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Volker Ullrich

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Napoleon Bonaparte zählt zu den faszinierendsten und zugleich irritierendsten Gestalten der Weltgeschichte. Sein kometenhafter Aufstieg aus dem Nichts zum Herrscher Frankreichs und zum Herrn über Europa, sein ebenso jäher Absturz und das leidvolle Ende auf der Felseninsel St. Helena haben seit je die Phantasie gereizt und die Historiker zu immer neuer Auseinandersetzung herausgefordert. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Volker Ullrich

Napoleon

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

EinleitungDer kleine KorseAufstieg mit FortuneGeneral des DirektoriumsVom Konsul zum KaiserDie Neuordnung EuropasIm Zenit der MachtDie Krise des napoleonischen SystemsDer UntergangDas Intermezzo der Hundert TageMartyrium auf Sankt HelenaDie LegendeErläuterung zu den AnmerkungenZeittafelZeugnisseBibliographie1. Bibliographien, Forschungsberichte, Wörterbücher2. Werke, Auswahleditionen3. Zeitgenossen, Familienclan4. Biographien5. Gesamtdarstellungen6. Einzelstudien, Aufsätze7. Wirkungsgeschichte
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Einleitung

Denn das Genie ist ein Meteor, dazu bestimmt zu verbrennen, um sein Jahrhundert zu erleuchten. So beschrieb ein junger, noch gänzlich unbekannter französischer Leutnant mit Namen Napoleon Buonaparte im Jahre 1791 in einem moralphilosophischen Essay die Rolle Alexanders des Großen.[1] Er dürfte kaum geahnt haben, dass er damit eine Selbstbeschreibung seines Lebens gab, wie sie treffender kein Historiker je hätte formulieren können. Kometengleich ging sein Stern auf – und ebenso rasch verglühte er. Aber die Spur, die er gezogen hatte, bestimmte die Geschicke Europas im 19. Jahrhundert, beschäftigte unaufhörlich die politischen Phantasien der Zeitgenossen und der Nachlebenden und lieferte den Geschichtsschreibern den Stoff, aus dem die Legenden gemacht werden.

Als Verbannter auf der Insel Sankt Helena sorgte sich der gestürzte Herrscher um seinen Nachruhm. Die Historiker, so äußerte er im Mai 1816, mögen noch so viel unterschlagen und verstümmeln, es wird ihnen doch schwerfallen, mich ganz verschwinden zu machen[2]. Von Verschwindenlassen konnte indes gar keine Rede sein – im Gegenteil: Über kaum eine historische Figur ist so viel geschrieben worden wie über Napoleon, und bei kaum einer schlägt das Pendel der Bewertung so heftig aus zwischen glühender Bewunderung und abgrundtiefer Verachtung. Auf über 80000 Bücher wird die Zahl der Veröffentlichungen geschätzt, und Jahr für Jahr kommen neue hinzu. Dennoch gibt es bislang keine Biographie, die beanspruchen könnte, Werk und Zeit Napoleons erschöpfend dargestellt zu haben. Vielleicht kann es sie auch gar nicht geben, weil die Beschäftigung mit diesem außerordentlichen Mann nie abgeschlossen sein wird. «Je mehr wir über ihn erfahren, desto weniger kennen wir ihn», urteilte der russische Emigrant und Napoleon-Verehrer Dmitri Mereschkowskij im Jahre 1928.[3] Womöglich liegt in diesem Paradox auch der Grund für die anhaltende Faszination, die der korsische General, der sich 1799 an die Macht putschte, um sich danach zum Herrn Europas aufzuschwingen, immer noch ausübt. Jede Generation ist im Grunde aufs Neue herausgefordert, sich mit ihm auseinanderzusetzen und sich ein eigenes Bild von ihm zu machen.

