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Volker Ullrich

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Beschreibung

Die neue große Hitler-Biographie für unsere Zeit Wer war Hitler wirklich? Eindrucksvoll zeichnet der Historiker und Publizist Volker Ullrich ein neues, überraschendes Porträt des Menschen hinter der öffentlichen Figur des »Führers«. Sichtbar werden dabei alle Facetten Hitlers: seine gewinnenden und ab-stoßenden Züge, seine Freundschaften und seine Beziehungen zu Frauen, seine Bega-bungen und Talente, seine Komplexe und seine mörderischen Antriebskräfte. Der erste Band schildert den Weg des Diktators von seinen frühen Jahren in Wien und München bis zum scheinbaren Höhepunkt seiner Macht im Frühjahr 1939. Eine glän-zend erzählte Biographie, die Hitler nicht als Monster zeigt, sondern als Meister der Verführung und Verstellung - und gerade dadurch nicht nur die Abgründe seiner Persönlichkeit, sondern auch das Geheimnis seines Aufstiegs greifbar macht. Der zweite Band dieser großen Biographie erscheint im Oktober 2018. Er behandelt die Jahre des Untergangs von 1939 bis 1945: von der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs bis zum apokalyptischen Finale 1945. »Eine faszinierende … Parabel darüber, wie … zufällige Umstände, ein skrupelloser einzelner Mensch und die bewusste Blindheit anderer … zusammen die Welt in einen unvorstellbaren Albtraum führen können.« Michiko Kakutani, New York Times »Jeder, der sich über den Zustand der Demokratie Sorgen macht, sollte dieses Buch lesen.« Sir Richard Evans, The Nation »Eine so verstörende wie aufschlussreiche Lektüre – nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch mit Blick auf die Gegenwart.« Christopher Browning, The New York Review of Books »Eine großartige Leistung – eindrucksvoll und reich an Erkenntnissen.« Nicholas Stargardt, The Literary Review

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Seitenzahl: 2155

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Volker Ullrich

Adolf Hitler

Biographie.Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939

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Inhalt

Einleitung1 Der junge Hitler2 Die Wiener Jahre3 Das Schlüsselerlebnis des Krieges4 Sprung in die Politik5 Der König von München6 Putsch und Prozess7 Landsberger Haft – »Mein Kampf«8 »Führer« im Wartestand9 Der Shootingstar der deutschen Politik10 Hitler und die Frauen11 Poker um die Macht12 Schicksalsmonat Januar 193313 Der Mensch Hitler14 Die Errichtung der Diktatur15 Revision von Versailles16 Führerkult und Volksgemeinschaft17 Herrschaftsstil und Monumentalarchitektur18 Die Berghof-Gesellschaft19 Im Kampf gegen die Kirchen20 Die Radikalisierung der »Judenpolitik«21 Auf dem Weg in den KriegQuellen und Literatur1. Quellen1.1 Unveröffentlichte Quellen1.2 Gedruckte Quellen2. Tagebücher, Briefe, Erinnerungen3. Zeitgenössische und wissenschaftliche LiteraturAbbildungsnachweisDankPersonenregister

Einleitung

»Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.« Deshalb sei auch niemand »der Beschäftigung mit seiner trüben Figur enthoben«, schrieb Thomas Mann in seinem 1939 publizierten Essay »Bruder Hitler«.[1] Dennoch hätte man erwarten können, dass mit wachsendem zeitlichem Abstand vom »Dritten Reich« das Interesse an dem großen Unheilbringer der deutschen Geschichte allmählich abflauen würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik ist auch eine Geschichte der periodisch wiederkehrenden Hitler-Wellen. Seit der Jahrtausendwende scheint die obsessive Beschäftigung eher noch zugenommen zu haben. »So viel Hitler war nie«, eröffnete der Jenaer Historiker Norbert Frei sein Buch »1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen«, das 2005, im Jahr des 60. Gedenkens an das Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, erschien.[2] Tatsächlich war die mediale Präsenz des Themas ohne Beispiel. Ob im Fernsehen oder im Kino, auf dem Titel illustrierter Magazine oder in historischen Büchern – überall begegnete man der Gestalt des »Führers«. Und nichts spricht dafür, dass dies 2015, anlässlich der 70. Wiederkehr des Kriegsendes, anders sein wird.

Längst hat sich eine weltweite Unterhaltungsindustrie des Gegenstands bemächtigt, hat sich Hitler in eine Art »Pop-Ikone des Grauens« verwandelt, die, marktschreierisch ins Bild gesetzt, die größten Schauereffekte verspricht. Denn nach wie vor ist der »Führer« der Nationalsozialisten, der die Geschicke Deutschlands und der Welt zwölf Jahre lang maßgeblich bestimmt hatte, »die härteste aller Drogen, die Aufmerksamkeit produzieren«.[3] In ihrem Erregungspotential ist seine Schreckensgestalt von keiner anderen historischen Figur, Stalin eingeschlossen, zu übertreffen. Und das hängt natürlich mit der monströsen Dimension der Verbrechen zusammen, die unter seiner Herrschaft nicht »im deutschen Namen«, sondern von Deutschen verübt worden sind.

Parallel zum Unterhaltungsmarkt, und weitgehend davon unberührt, hat die internationale Geschichtswissenschaft die Untersuchungen über Hitler und den Nationalsozialismus vorangetrieben. Kein historischer Gegenstand scheint in allen seinen Winkeln und Verästelungen besser erforscht als dieser; die Literatur darüber füllt inzwischen ganze Bibliotheken. Gleichwohl hält das Interesse auch der Fachhistoriker an der »trüben Figur« unvermindert an. Die Rätselhaftigkeit der Erscheinung Hitlers, die Frage, wie und warum er zur Macht kommen und sie mehr als ein Jahrzehnt lang ausüben konnte – mit den bekannten katastrophalen Folgen –, verlangen stets aufs Neue nach Erklärungen. An Versuchen, sich dem »Phänomen« auf biographischem Wege anzunähern, fehlt es nicht, und doch gibt es unter der Vielzahl der Darstellungen nur wenige, eigentlich nur vier, die als wirklich bedeutend und immer wieder anregend bezeichnet werden können: Konrad Heidens erste, im Schweizer Exil Mitte der dreißiger Jahre entstandene zweibändige Biographie; Alan Bullocks klassische »Studie über Tyrannei« aus den frühen fünfziger Jahren, Joachim Fests großes Porträt Hitlers und seiner Epoche, zuerst veröffentlicht 1973, und schließlich das bislang umfangreichste, maßstabsetzende zweibändige Werk von Ian Kershaw (1998 und 2000).[4]

Konrad Heidens Biographie stellte den Versuch dar, »die geschichtliche Bedeutung des Phänomens Hitler noch mitten in dessen voller Wirksamkeit zu erkennen«.[5] Als Korrespondent der liberalen »Frankfurter Zeitung« in München zwischen 1923 und 1930 hatte der Autor Gelegenheit, den Aufstieg Hitlers zur nationalen Prominenz aus der Nähe zu verfolgen. Sein Buch beruhte neben eigenen Beobachtungen auf Auskünften von Gewährsleuten im Umfeld des Münchner Agitators. Heiden widerstand der Versuchung, Hitler zu mystifizieren oder ihn ins Lächerliche zu ziehen: »Der ›Held‹ dieses Buches ist weder ein Übermensch noch ein Popanz«, betonte er in dem auf August 1935 datierten Vorwort, »sondern ein sehr interessanter Zeitgenosse und, zahlenmäßig betrachtet, der größte Massenerschütterer der Weltgeschichte.«[6] Auch wenn viele biographische Details inzwischen von der Forschung korrigiert worden sind, besticht das Werk immer noch durch eine Fülle an treffenden Urteilen und klugen Analysen, etwa was die Wirkung Hitlers als Redner und das eigentümliche »Doppelwesen« seiner Existenz betrifft.[7]

In Exilkreisen fand das Frühwerk eine begeisterte Aufnahme. »Unablässig über Konrad Heidens fulminanter Hitlerbiographie«, notierte Thea Sternheim, die geschiedene zweite Frau des Dramatikers Carl Sternheim, Ende Oktober 1935. »Scheinwerfer über Deutschland. Man dankt plötzlich Gott für das Vorhandensein dieses schönen Gewissens. Ist dieses Buch nicht die erste entscheidende Bresche in das himmelschreiende Verbrechen, das sich in Deutschland vollzieht?«[8] Und auch Harry Graf Kessler, Kunstmäzen und Diplomat, der sich ebenfalls im Exil in Frankreich aufhielt, lobte: »Ein kluges und aufschlussreiches Buch. ›Ein gescheiterter Mann und ein gescheitertes Volk verbinden sich.‹ Treffend.«[9] Gestapo und SD stellten Nachforschungen nach dem Autor an, doch gelang es diesem, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich 1940 über Lissabon in die Vereinigten Staaten zu entkommen.[10]

Alan Bullocks fulminantes Debüt von 1952 bildete den Ausgangspunkt für alle wissenschaftliche Beschäftigung mit dem »Phänomen Hitler«. Dabei konnte der britische Historiker auf die beschlagnahmten deutschen Dokumente zurückgreifen, die in den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial vorgelegt und schon bald darauf veröffentlicht worden waren.[11] Bullock schilderte den deutschen Diktator als einen »völlig prinzipienlosen Opportunisten«, der allein vom »Willen zur Macht«, und zwar »in seiner rohesten und reinsten Form«, angetrieben worden sei.[12] In seinem Schlusswort berief sich Bullock ausdrücklich auf das Zeugnis des ehemaligen Senatspräsidenten in Danzig, Hermann Rauschning, der mit seinem im Exil 1938 veröffentlichten Buch »Revolution des Nihilismus« zeitweilig einen großen Einfluss auf die Beurteilung Hitlers ausübte. Darin hatte er unter anderem die Behauptung aufgestellt, der Nationalsozialismus sei »Bewegung schlechthin, Dynamik absolut gesetzt, Revolution mit wechselndem Nenner, jederzeit bereit, ihn zu vertauschen«. Eines aber sei er nicht: »Weltanschauung und Doktrin«.[13]

Die These vom opportunistischen Machtpolitiker Hitler ist von der Forschung der folgenden Dekaden revidiert worden. Es war vor allem das Verdienst des Stuttgarter Historikers Eberhard Jäckel, den überzeugenden Nachweis erbracht zu haben, dass Hitler sehr wohl über eine bei allem ideologischen Wahnwitz konsistente »Weltanschauung« verfügt und diese sein Handeln maßgeblich geleitet hatte. Die beiden wichtigsten Elemente dieser Weltanschauung waren, laut Jäckel, die »Entfernung der Juden« und die Eroberung von »Lebensraum im Osten« – axiomatische Fixpunkte, an denen Hitler seit den zwanziger Jahren mit unbeirrbarer Konsequenz festgehalten habe.[14] Diese grundlegende Erkenntnis ist sowohl von Fest als auch von Kershaw aufgenommen worden, und sie wird auch durch die vorliegende Untersuchung bestätigt.

