Otto von Bismarck - Volker Ullrich - E-Book

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Volker Ullrich

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Otto von Bismarck war ein Staatsmann, dessen politische Bedeutung seit jeher höchst kontrovers beurteilt wird. Die einen verehren ihn als «Reichsgründer» und begnadeten Diplomaten; die anderen verdammen ihn als reaktionären Junker und unbelehrbaren Sozialistenfeind. Seit der unverhofften Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die aus der Trümmermasse des von Bismarck geschaffenen Reiches hervorgegangen waren, wird über die historische Rolle des «Eisernen Kanzlers» neu nachgedacht. Die Zeit scheint reif für eine unvoreingenommene Bewertung Bismarcks – jenseits der gängigen Klischees, die sein Bild über Jahrzehnte hin verzerrt haben. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Volker Ullrich

Otto von Bismarck

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Über dieses Buch

Rowohlt E-Book MonographieOtto von Bismarck war ein Staatsmann, dessen politische Bedeutung seit jeher höchst kontrovers beurteilt wird. Die einen verehren ihn als «Reichsgründer» und begnadeten Diplomaten; die anderen verdammen ihn als reaktionären Junker und unbelehrbaren Sozialistenfeind. Seit der unverhofften Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die aus der Trümmermasse des von Bismarck geschaffenen Reiches hervorgegangen waren, wird über die historische Rolle des «Eisernen Kanzlers» neu nachgedacht. Die Zeit scheint reif für eine unvoreingenommene Bewertung Bismarcks – jenseits der gängigen Klischees, die sein Bild über Jahrzehnte hin verzerrt haben.

Über Volker Ullrich

Dr. Volker Ullrich, geb. 1943, studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. Er lebt als Historiker und Publizist in Hamburg. Von 1990 bis 2009 betreute er das «Politische Buch» bei der Hamburger Wochenzeitung «DIE ZEIT». Er ist Autor der «ZEIT» und Herausgeber des Magazins «ZEIT-Geschichte».

Inhaltsübersicht

EinleitungFrühe PrägungenDer tolle JunkerWege in die PolitikDiplomatische LehrjahreMinisterpräsident auf Abruf«Aber besiegt habe ich Alle! Alle!»Der ReichsgründerKonsolidierung und BewahrungDer lange Abschied von der MachtDie letzten JahreBilanzZeittafelZeugnisseBibliographie1. Bibliographien, Forschungsberichte, Hilfsmittel2. Werke3. Biographien, Gesamtdarstellungen4. Bismarck und die Zeitgenossen: Erinnerungen, Briefe, Tagebücher, Darstellungen5. Aufsatzsammlungen, EinzelstudienNamenregisterAbkürzungsverzeichnis

Einleitung

Wer als Politiker lange Zeit große Macht besessen und sie plötzlich verloren hat, den drängt es in aller Regel, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen – nicht nur in der Absicht, der Nachwelt ein möglichst glorreiches Bild der eigenen Leistung zu überliefern, sondern um mit den politischen Widersachern von einst abzurechnen. So war es auch im Falle des gestürzten Reichskanzlers Otto von Bismarck. Am 16. März 1890, einen Tag nach dem definitiven Bruch mit dem jungen Kaiser Wilhelm II., eröffnete er einem Besucher: Ich will jetzt meine Memoiren schreiben.[1] In der Reichskanzlei stapelten sich derweil schon die Kisten mit geheimen Unterlagen, die Bismarck in den nächsten Wochen nach Friedrichsruh, seinem Alterssitz im Sachsenwald vor den Toren Hamburgs, schaffen ließ.

Zu seinem Gehilfen erkor sich der Fürst den Alt-Achtundvierziger Lothar Bucher, den er 1864 als Legationsrat im Auswärtigen Amt eingestellt und der ihm dort treu gedient hatte. Ohne Buchers Drängen wäre Bismarcks Memoirenwerk vermutlich nie zustande gekommen.[2] Denn der Ex-Kanzler war häufig lustlos. Stundenlang konnte er auf der Chaiselongue liegen, in Zeitungslektüre vertieft, während sein Eckermann mit gespitztem Bleistift und gespitzten Ohren am Tisch saß. Und wenn der störrische Alte endlich zu diktieren begann, dann erzählte er so sprunghaft, so lückenhaft, ständig Historie und tagespolitische Reflexion vermischend, dass Bucher darüber schier in Verzweiflung geriet. «Nicht nur, daß sein Gedächtnis mangelhaft und sein Interesse für das, was wir fertig haben, gering ist», klagte er im Januar 1892, «sondern er fängt an, auch absichtlich zu entstellen, und zwar selbst bei klaren, ausgemachten Tatsachen und Vorgängen. Bei nichts, was mißlungen ist, will er beteiligt gewesen sein, und niemand läßt er neben sich gelten.»[3] An Bucher lag es, Ordnung ins Chaos der Diktate zu bringen, die gröbsten Fehler zu korrigieren und aus den Fragmenten überhaupt erst eine druckfertige Fassung zu erstellen. Als er im Oktober 1892 in einem Hotel am Genfer See verstarb, war das Ganze allerdings noch längst nicht vollendet.