Es gibt also nicht ein Bild Napoleons, sondern viele Bilder, die jeweils auch von nationalen Faktoren abhängig sind. Aus der französischen Napoleon-Literatur ragt das Werk Georges Lefebvres hervor. 1935 in der Reihe «Peuples et civilisations» erschienen, fasste es den internationalen Forschungsstand zusammen. Lefebvre gelang mit seiner Biographie zugleich eine Synthese der Epoche, indem er Aufstieg und Fall Napoleons in die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat seiner Zeit einbettete. Dieser Klassiker der Geschichtsschreibung ist zu Recht als «das wichtigste und einflußreichste Napoleon-Buch des 20. Jahrhunderts»[4] bezeichnet worden. An zweiter Stelle zu nennen ist das Hauptwerk des derzeitigen Doyens der Napoleon-Forschung in Frankreich, Jean Tulard: «Napoleon oder der Mythos des Retters», 1977 erschienen und bereits ein Jahr später ins Deutsche übersetzt.[5] Stärker als Lefebvre rückte Tulard die vielschichtige Persönlichkeit Napoleons in den Vordergrund, ohne darüber die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen seiner Zeit zu vernachlässigen. Besonders wertvoll für jeden, der sich mit der Napoleon-Ära befasst, sind die jedem Kapitel angefügten kommentierten bibliographischen Bemerkungen, die über die wichtigste Literatur und die Streitfragen der Forschung informieren.

Auch in der angelsächsischen Geschichtsschreibung hält das Interesse an der Gestalt Napoleons unvermindert an. In den letzten Jahren sind zwei umfangreiche Biographien erschienen: zum einen das auf gründlichen eigenen Archivrecherchen beruhende Buch des amerikanischen Historikers Alan Schom, der allen Aspekten des Charakters und des Lebens gerecht werden möchte, am Ende allerdings aus seinem Abscheu keinen Hehl macht: «The most destructive man in European history since Attila the Hun was no more.»[6] Zum anderen das Werk des englischen Autors Frank McLynn, das jedoch unter einer manchmal allzu grobschlächtigen Verwendung psychoanalytischer Kategorien leidet.[7]

Erstaunlich frisch geblieben ist das Buch des niederländischen Historikers Jacques Presser aus dem Jahr 1956. Beherzter als die meisten seiner Vorgänger machte es sich daran, die Legenden um Napoleon zu zerstören, ohne das Bild des Herrschers, das dahinter sichtbar wurde, unnötig zu verzerren.[8] Unter den zahlreichen Darstellungen russischer Historiker bleibt bemerkenswert die Biographie von Albert S. Manfred von 1973 (1978 in deutscher Übersetzung in der DDR herausgekommen), die den Anspruch stellte, Napoleon «mit den Augen eines marxistischen Historikers des ausgehenden 20. Jahrhunderts» zu betrachten. Dass es dabei immer wieder zu ideologisch fixierten Urteilen kommt – etwa derart, dass der Usurpator «einer der hervorragendsten Vertreter der Bourgeoisie in einer Zeit war, als sie noch als junge, kühne und aufstrebende Klasse auftrat» –, mindert den Wert des ansonsten kenntnis- und materialreichen Buchs.[9]

Die Geschichte liebt es bisweilen, sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht.

Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen

Eine große Napoleon-Biographie, die den Vergleich mit Lefebvre und Tulard aufnehmen könnte, ist bislang auch von deutschen Historikern nicht geschrieben worden. Immer noch lesenswert ist die dreibändige Biographie, die der Wiener Historiker August Fournier bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts präsentierte und die seitdem mehrfach wiederaufgelegt wurde. Sehr eingängig und quellennah geschrieben, unternahm sie den Versuch, den «berühmtesten Emporkömmling aller Zeiten» jenseits von «verherrlichender Lobpreisung und vernichtender Verurteilung» zu würdigen, wobei sie insgesamt zu einem recht abwägenden Urteil gelangte. Die 2005 erschienene Napoleon-Biographie des Historikers und Journalisten Johannes Willms besticht ebenfalls durch eine umfassende Auswertung der Primärquellen, darunter die vielbändigen Korrespondenzen Napoleons und die schier unerschöpfliche Zahl von Memoiren seiner Zeitgenossen. Allerdings legt Willms den Akzent ganz auf die Persönlichkeit, die Strukturen der napoleonischen Ära bleiben schemenhaft. Während der Autor den Aufstieg des jungen Bonaparte mit unverkennbarer Sympathie begleitet, betrachtet er das Wirken Napoleons an der Spitze des Staates mit kritischer Distanz, ja bald mit unverhohlenem Abscheu.[10] So gilt für die deutsche Napoleon-Rezeption, was Friedrich Sieburg bereits 1956 in seinem Buch über das Intermezzo der «Hundert Tage» festgestellt hat: «Aber wer auch die Feder führen, wer auch die Stimme erheben mag, ein gelassenes Verhältnis zu Napoleon bringt kein Deutscher auf. Die besondere Art seiner Größe rührt in uns Saiten an, deren Schwingungen keine Harmonie ergeben.»[11]