Joachim Fests Hitler-Biographie, über zwanzig Jahre nach Bullock erschienen, beeindruckte nicht nur durch die literarische Qualität der Darstellung – »Niemand hat seit Thomas Mann über Hitler in so gutem Deutsch geschrieben«, lobte Eberhard Jäckel[15] –, sondern auch »durch die Fähigkeit des Autors zu dichter und zugleich weitausgreifender Interpretation«, wie Karl-Dietrich Bracher anmerkte, der durch seine wegweisenden Arbeiten über »Die Auflösung der Weimarer Republik«, »Die nationalsozialistische Machtergreifung« und »Die deutsche Diktatur« in den fünfziger und sechziger Jahren selbst den Boden für eine intensivierte, kritische Betrachtung von Entstehung, Struktur und Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft bereitet hatte.[16] Etwas beschämt fragten sich deutsche Fachhistoriker, warum nicht einer aus ihren Reihen, sondern ein Außenseiter wie der Journalist Fest diese Leistung zustande gebracht hatte.[17]

Fest zeichnete nicht nur ein bis dahin unübertroffenes Psychogramm der Persönlichkeit Hitlers, sondern ordnete ihn auch in den Zusammenhang seiner Epoche ein. Als wichtigste Voraussetzung für Hitlers Aufstieg schilderte er das Zusammentreffen von individuellen und allgemeinen Bedingungen, »die schwer entschlüsselbare Korrespondenz, die der Mann mit dieser Zeit und die Zeit mit diesem Mann eingingen«.[18] Um diesen Zusammenhang plausibel zu machen, schaltete er in die chronologisch fortlaufende Darstellung »Zwischenbetrachtungen« ein, in denen er die individuelle Biographie und überindividuelle Entwicklungsstränge zusammenführte. Daraus leitete er den paradoxen Befund ab, dass Hitler, obwohl er die Revolution verabscheut habe, doch zur »deutschen Erscheinung der Revolution« geworden sei, in der sich moderne und rückwärtsgewandte Züge auf eigentümliche Weise gemischt hätten.[19]

Manches Kritische ist gegen Fests Deutung vorgebracht worden, die nicht aus neuen Archivquellen, sondern aus der bis dahin veröffentlichten Literatur schöpfte. So hat man zu Recht bemerkt, dass die Rolle der konservativen Eliten, die Hitler die Tür zur Macht geöffnet hatten, deutlich unterbelichtet geblieben war.[20] Nicht zu verkennen ist auch, dass in manchen Partien der Darstellung, etwa in der Stilkritik an Hitlers »Mein Kampf«, der bildungsbürgerliche Hochmut des Autors gegenüber dem halbgebildeten Emporkömmling massiv durchschlägt.[21] Schwerer wiegt freilich, dass Fests Interpretation der Rolle Hitlers in starkem Maße beinflusst wurde durch seinen wichtigsten Gewährsmann, Hitlers Lieblingsarchitekt und späteren Rüstungsminister Albert Speer, dem der schreibgewandte Journalist bei der Abfassung seiner 1969 veröffentlichten »Erinnerungen« zur Hand gegangen war und der umgekehrt Fest bei der Niederschrift der Hitler-Biographie mit Informationen versorgt hatte. Manche Legenden Speers haben so Eingang gefunden in die Darstellung Fests, zum Beispiel die Selbststilisierung zum unpolitischen Fachmann, der den Verführungskünsten des Diktators hilflos anheimgefallen sei.[22]

Dennoch – alle Einwände können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fest ein großer Wurf gelungen war. Mit dieser Pionierleistung dürfte »nunmehr das für längere Zeit gültige Buch über Adolf Hitler vorliegen«, prophezeite der Bonner Historiker Klaus Hildebrand in einer Besprechung.[23] Tatsächlich dauerte es 25 Jahre, bis sich wiederum ein englischer Historiker, Ian Kershaw, an das Wagnis einer großen Hitler-Biographie machte. Der erste Band erschien 1998; bereits zwei Jahre später folgte der zweite. Kershaw konnte sich auf Quellen stützen, die Fest noch nicht zugänglich waren, vor allem auf die Tagebücher des Berliner Gauleiters und späteren Propagandaministers Joseph Goebbels, mit deren Edition das Münchner Institut für Zeitgeschichte Ende der achtziger Jahre begonnen hatte.[24]

In seinen einleitenden Bemerkungen bekannte der Historiker aus Sheffield freimütig, dass er sich Hitler gewissermaßen von der »falschen« Richtung genähert habe, nämlich von den Strukturen der NS-Herrschaft aus, mit denen er sich in seinen früheren Veröffentlichungen ausgiebig beschäftigt hatte. Er interessierte sich daher auch, anders als Fest, weniger für den »merkwürdigen Charakter des Mannes«, als vielmehr für die gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfte, die Hitler möglich gemacht hatten. Damit verbunden war ein Wechsel der Perspektive: »Die Aufgabe des Biographen (…) besteht nicht in der Konzentration auf Hitlers Persönlichkeit, sondern in der Fokussierung auf das Wesen der Macht – der Macht des ›Führers‹.« Um die ungeheure Wirkung dieser Macht zu erklären, müsse man »mehr auf die Erwartungen und Motivationen der deutschen Gesellschaft« als auf Hitler selbst schauen.[25] Was Kershaw vorschwebte, war also nicht mehr und nicht weniger als eine »Hitler-Biographie in gesellschaftsgeschichtlicher Absicht«.[26]

Kershaw glaubte nachweisen zu können, dass Hitler in vielen Situationen selbst gar nicht viel tun musste, weil die deutsche Gesellschaft, von den Satrapen um den Diktator herum bis hinunter zu den einfachen Volksgenossen und Volksgenossinnen, in steigendem Maße geneigt war, »dem Führer entgegenzuarbeiten«, also seine Wünsche gleichsam vorauseilend zu erfüllen.[27] Man hat dem britischen Historiker vorgeworfen, dass er auf diese Weise ein Hitler-Bild befördere, in dem der Diktator als »im Grunde austauschbar, überflüssig, bestenfalls schwach« erscheine.[28] Doch so weit geht Kershaw keineswegs. Die Rolle Hitlers und seiner wahnhaften ideologischen Fixierungen wird von ihm nicht gering veranschlagt; aber zugleich macht er deutlich, dass ohne die Bereitschaft der Vielen, dem Mann an der Spitze zuzuarbeiten, dessen verbrecherische Ziele nicht bis ins Stadium der Realisierung hätten vorangetrieben werden können. Erst aus dem Wechselspiel der Intentionen Hitlers mit dem strukturell bedingten Handlungsdruck, der von den Initiativen der ihm nachgeordneten Chargen und Institutionen ausging, lasse sich – so die Kernthese – die entfesselte Dynamik des Regimes erklären, die zu immer radikaleren Lösungen trieb. Damit hatte Kershaw den alten, längst unfruchtbar gewordenen Streit zwischen der »intentionalistischen« und »strukturalistischen« Schule in der deutschen Geschichtswissenschaft definitiv beendet.[29]

»Die Bibliotheken verzeichnen 120000 Arbeiten über Hitler. Kershaws Werk ist ein Zentralmassiv«, schloss der Herausgeber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, Frank Schirrmacher, seine hymnische Besprechung ab.[30] Gibt es nach dieser monumentalen Hitler-Biographie überhaupt noch einen Bedarf an einer neuen? Seit Kershaws erstem Band sind immerhin schon fünfzehn Jahre verstrichen. Das Räderwerk der Forschung ist seitdem nicht stehen geblieben, sondern hat sich unaufhörlich, sogar mit wachsender Geschwindigkeit weitergedreht.[31] Eine ganze Reihe von Büchern ist erschienen, die neue Einblicke in die Persönlichkeit Hitlers und bestimmte Phasen seines Lebens geben beziehungsweise solche zumindest versprechen: Claudia Schmölders’ physiognomische Biographie »Hitlers Gesicht« (2000); Lothar Machtans umstrittenes Enthüllungsbuch über die angeblich homosexuelle Orientierung des Diktators »Hitlers Geheimnis« (2001); Birgit Schwarz’ grundlegendes Werk über Hitlers Kunstverständnis »Geniewahn: Hitler und die Kunst« (2009); Timothy W. Rybacks Nachforschungen zu Hitlers Bibliothek und seinem Leseverhalten »Hitlers Bücher« (2008); Dirk Bavendamms Porträt der frühen Jahre »Der junge Hitler« (2009); Thomas Webers Spurensuche zum Kriegserlebnis des Gefreiten »Hitlers erster Krieg« (2010); Ralf Georg Reuths Versuch, die Ursprünge von »Hitlers Judenhass« (2009) zu klären; Othmar Plöckingers bahnbrechende Studien über Hitlers »prägende Jahre« in München 1918 bis 1920 (2013) und zur Geschichte von Hitlers »Mein Kampf« (2006); Ludolf Herbsts Thesenbuch über die Inszenierung eines deutschen Messias »Hitlers Charisma« (2010); Mathias Röschs Untersuchung »Die Münchner NSDAP1925–1933« (2002); Andreas Heuslers Geschichte des Braunen Hauses »Wie München zur ›Hauptstadt der Bewegung‹ wurde« (2008); Sven Felix Kellerhoffs und Thomas Friedrichs Erkundungen, wie Hitler zur Reichshauptstadt stand »Hitlers Berlin« (2003) und »Die missbrauchte Hauptstadt« (2007).

