ÄGÄIS - Gerald Schneider - E-Book

ÄGÄIS E-Book

Gerald Schneider

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Beschreibung

Der Autor beschreibt die Begegnungen mit Menschen bei seinen Reisen durch die Ägäis und stellt erheiternde und nachdenkliche Situationen in relativ kurzen, auf das Wesentliche beschränkten Episoden vor. Im Vordergrund stehen insbesondere die Lebensaspekte und ggf. -schicksale der beteiligten Personen. Es geht nicht um Beschreibungen von Orten im Sinne eines Reiseführers. Gelegentlich wirken die Orte und Begegnungen auf den Autor selbst zurück und lösen ein Nachdenken über die eigenen inneren Zustände aus.

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Seitenzahl: 180

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Gerald Schneider

ÄGÄIS

Skizzen des Menschlichen

© 2023 Gerald Schneider

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Hardcover:

978-3-347-93527-3

Paperback:

978-3-347-93528-0

e-Book:

978-3-347-93529-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Hier ist die Stunde mehr als der Tag, der Tag mehr als das Jahr.

Erhart Kästner

Wundersame Dinge geschehen einem in Griechenland – wundersame gute Dinge…

Henry Miller

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Ein Wort zuvor

Die enge Pforte

Krone der Ägäis

Herrliche Meerfahrt

Alltagshelden

Kriechspur

Gleichgewicht

Per Esel auf den Vulkan

Die kleine Kneipe

Paradies

Mustafa

Augen

Gemeinsam lachen

Über - Blick

Treppen

Drei Feigen

Ankommen

Mythischer Ort

Im Anfang

Verklungen

Also doch

Ein Wort danach

ÄGÄIS

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Ein Wort zuvor

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Ein Wort zuvor

Im Museum von Iraklion hängt das großartige Bild eines minoischen Stiersprungs. Mit weiten Sätzen und voller Körperspannung stürmt das Tier kraftvoll und dominant durch die Szene, der Schwanz schleudert S-förmig umher, der Kopf ist gesenkt und die gebogenen Hörner zielen auf die Brust des Stierspringers vor ihm, der sie aber bereits mit den Händen ergreift. In der Mitte des Bildes, auf dem Rücken des Stieres, sieht man einen braungebrannten Menschen, wie er quasi im Handstand und die Beine bereits überschlagend den Stier in einer Art Salto überwindet. Hinter dem Stier eine dritte Figur, die dem heranfliegenden Springer die Arme wie zum Empfang entgegenstreckt. Oder um ihn in seinem Schwung mit seinen Armen aufzufangen, damit er nach der Landung nicht stürzt. Der Stier könnte eine schnelle Wendung machen und zurückkommen. Er oder sie muss schnellstens wieder auf den Beinen und bereit sein.

Das Darstellung ist von großer Lebendigkeit und Faszination, wobei der Betrachter im Unklaren gehalten wird, ob es sich tatsächlich um drei Personen handelt, oder ob nicht etwa die drei Phasen des Sprunges eines einzigen Springers gleichzeitig dargestellt sind. Interessanterweise sind die beiden Menschen rechts und links recht farblos, während – wie gesagt – der Springer auf dem Rücken braun gezeichnet ist. Was immer der Unterschied sein mag, es wird sich nicht wirklich klären lassen.

Tritt man näher an das Bild heran, so ist zu erkennen, dass diese Darstellung nur zu etwas weniger als der Hälfte aus originalem Bildmaterial entsteht, einem bemalten Putz aus dem Palast von Knossos. Die wesentlichen Teile sind wohl vorhanden, aber vieles fehlt auch und wurde „sinnfällig“ ergänzt. So ist von dem erhobenen Schwanz überhaupt kein Originalteil vorhanden, es ist eine freie Gestaltung des Restaurators oder des Künstlers, der die verschiedenen Teile zuordnete und das Fehlende dazutat, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Wie der Schwanz wirklich aussah, werden wir nie erfahren.

So ähnlich ist es mit diesem Buch. Auf meinen Reisen über einen Zeitraum von fünf Jahre in die Ägäis habe ich etliche Eindrücke gesammelt und, nachdem ich meine recht ausführlichen Tagebücher zu Rate gezogen hatte, hier zu Papier gebracht. Es sind aber nur Puzzleteile oder Skizzen eines Ganzen, vor allem über Begegnungen mit Menschen – und gelegentlich auch mit mir selbst.