Bis zu seinem eigenen Tod am 30. Juli 1898 hat Bismarck an den bereits fertiggestellten Teilen immer wieder herumgebessert, das Werk aber nicht mehr fortgesetzt. Die ersten beiden Bände der Gedanken und Erinnerungen erschienen Ende November 1898 bei Cotta (der dritte Band, in dessen Mittelpunkt Wilhelm II. und die Vorgänge um die Entlassung Bismarcks standen, kam erst nach dem Ende des Kaiserreichs, im September 1921, heraus); der Erfolg übertraf alle Erwartungen: «In den Buchhandlungen», notierte Baronin Hildegard von Spitzemberg, «prügelt man sich um Bismarcks Erinnerungen. […] Längst ist die Auflage von 100000 Exemplaren vergriffen, und Cotta kann auch nicht annähernd nachliefern, was gefordert wird.»[4]

Bismarck war in den letzten Jahren seines Lebens bereits zu einem Denkmal seiner selbst geworden, und seine Memoiren hatten an der Überhöhung seiner historischen Bedeutung ins Mythische einen nicht geringen Anteil. Der Bismarck-Orthodoxie, welche die deutsche Geschichtsschreibung bis 1945 klar dominierte, lieferten sie einen unerschöpflichen Zitatenvorrat, und sie bestimmten das Bild, das viele national gesinnte Deutsche sich vom Gründer des ersten, des kleindeutsch-großpreußischen Nationalstaats machten. Ein nüchterner, unverstellter Blick auf diese für die deutsche Geschichte so wirkungsmächtige Figur wurde dadurch lange Zeit erschwert. Mag man sich auch heute noch an der literarischen Qualität mancher Partien erfreuen – als historische Quelle sind Bismarcks Erinnerungen nur unter großem Vorbehalt zu benutzen.

Der lange vorherrschenden Heroisierung Bismarcks entsprach – als ihre Kehrseite – eine Dämonisierung, die, wie der Journalist Maximilian Harden bereits 1896 kritisch anmerkte, «in ihm stets den pechschwarzen und teuflisch klugen Fabelmachiavell» sehen wollte, «den die Laune anwandelte, sich als schwefelgelben Kürassier zu verkleiden»[5]. Nach 1945 war die Neigung, Bismarck zum großen Täter zu stilisieren, der für alle Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts haftbar zu machen sei, zunächst weit verbreitet, und sie findet auch heute noch gelegentlich Fürsprecher.[6] Doch die moderne Geschichtswissenschaft hat sich von derlei positiven wie negativen Legendenbildungen gleichermaßen weit entfernt. Mittlerweile gibt es drei große Bismarck-Biographien, die je auf ihre Weise bedeutende historiographische Leistungen darstellen.

Den Auftakt machte 1980 der Frankfurter Historiker Lothar Gall. Ihm gelang als Erstem das Kunststück, zwischen der Skylla der Bismarck-Verehrung und der Charybdis der Bismarck-Verdammung souverän hindurchzusteuern und den Mann bemerkenswert kritisch unter den Bedingungen seiner Zeit zu betrachten: ein großer Beweger, aber auch ein Gefangener der von ihm bewirkten Umwälzungen; ein Erzroyalist, der die konservativen Strukturen Preußens bewahren wollte und doch den ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess entscheidend vorangetrieben hat – kurz: ein «weißer Revolutionär» (wie der einem Essay Henry Kissingers entlehnte Untertitel lautete), der am Ende, einem Zauberlehrling gleich, die Kräfte, die er gerufen hatte, nicht mehr zu bändigen vermochte.[7]