Auch das private Umfeld Hitlers ist im vergangenen Jahrzehnt stärker ins Blickfeld geraten – angefangen von Anton Joachimsthalers Dokumentation »Hitlers Liste« (2003), die über die Geschenkliste Hitlers von 1935/36 das Netz der persönlichen Beziehungen aufdecken möchte, über Brigitte Hamanns Forschungen zum Verhältnis Hitlers zur Familie Wagner »Winifred Wagner und Hitlers Bayreuth« (2002) und zum Linzer Arzt Eduard Bloch »Hitlers Edeljude« (2008), Wolfgang Martynkewicz’ Geschichte des Münchner Verlegerehepaars Hugo und Elsa Bruckmann, Hitlers frühen Förderern, »Salon Deutschland« (2009), Anna Maria Sigmunds Rekonstruktion der Dreiecksbeziehungen zwischen Hitler, seiner Nichte Geli Raubal und seinem Fahrer Emil Maurice »Des Führers bester Freund« (2003) bis hin zu Heike B. Görtemakers akribisch recherchierter Biographie »Eva Braun. Ein Leben mit Hitler« (2010), die mit zahlreichen Legenden um die Führer-Geliebte aufräumt. Zu nennen sind hier außerdem Ulf Schmidts medizinhistorische Untersuchung »Hitlers Arzt Karl Brandt« (2009), Jürgen Trimborns Studien zu Hitlers Bildhauer »Arno Breker. Der Künstler und die Macht« (2011) und zu Hitlers Starregisseurin »Leni Riefenstahl. Eine deutsche Karriere« (2002), Karin Wielands Doppelbiographie »Dietrich & Riefenstahl. Der Traum von der neuen Frau« (2011) sowie Timo Nüßleins Porträt des ersten Architekten Hitlers »Paul Ludwig Troost 1878–1934« (2012).

Gleichzeitig ist eine Fülle von Biographien über führende Männer der Weimarer Republik und des NS-Staates publiziert worden, durch die auch neues Licht auf Hitler und seine Herrschaft fällt – darunter Wolfram Pytas große Darstellung »Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler« (2007); Peter Longerichs Arbeiten über den Chef des NS-Polizei- und Terrorapparats Heinrich Himmler (2008) und den Chefpropagandisten Joseph Goebbels (2010); ferner die Biographien von Stefan Krings über Hitlers Pressechef Otto Dietrich (2010), Ernst Piper über Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg (2005), Robert Gerwarth über den Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich (2011), Dieter Schenk über Hitlers Kronjuristen und späteren Generalgouverneur im besetzten Polen, Hans Frank (2006), Hans Otto Eglau über Hitlers Gönner, den Industriellen Fritz Thyssen (2003), Christopher Kopper über Hitlers Bankier Hjalmar Schacht (2006), Kirstin A. Schäfer über »Hitlers ersten Feldmarschall« Werner von Blomberg (2006), Klaus-Jürgen Müller über Generaloberst Ludwig Beck (2008) und Johannes Leicht über Heinrich Claß, den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes (2012).

Darüber hinaus liegt eine Vielzahl von neuen Monographien und Aufsätzen zu Einzelaspekten des »Dritten Reiches« vor, die unser Wissen über Grundlagen und Funktionsweise des NS-Systems bereichert haben. Genannt werden sollen nur Götz Alys provokante Studie »Hitlers Volksstaat« (2005), Adam Toozes Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus »Ökonomie der Zerstörung« (2007), Wolfgang Königs Untersuchung zur nationalsozialistischen Konsumgesellschaft »Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft« (2004), Markus Urbans Darstellung der Reichsparteitage »Die Konsensfabrik« (2007), der überraschende Bestseller eines Forscherteams um Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann über die Geschichte des Auswärtigen Amtes »Das Amt und die Vergangenheit« (2010), Frank Bajohrs erhellende Recherchen über Korruption in der Nazi-Ära »Parvenüs und Profiteure« (2001) und Michael Wildts wegweisende Forschungen über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes »Generation des Unbedingten« (2002) und die gegen Juden ausgeübten Gewaltexzesse in der deutschen Provinz »Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung« (2007). Gerade über das Konzept der »Volksgemeinschaft« ist in den letzten Jahren in der Geschichtswissenschaft viel diskutiert worden, und es war deshalb auch kein Zufall, dass das Deutsche Historische Museum in Berlin 2010 dem Zusammenhang von »Volksgemeinschaft und Verbrechen« eine vielbeachtete Ausstellung unter dem Titel »Hitler und die Deutschen« widmete.[32] Schließlich hat der britische Historiker Richard J. Evans mit seiner Trilogie »Das Dritte Reich« (2004, 2006, 2009) die bislang umfangreichste Gesamtgeschichte des Nationalsozialismus geschrieben, die den Rang eines Standardwerks beanspruchen darf.

Das alles aufzunehmen und zu einer Synthese zu bringen würde allein schon die Anstrengung einer neuen Hitler-Biographie rechtfertigen. Doch darin erschöpft sich die Intention dieses Buches nicht. Vielmehr soll hier die Persönlichkeit Hitlers, die in Kershaws Darstellung bemerkenswert blass bleiben musste, wieder in den Mittelpunkt gerückt werden, ohne darüber die gesellschaftlichen Bedingungen, die seine kometenhafte Karriere überhaupt erst ermöglicht hatten, zu vernachlässigen. Dabei werden einige Annahmen, die sich fast durch die gesamte Hitler-Literatur ziehen, auf den Prüfstand gestellt. Die erste lautet, dass es sich bei Hitler um eine Figur recht gewöhnlichen Zuschnitts mit beschränktem geistigem Horizont und geringer sozialer Kompetenz gehandelt habe. Das Kernproblem jeder Annäherung an Hitler liege darin, hat schon Karl-Dietrich Bracher formuliert, zu erklären, »wie ein Mann von so enger, persönlich beschränkter Existenz eine Entwicklung von so welthistorischer Dimension und Konsequenz begründen und tragen konnte, die so weitgehend von ihm abhing«.[33] Und auch für Ian Kershaw ist das eine Grundfrage: »Wie erklären wir, daß ein Mensch mit so geringen geistigen Gaben und sozialen Fähigkeiten (…) eine so gewaltige historische Wirkung entfalten konnte, daß die ganze Welt den Atem anhielt?«[34]

Was aber, wenn schon die Prämisse nicht stimmt, wenn Hitlers persönliche Existenz gar nicht so beschränkt war und auch seine geistigen Gaben keineswegs gering entwickelt waren? Als »einzige unumstrittene Begabung« lässt Kershaw, wie die meisten Hitler-Biographen vor ihm, Hitlers Fähigkeit gelten, »die niedrigen Empfindungen der Massen aufzupeitschen«.[35] Dass Hitler über ein außerordentliches Redetalent verfügte, ist in der Tat unstrittig und als eine Bedingung seines Aufstiegs in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Doch der Vorsitzende der NSDAP war weit mehr als nur ein erstklassiger Demagoge; er war auch ein überaus begabter Schauspieler. In der Kunst, unter verschiedenen Masken aufzutreten und in wechselnde Rollen zu schlüpfen, brachte er es zu einer gewissen Meisterschaft. Keiner hat ihn in dieser Beziehung so durchschaut wie Charlie Chaplin in dem Film »Der große Diktator« von 1940. Nachdem sich Albert Speer 1972 den Streifen angesehen hatte, lobte er den Filmkünstler: Er sei »mit seinem Versuch, Hitlers Charakter zu durchdringen, sehr viel weiter gekommen als jeder andere Zeitgenosse«.[36]

Der »merkwürdige Rollencharakter« von Hitlers Existenz, von dem schon Fest gesprochen hat[37] – er soll hier als ein Leitmotiv der Darstellung entfaltet werden. In seinen Verstellungskünsten, mit denen Hitler Anhänger wie Gegner immer wieder über seine Absichten täuschen konnte, liegt zweifellos ein weiteres wichtiges Erfolgsgeheimnis seines Aufstiegs als Politiker. Finanzminister Lutz Schwerin von Krosigk erschien, als er sich siebzehn Jahre nach dem Ende des »Dritten Reiches« zurückerinnerte, die »abgrundtiefe Verlogenheit« als vorherrschender Charakterzug Hitlers: »Er war selbst seinen nächsten Vertrauten gegenüber nicht ehrlich, er war m(eines) E(rachtens) so durch und durch verlogen, daß er die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit längst nicht mehr erkannte.«[38] Mit seinem moralisierenden Urteil ging Schwerin von Krosigk noch nachträglich dem Rollenspieler Hitler auf den Leim, der seine konservativen Bündnispartner ein ums andere Mal hinters Licht geführt hatte.

Hitler hat sich gern als verhinderter Künstler dargestellt, den es wider Willen in die Politik verschlagen habe, und diese Selbstmystifizierung als »Künstler-Politiker« hat auch in der Hitler-Biographik Spuren hinterlassen. Dabei wurde gern übersehen, dass Hitlers eigentliche große Begabung nicht auf dem Gebiet der bildenden Künste lag – als Maler und Architekturzeichner war er tatsächlich nicht mehr, eher weniger als Mittelmaß –, sondern auf dem Felde der Politik. An taktischer Schläue, an der Fähigkeit, günstige Situationen blitzschnell zu erfassen und auszunutzen, war er allen Konkurrenten in seiner eigenen Partei, aber auch allen Politikern in den bürgerlichen Parteien weit überlegen. Anders ließe es sich auch gar nicht erklären, warum er in allen innerparteilichen Krisen vor 1933 triumphierte. Oder warum er seine konservativen Koalitionspartner im »Kabinett der nationalen Konzentration«, die glaubten, ihn »engagiert« zu haben, nach nur wenigen Monaten an die Wand gespielt hatte – ein erstaunlicher Vorgang, der im Kapitel »Die Errichtung der Diktatur« im Einzelnen beschrieben wird. Auch der eigentümlich improvisierte, personalisierte Herrschaftsstil Hitlers, der zu dauernden Kompetenzkonflikten und einer Anarchie von Ämtern und Ressorts führte, war, wie gezeigt wird, nicht eine Folge mangelnder politischer Begabung, sondern im Gegenteil eine raffiniert gehandhabte Methode, um die eigene Machtstellung faktisch unangreifbar zu machen.