Jedes Buch über die Ägäis oder eine andere Lebenswelt wird immer unvollständig sein. Dies ist einerseits zeitbedingt und andererseits den Sehgewohnheiten und Vorlieben oder Abneigungen des Berichtenden unterworfen. Die Texte sind zudem relativ kurz. Minutenlektüren. So wie die mir wichtig gewordenen Erlebnisse im Original häufig auch nur wenige Minuten umfassten, mich aber beeindruckten und heute so etwas wie die nachwirkenden überzeitlichen „Blüten“ der Fahrten darstellen. Überzeitlich auch in dem Sinne, dass sie nach fast einem halben Jahrhundert immer noch stimmig sind, und besonders im Menschlichen eine Allgemeingültigkeit haben, die über den Zeitpunkt des eigentlichen Erlebens hinausgeht.

Das Gleiche gilt für die Abbildungen, die ich beigegeben habe. Sie wurden von Fotos mittels des Computers in eine Art von Bleistiftskizzen umgewandelt. Dies mit voller Absicht, denn ein Foto vermittelt dem Betrachter ein Gefühl von „So-war-es“. Bilder sind aber unvollständig, sie vermitteln z. B. keine Gerüche, keine Geräusche, keine Temperaturen. Das reale Erleben ist also viel umfangreicher als das, was ein Bild vermittelt. Die Skizze hält dagegen den Betrachter in der Schwebe, nötigt ihn, Fehlendes zu ergänzen. Sie ist meines Erachtens dadurch ehrlicher in ihrer Unvollständigkeit als ein noch so perfektes Foto, das den Leser dazu verführt, anzunehmen, genau so sei es gewesen. Unser Erleben ist immer bruchstückhaft.

Deshalb ist dies eben auch nur ein „Skizzenbuch“. Voller roh hingeworfener Eindrücke, die zu ergänzen und zu einem, nämlich seinem, Ägäisbild, der Lesende aufgefordert ist, einen Beitrag zu leisten. Entweder indem er seine eigenen Eindrücke mit meinen verschränkt und ergänzt oder – auch dies ist durchaus legitim – seiner Fantasie freien Lauf lässt. So wie mit der Rute des Stieres. Ich kann nur von „meiner“ Ägäis und meinen menschlichen Begegnungen schreiben.

Anmerkung: Griechische Namen oder Bezeichnungen habe ich i. d. R. so wiedergegeben, wie man sie in etwa spricht. Also „Ajos“ statt „Aghios“, „Ataviros“ statt „Atabyros“. Ausnahmen sind religiöse Titel wie „Panaghia“ und alle Worte mit dem Theta /Thita, das sich etwa wie das englische „th“ spricht. Die Wiedergabe erfolgt wie allgemein üblich durch „Th“.

Kanal von Korinth.

Die enge Pforte

Kanal von Korinth

Am dritten Seetag kam endlich die griechische Küste in Sicht. In der Morgenröte, der „rosenfingrigen“ wie sich Homer ausdrückt, zeichneten sich vor uns die geschwungenen Bergprofile von Achaia im Gegenlicht ab. Rötliche Schatten waren es, die eher Wolken über dem Horizont glichen als wirklichen Bergen.

Wir fuhren in den Golf von Korinth ein, unser aus Italien kommendes Schiff passierte das noch morgendliche Patras an Steuerbord. Ich stand an Deck, um diese erste Begegnung mit dem griechischen Land in mich aufzunehmen. Es sollten noch viele folgen, aber dies war das erste Mal. Ein frischer Wind, ja, ein als kühl zu bezeichnender Wind wehte mir um die Nase und ließ mich ein wenig frösteln. Die aufgehende Sonne schickte aber mit ihren ersten Strahlen Vorboten jener spätsommerlichen Wärme zu uns, die diese Tage kennzeichnen sollte.

