Agent Sonja - Ben Macintyre - E-Book

Agent Sonja E-Book

Ben Macintyre

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Beschreibung

Ursula Kuczynski wuchs in einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Berlin-Schlachtensee auf. In New York bewegte sie sich in den besten Kreisen. Sie hatte Affären, war mehrmals verheiratet und hatte Kinder. Doch ihre große, wahre Liebe galt dem Kommunismus. Ihm diente sie als Saboteurin, Bombenbauerin und Geheimagentin. Ihr Codename: »Agent Sonja«.

1923, Ursula ist gerade einmal sechzehn Jahre alt, wird sie bei einer 1.-Mai-Demonstration von einem Polizisten niedergeknüppelt. Es ist nur ein Grund mehr für sie, der Kommunistischen Partei beizutreten und deren Ideen in die Welt hinauszutragen. Mit Anfang zwanzig begleitet sie ihren ersten Ehemann nach Shanghai, wo sie Richard Sorge kennenlernt. Der Meisterspion wirbt sie für den russischen Geheimdienst an und sorgt dafür, dass sie in Moskau eine Ausbildung zur Agentin absolviert. Von dort aus geht es für sie in die Mandschurei und anschließend in die Schweiz, wo sie ein Bombenattentat auf Hitler plant. In den 50er Jahren wird sie in der DDR unter dem Namen Ruth Werner zur Erfolgsautorin.
Den größten Dienst erweist sie der Sowjetunion aber, indem sie zwischen 1943 und 1949 Informationen über das britische Atomprogramm an Moskau weitergibt – eine der gefährlichsten Spionageaktionen des 20. Jahrhunderts.

Spannend und temporeich wie einen Thriller erzählt der Spionageexperte und Bestseller-Autor Ben Macintyre das unglaubliche, aber wahre Leben einer Spionin, die den Lauf der Weltgeschichte maßgeblich verändert hat.

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Seitenzahl: 638

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Cover for EPUB

Titel

3Ben Macintyre

Agent Sonja

Kommunistin, Mutter, Topspionin

Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger

Insel Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Agent Sonya bei Viking, part of the Penguin Random House group.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© der Originalausgabe Ben Macintyre, 2021

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Elena Giavaldi, Fotos: CollaborationJS/Trevillion Images; Mirrorpix/Getty Images

eISBN 978-3-458-77492-1

www.suhrkamp.de

Widmung

6»Tinker, Tailor, Soldier, Sailor … What will my Husband be?«

Traditioneller englischer Abzählreim und zugleich Orakelspiel junger Frauen, um die Zukunft vorherzusagen.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

7Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Einleitung

1 Steppenpferd

2 Die Hure des Orients

3 Agent Ramsey

4 Wenn Sonja tanzt

5 Die Spione, die sie liebten

6 Sperling

7 An Bord der Conte Verde

8 Unsere Frau in der Mandschurei

Bildteil 1

9 Ein Vagabundenleben

10 Von Peking nach Polen

11 Wem die Stunde schlägt

12 Der Maulwurfshügel

13 Eine zweckdienliche Ehe

14 Die Kindesentführerin

15 Die glückliche Zeit

16 Barbarossa

Bildteil 2

17 Weg in die Hölle

18 Atomspione

19 Milicent vom

MI

5

20 Operation Hammer

21 Frühlingsrauschen

22 Great Rollright

23 Eine sehr harte Nuss

24 Ruth Werner

Nachwort: Die Leben der anderen

Eine Anmerkung zu den Quellen

1. Steppenpferd

2. Die Hure des Orients

3. Agent Ramsay

4. Wenn Sonja tanzt

5. Die Spione, die sie liebten

6. Sperling

7. An Bord der Conte Verde

8. Unsere Frau in der Mandschurei

9. Ein Vagabundenleben

10. Von Peking nach Polen

11. Wem die Stunde schlägt

12. Der Maulwurfshügel

13. Eine zweckdienliche Ehe

14. Die Kindesentführerin

15. Die glückliche Zeit

16. Barbarossa

17. Weg in die Hölle

18. Atomspione

19. Milicent vom

MI

5

20. Operation Hammer

21. Frühlingsrauschen

22. Great Rollright

23. Eine sehr harte Nuss

24. Ruth Werner

Nachwort

Ausgewählte Bibliografie

Abbildungsnachweis

Abkürzungen:

Danksagungen

Informationen zum Buch

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9Einleitung

Wenn Sie im Jahr 1945 das malerische englische Dorf Great Rollright besucht hätten, wäre Ihnen vielleicht eine schlanke, dunkelhaarige und ungewöhnlich elegante Frau aufgefallen, die aus dem Natursteinhaus namens The Firs trat und auf ihr Fahrrad stieg. Sie hatte drei Kinder, und ihr Ehemann Len arbeitete in der nahe gelegenen Aluminiumfabrik. Sie war freundlich, aber zurückhaltend, und sprach Englisch mit einem leichten ausländischen Akzent. Sie backte ausgezeichnete Kuchen. Ihre Nachbarn in den Cotswolds wussten wenig über sie.