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Der kleine Korse

Ich habe eine gewisse Vorahnung, daß diese kleine Insel Europa eines Tages in Staunen versetzen wird», schrieb Jean-Jacques Rousseau in seinem berühmten «Contrat social» von 1762, als er auf den «Mut und die Beharrlichkeit» des korsischen Volkes zu sprechen kam, «seine Freiheit wiederzuerlangen und zu verteidigen».[12] Sieben Jahre später, am 15. August 1769, wurde in Ajaccio, der größten Stadt auf Korsika, ein Mann geboren, der nicht nur Europa, sondern die ganze Welt in Erstaunen versetzen sollte: Napoleon Buonaparte.

Es wird berichtet, dass der Neuankömmling es besonders eilig hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Seine Mutter Letizia hatte am Feste Mariä Himmelfahrt die Messe besucht, als die Wehen einsetzten. Kaum war sie ins Haus zurückgekehrt, als sie schon einem gesunden Knaben das Leben schenkte. Dass sie auf einem Teppich niedergekommen sei, den Heldengestalten aus Homers «Ilias» schmückten, ist eine der vielen Legenden, die Napoleon selbst in Umlauf gebracht hat – und zwar in der Absicht, bereits seine frühen Lebensjahre mit Bedeutsamkeit aufzuladen.[13]

Napoleons Geburt fiel in eine Zeit, da Korsika seine Hoffnung auf eine autonome Entwicklung begraben musste. Im Mai 1768 hatte die Republik Genua, in deren Besitz die Insel seit dem 13. Jahrhundert war, ihre Souveränitätsrechte an Frankreich abgetreten. Die Korsen widersetzten sich der neuen Herrschaft, so wie sie den Genuesern getrotzt hatten, doch am 8. Mai 1769 erlitten sie in der Schlacht bei Pontenuovo eine vernichtende Niederlage. Pasquale Paoli, der Führer der korsischen Unabhängigkeitsbewegung, musste nach England fliehen. Zu den ersten prägenden Eindrücken in Napoleons Kindheit gehörten die Klagen über die verlorenen Freiheiten und die Opfer der französischen Besatzungsmacht. Ich kam auf die Welt, als das Vaterland zugrunde ging, so hat Napoleon selbst in einem Brief an Paoli vom 12. Juni 1789, den historischen Moment pathetisch überhöhend, geschrieben. Dreißigtausend Franzosen überschwemmten unsere Küsten, befleckten den Thron der Freiheit mit Strömen von Blut: das war das hassenswerte Schauspiel, das sich meinen jungen Augen bot. Die Schreie der Sterbenden, das Zittern der Unterdrückten, Tränen und Verzweiflung umgaben meine Wiege seit meiner Geburt.[14]

Der Vater Carlo Buonaparte – ein Spross aus niederem Adel angeblich toskanischen Ursprungs – war ein eifriger Parteigänger Paolis gewesen; doch nach 1769 wechselte er die Seiten und diente sich den neuen Herren aus Frankreich an. Die Belohnung blieb nicht aus. 1771 wurde der Advokat als Assessor in Ajaccio mit einem festen Jahresgehalt angestellt und bald darauf als Deputierter des korsischen Adels an den französischen Hof nach Versailles entsandt. Geregelte Einkünfte waren freilich auch notwendig, um die rasch wachsende Familie zu ernähren: Auf Joseph, den Ältesten (1768 geboren), und Napoleon folgten Lucien (1775), Elisa (1777), Louis (1778), Marie-Paolo, die spätere Pauline (1780), Maria-Annunziata, die spätere Caroline (1782), und Jérôme (1784).