Also wirklich Griechenland? Meine bescheidene Philhellenie hatte bereits im Kindesalter begonnen. Sonntags, wenn die Ruhe in der Familie eingekehrt war, saß ich mit meinem Vater häufig auf der Eckbank unserer Küche oder auf seinem Schoß und hörte den Geschichten zu. Von Zeus, dem Ikarus, dem bösen Minotauros, Odysseus und anderen Göttern oder Helden.

Dabei war mein Vater durchaus kein Schöngeist oder humanistisch gebildeter Gelehrter. Aber seinen Interessen erstreckten sich weitgreifend von der Erdgeschichte bis zur Menschheitsgeschichte, von Sagen und Mythen bis zu den neuesten technischen Errungenschaften. Daher kannte ich Dinosaurier lange bevor die moderne „Dinomania“ begann und der Minotauros war mir schon ein Begriff, bevor sich amtlich bestallte Erzieher bemühten, uns ein Minimum an Bildung beizubringen.

Als dann mein Vater plötzlich starb, versandete dieses Interesse noch bevor ich in die Pubertät kam. Vielleicht wäre es damit ganz vorbei gewesen, wenn nicht etliche Jahre später die Odyssee als Vierteiler im Fernsehen gelaufen wäre. Das „zündete“ mich wieder an.

Nach der Serie kaufte ich mir die Odyssee als Reclamheftchen und arbeitete mich durch die Hexameter in der wunderbaren Übersetzung von Johan Heinrich Voß.

Was für eine Sprache! „Sage mir Muse die Taten des vielgewanderten Mannes / Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung…“ Das sprach mich im wahrsten Sinne des Wortes an. Ich kann die Anfangszeilen immer noch auswendig.

Nach der Odyssee ging es dann an die Illias. Aber dies war nichts für mich. Nur Krieg, Mord, Zerstörung. Städteverbrennen ist nicht mein Ideal – auch wenn es elegant dargeboten wird und von Homer stammt.

Viel lieber identifizierte ich mich mit Alexis Sorbas, jenem Schelm, der zwischen Leichtlebigkeit und Tragik hin und her schwankt. Zunächst der Film mit Anthony Quinn und Irene Papas – noch heute so etwas wie meine Traumfrau -, dann das Buch.

Dies erschloss mir die Werke des Nikos Kazantzakis, den ich dann auch als Wahldichter für das Abitur wählte, nachdem ich eine ganze Reihe seiner Bücher gelesen hatte. Viel Griechenland also in der Theorie, aber gesehen hatte ich das Land noch nicht.

Das änderte sich jetzt. Mittlerweile waren die Berge der zentralen Peloponnes, der Insel des Pelops (Pelops war der Sohn von Tantalus – das ist der mit den Qualen), zurückgetreten, und vor uns wurde ein eher flacher Küstenstrich sichtbar: Der Isthmus von Korinth.

Und etwa genau in der Mitte der Landzunge ein tiefer Einschnitt mit völlig glatten Wundrändern. Wie von einem Fallbeil in das Fleisch gehackt. Es war der Kanal von Korinth, jener Durchstich, der die Reisezeit nach Athen um rund 330 Seemeilen verkürzt, was immerhin so ein bis anderthalb Tage bringt.

Rechts neben dem Eingang zum Kanal stand ein großes Schild, das die Umrisse der Insel Zypern zeigte. Von dem blutrot eingefärbten Nordteil liefen Blutnasen in den hellen südlichen Teil. Darunter die Aufschrift „Remember Cyprus“. Die Besetzung Nordzyperns durch türkisches Militär lag gerade drei Jahre zurück und führte mir jenen „ewigen“ Konflikt zwischen türkischen und griechischen Menschen vor Augen, von dem auch das Werk Kazantzakis‘ immer wieder spricht.

Das Schild war der jüngste Ausdruck des griechischen Traumas. Mehr als dreihundert Jahre Besatzung durch die Türken hinterlassen Narben in einem Volk, die umso schwerer wiegen, je häufiger ähnliche Erfahrungen gemacht werden. Immer wieder musste sich Griechenland mit allen Mitteln und mit seiner ganzen Kraft gegen jene Heere aus dem Osten verteidigen, die das Land erobern wollten.