Sie wussten nicht, dass es sich bei der Frau, die sie Mrs. Burton nannten, eigentlich um Oberst Ursula Kuczynski von der Roten Armee handelte, eine überzeugte Kommunistin, hochdekorierte Offizierin des sowjetischen Militärgeheimdienstes und hochqualifizierte Spionin, die in China, Polen und der Schweiz Spionageaktionen durchgeführt hatte, bevor sie auf Befehl Moskaus nach Großbritannien kam. Sie wussten weder, dass jedes ihrer drei Kinder einen anderen Vater hatte, noch, dass Len Burton ebenfalls Geheimagent war. Sie wussten außerdem nicht, dass sie eine deutsche Jüdin und erbitterte Gegnerin des Nazismus war, die während des Zweiten Weltkrieges gegen die Faschisten spioniert hatte und nun im neuen Kalten Krieg Großbritannien und Amerika ausspionierte. Sie wussten nicht, dass Mrs. Burton (eigentlich Beurton geschrieben) in der Außentoilette hinter The Firs einen leistungsstarken Funksender installiert hatte, über den sie mit dem Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes in Moskau in Verbindung stand. Die Dorfbewohner von Great Rollright wussten nicht, dass Mrs. Burton in ihrer letzten Mission während des Krieges kommunistische Spione in eine streng geheime amerikanische Operation eingeschleust hatte, die Anti-Nazi-Agenten per 10Fallschirm in das untergehende Dritte Reich schmuggelte. Angeblich arbeiteten diese »guten Deutschen« für Amerika, in Wirklichkeit jedoch für Oberst Kuczynski aus Great Rollright.

Aber Mrs. Burtons wichtigster Undercoverauftrag war einer, der die Zukunft der Welt bestimmen sollte: Sie half der Sowjetunion beim Bau der Atombombe.

Jahrelang hatte Ursula Burton ein Netzwerk kommunistischer Spione tief im britischen Atomwaffenforschungsprogramm geleitet und die Informationen an die Sowjetunion weitergereicht, die es sowjetischen Wissenschaftlern schließlich ermöglichen sollte, eine eigene Atombombe zu bauen. Sie war voll ins Dorfleben integriert; um ihre Scones wurde sie in Great Rollright beneidet. Aber in ihrer verborgenen Parallelwelt war sie zum Teil dafür verantwortlich, das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West aufrechtzuerhalten und (wie sie glaubte) einen Atomkrieg zu verhindern, indem sie der einen Seite Atomwaffentechnologie stahl, um sie der anderen zu geben. Als sie sich mit ihren Lebensmittelkarten und ihren Einkaufstaschen aufs Fahrrad schwang, war Mrs. Burton auf den Erwerb tödlicher Geheimnisse aus.

Ursula Kuczynski Burton war Mutter, Hausfrau, Schriftstellerin, Funkexpertin, Meisterspionin, Kurierin, Saboteurin, Bombenbauerin, Kalte Kriegerin und Geheimagentin zugleich.

Ihr Codename war »Sonja«. Dies ist ihre Geschichte.

111 Steppenpferd

Am 1. Mai 1924 schlug ein Berliner Polizist mit seinem Schlagstock auf den Rücken einer Sechzehnjährigen ein und trug so dazu bei, eine Revolutionärin zu schmieden.

Bereits seit Stunden waren Tausende Berliner während des Mai-Aufmarschs zum jährlichen Feiertag der Arbeiterbewegung durch die Straßen gezogen. Unter ihnen viele Kommunisten mit einem großen Anteil an Jugendlichen. Sie trugen rote Nelken, auf ihren Transparenten stand »Hände weg von Sowjetrussland«, und sie sangen kommunistische Lieder: »Wir sind die Schmiede; der Zukunft Schlüssel mit unseren Hämmern schmieden wir.« Politische Demonstrationen waren für diesen Tag verboten worden, und missmutig dreinschauende Polizisten säumten die Straßen. Eine Handvoll Braunhemden versammelte sich an einer Straßenecke, um spöttisch zu johlen. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Eine Flasche segelte durch die Luft. Die Kommunisten sangen lauter.

In vorderster Reihe der kommunistischen Jugendgruppe marschierte ein schlankes Mädchen mit einer Ballonmütze, das zwei Wochen später siebzehn werden würde. Für Ursula Kuczynski war es die erste Demonstration, und ihre Augen strahlten vor Aufregung, während sie ihr Transparent schwang und die Hymne »Auf, auf zum Kampf« schmetterte. Man nannte sie »Steppenpferd«, und während sie singend mitmarschierte, vollführte sie einen kleinen Freudentanz.

Der Umzug bog gerade in die Mittelstraße ein, als die Polizei zuschlug. »Plötzlich übertönte vorn im Zug das grelle Quietschen eines zu schnell anhaltenden Wagens den Gesang. Schreie, Pfiffe und Protestrufe folgten. […] Jugendliche wurden aufs Pflaster geworfen und dann zum Lastwagen geschleppt.« In all diesem Ge12tümmel landete Ursula der Länge nach auf dem Bürgersteig. Als sie aufschaute, ragte ein stämmiger Polizist über ihr auf. Schweißflecken unter den Achseln seiner grünen Uniform. Der Mann grinste, hob seinen Schlagstock und ließ ihn mit voller Kraft auf ihr Kreuz niederkrachen.