Eine weitere zum Klischee erstarrte Vorstellung besagt, dass Hitlers persönliche Existenz außerhalb der Politik gänzlich uninteressant sei, ja dass er überhaupt kein privates Leben geführt habe. Schon Konrad Heiden glaubte beobachten zu können, dass der Demagoge »über die Massen nicht zu den Menschen gelangen« könne, und attestierte ihm einen »mangelnden Mut zum Privatleben«.[39] Alan Bullock nannte Hitler einen »Entwurzelten ohne Heim und Familie«, für den es »keinerlei Bindungen« gegeben habe.[40] Joachim Fest sprach vom »menschenleeren Raum um ihn herum« und stellte apodiktisch fest: »Ein Privatleben hatte er nicht.«[41] Ian Kershaw spitzte diesen Befund noch zu, indem er behauptete, dass Hitler ganz in der Rolle des »Führers« aufgegangen sei. In einem Interview anlässlich des Erscheinens seines ersten Bandes erklärte er: »Hitlers Privatleben war sein Leben als politisches Wesen. Wenn Sie abziehen, was Politik an ihm ist, bleibt wenig oder nichts (…) Er ist in gewisser Weise eine leere Hülse.«[42] Auch Hans Mommsen, der Nestor der »strukturalistischen« Schule in der deutschen Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus, schloss sich dieser Deutung an: »Hinter den öffentlichen Auftritten Hitlers« habe es »gar keine eigene private Sphäre« gegeben[43] – ein schlagendes Beispiel dafür, wie stark der Führer-Mythos auch noch die Geschichtsschreibung beeinflusst hat.

In diesem Buch soll nun versucht werden, dieses Bild zu korrigieren. Es bemüht sich um den Nachweis, dass die behauptete Leere von Hitlers Existenz jenseits seiner politischen Aktivitäten ein Trugschluss ist. In gewisser Weise, so die Vermutung, wurden auch die Biographen noch zu Opfern der Rolle, die Hitler am perfektesten spielen konnte, nämlich sein Privatleben zu verhüllen und sich als einen Politiker zu inszenieren, der allen persönlichen Freuden entsagt habe, um sich ganz dem Dienst an »Volk und Reich« zu verschreiben. Wie wenig dieses Bild der Wirklichkeit entspricht, soll vor allem in den Kapiteln über Hitlers Beziehungen zu Frauen und über die Berghof-Gesellschaft gezeigt werden, in denen das private Umfeld des Diktators beleuchtet wird. Ein Ergebnis dieser Introspektion sei schon vorweggenommen: Hitlers Privatleben war reicher, als sich das manche Zeitgenossen und späteren Historiker vorgestellt haben. Davon, dass er prinzipiell beziehungsunfähig gewesen sei, kann keine Rede sein. Charakteristisch allerdings war, dass es eine scharfe Trennung von politischer und privater Sphäre nicht gab, vielmehr beide Sphären auf höchst ungewöhnliche Weise miteinander vermischt waren. Von hier aus fällt auch neues Licht auf die spezifische Regierungsweise des Diktators, der im Kapitel »Herrschaftsstil und Monumentalarchitektur« nachgegangen wird.

»Darf man Hitler als Menschen zeigen?«, fragten die Medien anlässlich von Bernd Eichingers Spielfilm »Der Untergang« im Jahr 2004, in dem der Diktator, verkörpert durch den prominenten Schauspieler Bruno Ganz, während seiner letzten Tage im Bunker der Reichskanzlei leibhaftig in Erscheinung trat.[44] Darauf kann es nur eine bündige Antwort geben: Man darf nicht nur, man muss! Es ist ein großer Irrtum zu meinen, ein Jahrhundertverbrecher vom Schlage Hitlers müsse auch persönlich ein Monster gewesen sein. Natürlich wäre es einfacher, könnte man ihn zu einem Psychopathen stempeln, der seine mörderischen Impulse zielstrebig in politisches Handeln umgesetzt habe. Diese dämonisierende Tendenz hat die Forschung tatsächlich lange Zeit beherrscht – und den Blick auf die wirkliche Person verstellt. Von seiner Spandauer Gefängniszelle aus beobachtete Albert Speer im Februar 1947 die wachsende Neigung in der postnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft, Hitler »als einen teppichbeißenden, selbst bei geringen Anlässen unkontrolliert wütenden Diktator darzustellen«. Das halte er »für falsch und gefährlich«, notierte er: »Wenn in dem Bild Hitlers die menschlichen Züge fehlen, wenn man seine Überredungskraft, die gewinnenden Eigenschaften, ja sogar den österreichischen Charme außer acht läßt, den er entwickeln konnte, wird man seiner Erscheinung nicht gerecht.«[45] Und Leni Riefenstahl schrieb Albert Speer, nachdem sie seine »Erinnerungen« gelesen hatte, Mitte der siebziger Jahre, dass man nie aufhören werde zu fragen: »Was war es an Hitler, daß nicht nur das deutsche Volk, sondern auch viele Ausländer von ihm so beeindruckt, ja geradezu verhext waren.« Und sie fügte hinzu: »Auch ich kann nie die entsetzlichen Dinge, die im Namen Hitlers geschehen sind, vergessen oder verzeihen, und ich will es auch nicht: Aber ich will auch nicht vergessen, wie ungeheuer die Wirkung war, die von ihm ausging – damit würde ich es uns zu leicht machen. Aber diese beiden, scheinbar unvereinbaren Gegensätze in seiner Person – diese Schizophrenie – waren wohl das, was die ungeheuren Energien in seiner Gestalt erzeugten.«[46]

Diese Hinweise auf die eigentümliche Doppelnatur Hitlers – das Nebeneinander von gewinnenden Zügen und kriminellen Energien – dürfen nicht als bloße Versuche abgetan werden, von der eigenen Beteiligung am Unrechtsregime abzulenken. Vielmehr müssen sie ernst genommen werden, will man die Verführungsmacht verstehen, die Hitler nicht nur auf seine Entourage, sondern auch auf große Teile des deutschen Volkes ausübte. Im dreizehnten Kapitel, das die vielleicht zunächst befremdliche Überschrift »Der Mensch Hitler« trägt, habe ich versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden und über Fests »Blick auf eine Unperson«[47] hinausgehende Einsichten in die eigentümlichen Anlagen und Verhaltensweisen Hitlers zu gewinnen.

Zweifellos war Hitler der Dreh- und Angelpunkt des NS-Regimes. Mit ihm stand und fiel das »Dritte Reich«. Deshalb muss, wer den Nationalsozialismus, seine Attraktivität und seine Monstrosität, verstehen will, die bewegende Kraft Hitlers in den Blick nehmen, zugleich aber auch die Kräfte, die auf ihn einwirkten. Dies geschieht vor allem im Kapitel über »Führerkult und Volksgemeinschaft«, in dem die Wechselbeziehung zwischen dem Diktator und der deutschen Gesellschaft beleuchtet und nach den Ursachen für die ungeheure Popularität Hitlers gefragt wird.

Hitler als menschliches Wesen zu zeichnen heißt selbstverständlich nicht, Sympathien für ihn zu wecken oder gar seine Verbrechen zu verharmlosen. Er wird auch in dieser Biographie als der gezeigt, der er seit den frühen zwanziger Jahren war: ein fanatischer Judenhasser, der seine antisemitische Besessenheit zwar aus taktischen Gründen zügeln konnte, der aber sein Ziel, die Juden aus Deutschland zu »entfernen«, niemals aus den Augen verlor. Der Frage, wie Hitler, einmal an der Macht, dieses Ziel in Angriff nahm und welche Unterstützung er dabei erfuhr, wird deshalb besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Auch in den Abschnitten über die Außenpolitik nach 1933 soll deutlich gemacht werden, mit welcher Unbeirrbarkeit Hitler das seit Mitte der zwanziger Jahre fixierte Ziel der Eroberung von »Lebensraum im Osten« verfolgte, auch wenn er zunächst in der Maske des Friedenspolitikers auftrat und vorgab, nur die Revision des Versailler Vertrages zu betreiben. In dem abschließenden Kapitel »Auf dem Weg in den Krieg« wird geschildert, wie der Diktator seit 1937, Schritt für Schritt, den Übergang von der Revisionspolitik zur Expansionspolitik vollzog, mit der sich das »Dritte Reich« nicht nur zur unbestrittenen Hegemonialmacht auf dem europäischen Kontinent, sondern zu einer weltbeherrschenden Rolle aufschwin-gen wollte. Die Entfesselung des Krieges im Spätsommer 1939 wird den Auftakt des zweiten Bandes bilden.

Der erste Band dieser Hitler-Biographie beschäftigt sich mit den »Jahren des Aufstiegs«. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass es sich hier um eine ununterbrochene Erfolgsgeschichte gehandelt habe. Im Gegenteil: Gezeigt wird, dass diese Karriere immer wieder auch vom Scheitern bedroht war, am signifikantesten nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom November 1923 und der desaströsen Wahlniederlage vom November 1932. Hitlers Weg zur Macht war keineswegs unaufhaltsam; noch im Januar 1933 hätte seine Berufung zum Reichskanzler verhindert werden können. Der Chef der NSDAP profitierte nicht nur von einer einzigartigen Krisenkonstellation, die er ebenso geschickt wie skrupellos zu nutzen wusste, sondern auch von der notorischen Unterschätzung durch seine innenpolitischen Gegner, die seine Laufbahn von Anfang an begleitete. Sie sollte später auch die ausländischen Staatsmänner lange Zeit zur Illusion verleiten, Hitler in seinem Aggressionsdrang zügeln zu können. Das böse Erwachen kam mit dem Bruch des Münchner Abkommens im März 1939. Damit hatte der Diktator freilich auch eine rote Linie überschritten. Die Nemesis kündigte sich an, auch wenn das damals noch kaum einem Zeitgenossen, schon gar nicht Hitler selbst, bewusst war.