1985 erschien, zeitgleich im Ost-Berliner Akademie-Verlag und im West-Berliner Siedler Verlag, der erste Band von Ernst Engelbergs Bismarck-Biographie. Er wurde seinerzeit zu Recht als ein gesamtdeutsches Ereignis gefeiert. Wie ein führender Historiker der DDR und bekennender Marxist sich hier dem zuvor als stockreaktionär verschrienen «Urpreußen» näherte, so verständnis-, ja manchmal liebevoll, wie es kaum einer seiner westdeutschen Kollegen noch gewagt hätte, das musste Verwunderung erregen. Man konnte das Buch durchaus lesen als vorsichtigen Versuch, sich bei Aneignung des «historischen Erbes» wieder auf gemeinsame nationale Traditionsbestände zurückzubesinnen. In gewisser Weise präludierte der erste Band, was mit dem Erscheinen des zweiten im Jahre 1990 bereits Wirklichkeit geworden war: den Zusammenbruch der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, die aus der Konkursmasse des von Bismarck geschaffenen Reiches hervorgegangen waren.[8]

Die große Bismarck-Trilogie des amerikanischen Historikers Otto Pflanze, die 1990 abgeschlossen vorlag (und 1997/98 in deutscher Übersetzung herausgebracht wurde), unterscheidet sich von den Werken Galls und Engelbergs vor allem dadurch, dass sie viel stärker als diese die komplizierte Persönlichkeit des Reichsgründers in den Blick nimmt. Pflanze scheut nicht davor zurück, Bismarck gewissermaßen auf die Couch zu legen und ihn mit den Augen eines Psychoanalytikers zu betrachten. Dabei gelangt er unter anderem zu interessanten Befunden über den Zusammenhang zwischen Bismarcks nervöser Konstitution und seinem politischen Verhalten.[9] Das Problem dieses psychohistorischen Ansatzes besteht allerdings darin, dass man dabei häufig auf bloße Vermutungen angewiesen ist. Denn es gibt Bereiche in Bismarcks Seelenleben, die er auch vor seinen nächsten Angehörigen streng verborgen hielt. Faust klagt über die zwei Seelen in seiner Brust; ich beherberge aber eine ganze Menge, die sich zanken. Es geht da zu wie in einer Republik, gestand er einmal einem Vertrauten. Das meiste, was sie sagen, teile ich mit. Es sind da aber auch ganze Provinzen, in die ich nie einen andern Menschen werde hineinsehen lassen.[10] Auch ein psychoanalytisch geschulter Historiker wird kaum jemals alle Facetten in Bismarcks vielschichtiger Persönlichkeit aufschließen können. Deshalb bleibt gültig, was ein Autor bereits 1910 schrieb: «Man wird mit Bismarck wie mit Friedrich dem Großen und Goethe nie fertig. Jeder gestaltet sich im Grunde von solchen Männern eine eigene Biographie.»[11]

Frühe Prägungen

Es überrascht, wie oft und unvermittelt Bismarck im fortgeschrittenen Alter, inzwischen zum erfolgreichsten europäischen Politiker avanciert, auf seine Kindheit und Jugend zu sprechen kam. Dieses Mitteilungsbedürfnis entsprang seiner Überzeugung, daß niemand den Stempel wieder verliert, den ihm die Zeit der Jugendeindrücke aufprägt[12]. Es waren nicht nur freundliche Gedanken, die den Reichskanzler im Rückblick auf seine frühen Jahre überkamen.

Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 in Schönhausen nahe der Elbe geboren – in jenem Wendejahr, als der Usurpator Napoleon endgültig besiegt und auf dem Wiener Kongress das europäische Gleichgewicht im Zeichen einer monarchischen Restauration wiederhergestellt wurde. In der Mitte des Kontinents entstand kein deutscher Nationalstaat, wie ihn sich mancher Patriot in den «Befreiungskriegen» gegen Napoleon erträumt hatte, sondern ein lockerer Zusammenschluss von 34 Einzelstaaten (und vier Reichsstädten), der Deutsche Bund, in dem die beiden Vormächte Österreich und Preußen den Ton angaben. Den österreichisch-preußischen Dualismus sollte erst Bismarck 1866 gewaltsam lösen und damit auch das System des Deutschen Bundes unwiderruflich zerstören.