Ihre erste Reaktion war rasende Wut, gefolgt von den heftigsten Schmerzen, die sie je erlebt hatte. Sie »bekam keine Luft und begann vergebens zu rennen«. Ein junger befreundeter Kommunist namens Gabo Lewin zog sie in einen Hauseingang. »In Ordnung«, sagte er, während er ihren Rücken an der Stelle massierte, wo der Schlagstock sie erwischt hatte. »Gleich wird dir besser sein.« Ursulas Gruppe hatte sich aufgelöst. Einige waren verhaftet worden. Aber mehrere tausend weitere Demonstranten näherten sich auf der breiten Straße. Gabo half Ursula auf die Füße und gab ihr eines der am Boden liegenden Protestschilder. »Ich blieb auf der Demonstration«, schrieb sie später, »nicht ahnend, daß dies eine Entscheidung fürs Leben war.«

Ursulas Mutter war außer sich vor Wut, als ihre Tochter an jenem Abend nach Hause geschwankt kam, mit zerrissener Kleidung und einem violetten Streifen quer über dem Rücken.

Berta Kuczynski wollte wissen, wie Ursula dazu gekommen war, »Arm in Arm mit einer Bande betrunkener Halbwüchsiger johlend durch die Straßen« zu ziehen.

»Wir waren nicht betrunken, und gegrölt haben wir auch nicht«, entgegnete Ursula.

»Wer sind diese Halbwüchsigen?«, verlangte Berta zu wissen. »Was soll denn das, was hast du mit dieser Gesellschaft zu tun?«

»Diese Gesellschaft ist die Ortsgruppe der Kommunistischen Jugend. Ich bin dort Mitglied.«

Berta schickte Ursula direkt ins Arbeitszimmer ihres Vaters.

»Ich respektiere jedes Menschen Ansicht und auch deinen Wunsch, die verschiedenen Weltanschauungen kennenzulernen«, erklärte Robert Kuczynski seiner Tochter. »Ich lasse dir jede Frei13heit. Aber ein siebzehnjähriges Mädchen ist noch nicht reif genug, sich bereits politisch festzulegen. Ich bitte dich dringend, gib deine Mitgliedskarte zurück und warte ein paar Jahre mit einer Entscheidung.«

Ursula hatte bereits eine Antwort parat. »Wenn Siebzehnjährige alt genug sind, zu arbeiten und sich ausbeuten zu lassen, sind sie auch alt genug, gegen die Ausbeutung zu kämpfen. […] Und gerade dadurch bin ich Kommunistin geworden.«

Robert Kuczynski sympathisierte mit den Kommunisten und bewunderte den Enthusiasmus seiner Tochter, doch Ursula konnte eindeutig etwas schwierig sein. Die Kuczynskis mochten zwar den Kampf der Arbeiterklasse unterstützen, aber das umfasste nicht den Wunsch, dass ihre Tochter mit ihr verkehrte.

Dieser politische Radikalismus sei doch lediglich eine Eintagsfliege, sagte Robert zu Ursula. »In fünf Jahren wirst du darüber lächeln.«

»In fünf Jahren«, konterte sie, »will ich ein doppelt so guter Kommunist sein wie heute.«

Die Familie Kuczynski war vermögend, einflussreich und zufrieden, und wie jeder andere jüdische Haushalt in Berlin hatte man nicht die geringste Ahnung, dass ihre Welt innerhalb weniger Jahre von Krieg, Revolution und systematischem Völkermord weggefegt werden sollte. 1924 lebten in Berlin etwa 160 ‌000 Juden, das war knapp ein Drittel der in Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung.

Robert René Kuczynski war Deutschlands renommiertester Bevölkerungswissenschaftler, ein Pionier der Verwendung von Zahlenmaterial zur Formulierung von Sozialpolitik. Seine Methode zur Berechnung des Bevölkerungswachstums – die Nettoreproduktionsrate/Fertilitätsrate nach Kuczynski – findet noch heute Anwendung. Roberts Vater, ein erfolgreicher Bankier und Präsident der Berliner Börse, vererbte seinem Sohn die Leidenschaft für Bü14cher sowie das nötige Geld, sich ihr auch hingeben zu können. Als freundlicher, zerstreuter Gelehrter und stolzer Nachkomme von sechs Generationen Intellektueller besaß Kuczynski die größte Privatbibliothek Deutschlands.

1903 heiratete Robert mit Berta Gradenwitz, der Tochter eines Bauunternehmers, einen weiteren Spross der deutsch-jüdischen Wirtschafts- und Kulturelite. Berta war Künstlerin, intelligent und eher faul. Ursulas früheste Erinnerungen an ihre Mutter bestanden aus Farben und Texturen: »Alles schimmert braun und gold. Der Samt, ihre Haare … ihre Augen.« Berta war keine übermäßig talentierte Malerin, was ihr jedoch niemand gesagt hatte, weswegen sie glücklich vor sich hinpinselte, und sie war ihrem Mann eine hingebungsvolle Ehefrau, wobei sie allerdings die tägliche, ermüdende Arbeit der Kinderbetreuung ihren Angestellten überließ. Die kosmopolitischen und säkularen Kuczynskis verstanden sich vor allem als Deutsche und erst mit großem Abstand als Juden. Zu Hause sprachen sie häufig Englisch oder Französisch.