 

Eine Hauptquelle der Arbeit bilden die von Eberhard Jäckel und Axel Kuhn 1980 herausgegebenen »Sämtlichen Aufzeichnungen« Hitlers von 1905 bis 1924 und die dreizehnbändige Anschlussedition des Münchner Instituts für Zeitgeschichte »Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen« von 1925 bis 1933, die vollständig erst seit 2003 vorliegt.[48] Beide Editionen belegen auf eindrucksvolle Weise die frühe Ausprägung und dauerhafte Konsistenz von Hitlers weltanschaulichen Fixierungen. Es wäre zu begrüßen, wenn das Institut für Zeitgeschichte auch die Selbstzeugnisse Hitlers aus den Jahren 1933 bis 1945 in einer ebenso sorgfältigen Edition herausgeben würde; bis dahin bleiben die Historiker auf die in mancher Hinsicht unzulängliche Sammlung von Max Domarus »Adolf Hitler. Reden und Proklamationen« angewiesen.[49]

Unter den amtlichen Aktenpublikationen ist vor allem die von der Historischen Kommission bei den Bayerischen Wissenschaften gemeinsam mit dem Bundesarchiv herausgegebene Edition »Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler« zu nennen. Die von Friedrich Hartmannsgruber bearbeiteten Bände II bis VI, welche die Jahre von 1934/35 bis 1939 umfassen, erschienen zwischen 1999 und 2012, konnten also von Kershaw noch nicht genutzt werden.[50]

Eine in ihrer Bedeutung bei weitem noch nicht ausgeschöpfte Quelle stellen die von Elke Fröhlich im Auftrag des IfZ München herausgegebenen Tagebücher von Joseph Goebbels dar, die der Forschung erst seit 2006 vollständig zur Verfügung stehen. Auch wenn man die stilisierende, auf die Nachwelt berechnete Tendenz mancher Notate in Rechnung stellen muss, geben sie uns doch aufgrund der Nähe des Propagandaministers zu seinem »Führer« wichtige Einblicke in Hitlers Überlegungen und Motivationen. Auch der Privatmann Hitler wird hier immer wieder überraschend greifbar.[51]

Ebenso intensiv herangezogen wie die Aufzeichnungen von Hitlers Weggefährten werden die Zeugnisse von Zeitgenossen. Dabei kommen Bewunderer wie Gegner gleichermaßen ausgiebig zu Wort. Zu den Letzteren gehört neben Thomas Mann, Victor Klemperer, Thea Sternheim, Theodor Heuss und Sebastian Haffner auch der bereits zitierte Harry Graf Kessler, dessen großes Tagebuchwerk mit der Herausgabe des neunten, von 1926 bis 1937 führenden Bandes im Jahr 2010 abgeschlossen wurde. Eine weitere wichtige neue Quelle sind die Berichte ausländischer Diplomaten aus zehn verschiedenen Ländern, die Frank Bajohr und Christoph Strupp von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte 2011 unter dem Titel »Fremde Blicke auf das ›Dritte Reich‹« veröffentlicht haben.[52] Ergänzt wurde das gedruckte Quellenmaterial durch umfangreiche Recherchen im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, im Bundesarchiv Koblenz, im Institut für Zeitgeschichte in München, im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, in der Bayerischen Staatsbibliothek München und im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern.[53] Überraschend dabei war für mich, wie viel es hier noch zu entdecken gibt, obwohl doch Hitlers Leben als einer der am besten erforschten Gegenstände der Geschichtsschreibung gilt.

Dieses Buch bietet keine völlig neue Deutung. Das wäre angesichts der großen Vorgänger von Konrad Heiden bis Ian Kershaw auch ein reichlich vermessener Anspruch. Aber der Verfasser hofft doch, dass es bereits mit diesem ersten Band gelungen ist, unsere Kenntnisse über den Mann, der – mit den Worten Stefan Zweigs – »mehr Unheil über unsere Welt gebracht (hat) als irgendeiner in den Zeiten«,[54] zu erweitern und die Persönlichkeit mit ihren frappierenden Widersprüchen und Gegensätzen schärfer hervortreten zu lassen, als das bisher geschehen ist. Das Bild Hitlers wird dadurch komplexer und vielschichtiger. Er war kein »Mann ohne Eigenschaften«[55], sondern ein Mann mit vielen Eigenschaften und Gesichtern. Hinter der öffentlichen Figur, die sich sowohl aus den Selbstinszenierungen des »Führers« als auch den Zuschreibungen seiner gläubigen Anhänger zusammensetzte, wird der Mensch sichtbar – mit seinen gewinnenden und abstoßenden Zügen, seinen unbestreitbar großen Begabungen und Talenten ebenso wie mit seinen nicht zu verkennenden tiefsitzenden Komplexen und Affekten, seinen destruktiven Energien und mörderischen Antriebskräften. Das Ziel ist es, den Hitler-Mythos, der als negative »Faszination durch das Monstrum«[56] in der Literatur und öffentlichen Diskusion nach 1945 in vielfältiger Weise nachwirkte, zu dekonstruieren. In gewisser Weise wird Hitler hier »normalisiert«, was ihn jedoch nicht »normaler«, sondern im Gegenteil eher noch abgründiger erscheinen lässt.

Über die Schicksalsfigur der deutschen und europäischen Geschichte zu schreiben ist gewiss die schwierigste und zugleich verantwortungsvollste Aufgabe, der man sich als Historiker unterziehen kann. Es wird immer ein unerklärbarer Rest bleiben. Wahrscheinlich hatte Rudolf Augstein recht, als er in seiner Besprechung des Werkes von Joachim Fest in Frage stellte, ob es die Hitler-Biographie überhaupt geben könne.[57] Die Beschäftigung mit dieser rätselhaften, verstörenden Gestalt wird nie abgeschlossen sein; jede Generation ist herausgefordert, sich aufs Neue mit ihr auseinanderzusetzen. »Die Deutschen sind von Hitler befreit worden und werden ihn doch niemals loswerden«, hat Eberhard Jäckel in einem Vortrag im Jahr 1979 resümiert. Auch der tote Hitler werde »immer mit den Deutschen sein – mit den überlebenden, mit den nachlebenden und sogar mit den noch ungeborenen, nicht so wie mit den mitlebenden, aber als ewiges Denkmal des Menschenmöglichen«.[58]

1 Der junge Hitler

»Von Familiengeschichte habe ich gar keine Ahnung. Auf diesem Gebiet bin ich der Allerbeschränkteste«, bekannte Hitler im August 1942 in einem seiner zahllosen Monologe im Führerhauptquartier in der »Wolfsschanze«. »Ich bin ein vollkommen unfamiliäres Wesen, ein unsippisch veranlagtes Wesen. Das liegt mir nicht. Ich gehöre meiner Volksgemeinschaft an.«[59] Der Diktator hatte gute Gründe, sein Desinteresse an der Geschichte seiner Familie zu bekunden. Denn darin gab es einige dunkle Punkte, die bereits seit den frühen zwanziger Jahren, als Hitler seine politische Karriere begann, Anlass zu Gerüchten und Spekulationen gaben und später auch den Historikern einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Bis heute sind nicht alle Fragen, die sich im Zusammenhang mit Hitlers Herkunft stellen, geklärt worden.

Die Spuren führen ins Waldviertel, eine bäuerlich geprägte Region im Norden Niederösterreichs an der Grenze zu Böhmen. Hier, in dem Dorf Strones bei Döllersheim, gebar die ledige Magd Maria Anna Schicklgruber, Tochter eines Kleinbauern, am 17. Juni 1837 einen Sohn, dem sie den Namen Alois gab. Ungewöhnlich war nicht die uneheliche Geburt – dergleichen kam auf dem Lande damals sehr häufig vor –, sondern die Tatsache, dass die Mutter zum Zeitpunkt der Niederkunft fast 42 Jahre, für damalige Verhältnisse also schon recht alt war. Nichtsdestotrotz heiratete sie fünf Jahre später den 50-jährigen Müllergesellen Johann Georg Hiedler aus Spital. Wie es scheint, lebte das Paar in ärmlichen Umständen, denn vermutlich noch vor dem Tod von Maria Anna 1847 wurde das uneheliche Kind in die Obhut von Johann Georgs jüngerem Bruder Johann Nepomuk gegeben, der in Spital zu den wohlhabenden Bauern zählte. Der Ziehvater – er schrieb sich Hüttler statt Hiedler – kümmerte sich um Alois wie um seinen eigenen Sohn. Wohlbehütet wuchs dieser gemeinsam mit den drei Töchtern heran, besuchte die Volksschule und lernte anschließend in Wien das Schuhmacherhandwerk.