Letizia Buonaparte war eine stadtbekannte Schönheit, die ihren Gatten 1764, im zarten Alter von vierzehn Jahren, geheiratet hatte. Sie erzog die wachsende Kinderschar mit liebevoller Strenge. Eine Mutter, wie es nur wenige gibt – eine herrliche Frau von vielem Verstande, so hat Napoleon sie noch kurz vor seinem Tode auf Sankt Helena gerühmt.[15] Ihrem zweiten Sohn «Nabulione», wie sie ihn auch noch rufen sollte, als er längst zum Ersten Konsul Frankreichs aufgestiegen war, zeigte sie sich in besonderer Weise zugetan. Dabei war er, glaubt man den Berichten, das schwierigste aller Kinder, von ungestümem Temperament, widerspenstig und jähzornig. Ich war ein eigensinniges Kind, erzählte er später. Nichts imponierte mir, nichts brachte mich aus der Fassung. Ich war zänkisch und kampfeslustig: ich fürchtete niemand. Den einen schlug ich, den anderen kratzte ich, und alle fürchteten mich. Mein Bruder Joseph hatte am meisten darunter zu leiden.[16] Besonders einen wichtigen Grundsatz suchte Letizia an ihre Kinder weiterzugeben: dass man als Familie stets zueinanderhalten und füreinander einstehen müsse. Das Denken in Begriffen des Clans zählte zum korsischen Erbe, das Napoleon auch als Kaiser der Franzosen niemals verleugnete.[17]

Von seinem Gönner, dem französischen Gouverneur auf Korsika Louis Charles Graf von Marbeuf, erbat Carlo Buonaparte Stipendien für seine beiden ältesten Söhne. Napoleon sollte in einer der königlichen Militärschulen Frankreichs untergebracht, Joseph auf den Priesterberuf vorbereitet werden. Im Dezember 1778 verließen sie die heimatliche Insel, um zunächst auf dem Collège von Autun die französische Sprache zu erlernen. Von hier aus kam Napoleon Mitte Mai 1779 nach Brienne – auf eine jener zwölf Militäranstalten, die dazu bestimmt waren, den Söhnen des Adels, die zur Armee wollten, eine hinreichende Ausbildung zuteil werden zu lassen.

Vom sonnigen Süden in den trüben Norden der Champagne, vom ungebundenen Leben in die klösterliche Zucht einer von Mönchen geleiteten Anstalt – dieser jähe Wechsel war für den noch nicht einmal zehnjährigen Napoleon ein Schock. Zudem war der kleine Korse mit dem seltsamen Namen und dem fremden italienischen Akzent eine ideale Zielscheibe für die Hänseleien der Mitschüler. Sein empfindliches Ehrgefühl reagierte darauf mit stolzer Abwehr. Von meinen Gefährten hielt ich mich fern, erinnerte er sich im Jahr 1803. Ich hatte mir ein Eckchen in der Umgebung der Schule ausgesucht, wo ich nach Belieben sitzen und träumen konnte, denn ich hatte immer einen Hang zur Träumerei. Wenn meine Kameraden mir den Besitz dieses Winkels streitig machen wollten, verteidigte ich ihn mit allen Kräften. Ich hatte schon eine Ahnung davon, daß mein Wille dem der anderen überlegen war.[18]

Zuflucht suchte Napoleon auch in der Lektüre, etwa in Plutarchs Lebensbeschreibungen großer Männer der Antike. Er war ein unersättlicher Leser, und er las «stets mit der Feder in der Hand»[19], das heißt, er eignete sich das Gelesene an, indem er ausführliche Exzerpte anfertigte. Seine schulischen Leistungen waren eher mittelmäßig. Die französische Orthographie bereitete ihm Schwierigkeiten – er sollte sie nie ganz beherrschen. Bald erkannten seine Lehrer seine Begabung für die Mathematik, diese erste der Wissenschaften, wie er sie einmal nannte.[20] Auch Geschichte und Geographie gehörten zu seinen Lieblingsfächern. Vor allem für die Historie seiner Heimat interessierte er sich früh, und in einem Brief an seinen Vater vom Oktober 1784 bat er darum, ihm James Boswells Buch über Korsika nebst noch einigen anderen das Land betreffenden Geschichtswerken und Memoiren zu schicken[21]. Den Plan, eine eigene Geschichte Korsikas zu schreiben, hat er zwar in den folgenden Jahren immer wieder erwogen, dann aber schließlich doch nicht verwirklicht.