Die Kuczynskis kannten jeden, der in den linksintellektuellen Kreisen Berlins Rang und Namen hatte: den prominenten Sozialisten Karl Liebknecht, die Künstler Käthe Kollwitz und Max Liebermann, den Industriellen und späteren Außenminister Walther Rathenau. Albert Einstein war einer von Roberts engsten Freunden. An jedem beliebigen Abend versammelte sich eine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Politikern und Intellektuellen, Juden und Nichtjuden gleichermaßen, um den Esstisch der Kuczynskis. Wo genau Robert in dem verwirrenden politischen Kaleidoskop Deutschlands stand, war ebenso umstritten wie wechselhaft. Seine Ansichten reichten von links der Mitte bis weit links, aber Robert war ein wenig zu sehr von sich selbst eingenommen, als sich durch bloße Etiketten festlegen zu lassen. Wie Rathenau bissig bemerkte: »Kuczynski bildet immer eine Ein-Mann-Partei und stellt sich dann auf deren linken Flügel.« Sechzehn Jahre lang bekleidete er den Posten des Direktors des Statis15tischen Amtes im Bezirk Berlin-Schöneberg, eine leichte Aufgabe, die ihm viel Zeit ließ, um wissenschaftliche Abhandlungen, Artikel für linksgerichtete Zeitungen zu verfassen und sich an fortschrittlichen sozialen Kampagnen zu beteiligen, insbesondere zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Elendsvierteln Berlins (die er selbst aufgesucht haben mag oder auch nicht).

Ursula Maria war das zweite der sechs Kinder von Robert und Berta. Das erste, der drei Jahre vor ihr im Jahr 1904 geborene Jürgen, war der einzige Junge in der Familie. Auf Ursula folgten vier Schwestern: Brigitte (1910), Barbara (1913), Sabine (1919) und Renate (1923). Brigitte war Ursulas Lieblingsschwester, die ihr in Alter und politischer Orientierung am nächsten war. Es bestand nie ein Zweifel daran, dass der Sohn im Rang die erste Stelle einnahm: Jürgen war frühreif, klug, sehr rechthaberisch, völlig verwöhnt und seinen jüngeren Schwestern gegenüber unendlich herablassend. Er war Ursulas Vertrauter und heimlicher Konkurrent. »Was soll ich über ihn sagen, der mir der beste und klügste Mensch ist, den ich kenne.« Sie liebte und verachtete Jürgen gleichermaßen.

1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, zogen die Kuczynskis in eine große Villa am Schlachtensee im vornehmen Berliner Vorort Zehlendorf am Rande des Grunewalds. Das Anwesen, das heute noch steht, wurde auf einem Grundstück gebaut, das Bertas Vater ihr vermacht hatte. Das weitläufige Gelände zog sich bis hinunter ans Wasser und umfasste einen Obstgarten, ein Waldstück und einen Hühnerstall. Ein Anbau wurde errichtet, um Roberts Bibliothek unterzubringen. Die Kuczynskis beschäftigten eine Köchin, einen Gärtner, zwei weitere Hausangestellte und, am wichtigsten, ein Kindermädchen.

Olga Muth, genannt Ollo, war mehr als nur ein Mitglied der Familie. Sie war ihr Fels, der im öden Alltag für Stabilität sorgte, für strenge Regeln, aber auch grenzenlose Zuneigung. Ollo, die Tochter eines Matrosen der kaiserlichen Marine, hatte im Alter von sechs Jahren ihre Eltern verloren und war in einem preußischen 16Militärwaisenhaus aufgewachsen, einem Ort unbeschreiblicher Brutalität, von dem ihr eine verletzte Seele, ein großes Herz und ein unerschütterlicher Sinn für Disziplin blieben. Ollo war dreißig, als sie 1911 eine Stelle als Kindermädchen im Haushalt der Kuczynskis antrat, eine quirlige, energische und scharfzüngige Frau.

Ollo konnte wesentlich besser mit Kindern umgehen als Berta und verfügte über ausgefeilte Techniken, ihr das unter die Nase zu reiben: Das Kindermädchen führte einen stillen Krieg gegen Frau Kuczynski, der gelegentlich in wütenden Auseinandersetzungen gipfelte, bei denen sie für gewöhnlich hinausstürmte, um aber immer wieder zurückzukehren. Ursula war Ollos Liebling. Das Mädchen fürchtete sich vor der Dunkelheit, und während unten das gesellige Abendessen in vollem Gange war, wurde sie von Muths sanften Liedern in den Schlaf gewiegt. Erst Jahre später erkannte Ursula, dass Ollos Liebe zum Teil durch eine »Parteinahme für mich gegen die Mutter im stummen, eifersüchtigen Kampf um uns Kinder« motiviert war.