Die Erzählungen der Älteren über die Zeit der Franzosenherrschaft begleiteten Bismarcks Kindheit. Seine Eltern waren gerade einige Monate verheiratet, als im Oktober 1806, nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt, französische Soldaten auch Schönhausen besetzten und Schloss und Dorf plünderten. «Zerrissen der preußische Staat, gekränkt, gedemütigt alles, was preußisch heißt», klagte ein Bruder des Vaters, Friedrich von Bismarck, nach dem Friedensschluss von Tilsit im Juli 1807[13], in dem Preußen seine westelbischen Gebiete abtreten musste. Es gewann sie zwar 1815, erweitert um einige Gebiete Westfalens und der Rheinprovinz, zurück, doch nach wie vor bildete Preußens Territorium keine Einheit, blieben die westlichen und östlichen Teile getrennt durch Hannover und Kurhessen. Diesen Zustand zu beenden, Preußens Macht in Deutschland zu vergrößern und seine Stellung in Europa auszubauen – das sollte zur wichtigsten Antriebskraft des Politikers Bismarck werden.

Stärker noch als durch die politische Epochenwende von 1815 wurde Bismarck durch die Besonderheiten seiner familiären Herkunft geprägt. Seine Eltern kamen aus recht unterschiedlichen Milieus. Der Vater, Ferdinand von Bismarck, war der Spross eines alteingesessenen Adelsgeschlechts in der Altmark, das den brandenburgischen und später preußischen Herrschern fleißig Offiziere gestellt, ansonsten sich aber nicht besonders hervorgetan hatte. Die Mutter, Wilhelmine Mencken, entstammte einer Familie von Gelehrten und hohen Beamten. Ihr Vater, Anastasius Ludwig Mencken (1752–1801), war noch von Friedrich dem Großen als Kabinettssekretär eingestellt worden und hatte es unter dessen Nachfolgern zum Kabinettsrat, zeitweilig sogar zum Leiter des Kabinetts gebracht. Was die erst siebzehnjährige Tochter dieses gebildeten, weltläufigen Beamten dazu bewogen haben mochte, dem um achtzehn Jahre älteren Landjunker 1806 das Jawort zu geben, ist nicht ganz klar. Offenbar geschah dies auf sanften Nachdruck der Familie hin.[14] Es wurde keine glückliche Ehe. Zwar war Ferdinand von Bismarck ein gutmütiger, keineswegs tyrannischer Patriarch, doch sein geistiger Horizont als preußischer Landedelmann war zu beschränkt, als dass er seiner intellektuell aufgeschlossenen Frau hätte Anregungen bieten können. Diese flüchtete sich, je länger desto mehr, aus ihrer unbefriedigenden Situation in Unpässlichkeiten und Krankheiten. Ottos Cousine Hedwig, eine Spielgefährtin seiner Kindheit, erinnerte sich noch Jahrzehnte später daran, dass Bismarcks Mutter «viel elend und teilnahmslos» gewesen sei. «Das heute so allgemeine Wort ‹nervös› habe ich, als ich erwachsen war, zum erstenmal über diese Frau aussprechen hören. Allgemein sagte man, sie mache sich selbst durch Nervosität das Leben schwer und mehr noch ihrem Mann und ihren Kindern.»[15]

Otto von Bismarck war das vierte von sechs Kindern, von denen nur drei – außer ihm der ältere Bruder Bernhard (geboren 1810) und die jüngere Schwester Malwine (geboren 1827) – die ersten Jahre überlebten. Viel ist darüber spekuliert worden, welcher Erbteil, der mütterliche oder der väterliche, bei ihm dominierte. Vom Vater hatte er die große, kräftige Statur, dazu die lebenslange Affinität zur Welt des preußischen Landadels. In einem Brief an seine Braut Johanna von Puttkamer vom März 1847 äußerte er sich voller Stolz über dieses langjährige Walten des konservativen Prinzips hier im Hause, in welchem meine Väter seit Jahrhunderten in denselben Zimmern gewohnt haben, geboren und gestorben sind[16]. Doch über die Mutter kam ein Element in die Bismarck-Familie, das dieses ungebrochene Verhältnis zum väterlichen Erbe in Frage stellte. Von ihr hatte er den scharfen Verstand, die kühle Rationalität, gepaart mit sprachlicher Sensibilität, das labile Nervenkostüm, schließlich den unstillbaren Ehrgeiz, einmal den engen Lebenskreis zu durchbrechen, der die Existenz eines preußischen Landjunkers charakterisierte. Es waren also recht gegensätzliche Züge und Anlagen, die dem Kind dieses ungleichen Paares in die Wiege gelegt wurden. Nicht nur der schwankende, unsichere Weg des jungen Bismarck, auch manche Widersprüche in der Persönlichkeit des reifen Politikers haben hier ihre Wurzel.