Napoleon verbrachte fast viereinhalb Jahre, bis zum 17. Oktober 1784, in Brienne, und diese Zeit war für seine Charakterbildung von großer Bedeutung. Er lernte, sich auch in einer ihm fremden, ja feindlichen Umgebung zu behaupten und sich allmählich Respekt zu verschaffen. Seine Vorliebe fürs Militärische, die manche Historiker bereits in seiner frühen Kindheit angelegt sehen, hat sich erst in Brienne ausgebildet. Als ihm sein Vater bei seinem ersten und einzigen Besuch im Juni 1784 eröffnete, dass Joseph sich entschlossen habe, nun ebenfalls die soldatische Laufbahn einzuschlagen, weil er sich zum Priester nicht berufen fühle, begründete Napoleon in einem langen Brief an seinen Onkel Nicolò Paravicini in Ajaccio, warum er den Entschluss seines Bruders nicht billigen könne. Denn zum einen besitze Joseph nicht genug Beherztheit, um den Gefahren einer Schlacht zu trotzen, zum anderen betrachte er den Soldatenstand nur vom Standpunkt der Garnison aus. Anders würde er urteilen, wenn sein Bruder eine entschiedene Neigung für den Beruf verspüre, den schwierigsten übrigens, den es gibt, und wenn die große Triebkraft aller menschlichen Dinge ihm (wie mir) […] diese entschiedene Neigung fürs Militär mitgegeben hätte.[22] Für einen noch nicht einmal fünfzehnjährigen Schüler war dies das erstaunliche Zeugnis eines frühreifen Geistes. Scharfe Intelligenz und praktischer Sinn verbanden sich mit einem kalten Blick selbst auf ihm nahestehende Menschen.

«Verdient in die Kriegsschule von Paris aufgenommen zu werden», so lautete das Urteil des Schulinspektors vom September 1783.[23] Ende Oktober 1784 war es so weit: Napoleon kam, als Offiziersaspirant, auf die École militaire du Champs-de-Mars – die renommierteste Militärschule in ganz Frankreich, deren luxuriöse Ausstattung sich von der düsteren, freudlosen Anstalt in Brienne unterschied. Auch hier empfand der junge Korse stark den gesellschaftlichen Abstand zu den Söhnen der reichen französischen Adelsfamilien, doch er konnte damit nun besser umgehen, weil er sich seines eigenen Wertes bewusst geworden war und seinen Fähigkeiten vertraute. Er wurde von ausgezeichneten Lehrern unterrichtet, darunter von Louis Monge, dem Bruder des berühmten Mathematikers Gaspard Monge. Bereits nach einem Jahr (statt der üblichen zwei Jahre) legte er als 42. unter 58 Teilnehmern des Jahrgangs das Examen ab und wurde zum Sekondeleutnant beim Artillerieregiment La Fère in Valence ernannt. Mit nur sechzehn Jahren trug er die Uniform eines Offiziers der königlichen Armee.

In dem kleinen Garnisonsort an der Rhône lernte Napoleon das militärische Handwerk von der Pike auf. In den ersten drei Monaten, so sahen es die Bestimmungen vor, musste er als Kanonier Dienst tun, bevor er endgültig ins Offizierskorps aufgenommen wurde. Zu den einfachen Soldaten fand er offenbar mühelos Kontakt; er machte sich mit ihren Gewohnheiten und Umgangsformen vertraut – eine Erfahrung, die ihm bei seinen späteren Feldzügen zustatten kommen sollte.

In Valence probte Napoleon auch die ersten Schritte auf gesellschaftlichem Parkett. Frau von Colombier, die einen Salon unterhielt, nahm sich des linkischen Korsen an. Zu ihrer Tochter Caroline fasste Napoleon eine erste, scheue Zuneigung, derer er sich auch in späteren Jahren gern erinnerte. Ansonsten bot das Garnisonsleben wenig Abwechslung, und mit seinem kärglichen Sold konnte der junge Leutnant ohnehin keine großen Sprünge machen. Wie in Brienne und Paris widmete er sich seiner Lieblingsbeschäftigung, der Lektüre. Er verschlang die Bücher der führenden Aufklärungsphilosophen, vor allem Rousseaus und Guillaume Raynals, und er studierte militärische Standardwerke wie die «Mémoires sur la guerre» des Marquis de Feuquière oder den «Essai général de tactique» von Jacques Antoine Guibert.[24] An Wissen und Bildung war er den meisten seiner Offizierskameraden weit überlegen.