Ursula war ein schlaksiges Kind, wissbegierig und unruhig auf eine Weise, die ihre Mutter als überaus anstrengend empfand. Sie hatte einen Schopf aus dunklem, drahtigem Haar; »widerborstig wie Rosshaar«, murmelte Ollo vor sich hin und bürstete grimmig. Sie hatte eine geradezu idyllische Kindheit, schwamm im See, sammelte Eier ein und spielte Verstecken zwischen den Vogelbeersträuchern. Einen Teil jedes Sommers verbrachten sie in Ahrenshoop an der Ostseeküste im Ferienhaus ihrer Tante Alice, Roberts Schwester.

Ursula war sieben Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. »Ab heute gibt es keine Unterschiede mehr zwischen uns, ab heute sind wir alle Deutsche, die das Vaterland verteidigen«, verkündete ihr Schuldirektor. Robert meldete sich zum preußischen Garderegiment, war aber mit seinen siebenunddreißig Jahren zu alt für den aktiven Dienst und verbrachte den Krieg stattdessen mit der Berechnung des deutschen Nahrungsbedarfs. Wie viele Juden 17kämpfte auch Alices Ehemann Georg Dorpalen tapfer an der Westfront und kehrte mit einer patriotischen Verwundung und einem Eisernen Kreuz zurück. Ihr Vermögen bewahrte die Kuczynskis vor den schlimmsten Entbehrungen des Krieges, aber Lebensmittel waren knapp, und so wurde Ursula in ein Heim für unterernährte Kinder an der Nordsee geschickt. Ollo packte ihr eine Tüte mit Schokoladentrüffeln, selbstgemacht aus Kartoffeln, Kakao und Süßstoff, sowie einen Stapel Bücher ein. Bei ihrer Heimkehr war Ursula eine begeisterte Leserin und durch die Ernährung mit Knödeln und Backpflaumen einige Pfund schwerer, und der Krieg war vorbei. »Nimm die Ellbogen vom Tisch«, mahnte ihre Mutter. »Laß das Schlürfen.« Ursula rannte aus dem Esszimmer und knallte hinter sich die Tür zu.

Deutschlands Niederlage und die darauffolgende Demütigung markierten den Anfang vom Ende der glücklichen Existenz der Kuczynskis. Heftige, gegenläufige Strömungen politischer Gewalt erfassten das Land. Eine Welle innerer Unruhen löste die Abdankung des Kaisers aus, und ein linksorientierter Aufstand wurde von Resten der kaiserlichen Armee und rechtsgerichteten Freikorps brutal niedergeschlagen. Am 1. Januar 1919 gründeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die KPD, wurden jedoch innerhalb weniger Tage gefangen genommen und ermordet. Die Zeit der Weimarer Republik begann, eine Ära der kulturellen Blüte, des Hedonismus, der Massenarbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Unsicherheit und des aufgewühlten politischen Konflikts, während die polarisierten Kräfte der extremen Rechten und der radikalen Linken mit zunehmender Heftigkeit aufeinanderprallten. Robert Kuczynskis politische Ansichten verschoben sich weiter nach links. »Die Sowjetunion ist die Zukunft«, behauptete er nach 1922. Obwohl er nie in die KPD eintrat, erklärte Robert, dass die Kommunistische Partei die »am wenigsten unerträgliche« der verfügbaren Alternativen sei. In seinen journalistischen Arbeiten sprach er sich für eine radikale Umverteilung des deutschen Reich18tums aus. Seine politische Einstellung erregte die Aufmerksamkeit rechtsextremer Nationalisten und Antisemiten. »Er ist nicht nur gegen uns«, bemerkte ein deutscher Industrieller düster. »Er ist überdies äußerst unverschämt.«

Die turbulente vierzehnjährige Periode zwischen dem Sturz des Kaisers und dem Aufstieg Hitlers wird als Zeit zunehmender Bedrohung gesehen, als Kulisse für das Grauen, das folgte. Aber es war auch berauschend, aufregend und spannend, in jenen Jahren jung und voller Idealismus zu sein, während die Welt verrückt wurde. Kriegsschulden, Reparationszahlungen und finanzielle Misswirtschaft lösten eine Hyperinflation aus. Das Bargeld war kaum noch das Papier wert, auf dem es gedruckt war. Die einen hungerten, während andere mit Geld nur so um sich warfen, da es keinen Sinn hatte, Geld zu behalten, das schon bald keinen Wert mehr besaß. Es kam zu surrealen Szenen: Die Preise schossen so schnell in die Höhe, dass die Kellner in den Restaurants auf die Tische kletterten, um alle halbe Stunde die neuen Preise der Speisekarte zu verkünden; für einen Laib Brot, der 1922 noch 160 Mark gekostet hatte, musste man Ende 1923 200 ‌000 ‌000 Mark bezahlen. Ursula schrieb: »Die Frauen stehen am Fabriktor und warten auf den Lohn des Mannes. Ganze Bündel von Milliardenmarkscheinen erhält er jetzt jede Woche. Mit dem ›Geld‹ rennen sie dann in die Geschäfte, denn zwei Stunden später kostet die Margarine vielleicht das Doppelte.« Eines Nachmittags fand sie im Park einen Mann, der unter einer Bank lag, einen Kriegsveteranen mit einem Beinstumpf, der ein erbärmliches Bündel Habseligkeiten an seine Brust drückte. Er war tot. »Warum gibt es so schlechte Sachen auf der Welt?«, fragte sie sich.

