aber erst um zwanzig nach vier angerufen. Warum?«

»Mr. –«

»Mackenzie. C.K. Mackenzie.«

Menschen, die sich hinter Initialen verstecken, sind mir nie ganz geheuer, aber ich hielt den Moment nicht für geeignet, darauf hinzuweisen. Außerdem war das hier kein Mensch. Das war ein Inquisitor.

»Warum haben Sie die Polizei erst nach vierzig Minuten angerufen?«