Für einen jungen Mann seiner Herkunft und Schulbildung machte Alois Schicklgruber eine bemerkenswerte Karriere. 1855, mit knapp neunzehn Jahren, entschloss er sich, das Handwerk aufzugeben und in den Finanzdienst der österreichischen Monarchie einzutreten. Hier stieg er, ein Muster an Strebsamkeit und Pflichtbewusstsein, Sprosse für Sprosse auf, bis er 1875 mit der Beförderung zum »Zollamts-Offizial« in Braunau einen Rang in der Beamtenhierarchie erklommen hatte, der üblicherweise Abiturienten vorbehalten war.[60] Ein Jahr darauf geschah etwas Merkwürdiges: Anfang Juni 1876 erschien Johann Nepomuk in Begleitung von drei Zeugen in der Kanzlei des Notars Josef Penker in Weitra, einem unweit von Spital gelegenen Städtchen, und erklärte, dass Alois Schicklgruber der Sohn seines neunzehn Jahre zuvor verstorbenen Bruders Johann Georg Hiedler sei. In dem Protokoll, das der Notar aufsetzte und von drei Zeugen mit ihrer Unterschrift bestätigen ließ, tauchte anstelle von »Hiedler« erstmals »Hitler« auf – so genau nahm man es damals offenbar nicht mit der Schreibweise von Namen. Einen Tag später änderte der Gemeindepfarrer von Döllersheim aufgrund des ihm vorgelegten Schriftstücks die Eintragung im Taufbuch, indem er in die bisher leere Spalte als Namen von Alois’ Vater »Georg Hitler« eintrug, den Nachnamen Schicklgruber strich und »unehelich« durch »ehelich« ersetzte.[61]

Über die Gründe für die späte Legalisierung der Vaterschaft und die damit verbundene Namensänderung ist viel gerätselt worden.[62] Wenn Johann Georg Hiedler tatsächlich der Vater war, wie auch die offizielle Lesart im »Dritten Reich« lautete – warum hatte er dann nicht nach der Heirat mit Maria Anna 1842 Alois nachträglich als seinen Sohn anerkannt? Warum hatte er ihn stattdessen im Hause seines Bruders Johann Nepomuk aufziehen lassen? War dieser vielleicht selbst, wie manche Historiker vermuten, der Vater?[63] Dafür könnte sprechen, dass die Initiative zur Namensänderung offenbar von Nepomuk und nicht von Alois selbst ausgegangen war. Aber warum hat er sich dann nicht als leiblicher Vater bekannt, sondern seinen Bruder, der schon lange tot war, vorgeschoben? Wollte er einen geheimen Familienskandal vertuschen? Oder ging es ihm darum, seinen Ziehsohn, auf dessen Aufstieg er stolz war, vom Makel der unehelichen Geburt zu befreien? Dagegen spricht allerdings der späte Zeitpunkt der Legalisierung, denn in all den Jahren zuvor hatte dieser Makel den beruflichen Erfolg von Alois Schicklgruber nicht behindert. Manches deutet darauf hin, dass der geschäftstüchtige Landwirt sein Erbe vor dem Zugriff des Fiskus bewahren wollte. Denn als amtlich anerkanntes Geschwisterkind musste Alois, der Haupterbe des Vermögens, eine niedrigere Erbschaftssteuer entrichten, als er es im anderen Falle hätte tun müssen.

Wie auch immer: Fest steht, dass die Identität von Adolf Hitlers Großvater väterlicherseits unsicher ist. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der spätere Diktator, der jedem Deutschen einen Nachweis über seine »arische Abstammung« abverlangte, strenggenommen diesen Nachweis selbst nicht erbringen konnte, auch wenn die offizielle Ahnentafel des »Führers« einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken suchte. Es müsse »sonderbar berühren«, schrieb der »Bayerische Kurier« am 12. März 1932, einen Tag vor dem ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl, in der Hitler gegen Hindenburg antrat, dass »der gesprächige Adolf Hitler über seine Ahnenreihe und über das Alter seines Familiennamens so schweigsam sich zeigt«. Kurz zuvor hatte die »Wiener Sonn- und Montagszeitung« in sensationeller Aufmachung enthüllt, dass Hitlers Vater eigentlich »Schücklgruber« (sic!) geheißen habe und die Namensänderung wegen der Erbschaft erfolgt sei.[64]

Gerüchte über eine mögliche jüdische Abstammung Hitlers haben sich nicht bestätigt. Sie machten bereits seit den zwanziger Jahren die Runde, und sie erhielten später scheinbar eine Beglaubigung aus zuverlässiger Quelle: In seinen vor der Hinrichtung in Nürnberg 1946 geschriebenen Erinnerungen behauptete Hans Frank, Hitlers Generalgouverneur im besetzten Polen, der Vater des Diktators sei vom jüdischen Kaufmann Frankenberger in Graz gezeugt worden, in dessen Haushalt Maria Anna Schicklgruber gearbeitet habe.[65] Eingehende Nachforschungen haben freilich ergeben, dass eine jüdische Familie Frankenberger zum damaligen Zeitpunkt weder in Graz noch in der gesamten Steiermark gelebt hatte.[66] Belege dafür, dass Hitler Spekulationen über den angeblichen jüdischen Großvater ernst genommen oder sie gar als bedrohlich empfunden habe, existieren nicht.

Man könnte also die Namensmanipulation von 1876 als eine bizarre Episode auf sich beruhen lassen, wenn sie sich nicht doch für die spätere Karriere Hitlers als folgenreich erwiesen hätte. »Keine Maßnahme seines ›alten Herrn‹ befriedigte ihn so vollkommen wie diese«, erinnerte sich Hitlers Jugendfreund August Kubizek, »denn ›Schicklgruber‹ erschien ihm so derb, zu bäurisch und außerdem zu umständlich, unpraktisch. ›Hiedler‹ war ihm zu langweilig, zu weich. Aber ›Hitler‹ hörte sich gut an und ließ sich leicht einprägen.«[67] In der Tat kann man bezweifeln, ob ein Mann mit dem Namen Schicklgruber sich den Deutschen als politischer Messias hätte empfehlen können. Der Gruß »Heil Schicklgruber!« jedenfalls hätte wohl nur erheiterte Reaktionen hervorgerufen.

Nach außen gab Alois Hitler, wie er sich fortan nannte, zwar den korrekten Beamten. Ein ehemaliger Kollege aus Braunau schilderte ihn als einen unsympathischen, pedantisch die Dienstvorschriften einhaltenden Menschen, der sehr zurückgezogen gelebt und wenig Gesellschaft gepflegt habe.[68] Fotos zeigen ihn, würdevoll repräsentierend, in Dienstuniform, mit blankgeputzten Knöpfen und dem blinkenden Säbel an der Seite. Doch in seinem Privatleben ging es weniger ordentlich zu. Von innerer Unruhe erfüllt, hielt er es nie lange an einem Platz aus. Häufige Wohnungswechsel waren die Folge. Und auch in Liebesdingen war der scheinbar so biedere Mann bemerkenswert unbeständig, ja, gemessen an den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit und seines Milieus geradezu ausschweifend. Dreimal war er verheiratet – die erste Ehe, die der damals 36-Jährige mit der vierzehn Jahre älteren Beamtentochter Anna Glasl 1873 in Braunau einging, wurde sieben Jahre später geschieden. Denn der »Zollamts-Offizial« hatte mit einem neunzehnjährigen Mädchen, der Kellnerin Franziska (»Fanni«) Matzelsberger, angebandelt, was in dem 3000 Einwohner zählenden Städtchen Braunau nicht unbemerkt bleiben konnte. Im Mai 1883, einen Monat nach dem Tod der ersten Frau, heiratete Alois Hitler die 24 Jahre jüngere Geliebte, die bereits zwei Jahre zuvor einen unehelichen Sohn, nach dem Vater Alois genannt, geboren hatte. Zwei Wochen nach der Hochzeit brachte sie ein zweites Kind, die Tochter Angela, zur Welt.

Abb. 1: Die Mutter: Klara Hitler, geb. Pölzl (1860–1907), um 1885

Doch das Glück währte nicht lange. Noch im selben Jahr erkrankte Franziska Hitler an Tuberkulose, einer damals weitverbreiteten Krankheit. Noch während sie dahinsiechte, begann Alois ein Verhältnis mit Klara Pölzl, die schon früher einmal als Haushaltsgehilfin bei ihm gearbeitet hatte und die er nun wieder als Erzieherin seiner beiden Kinder, Alois und Angela, engagierte. Klara Pölzl, 1860 in Spital geboren, war 23 Jahre jünger als Alois Hitler. Sie war eine Tochter des Kleinbauern Johann Baptist Pölzl und seiner Frau Johanna, die wiederum eine Tochter von Johann Nepomuk Hüttler, dem Ziehvater von Alois Schicklgruber, war.[69] Das heißt: Nach der Ehelichkeitserklärung von 1876 waren Alois Hitler und Klara Pölzl Vetter und Cousine zweiten Grades. (Sollte Nepomuk Alois’ Erzeuger gewesen sein, wäre die verwandtschaftliche Beziehung sogar noch enger gewesen.) Als Fanni im August 1884 mit nur 23 Jahren starb, war Klara Pölzl bereits von Alois schwanger. Man beschloss daher, nicht das übliche Trauerjahr abzuwarten, sondern sofort zu heiraten. Doch das war nicht so einfach, denn der örtliche Pfarrer verweigerte wegen der zu engen Verwandtschaft die Zustimmung. Alois Hitler reichte daher beim Bischöflichen Ordinariat in Linz ein Gesuch um Dispens ein; erst nach einigem Hin und Her wurde er gewährt.[70] Am 7. Januar 1885 konnte das Paar endlich heiraten.

Klara Hitler gebar in rascher Folge drei Kinder – Gustav 1885, Ida 1886, Otto 1887. Alle drei starben schon früh, was selbst in Zeiten hoher Kindersterblichkeit ungewöhnlich war. Am 20. April 1889, gegen 18.30 Uhr, brachte sie im zweiten Stock eines Gasthofes in Braunau, Salzburger Vorstadt Nr. 219, wo sich die Hitlers einquartiert hatten, ihr viertes Kind zur Welt. Unter dem Namen Adolf wurde es am Ostermontag getauft.[71] Seine Mutter war zu diesem Zeitpunkt 28, sein Vater 51 Jahre alt.