Obwohl das Leben am Schlachtensee mit seinen kultivierten Gesprächen und feinen Möbeln weitgehend so verlief wie zuvor, waren Millionen Menschen politisch radikalisiert. 1922 wurde Außenminister Walther Rathenau von ultranationalistischen Rechten ermordet, nachdem er den Vertrag von Rapallo mit der So19wjetunion unterzeichnet hatte. Täglich wurde Ursula Zeugin des grotesken Missverhältnisses zwischen den städtischen Armen und dem wohlhabenden Bürgertum, zu dem sie selbst gehörte. Sie verschlang die Werke von Lenin und Luxemburg, die radikalen Romane von Jack London und Maxim Gorki. Wie ihr Bruder wollte sie auf die Universität gehen.

Jürgen war bereits ein aufsteigender Stern der akademischen Linken. Nach dem Studium der Philosophie, Volkswirtschaft und Statistik an den Universitäten von Berlin, Erlangen und Heidelberg promovierte er zum Doktor der Philosophie, bevor er 1926 für ein postgraduales Studium an die Brookings Institution in Washington, D. ‌C., ging. Dort lernte er die Kollegin und Wirtschaftswissenschaftlerin Marguerite Steinfeld kennen, die er zwei Jahre später heiratete.

Berta sprach ein Machtwort: Ihre eigensinnige Tochter brauche keine weitere Ausbildung; sie brauche zunächst frauliche Fähigkeiten und dann einen Ehemann. 1923, im Alter von sechzehn Jahren, wurde Ursula an einer Handelsschule angemeldet, um Maschinenschreiben und Stenografie zu lernen.

Nachts schrieb sie Gedichte, Kurzgeschichten, Abenteuer- und Liebesgeschichten. Da ihr eine akademische Ausbildung verwehrt wurde, steckte sie ihre Energie in ihre Fantasiewelt. Ihre kindischen Texte spiegelten eine Sehnsucht nach Aufregung, ein Gefühl fürs Theater und eine Liebe zum Absurden wider. Ursula war immer die Hauptfigur in ihren eigenen Geschichten, und sie schrieb von sich selbst in der dritten Person, von einer jungen Frau, die durch Entschlossenheit und Risikobereitschaft Großes vollbringt. Über eine Figur schrieb sie: »Sie hatte die körperliche Schwäche ihrer Kindheit überwunden, sie hatte sich gestählt und war stark.« Ihre kleinen Schwestern nannten sie das »Märchenpferd«. In ihrem Tagebuch finden sich die üblichen launischen Teenagersorgen, aber auch ein unbändiger Optimismus. »Ich bin ein Querkopf«, schrieb sie, »ich Mischlingsgebräu mit schwarzer 20Strubbelmähne, Judennase und unbeholfenen Gliedern, sitze hier dumpf und verkniffen, zanke mich, unke, brüte. […] Aber dann gibt es einen blauen Himmel, eine wärmende Sonne, Tautropfen auf den Tannen und ein Flirren in der Luft, und ich will große Schritte machen, springen, rennen und jeden Menschen lieben.«

In dem Jahr, in dem Ursulas Schulausbildung endete, setzte Hitler zum Putsch an. Der Umsturzversuch scheiterte zwar, machte den zukünftigen Führer jedoch allgemein bekannt und brachte ihm die Festungshaft in Landsberg ein, wo er Teile des ersten Bandes von Mein Kampf verfasste.

Mit den politischen Instinkten des Vaters, schockiert von der menschlichen Entwürdigung, die sie miterlebt hatte, angewidert vom Faschismus und fasziniert von den aufwallenden, neuen Ideen der sozialen Gleichheit, des Klassenkampfs und der Revolution, fühlte sich Ursula unaufhaltsam zum Kommunismus hingezogen. »Deutschlands eigene sozialistische Revolution steht unmittelbar bevor«, verkündete sie. »Der Kommunismus wird die Menschen glücklicher und besser machen.« Die bolschewistische Revolution habe bewiesen, dass die alte Ordnung korrupt sei und verfault, dem Untergang geweiht. Der Faschismus müsse zerschlagen werden. 1924 trat sie dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands bei und bezog damit die ideologische Heimat, in der sie für den Rest ihres Lebens bleiben sollte. Sie war sechzehn Jahre alt. Wie andere Kommunisten aus wohlhabenden Familien spielte Ursula ihre privilegierte Herkunft herunter. »So lebten wir durchaus vergnügt, aber viel bescheidener, als man vermutet hätte«, betonte sie. »Ein Urgroßvater verkaufte Schnürsenkel auf einem Karren in Galizien.«

Ursulas kommunistische Mitstreiter kamen aus allen Ecken, Klassen und Gemeinden Berlins, vereint in der Entschlossenheit, die kapitalistische Unterdrückung zu stürzen und eine neue Gesellschaftsordnung einzuführen. In dieser berauschenden Atmosphäre blühten schnell Freundschaften auf. Gabriel »Gabo« Le21win war ein Junge aus der vorstädtischen Mittelschicht. Heinz Altmann war ein gutaussehender Lehrling, dessen Drängen Ursula den »letzten Anstoß« gegeben hatte, der Partei beizutreten. Dies waren die jungen Fußsoldaten des deutschen Kommunismus, und Ursula war begeistert, eine von ihnen zu sein. Die Maidemonstration 1924 prägte ihre Risikobereitschaft für das ganze weitere Leben. Die Prellungen und blauen Flecken durch den Polizeiknüppel verblassten irgendwann, ihre Empörung jedoch nie.