Seine ersten Jahre verlebte Otto von Bismarck auf dem Gut Kniephof in Pommern, das der Vater 1816 zu günstigen Konditionen erworben hatte, ohne den Schönhausener Besitz aufzugeben. Für den ungebärdigen Knaben wurde Kniephof mit seinen alten Eichen und Buchen, seinen Wiesen und Fischteichen zum Paradies seiner Kindheit, in dem er nach Herzenslust herumtollen konnte. Hier wurde der Grund gelegt für Bismarcks Liebe zum Lande, zu Bäumen und Waldeseinsamkeit. Doch die ländliche Idylle endete abrupt. Anfang 1822 schickte die bildungsbeflissene Mutter, die ihren Söhnen eine Beamtenlaufbahn zudachte, den sechsjährigen Otto in die Plamann’sche Erziehungsanstalt nach Berlin, wo auch schon der ältere Bruder Bernhard eingeschult war.

Für den Jungen war der unvorbereitete Übergang in einen ganz neuen, von Zwang und Disziplin bestimmten Lebenskreis ein Schock, und noch im hohen Alter hat sich Bismarck mit steigender Erbitterung seiner Internatszeit erinnert: Meine ganze Kindheit hat man mir in der Plamannschen Anstalt verdorben, lautete die wiederkehrende Klage. Eine rücksichtslose Strenge habe dort geherrscht, ein künstliches Spartanertum. Niemals habe er sich richtig satt essen können; immer sei er rohen Mißhandlungen der Lehrer ausgesetzt gewesen, die vor allem die adligen Jungen gehasst und morgens mit Rappierstößen geweckt hätten. Die Plamannsche Anstalt lag so, daß man auf einer Seite ins freie Feld hinaussehen konnte. Am Südwestende der Wilhelmstraße hörte damals die Stadt auf. Wenn ich aus dem Fenster ein Gespann Ochsen die Ackerfurche ziehen sah, mußte ich immer weinen vor Sehnsucht nach Kniephof.[17]

Vermutlich ging es in der Plamann’schen Lehranstalt weniger streng und spartanisch zu, als es sich in der späteren Rückschau des preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzlers darstellte. Aber der an das ungebundene Leben auf Kniephof gewöhnte Junge reagierte offenbar auf Reglementierung und Dressur reizbarer als die meisten seiner Mitschüler. Sein früh erkennbarer Widerwille, Autoritäten anzuerkennen und sich Vorgesetzten unterzuordnen, hat sich, wie es scheint, erst durch die Erfahrungen der Schulzeit voll ausgebildet.

Für sein Unglück machte der Sohn die Mutter verantwortlich, bei der er die emotionale Zuwendung vermisste, die er doch als Ausgleich für die schulischen Exerzitien so dringend gebraucht hätte: Sie wollte, daß ich viel lernen und werden sollte, und es schien mir oft, daß sie hart und kalt gegen mich sei: als kleines Kind haßte ich sie, später hinterging ich sie mit Falschheit und Erfolg. In demselben Brief an seine spätere Frau vom 23. Februar 1847, in dem der Zweiunddreißigjährige dieses bemerkenswerte Geständnis über das gestörte Verhältnis zu seiner Mutter ablegte – sie war am 1. Januar 1839, noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, einem Krebsleiden erlegen –, äußerte er sich auch über die Beziehung zu seinem Vater: Meinen Vater liebte ich wirklich, wenn ich nicht bei ihm war, fühlte ich Reue über mein Benehmen gegen ihn, faßte ich Vorsätze, die wenig stand hielten; denn wie oft habe ich seine wirklich maßlose, uninteressierte, gutmütige Zärtlichkeit für mich mit Kälte und Verdrossenheit gelohnt, und noch öfter aus Abneigung, die mir anständig erscheinende Form zu verletzen, ihn äußerlich geliebt, wenn mein Inneres hart und lieblos war über anscheinende Schwächen, deren Beurteilung mir nicht zustand und die mich doch eigentlich nur ärgerten, wenn sie mit Formverletzung verbunden waren.[18]

Die etwas verklausulierten Wendungen lassen doch zur Genüge erkennen, was Bismarck an seinem Vater störte: Es war die derbe, etwas ungehobelte Art des preußischen Landedelmanns, die so sichtbar abstach von der kultivierten, formbetonten Lebensart der Mutter. Ein Vorbild konnte der liebenswürdige, aber schwache Vater nicht sein. Das war schon eher die Mutter, deren Werte der junge Bismarck trotz des Hasses, den er ihr gegenüber empfand, in einem stärkeren Maße verinnerlichte, als ihm selbst wohl bewusst war.