Die Perserkriege sind bei Schülern berühmt und berüchtigt und alles Leid wird entweder humanistisch-heldenhaft überstilisiert oder in flotten, aber griffigen Schülersprüchen a la „333 bei Issos Keilerei“ verharmlost. Nach den Persern kamen die Römer, die allerdings aus dem Westen, dann die Araber wieder aus dem Osten, die Seldjiuken, die Mongolen klopften an die Tür und zum Schluss die Türken.

Das griechische Volk hat das alles überstanden. Auch die deutsche Besetzung, und gelegentlich brach Griechenland über andere herein. Alexanders Feldzug nach Asien zerstörte Persien und das spätrömisch-byzantinische Reich war unter Justinian in seiner Ausdehnung dem Alexanderreich ebenbürtig. Aber im Grunde sind dies Ausnahmen geblieben. Die meisten Jahrhunderte stand Griechenland unter Druck.

Und dennoch – der Grieche fühlt sich als Grieche und nur als Grieche. Auch wenn im täglichen Leben und in der Kultur viel aus den östlichen Kulturen übernommen wurde. Was gut ist, denn der Austausch beschenkt die Tauschenden. Aber die Anbindung des Griechen an seine antike Vergangenheit, an die „goldenen Zeitalter“, an die Errungenschaften des byzantinischen Reiches, der orthodoxe Glaube, ja auch die Einheit in den Feindbildern, haben Griechenland durch alle Zeitläufte geprägt, gestärkt und vor dem Untergang bewahrt.

Während dieser Gedankenkette hatte ein Schlepper unser Schiff auf den Haken genommen und es ging in den Kanal. Was für ein Erlebnis! Was für eine grandiose Vorstellung! Niemals wieder habe ich eine derart beeindruckende künstliche Wasserstraße befahren.

Das Schiff zwängte sich auf engstem Raum zwischen den Felswänden hindurch. Unsere Breite betrug elf Meter, zu beiden Seiten blieben daher nur jeweils sechs Meter freien Wassers. Das ist für den Nautiker so gut wie nichts. Hier ist präzises Steuern angesagt, jedes Abweichen vom Kurs kann zur Havarie führen. Unser Schiff hatte noch ein richtiges Steuerrad, keine Joysticks wie heute üblich.

Alle Passagiere drängelten sich am Schanzkleid oder auf den Decks, um dem Spektakel beizuwohnen. Die Felswände waren anscheinend zum Greifen nahe und ragten turmhoch und fast senkrecht neben dem Schiff in die Höhe. Der Himmel hatte sich zu einem schmalen, langen Band verkleinert und die ersten Sonnenstrahlen schienen in den künstlichen Canyon.

Neben dem Schiff schlurfte das Wasser an den Felsen oder Uferbefestigungen vorbei und machte hin und wieder ein saugendes Geräusch. Dabei umfing uns eine grandiose Stille – wenn nicht irgendein Tourist in einen Begeisterungsschrei ausbrach: „My god, is this exciting“.

Der Kanal ist auf Wasserebene nur 25 m breit, die umgebenden Felswände steigen in einem Winkel von etwa 75° nach oben – das ist „gefühlt“ fast senkrecht. Die Höhe dieser Wände oder auch die Tiefe des Einschnitts beträgt bis zu 80 m, je nach der Form des Geländes „oben“.

Die Abstürze sind völlig glatt, nur hier und da gibt es eine Vertiefung, eine Aushöhlung, einen Sims. Wo es die Umstände erlauben, hat sich ein Busch, ein kleines Bäumchen angesiedelt und wehrt sich mit krallenhaft in den Stein getrieben Wurzeln gegen den Sturz in den Kanal. Das Grün dieser Pflanzen kontrastiert hübsch mit den eher vorherrschenden Brauntönen der Kanalwände.

Für geologisch interessierte Passagiere bietet sich ein Kaleidoskop an Eindrücken, denn der künstliche Anschnitt in die Tiefe der Erde offenbart eine ganze Reihe an fein säuberlich waagrecht verlaufenden farbigen Schichten. Kein Anzeichen von Quetschungen oder Stauchungen, von Hebevorgängen oder ähnlichen Prozessen. Über Millionen von Jahren wurden hier die verschiedensten Sedimente ruhig abgelagert. Ganz oben erkenne ich eine dunkle Schicht, der humöse Boden direkt an der Oberfläche, dann folgen in die Tiefe abwechselnd hellbraune und dunkelbraune Schichten. Dazwischen zieht ein scharfes weißes Band durch die Wand. Im hohen Mittelteil des Kanals treten weitere Schichten hinzu, deren Farben auch je nach Sonnenstand etwas variieren. Gelbtöne treten jetzt auf, Rot, Schwarz, das ganze Spektrum.