Abb. 2: Der Vater: Alois Hitler (vormals Schicklgruber) (1837–1903) in der Uniform eines Zollbeamten, um 1880

Über die frühen Jahre Adolf Hitlers gibt es kaum authentische Zeugnisse. Was Hitler selbst im ersten Kapitel von »Mein Kampf« über sein Elternhaus mitteilt, ist ein wohlkalkuliertes Gemisch aus Halbwahrheiten und Legenden, mit dem der in der Festung Landsberg einsitzende Putschist von 1923 bemüht war, sich selbst in ein günstiges Licht zu setzen und seine politische Berufung zum »Führer« eines neuen Großdeutschen Reiches glaubhaft zu machen. Private Dokumente, die vielleicht wahrheitsgetreuen Aufschluss auch über Kindheit und Jugend hätten geben können, ließ Hitler nach 1933 beschlagnahmen und im April 1945, wenige Tage vor seinem Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei, durch seinen Adjutanten Julius Schaub vernichten.[72] So stammen die meisten Informationen aus zweiter Hand, aus Aufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitgenossen und Weggefährten, die zu einem späteren Zeitpunkt verfasst wurden, also aus quellenkritischer Sicht nur mit Vorsicht herangezogen werden können, weil in sie bereits Kenntnisse über den weiteren Lebensweg des Adolf Hitler eingeflossen sind.[73]

»Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies«, lässt Hitler »Mein Kampf« beginnen. »Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint.«[74] In Hitlers Kindheit spielte Braunau allerdings keine große Rolle. Denn schon 1892 wurde der Vater, inzwischen zum »Zollamts-Oberoffizial« befördert, nach Passau, auf der deutschen Seite der Grenze, versetzt. Die Jahre dort hinterließen Spuren in der Sprachentwicklung des Jungen. Er eignete sich den niederbayerischen Akzent an, den er beibehielt und der einen Teil seiner Wirkung als Münchner Bierkelleragitator in den frühen zwanziger Jahren erklärt.[75]

Hitler hat später gern den Eindruck erweckt, als sei er in materiell beengten Verhältnissen aufgewachsen.[76] Doch davon konnte keine Rede sein. Als »Zollamts-Oberoffizial« bezog Alois Hitler ein Jahresgehalt von 2600 Kronen – so viel wie damals ein Schuldirektor. Und auch als er 1895, im Alter von 58 Jahren, in den Ruhestand ging, kam er noch auf eine Pension von 2200 Kronen, stand sich also kaum schlechter als vorher.[77] Die Familie Hitler zählte demnach zum wohlsituierten Mittelstand. Dem Haushalt gehörten neben Alois und Klara die beiden Kinder aus zweiter Ehe, Alois und Angela, an, dazu Adolf, sein 1894 geborener Bruder Edmund (der 1900 an Masern erkrankte und starb) sowie die 1896 geborene Schwester Paula. Außerdem lebte als wichtige Hilfe noch eine jüngere Schwester Klaras, die ledige Johanna Pölzl, in der Wohnung – die »Hanni«-Tante, die einen Buckel hatte und offenbar auch geistig leicht behindert war.[78]

Abb. 3: Adolf Hitler als Kleinkind, 1891

Im Kreise dieser Familie wirkte Alois Hitler als strenger, leicht aufbrausender Hausvater. Von seinen Kindern forderte er unbedingten Respekt und Gehorsam und griff, wenn sie ihm nicht entgegengebracht wurden, gern zum Rohrstock. Vor allem der älteste Sohn Alois hatte unter dem väterlichen Jähzorn zu leiden (weshalb er auch schon mit vierzehn Jahren das Elternhaus verließ), aber auch der sieben Jahre jüngere Adolf scheint gelegentlich geschlagen worden zu sein. Dass er »jeden Tag eine richtige Tracht Prügel« bekommen habe, wie Schwester Paula bei einem Verhör im Mai 1946 berichtete, dürfte indes eine Übertreibung sein.[79] Denn der »Zollamts-Oberoffizial« kümmerte sich im Grunde wenig um die Erziehung der Kinder. Viel lieber widmete er sich nach dem Dienst seinem Hobby, der Bienenzucht, oder er ging ins Gasthaus, um bei einigen Gläsern Bier mit Bekannten über die Weltlage zu diskutieren.[80] Gegenüber späteren Berichten Adolf Hitlers, sein Vater habe dem Alkohol übermäßig zugesprochen – einmal habe er ihn sogar betrunken aus dem Gasthaus nach Hause bringen müssen –, ist Skepsis angebracht.[81] Sie entsprachen der Absicht, das Bild des Vaters eher in düsteren Farben zu malen, um dagegen das der Mutter umso heller erstrahlen zu lassen. Nach einem Gespräch mit dem »Führer« im August 1932 notierte der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels: »Hitler hat fast genau dieselbe Jugend durchgemacht wie ich. Der Vater Haustyrann, die Mutter eine Quelle der Güte und Liebe.«[82]

Klara Hitler war eine stille, bescheidene, fügsame Frau, welche die selbstherrlichen Allüren ihres Ehemannes klaglos ertrug und die Kinder, so gut es irgend ging, vor dessen Wutausbrüchen in Schutz zu nehmen suchte. Der frühe Tod ihrer ersten drei Kinder war für sie ein herber Verlust. Umso mehr war sie bemüht, ihr viertes Kind Adolf mit liebevoller Fürsorge zu umhegen. Er war ihr verhätschelter Liebling, während sich die beiden Stiefkinder, Alois und Angela, manchmal vernachlässigt fühlten. »Er wurde vom frühen Morgen bis in die späte Nacht verwöhnt«, gab William Patrick Hitler, der Sohn von Alois jr., im September 1943 in New York zu Protokoll, »und die Stiefkinder mußten sich endlose Geschichten anhören, wie wunderbar Adolf war.«[83]

Für den jungen Hitler bedeutete die Zuwendung der Mutter einen Ausgleich für die oft übergroße Strenge des Vaters. »Kein einziges Mal, daß er von seiner Mutter anders als in tiefer Liebe gesprochen hätte«, berichtet August Kubizek.[84] Auch in späteren Jahren trug er ein kleines Foto Klara Hitlers in seiner Brusttasche mit sich. Und ein in Öl gemaltes Porträt der Mutter zählte zu den wenigen persönlichen Gegenständen, die Hitler bis zuletzt in seinem Schlafraum aufbewahrte.

Die ersten Lebensjahre gelten nach den Annahmen der Psychoanalyse als entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit. Nur wenige Historiker, Psychohistoriker zumal, haben daher der Versuchung widerstanden, im jungen Hitler bereits Züge des späteren Monsters entdecken zu wollen. So hat man etwa die Gewalterfahrung, der das Kind durch den Vater ausgesetzt gewesen sei, als eine der Ursachen für die mörderische Politik des Diktators interpretiert.[85] Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. Ein autoritär-repressiver Vater und eine liebevoll-ausgleichende Mutter – diese Konstellation war in Mittelstandsfamilien um die Jahrhundertwende keineswegs ungewöhnlich. Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen. Wenn es ein Problem gab, dann war es wohl nicht ein Zuwenig, sondern eher ein Zuviel an mütterlicher Zuwendung und Nachsicht. Möglicherweise hat das dazu beigetragen, im jungen Hitler ein zur Selbstüberschätzung neigendes Ego auszubilden, einen Hang zur Rechthaberei, verbunden mit der Unlust, sich unangenehmen Anstrengungen zu unterwerfen. Bereits während seiner Schulzeit traten diese Charaktermerkmale deutlich hervor.

1895, im Jahr seiner Pensionierung, erwarb Alois Hitler einen Hof in Hafeld, einem Ortsteil der Gemeinde Fischlham nahe bei Lambach. In der einklassigen Dorfschule von Fischlham wurde der sechsjährige Hitler im Mai 1895 eingeschult. »Ich hörte dort, als ich in der untersten Klasse war, schon immer bei den Schülern der zweiten Klasse mit, und später bei der dritten und vierten.«[86]1897 verkaufte der Vater den Hof und mietete eine Wohnung in Lambach, wo der Achtjährige die Volksschule und für kurze Zeit auch die Sängerknabenschule des Benediktinerklosters besuchte. Bereits im Herbst 1898 zog die Familie wieder um, diesmal nach Leonding, einem Dorf bei Linz. Hier hatte Alois Hitler ein Haus in unmittelbarer Nähe des Friedhofs gekauft, Es sollte später, nach dem »Anschluss« Österreichs, zur Wallfahrtsstätte werden. »Ganz klein und primitiv«, bemerkte Propagandaminister Goebbels bei einem Besuch im März 1938. »Man führt mich in das Zimmer, das sein Reich war (…) Hier also wurde ein Genie. Mir ward ganz groß und feierlich zu Mute.«[87]

Adolf Hitler war ein aufgeweckter Schüler, der die Anforderungen auch in der Volksschule Leonding spielend bewältigte und nur die besten Zensuren nach Hause brachte. »Das lächerlich leichte Lernen in der Schule gab mir so viel freie Zeit, daß mich mehr die Sonne als das Zimmer sah«, schrieb er in »Mein Kampf« über diese unbeschwerten Jahre.[88] Mit den Dorfjungen tobte er sich beim Kriegsspielen aus, wobei er selbst gern das Kommando übernahm. »Damals war Burenkrieg«, erzählte später ein Banknachbar der Leondinger Schulzeit. »Wir Leondinger waren unter Führung Hitlers die Buren, die Untergamberger waren die Engländer. Da ist es oft sehr heiß hergegangen, auch nach der Schlacht daheim bei Hitlers Vater, weil unser Feldherr Adolf seinen Vater immer so lange auf den Tabak warten ließ, den er ihm besorgen sollte.«[89]

Abends verschlang er, wie viele Jungen seines Alters, die Bücher von Karl May – »bei Kerzenlicht und mit einer großen Lupe bei Mondlicht«, wie er im Februar 1942 in der »Wolfsschanze« in einem seiner Monologe über die Jugendzeit berichtete.[90] Noch im Krieg, gerade in schwierigen Situationen, soll Hitler immer wieder zu einem Karl-May-Band gegriffen und seiner Entourage Winnetou »geradezu (als) das Musterbeispiel eines Kompanieführers« vorgestellt haben.[91]

Sich selbst sah Hitler im Kreis seiner Leondinger Schulkameraden in der Rolle eines »kleinen Rädelsführers«,[92] und das Klassenfoto von 1899 scheint den Eindruck zu bestätigen: Der Zehnjährige steht hier in der Mitte der obersten Reihe, gleichsam in einer herausgehobenen Position, mit leicht blasiertem Gesicht, »in einer Geste demonstrativer Überlegenheit«.[93] Man sieht: Noch ist der Junge von keinem Selbstzweifel angekränkelt.