Erträglicher wurde für Bismarck die Lage, als er mit zwölfeinhalb Jahren auf das Gymnasium überwechselte. «Otto von Bismarck saß mit sichtlicher Spannung, klarem, freundlichen Knabengesicht und helleuchtenden Augen, frisch und munter unter seinen Kameraden», so hat ihn ein Lehrer damals erlebt.[19] Diesem Eindruck entspricht auch jenes berühmte Porträt des Berliner Hofmalers Franz Krüger aus dem Jahre 1826: Es zeigt Bismarck im damals modischen altdeutschen Schnürrock, ein Buch unter den Arm geklemmt, mit einem blonden Wuschelkopf, aus dem die auffallend wachen Augen mit einem leicht spöttischen Ausdruck hervorstechen.

Gleichzeitig mit dem Übergang auf die höhere Schule bezog Bismarck mit seinem älteren Bruder eine Wohnung, die seine Eltern in Berlin unterhielten. Umsorgt von einer Haushälterin, zusätzlich trainiert von Hauslehrern, entledigte sich der Gymnasiast der schulischen Anforderungen mit einer gewissen Nonchalance. Offenbar hat er so manche Gelegenheit genutzt, dem Unterricht fernzubleiben. Noch in seinem Abgangszeugnis hieß es unter der Rubrik Fleiß: «War zuweilen unterbrochen, auch fehlte seinem Schulbesuche unausgesetzte Regelmäßigkeit.»[20] Von Herbst 1827 bis 1830 besuchte Bismarck das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in der Friedrichstraße, danach bis zum Abitur im April 1832 das Gymnasium zum Grauen Kloster in der Klosterstraße. Es war die Blütezeit der neuhumanistischen Gymnasien in Preußen, doch lässt sich kaum behaupten, dass die humanistische Bildung Bismarck sonderlich beeinflusst und seine Persönlichkeit nachhaltig geformt hätte. Das Griechische hat er bald als gänzlich überflüssig bezeichnet; von der Nützlichkeit der lateinischen Lektüre blieb er hingegen überzeugt. Ihr entnahm er jene Sentenzen und Zitate, die er später mit Vorliebe in seine Reden und Briefe einfließen ließ. Doch: «Eine Lebensmacht ist das klassische Altertum, so vieles an Erinnerungen und Bildern in ihm haften blieb, für ihn nicht gewesen, weder als Quelle politischer und historischer Erkenntnisse noch als ästhetisch-ethisches Ideal.»[21]

Das Abiturzeugnis bescheinigte dem gerade Siebzehnjährigen «eine sehr erfreuliche Gewandtheit» im Deutschen, weiterhin, dass er «die französische und englische Sprache mit besonderem Erfolge betrieben» habe.[22] Damit war eine der größten Begabungen Bismarcks von seinen Lehrern richtig erkannt worden: sein Gefühl für Sprachen, nicht nur für die eigene, sondern auch für fremde. Englisch und Französisch sprach er fließend; später, während seiner Zeit als Botschafter in St. Petersburg, erlernte er innerhalb kurzer Zeit auch noch das Russische. Und was die deutsche Sprache betrifft, so ist es wohl keine Übertreibung, wenn man ihn als einen der glanzvollsten Stilisten des Jahrhunderts bezeichnet. Nicht nur die Briefe an seine Braut und Gattin, auch viele seiner diplomatischen Schriftstücke und seiner Reden, dazu auch manche Partien seines Erinnerungswerks sind große Literatur, beeindruckend durch die Kraft, Elastizität und Anschaulichkeit der Sprache, die ihren Bilderreichtum vor allem aus der genauen Beobachtung des ländlichen Lebens schöpfte. Kein deutscher Regierungschef hat es ihm in dieser Kunst jemals wieder gleichgetan.