Im Februar 1785 starb Carlo Buonaparte im Alter von nur 39 Jahren an Magenkrebs. In einem Brief an die Mutter drückte Napoleon seinen Schmerz auf eigentümlich formelle Weise aus: Wir werden unsere Liebe und Ergebenheit für Sie noch verdoppeln und uns glücklich schätzen, wenn wir Sie dadurch wenigstens teilweise den unersetzlichen Verlust eines geliebten Mannes vergessen machen können.[25] Eigentlich hätte Joseph, der Älteste, als Chef des Clans einspringen müssen, aber der Zweitälteste machte bald deutlich, dass er diese Rolle für sich selbst beanspruchte. Anfang September 1786 nahm er Urlaub, um in Ajaccio nach dem Rechten zu sehen. Nach sieben Jahren und neun Monaten sah er die geliebte Heimatinsel wieder.

Es war höchste Zeit, dass er kam. Denn seit dem Tod des Vaters häuften sich die finanziellen Schwierigkeiten der Familie. Carlo Buonaparte hatte einige Unternehmungen gegründet, unter anderem eine Maulbeerbaumschule, die mehr kosteten, als sie einbrachten. Im Herbst 1787, nachdem ihm sein Urlaub um ein weiteres halbes Jahr verlängert worden war, reiste Napoleon nach Paris, um staatliche Hilfen zu erbitten. Er musste unverrichteter Dinge zurückkehren. Allerdings war der Pariser Aufenthalt insofern nicht folgenlos, als er zum ersten Mal mit einer Frau schlief, einer Prostituierten im Vergnügungszentrum Palais Royal – allem Anschein nach ein eher ernüchterndes Erlebnis, über das er selbst berichtet hat.[26]

Erst Anfang Juni 1788, nach einer abermaligen Verlängerung des Urlaubs, kehrte er zu seinem Regiment zurück, das mittlerweile nach Auxonne, einer Stadt in der Bourgogne, verlegt worden war. Hier erweiterte er, unter Anleitung des Barons Jean Pierre du Teil, seine Kenntnisse über den wirkungsvollsten Einsatz der Artillerie. General du Teil erkannte das militärische Talent des jungen Leutnants und gab ihm manche Gelegenheit, sich auszuzeichnen.

In Auxonne erlebte Napoleon auch die Vorbeben der Revolution. Nachdem der französische Hof im August 1788 dem Verlangen nach Einberufung der Generalstände nachgegeben und die Wahlbewegung zu einer breiten Politisierung geführt hatte, schrieb Napoleon seiner Mutter: Wie es scheint, hat der Unfriede bei den drei Ständen Einkehr gehalten, und schon hat der dritte Stand mit der größten Anzahl der Deputierten den Sieg davongetragen. Aber dieser Sieg hat nicht viel zu sagen, wenn er nicht die Abstimmung pro Kopf, anstatt pro Stand erreicht.[27] Tatsächlich war das die Kernfrage, an der sich der Streit in den Generalständen seit Frühjahr 1789 entzündete. Begleitet war er von Unruhen und Revolten im ganzen Land, als Reaktion auf die anhaltende Teuerung.

Anfang April 1789 brachen auch in Seurre südlich von Auxonne Unruhen aus. Napoleon wurde mit dem Kommando über die drei Kompanien betraut, welche die Ordnung wiederherstellen sollten. Zwei Monate blieb er in der Stadt, und aus dieser Zeit ist ein charakteristischer Auspruch von ihm überliefert: Die rechtschaffenen Leute sollen nach Hause gehen, ich schieße nur auf das Gesindel.[28] Andererseits hatte er im Oktober 1788, als er sich Gedanken über das Königtum machte, notiert: Es gibt nur sehr wenige Könige, die nicht schon verdient hätten, entthront zu werden[29], was ihn keineswegs als überzeugten Anhänger des französischen Monarchen Ludwig XVI. ausweist.

Welche Anschauungen vertrat Napoleon am Vorabend der Französischen Revolution? Sein Geschichtslehrer an der École militaire in Paris urteilte über ihn: «Er ist Korse von Nation und Charakter und wird es weit bringen, wenn ihn die Umstände begünstigen.»[30] Tatsächlich fühlte sich Napoleon, auch als er den Rock des französischen Königs trug, immer noch in erster Linie als Korse. Seine Heimat von der französischen Fremdherrschaft zu befreien – das war sein Traum. Sein korsischer Patriotismus verband sich mit einem glühenden Hass auf jene Söhne aus französischem Adel, die dünkelhaft auf die Vorrechte ihrer Geburt pochten und ihn, den mittellosen Korsen, ihre Geringschätzung spüren ließen. Der Wunsch, ihnen die erlittenen Demütigungen heimzuzahlen, machte ihn auch aufnahmebereit für die Ideen der Aufklärung, vor allem für die Lehren Jean-Jacques Rousseaus, der zeitweilig den größten Einfluss auf sein Denken ausübte. Ich war damals 18 Jahre alt, hatte einen glühenden Patriotismus und liebte die Freiheit: republikanische Ideen strömten aus allen Poren meiner Haut, so hat er sich noch auf Sankt Helena erinnert.[31]