Abb. 4: Klassenfoto mit dem zehnjährigen Adolf Hitler (oben, Mitte), Leonding 1899

Abb. 5: Ausschnitt: der Knabe mit den verschränkten Armen

Doch mit dem Übergang zur Staats-Realschule in Linz im September 1900 fand die sonnenbeschienene Kindheit ein abruptes Ende. Für den Elfjährigen bedeutete dieser Wechsel einen Schulweg zu Fuß von einer Stunde hin und einer Stunde zurück. In der neuen Klasse war er nicht mehr der unbestrittene Wortführer, sondern nur noch einer von vielen, zudem in den Augen der Linzer Bürgersöhne mit dem Makel des Kindes vom Lande behaftet. Adolf Hitler fiel es offensichtlich schwer, sich in die stärker reglementierte Schulgemeinschaft einzufügen. Seine bisher so mühelos erbrachten schulischen Leistungen ließen nach. Bereits nach dem ersten Jahr 1900/01 blieb er mit einem »Ungenügend« in Mathematik und Naturgeschichte sitzen und musste die Klasse wiederholen. Auch in den folgenden beiden Schuljahren schaffte er die Versetzung nur mit Ach und Krach. Sein ehemaliger Klassenlehrer, Dr. Eduard Huemer, erinnerte sich 1924 an den »hageren blassen Jungen«, der zwar »entschieden begabt«, aber »nicht fleißig« gewesen sei. Bei »seinen unbestreitbaren Anlagen« hätte er »viel bessere Erfolge erzielen müssen«. »Widerborstig, eigenmächtig, rechthaberisch und jähzornig« sei er den Lehrern erschienen; auf ihre Belehrungen und Ermahnungen habe er »nicht selten mit schlecht verhülltem Widerwillen« reagiert.[94] Aus dem lebhaften, aufgeschlossenen Knaben war in den Jahren der Pubertät ein introvertierter, mürrischer Jugendlicher geworden, der sich in der Position des Außenseiters einrichtete.

In »Mein Kampf« hat Hitler sein schulisches Versagen als einen Akt der Auflehnung, nicht in erster Linie gegen die Lehrer, sondern gegen seinen Vater beschrieben. Der habe ihn, nach seinem Vorbild, in eine Beamtenlaufbahn hineindrängen wollen, gegen die sich alles in ihm gesträubt habe. »Ich wollte nicht Beamter werden, nein und nochmals nein (…) Mir wurde gähnend übel bei dem Gedanken, als unfreier Mann einst in einem Bureau sitzen zu dürfen; nicht Herr sein zu können der eigenen Zeit, sondern in auszufüllende Formulare den Inhalt eines ganzen Lebens zwängen zu müssen.«[95]

Gegen diese Darstellung sind zu Recht Zweifel angemeldet worden. Denn wenn Hitlers Vater tatsächlich die Absicht gehabt haben sollte, aus seinem Sohn einen Beamten zu machen, hätte er ihn wohl eher aufs humanistische Gymnasium und nicht auf die Realschule geschickt, die vor allem auf technische und kaufmännische Berufe vorbereitete.[96] Offenbar war es gerade das früh erkennbare Talent des Jungen zum Zeichnen, das diese Entscheidung beförderte. Dass Adolf Hitler allerdings, wie er in »Mein Kampf« behauptet, schon mit zwölf Jahren entschlossen gewesen sei, statt der Beamtenlaufbahn den Künstlerberuf zu ergreifen, und mit diesem Wunsch die erbitterte Ablehnung des Vaters provoziert habe – »Kunstmaler, nein, so lange ich lebe niemals!«[97] –, dürfte eher ins Reich der Legendenbildung gehören.

Anzunehmen aber ist, dass die Spannungen zwischen Vater und Sohn sich in dieser Zeit verschärften. Alois Hitler spürte, dass der Heranwachsende seiner Kontrolle entglitt und zunehmend Zeichen von Aufsässigkeit an den Tag legte. Was ihn erbitterte, war wohl nicht in erster Linie die Meinungsverschiedenheit über die berufliche Zukunft, sondern der deutlich gezeigte Unwille Adolfs, sich anzustrengen, um in der höheren Schule mitzukommen. Alois, das uneheliche Kind aus dem Waldviertel, hatte sich seinen Aufstieg hart erarbeiten müssen, und er erwartete von seinem Sohn, der unter günstigeren Umständen aufgewachsen war, dass er mit Fleiß und Beharrlichkeit den erreichten Status sichern, womöglich sogar noch ausbauen und eine Sprosse in der gesellschaftlichen Hierarchie erklimmen würde, die ihm selbst aufgrund von Herkunft und Bildung unerreichbar geblieben war. Stattdessen erwies sich der junge Hitler als überraschend faul und renitent und reizte damit seinen ehrgeizigen Vater bis aufs Blut.

Bevor der Konflikt sich weiter zuspitzen konnte, trat ein unerwartetes Ereignis ein: Am 3. Januar 1903 starb Alois Hitler im 65. Lebensjahr während eines Frühschoppens im Wirtshaus »Wiesinger« in Leonding – »uns alle in tiefstes Leid versenkend«, wie es in »Mein Kampf« heißt.[98] Für seine Frau, noch mehr aber für die Kinder bedeutete der plötzliche Tod des Haustyrannen wohl eher eine Erleichterung. Materiell war für die Familie gesorgt: Klara Hitler bezog eine Witwenpension, die ihr ein auskömmliches Leben gestattete.[99] Die Sommerferien verbrachte sie mit Adolf und Paula zumeist bei ihrer zweiten Schwester Theresia in Weitra. Deren Kinder berichteten später, dass der junge Hitler wohl manchmal mit ihnen gespielt, sich am liebsten aber abgesondert habe, um zu malen und zu zeichnen oder in einem der Bücher zu lesen, die er stets mitbrachte.[100]

Seine schulischen Leistungen allerdings verbesserten sich nicht. Im Schuljahr 1903/04 wurde er nur nach einer Nachprüfung und unter der Auflage versetzt, dass er die Schule wechselte. Seine Mutter meldete ihn daraufhin in der 80 Kilometer entfernten Realschule in Steyr an und brachte ihn bei Pflegeeltern unter. Zum ersten Mal war Adolf Hitler für längere Zeit von seiner Mutter getrennt, und er litt offensichtlich unter Heimweh. Noch als Reichskanzler klagte er darüber, »wie er sich gesehnt und zergrämt« habe, »als seine Mutter ihn nach Steyr schickte«.[101] Einer seiner damaligen Lehrer erinnerte sich an den »mittelgroßen, etwas blassen Schüler«, der wohl bedingt »durch den ersten Aufenthalt in der Fremde (…) ein etwas scheues, gedrücktes Benehmen an den Tag legte«.[102] Doch lange musste er nicht in der oberösterreichischen Stadt zubringen. Im Herbst 1905, nach abermals mäßigen Leistungen, konnte er seine Mutter, eine Krankheit vortäuschend, davon überzeugen, ihn endlich von der Schule zu nehmen. Zurück blieb ein elementarer Hass auf Schule und Lehrer. »Die Lehrer, ich kann sie nicht leiden. Die wenigen, die gut waren, bestätigen die Regel.«[103] Zu diesen wenigen zählte Hitler seinen Geschichtslehrer in der Linzer Realschule, Dr. Leopold Poetsch, der es, wie er in »Mein Kampf« lobend hervorhob, verstanden habe, »durch eine blendende Beredsamkeit nicht nur zu fesseln, sondern wahrhaft mitzureißen«.[104]

Als der Schulabbrecher in den Kreis der Familie zurückkehrte, hatte Klara Hitler bereits das Haus in Leonding verkauft und im Juni 1905 in Linz in der Humboldtstraße 31 eine Wohnung gemietet. Da Stieftochter Angela kurz zuvor den Beamten Leo Raubal geheiratet hatte und zu ihm gezogen war, teilten sich nur noch vier Personen die Wohnung: die Mutter, Sohn Adolf, Schwester Paula und die »Hanni«-Tante. Dazu kam zeitweilig noch ein Kostgänger, der Schüler Wilhelm Hagmüller aus Leonding, der bei der Familie zu Mittag aß.

Linz, die Landeshauptstadt von Oberösterreich, zählte um 1900 rund 60000 Einwohner. Viele stammten, wie die Familie Hitler, aus den umliegenden ländlichen Gebieten. Bedingt durch die günstige Lage am rechten Ufer der Donau, hatte sich die Stadt zu einem Eisenbahnknotenpunkt entwickelt. Hauptattraktion war um die Jahrhundertwende der neue Bahnhof. Hier hielten die Schnellzüge, die Wien und München verbanden. Für eine ländlich geprägte Provinzstadt war das kulturelle Angebot beeindruckend. In der Zeit, als die Hitlers nach Linz zogen, schuf August Göllerich, der Leiter des Konservatoriums, ein beachtliches Opernrepertoire und erwarb sich den Ruf eines vorzüglichen Interpreten der Werke von Liszt, Wagner und Bruckner.[105]

Im Rückblick erschienen Hitler die beiden Jahre, die er bis zu seinem Weggang nach Wien in Linz verlebte, »nahezu als ein schöner Traum«.[106] Es waren Tage eines gepflegten Müßiggangs. In eine Lehre zu gehen, dieser Gedanke lag ihm gänzlich fern. Tagsüber verbrachte der Sechzehnjährige die meiste Zeit in seinem kleinen Kabinett mit Zeichnen, Malen und Lesen. Oder er promenierte, sorgfältig gekleidet, in der dandyhaften Attitüde eines Studenten, einen schwarzen Spazierstock mit zierlichem Elfenbeingriff schwingend, auf der Linzer Hauptstraße, die vom Bahnhof zur Donaubrücke führte.[107] Abends besuchte er gern eine Openaufführung im Linzer Landestheater, und hier begegnete er vermutlich Ende 1905 August Kubizek, Sohn eines Tapezierers und Polsterers, mit dem er sich anfreundete.[108]

Im Herbst 1953, drei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Kubizek seine Erinnerungen an den »Jugendfreund«. Sie sind insofern von besonderer Bedeutung, als sie das einzige umfangreichere Zeugnis darstellen, das über die Linzer Jahre des jungen Hitler Auskunft gibt. Allerdings muss man sie kritisch lesen, da sie auf eine frühere, kürzere Fassung zurückgehen, die Kubizek 1943 im Auftrag von Hitlers Sekretär Martin Bormann für das Parteiarchiv der NSDAP geschrieben hatte. So schlägt denn auch die Bewunderung für den späteren »Führer« immer wieder durch. Manche Episode hat Kubizek in der nach dem Krieg publizierten Version ausgeschmückt, das eine oder andere Detail auch falsch erinnert, doch im Wesentlichen handelt es sich um eine glaubwürdige Quelle.[109]