Generationen von Schülern kannten den ersten Satz in Bismarcks Gedanken und Erinnerungen auswendig: Als normales Produkt unsres staatlichen Unterrichts verließ ich 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei.[23] Doch dieses Urteil des alten Bismarck, sechzig Jahre später niedergeschrieben, war eine bewusste Verdrehung, darauf berechnet, die preußischen Schulen des Vormärz noch nachträglich allzu großer Sympathien mit aufklärerisch-liberalen Ideen zu bezichtigen. Von republikanischen Neigungen war auch der junge Bismarck weit entfernt, und das sollte sein ganzes Leben so bleiben. Richtiger war, was er wenige Zeilen später zu Papier brachte, dass die schulischen Einflüsse es nämlich nicht vermocht hätten, seine angeborenen preußisch-monarchischen Gefühle auszutilgen: Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Die unbedingte Loyalität zum preußischen Herrscherhaus, eine unverbrüchliche Treue zu den Traditionen landadliger Gutsherrschaft – das blieben Grundkonstanten in seinem Denken und Handeln.

Der tolle Junker

Am 10. Mai 1832 schrieb sich Bismarck an der Georgia-Augusta-Universität zu Göttingen ein. Es war nach der biedermeierlichen Windstille der zwanziger Jahre wieder eine politisch bewegtere Zeit. Im Juli 1830 hatte das System der Restauration mit dem Sturz der Bourbonen-Dynastie in Frankreich einen empfindlichen Stoß erlitten; die revolutionären Nachbeben waren überall in Europa spürbar. Auch in einigen Staaten des Deutschen Bundes kam es zu Unruhen und lokalen Aufständen. Ende Mai 1832 versammelten sich 30000 deutsche Demokraten auf dem Hambacher Schloss, um für Einheit und Freiheit zu demonstrieren. Knapp ein Jahr später, im April 1833, stürmten radikale Studenten die Frankfurter Hauptwache, um ein Fanal zu setzen gegen die Metternich’sche Repressionspolitik.

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich der frischimmatrikulierte «Studiosus der Rechte und Staatswissenschaften» in Göttingen durch die politischen Turbulenzen im Gefolge der französischen Julirevolution sonderlich hätte berühren lassen. Erscheinungen wie die Hambacher Feier und der Frankfurter Putsch waren ihm – wie er, in diesem Fall durchaus glaubwürdig, in seinen Erinnerungen versichert – äußerst zuwider: […] meiner preußischen Schulung widerstrebten tumultuarische Eingriffe in die staatliche Ordnung.[24] So war es auch nur konsequent, dass er sich nicht einer der Burschenschaften anschloss, die im Verdacht aufrührerischer Bestrebungen standen, sondern einem landsmannschaftlichen Corps, der Hannovera, deren Mitglieder vornehmlich aus hannoverschen Offiziers- und Beamtenfamilien stammten. Bismarck hat das rauf- und trinkfreudige Leben eines Corpsstudenten mit vollen Zügen genossen. Noch später rühmte er sich immer wieder, in drei Semestern achtundzwanzig Mensuren gehabt […] und immer gut davongekommen zu sein.[25] Schon durch sein extravagantes Äußeres erregte der hochaufgeschossene, damals noch recht schlanke junge Mann Aufsehen: Gekleidet in ein schlafrockähnliches Gewand, das ihm bis zu den Füßen reichte, gefolgt von einem riesigen, schwarz-gelben Hund – so suchte er seiner Umgebung zu imponieren.

Der stutzerhaften Attitüde entsprach ein Hang zur Großsprecherei: Ich werde entweder der größte Lump oder der erste Mann Preußens, soll er gegenüber seinen Göttinger Corpsbrüdern getönt haben.[26] Freilich, wer ihn näher kennenlernte, der entdeckte hinter der Pose des Draufgängers und Aufschneiders eine andere Seite – nämlich die eines ernsthaften, nachdenklichen jungen Mannes, der sich als ein in der Literatur und Geschichte gleichermaßen belesener Gesprächspartner entpuppte. Ein Mitstudent aus Amerika, John Lothrop Motley, mit dem sich Bismarck in Göttingen anfreundete und der ihn bei seinem Universitätswechsel nach Berlin im Herbst 1833 begleitete, hat in seinem 1839 erschienenen autobiographischen Roman «Morton’s Hope» in der Figur des Otto von Rabenmark ein Psychogramm des jungen Bismarck geliefert: «In der Kneipe und auf der Straße treibt der es toll; auf seinem Zimmer aber wirft er die Narrenkappe ab und redet plötzlich vernünftig.»[27]