Bereits in einem seiner ersten Manuskripte Über Korsika vom 26. April 1786, dem Geburtstag des von ihm vergötterten Paoli, ist dieser Einfluss unverkennbar. Wenn es nun durch diese Natur des ‹Gesellschaftsvertrags› erwiesen ist, daß, selbst ohne zureichenden Grund, ein Volk seinen eigenen Fürsten absetzen kann, um wie viel mehr einen fremden, der, alle Naturgesetze verletzend, sich gegen die Regierungseinrichtungen vergeht. Spricht dies nicht für die Korsen, da die Herrschaft der Genuesen doch nur eine vertragsmäßige war? Deshalb durften sie das genuesische Joch abschütteln, und deshalb können sie auch mit dem der Franzosen dasselbe tun.[32] Neben solchen kühlen, rationalen Erörterungen stehen, scheinbar unverbunden, gefühlvolle Bekenntnisse bis hin zu Weltschmerz und Lebensüberdruss. So wenn er im Mai 1786 aufs Papier warf: Aber, fürwahr! was soll ich in der Welt? Da ich nun einmal sterben muß, wär’s nicht gleich gut, mich jetzt zu töten? […] Mein Dasein ist mir zur Last, da ich keinerlei Freude genieße und alles mir nur Schmerz verursacht; es ist mir zur Last, weil die Menschen, mit denen ich lebe und voraussichtlich immer leben werde, so ganz anders sind als ich, ungefähr wie der Glanz des Mondes von dem der Sonne sich unterscheidet.[33] Rousseaus schwärmerisch-empfindsame Schriften, aber auch Goethes «Werther» (den Napoleon mehrere Male las) hatten ihre Wirkung auf dieses Gemüt nicht verfehlt. Natürlich dachte er nicht ernsthaft an Selbstmord. Aber der Widerspruch zwischen Vernunft und Emotion, zwischen streng methodischem Denken und gefühlvollen Schwärmereien – er kennzeichnete Napoleons Persönlichkeit in diesem Stadium ihrer Entwicklung. Als sich dem begabten Offizier durch die Revolution die Möglichkeit zur Betätigung bot, war das Gefühl der Leere und des Nichtausgefülltseins mit einem Schlage verflogen.

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Aufstieg mit Fortune

Gerade erfahre ich Neues aus Paris; es ist höchst erstaunlich und alarmierend […]. Man weiß nicht, wohin das führt, schrieb Napoleon in einem Brief vom 15. Juli 1789[34], nachdem die Kunde vom Sturm auf die Bastille einen Tag zuvor nach Auxonne gedrungen war. Auch die Garnisonsstadt an der Saône blieb von den revolutionären Erschütterungen in der Hauptstadt nicht unberührt. Demonstranten drangen in Amtsräume ein, verwüsteten das Mobiliar und verbrannten Akten. Im August verweigerten Kanoniere von Napoleons Regiment den Gehorsam und verlangten die Herausgabe der Kriegskasse. Dem Sekondeleutnant waren die Anzeichen von Disziplinlosigkeit zuwider, wie er überhaupt gegenüber den Aktionen des peuple, der unteren Schichten des Volkes, stets eine instinktive Abscheu empfand. Auf der anderen Seite begrüßte er lebhaft die Abschaffung der feudalen Privilegien. Es ist ein großer Schritt zum Guten, kommentierte er in einem Brief an seinen Bruder Joseph den historischen Beschluss der Nationalversammlung vom 4. August 1789.[35] Ende August leistete auch sein Artillerieregiment den Eid auf die neue Ordnung.

Das Land, wo man geboren ist, übt einen unsichtbaren Zauber aus; die Erinnerung verschönert es unter allen Formen, selbst bis zum Duft, den man den Sinnen so gegenwärtig glaubt, daß man mit verbundenen Augen den Boden zu erkennen meint, den man als Kind betreten hat.