An den Wochenenden unternahm der Kommunistische Jugendverband Ausflüge aufs Land, um den deutschen Bauern den Marxismus-Leninismus zu erklären, die als Antwort den jungen Propagandisten häufig ihre Hunde auf den Hals hetzten. Eines Abends, in Löwenberg nördlich von Berlin, erlaubte ein wohlwollender Bauer der Gruppe, auf seinem Heuboden zu schlafen. »An diesem Abend waren wir besonders fröhlich«, schrieb Ursula. »Kaum hatten wir uns niedergelegt, begann einer sich den Ort zwanzig Jahre später vorzustellen. Löwenberg 1944 …, längst kommunistisch […]. Lange stritten wir uns, ob das Geld bereits abgeschafft sein würde. Wir wären dann leider schon uralt – so um die Mitte dreißig …« Sie schliefen ein und träumten von der Revolution.

Ursula war von Natur aus Missionarin. Sie predigte nie, aber sie liebte es zu bekehren und neigte dazu, Ungläubige so lange zu bearbeiten, bis sie die Welt sahen wie sie. Sie nahm sich auch das Kindermädchen der Familie vor. »Nach vergeblichen Bemühungen, sie beide [die Eltern] politisch zu gewinnen, konzentrierte ich mich auf [Ollo]. Bei ihr hatte ich mehr Erfolg«, behauptete Ursula. Olga Muth war auch nicht ansatzweise interessiert, ließ aber das Mädchen in dem Glauben, sie würde zuhören.

Die Kuczynskis waren nicht erbaut darüber, dass ihre Tochter von Polizisten verprügelt wurde und ihre Nächte mit einer Horde junger Kommunisten auf Heuböden verbrachte. Als sie feststellten, dass »Lesen ihr einziges Interessengebiet war«, vermittelte Robert ihr eine Lehrstelle in der Buchhandlung R. ‌L. Prager in 22der Mittelstraße, die sich auf die Fachgebiete Rechts- und Politikwissenschaften spezialisiert hatte. Berta kaufte ihr ein Paar damenhafte Schuhe, ein dunkelblaues Kostüm mit weißem Kragen, Handschuhe und eine Krokodillederhandtasche. Mutter und Kindermädchen inspizierten Ursula, als sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Arbeitstag machte.

»Vorne nichts und hinten nichts«, meinte Ollo. »Du siehst noch immer wie ein Junge aus.«

»Aber die Beine sind recht hübsch geformt«, sagte Berta, »natürlich sieht man das nur, wenn du kleine Schritte machst.«

Ollo stimmte zu: »Aus [Ursel] wird nie eine Dame werden.«

Wie alles, was Olga Muth sagte, war auch dies hart, aber wahr. Mit ihrer langen Nase, ihrer wilden Mähne und ihrer unverblümten Art hatte Ursula so gar nichts Damenhaftes. »Ich werde mich nie in den berühmten schönen Schwan verwandeln«, schrieb sie in ihr Tagebuch. »Wie sollten auch meine Nase, meine Ohren und mein Mund plötzlich kleiner werden?« Und doch besaß sie bereits als Teenager eine starke erotische Ausstrahlung, die viele unwiderstehlich fanden. Sie kicherte, als der Arbeiter, der das Dach der Dresdner Bank reparierte, ihr lüstern nachpfiff, als sie zur Arbeit radelte: »Nachdem ich etliche Kußhände von ihm erhalten habe, breitet er weit die Arme aus.« Mit ihren strahlenden Augen, der schlanken Figur und dem ansteckenden Lachen war sie auf den Zehlendorfer Teenagerpartys nie um einen Tanzpartner verlegen. Auf einem Kostümfest trug sie »knallrot leuchtend, ganz kurz anliegende Höschen, enger Kittel, steifer Kragen« und tanzte bis morgens um halb sieben. »Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte 20 Jungens geküsst«, erzählte sie ihrem Bruder, »aber wenn man Rolf nicht mitrechnet, waren es höchstens neunzehn.«