Die Sonne scheint nun direkt in den Kanal. Es wird warm, denn die Reflektionen an den Felswänden verstärken ihre Kraft. Habe ich heute Morgen noch gefröstelt, so treten nun erste Schweißtropfen auf meine Stirn. Wir haben September, für uns Nordlichter immer noch Teil der heißen Jahreszeit.

Eine Brücke wird sichtbar, Autos fahren, Menschen stehen am Geländer und schauen zu uns herunter. Kontaktaufnahme, Winken, Gestikulieren, ein fast nicht zu hörender Ruf „Kalo taxidi – Gute Reise“.

Dann perspektivische Verkürzung, die Brücke wird kleiner, die Menschen ununterscheidbar. Immer noch schieben sich die hohen Wände am Schiff vorbei. Wir bestellen einen Kaffee und genießen in ruhiger Fahrt und an einem „passagierarmen“ Ort, nämlich am Heck, den weiteren Fortgang der Fahrt. Wenn der Kanal zu Ende ist – und wir können es bereits sehen – werden wir in der Ägäis sein, unserem Ziel von vier Tagen Anreise.

Dann weitet sich der Blick. Vor uns öffnet sich ein sonnenüberflutetes glitzerndes Meer: Der saronische Golf, die Ägäis. Wir sehen Salamis und Ägina und wissen: Wir sind da.

Auf keine andere Art kann man bewusster in die Ägäis eintreten als durch den Kanal. Fährt das Schiff um die Peloponnes, also „außen rum“, so ist der Übergang fließend. Niemand weiß genau, wo das ionische Meer aufhört und die Ägäis beginnt. Welches Kap muss backbord querab gepeilt werden, um den Eintritt in die Ägäis bewusst zu vollziehen? Niemand kann es exakt sagen.

Fährst du durch den Kanal, so ist es wie mit unseren Ortsschildern. Am Kanaleingang steht im Geiste ein Schild mit dem durchgestrichenen Schriftzug „Korinthischer Golf. Kreis: Ionisches Meer“. Am Ende dann lautet die Aufschrift „Saronischer Golf. Kreis: Ägäis“. Durch den Kanal kannst Du bewusst in dieses Meer, in diese uralte Zauberwelt eintreten.

Die Ägäis vor uns – volle Fahrt voraus!

Das Häusermeer von Athen mit dem Lykavittos.

Krone der Ägäis

Kap Sounion

Athen hatten wir mal wieder hinter uns. Insgesamt zehn Mal bin ich durch diese Stadt gestreift und habe mir alles angesehen, was man so gesehen haben sollte oder könnte: Regierungsgebäude, Evzonen, Sintagmaplatz, Omonia-Platz, Odeion, Plaka, Zappaion, Byron-Statue, etliche Kirchen, Nationalmuseum, natürlich die Akropolis.

Ich mag Athen und liebe vor allem den Blick von der Akropolis auf den Lykavittos, er, der zuerst sanft und begrünt ansteigt um dann in eine felsige, steil ansteigende Kuppe überzugehen, und dabei mitten im Häusermeer wie eine verwunschene Insel aufragt.

Aber im Grunde sind mir die kleinen Begegnungen wichtiger, die Begegnung mit Menschen und Orten, die ein wenig abseits liegen, und so waren wir froh am Kap Sounion allein und dem Menschenrummel entgangen zu sein.

Wir stiegen den Hügel zum Poseidontempel von Osten quer durch die schüttere Vegetation empor. Unser Taxifahrer hatte uns den Tipp gegeben, denn von dort würde der Tempel durch die Sonne beleuchtet. Es war ganz früher Nachmittag und so lag über dem Land jene tiefe Ruhe und lastende Hitze, die sich im Mediterran gerne um die Mittagszeit einstellt. Nur Zikaden zirpten unaufhörlich und ein schwacher Wind brachte ein wenig Kühlung. Der Weg war staubig, gelegentlich hüpfte eine Grille vor uns aus dem Gefahrenbereich, ab und zu war auch eine Spinne unterwegs, verzog sich aber schnell unter den nächsten, vor der Sonnenhitze schützenden Stein.