Napoleon auf St. Helena

Doch nichts hielt Napoleon mehr in Frankreich. Sein künftiges Wirkungsfeld erblickte er auf Korsika, das ihm immer noch als patrie, als sein eigentliches Vaterland, galt. Ende September 1789, nachdem ihm erneut Urlaub gewährt worden war, traf er in Ajaccio ein. Gemeinsam mit seinem Bruder Joseph entfaltete er eine fieberhafte politische Aktivität. Ein patriotischer Klub wurde gegründet, eine Nationalgarde gebildet und in einer Eingabe an die Nationalversammlung die Forderung erhoben, die Korsen in jene Rechte wieder einzusetzen, die die Natur jedem Menschen in seinem Lande verliehen hat.[36]

Freilich dachte Napoleon jetzt nicht mehr an eine völlige Unabhängigkeit Korsikas. In seiner Einstellung zu Frankreich hatte sich seit dem 14. Juli 1789 ein Wandel vollzogen. Hatte er vor der Revolution die Franzosen vor allem als Unterdrücker seiner Landsleute gesehen, so ging er nun von einer Identität der Interessen aus. Diese aufgeklärte, mächtige und edle Nation, erklärte er emphatisch, hat sich ihrer Rechte und ihrer Stärke erinnert: Sie ist frei geworden und hat gewollt, daß auch wir es werden; sie hat uns ihren Schoß geöffnet, und fortan haben wir dieselben Interessen, dieselben Sorgen. Es gibt kein Meer mehr zwischen uns.[37] Stolz trugen Napoleon und seine Anhänger die dreifarbige Kokarde als Unterpfand der Freiheit an ihren Hüten, und an der Casa Buonaparte las man ein Transparent mit der Aufschrift: «Es lebe die Nation, es lebe Paoli, es lebe Mirabeau.»[38]

Ende November 1789 beschloss die Pariser Nationalversammlung, Korsika in das neue Frankreich aufzunehmen und ihm dieselben verfassungsmäßigen Rechte zu geben. Gleichzeitig wurde eine Amnestie für die politischen Flüchtlinge, an der Spitze Pasquale Paoli, ausgesprochen. Der legendäre Freiheitskämpfer kehrte im Juli 1790 nach Korsika zurück, wo man ihm einen triumphalen Empfang bereitete.

Auch die Brüder Buonaparte warben heftig um seine Gunst, doch schon die erste Begegnung Napoleons mit dem Idol seiner Jugendjahre endete mit einer Enttäuschung. Paoli brachte den Söhnen seines einstigen Weggefährten, der sich so wendig auf die Seite der Franzosen geschlagen hatte, von vornherein erhebliches Misstrauen entgegen. Der kalte Empfang tat der Verehrung Napoleons für den Führer der Korsen zunächst keinen Abbruch. Als der konservative Abgeordnete des korsischen Adels, Graf Buttafoco, im Oktober 1790 von der Tribüne der Nationalversammlung aus Paolis selbstherrliche Allüren anprangerte, verteidigte Napoleon in einer Schrift Lettre à Buttafoco wortreich seinen Meister.[39] Paoli allerdings reagierte auf diesen Dienst seines eilfertigen Bewunderers eher unwillig. Die Broschüre des Bruders, ließ er Joseph Buonaparte wissen, «hätte einen größeren Eindruck hinterlassen, wenn er weniger gesagt hätte und weniger parteiisch gewesen wäre».[40]

Bereits im Dezember 1789 hatte sich der französische Militärkommandant von Ajaccio über Napoleon beim Kriegsminister beschwert: «Es wäre besser, wenn dieser Offizier bei seiner Einheit wäre, weil er hier ständig Unruhe im Volk schürt.»[41] Napoleon ließ sich jedoch viel Zeit; erst im Februar 1791, längst nachdem die offizielle Frist seiner Beurlaubung abgelaufen war, kehrte er zu seinem Regiment in Auxonne zurück. Das unentschuldigte Fernbleiben blieb jedoch folgenlos. Viele royalistisch gesinnte Offiziere hatten mittlerweile ihren Dienst quittiert und Frankreich verlassen. So war man im Grunde froh über jeden, der bei der Fahne blieb.

Anfang Juni 1791 wurde Napoleon zum Premierleutnant beim 4. Artillerieregiment in Valence befördert. Hier erfuhr er vom gescheiterten Fluchtversuch Ludwigs XVI. und seiner Familie in der Nacht vom 20. auf den 21