Über uns ragte der vielhundertjährige Tempel, oder was von ihm noch übrig war, in die Höhe und wirkte wie eine Krone auf dem Gipfel. Eigentlich standen nur noch die Säulen und die durch sie getragenen Architrave der Süd- und Nordseite, und dadurch, dass wir von unten kamen, konnten wir die zum Tempel hinaufführenden Stufen und das Fundament nicht sehen, so dass die Säulenreihen direkt dem Berg entsprungen nach oben strebten. Dies vermittelte uns in der Stimmung, die wir gerade hatten, eine ungeheure Geschlossenheit: Der Berg selbst hat seine, die Krone der Ägäis hervorgebracht, der Eindruck eines durch Menschenhand aufgesetzten Gebäudes drängte sich nicht auf.

Oben angekommen, stiegen wir die Stufen empor und standen in dem leeren Tempel und sahen auf die nahe, blaue See und die sich in unterschiedlichen helleren Gelb- und Brauntönungen darbietende Landzunge, die das Kap Sounion ausmacht.

Während wir noch mit der Betrachtung der Szenerie beschäftigt waren, stand plötzlich neben uns ein kleines Mädchen von vielleicht zwölf Jahren. Sie lächelte uns an und erzählte irgendetwas, das wir natürlich nicht verstanden.

Es war ein frisches, munteres Wesen mit überraschend blonden Haaren und einigen Sommersprossen im Gesicht. Sie trug ein ärmelloses blaugerändertes weißes T-Shirt mit laufenden Pferden darauf, welches über den Bund eines kurzen, mit großen blauen Karos verzierten Rocks reichte. Die Beine und Füße waren nackt.

Leichtfüßig hüpfte sie über die Treppen, schien sich auch aus Steinchen nichts zu machen, die – wie wir annahmen – sie doch eigentlich in die Füße pieken mussten, und als wir uns zu einer kleinen Rast auf die Stufen setzten, setzte sie sich völlig unbekümmert und schon halb vertraut dazu. Ein angebotenes halbes Brot und einen Apfel nahm sie gerne an und so mampften wir fröhlich und in schöner Stimmung gemeinsam vor uns hin.

Welche Abstammung mochte unser Mädchen haben? Dieses Mädchen, das sich nicht mehr wie ein Kind, aber auch noch nicht wie eine Frau benahm. Beide Elemente blitzten hier und da mal auf, sie war in den Scheidejahren. Sie wohnte, soviel bekamen wir denn doch raus, „da unten“, wobei sie mit einem schnellen Armwurf so ungefähr auf ein paar Häuser im Tal zeigte. Ihr Vater würde in Athen arbeiten. Die blonden Haare verleiteten uns zu der Vermutung, dass vielleicht ein großer blonder Wikinger, vielleicht ein Waräger aus der byzantinischen Elitetruppe, vielleicht aber auch ein Franke aus dem Geschlecht oder Umfeld der Hautevilles oder Villehardouins ihr ferner Vorfahr war, der sich über die Haarfarbe alle paar Generationen mal wieder zu Wort meldet. Wer weiß?

Welch ein Spielplatz! Wo unsere Kinder auf sie selbst langweilenden Plätzen, mit sorgsam gekämmtem Sand und mit diversen Sicherheitseinrichtungen, damit ja nichts passiert, ihre Zeit verbringen müssen, hier ein zweieinhalb Jahrtausende alter Tempel als Ort der Kurzweil. Direkt am Meer mit Blick in die gesamte Ägäis und sicherlich wird sie immer wieder durch sympathische Touristen Kurzweil haben. Welche Freiheit! Ich freue mich an dem Gedanken, dass ich noch Ähnliches erlebt habe. Als wir Jungens in kurzen Lederhosen über spitze Zäune kletterten, um auf einem uralten Friedhof zu spielen, an die Bäche eilten, um Molche, Kaulquappen