Die Arbeit bei Prager war langweilig und anstrengend. Der Geschäftsführer war ein kettenrauchender Tyrann mit einem großen, kahlen und leicht spitz zulaufenden Kopf, der sich ständig neue Demütigungen und sinnlose Aufgaben für seine Angestell23ten ausdachte. Ursula gab ihm den Spitznamen »die Zwiebel« und bezeichnete ihn als kapitalistischen Ausbeuter. Sie verbrachte ihre Zeit damit, »täglich das Staubtuch auszuschütteln, in fensterlosen, staubigen Nischen stehen«. Lesen war während der Arbeit nicht erlaubt. »Es gab andere Berufe«, sinnierte sie. »Holzfäller zum Beispiel. Könnte man weiblicher Holzfäller werden?« Ihr kleines Gehalt war durch die galoppierende Inflation fast wertlos geworden. Später erinnerte sie sich an ihre Jugendjahre in der Weimarer Republik in Form politisch gefärbter Bilder: »Seit fast zwei Jahren las ich fast ausschließlich fortschrittliche Literatur, sah bewußt den Reichtum der wenigen, die Armut der vielen, die bettelnden Arbeitslosen an den Straßenecken.« Sie beschloss, die Welt zu verändern. Denn Ursula war ehrgeizig und selbstbewusst: Sie würde die Gesellschaft radikaler verändern als ihr Vater, und sie war entschlossen, eine bessere Mutter zu sein als ihre eigene. Diese beiden Ziele sollten nicht immer gut miteinander vereinbar sein.

Robert und Berta Kuczynski gaben den Versuch auf, ihre Tochter politisch zu zügeln. 1926 nahm Robert zusammen mit Jürgen eine befristete Stelle an der Brookings Institution an, wo er über amerikanische Finanz- und Bevölkerungsstatistiken forschte. Im Verlauf der nächsten paar Jahre waren er und Berta regelmäßig in Amerika und überließen Ursula und Olga Muth die Führung des Haushalts, was die Bindung zwischen den beiden verstärkte. »Unsere Ollo, […] die nie jemand zum Lieben hatte. Ollo, das hysterische graue, kleine Wesen, das mit fast jedem von uns Mädchen Krach hat, immer unzufrieden ist. Ollo, die für uns durchs Feuer geht, alles für uns tut, nur für uns lebt und nichts auf der Welt kennt als ihre sechs.« Ursulas Briefe an ihre Teilzeit-Eltern spiegelten ihren sarkastischen Groll wider: »Liebe Mutti […]. Ich kann mich nur darauf verlassen, daß Deinem mütterlichen Gefühl auch die Kleinigkeiten […] noch interessant sind.« In einem anderen Brief mahnte sie: »Einstimmig hoffen wir, daß Mutti bald nicht mehr Hausangelegenheiten, wie Empfehlungen von Kohlgerich24ten, Mittel zur Zimmerreinigung, […] und andere Ratgeber in allen Lebenslagen einfallen.«

Während Ursula ihre Tage damit verbrachte, Bücher abzustauben, verfasste ihr Bruder welche. 1926 veröffentlichte der 22-jährige Jürgen Kuczynski Zurück zu Marx, den Auftakt zu einer Lawine an Druckwerken, die er in den kommenden Jahrzehnten lostreten würde. Jürgen hörte sich gern reden, aber noch mehr liebte er den Klang seiner Feder. Sein Lebenswerk war gewaltig: Mindestens 4 ‌000 veröffentlichte Arbeiten, darunter Unmengen an Journalismus, Pamphleten, Reden und Essays über Politik, Wirtschaft, Statistik und sogar das Kochen. Jürgen wäre ein besserer Schriftsteller gewesen, wäre es ihm gelungen, weniger zu schreiben. Sein Stil wurde mit zunehmendem Alter weniger blumig, doch er konnte sich nicht dazu durchringen, in wenigen Worten zu sagen, was man auch in vielen sagen konnte. Seine Studie über Arbeitsbedingungen umfasste schließlich vierzig Bände. Zurück zu Marx war mit 500 Seiten ein vergleichsweise schlankes Werk. Mit seiner typischen Schwülstigkeit sagte er seiner Schwester, er hoffe, dass die Arbeiter es mit Freude lesen würden. Ursula machte einige redaktionelle Vorschläge: »Sage alles einfacher, kurze Sätze, Du sollst Deine Ideen nicht vergröbern, aber durch Einfachheit der Erklärungen vermeiden, daß sie nur halb verstanden werden. Manchmal macht es eine Sache nur komplizierter, wenn man sie, um sie recht eindringlich zu machen, in zwei bis drei Sätzen, nur in anderen Bildern, in anderer Satzform wiedergibt.« Ein hervorragender Rat, den Jürgen nicht befolgte.

Zu Hause und auf der Arbeit legte sich Ursula mächtig ins Zeug; anderswo war sie eine Revolutionärin.

Wenige Wochen vor ihrem neunzehnten Geburtstag trat sie in die KPD ein, die größte kommunistische Partei Europas. Unter ihrem neuen Vorsitzenden Ernst Thälmann wurde die Ausrichtung der Partei zunehmend leninistisch (und später stalinistisch), sie fühlte sich zwar der Demokratie verpflichtet, erhielt aber Be25fehle und finanzielle Mittel direkt aus Moskau. Die KPD besaß mit dem Roten Frontkämpferbund eine paramilitärische Abteilung, die vor allem in eskalierende Straßenkämpfe mit den Nazi-Braunhemden verwickelt war. Die Kommunisten bereiteten sich auf den Kampf vor. In mondhellen Nächten in einer abgelegenen Ecke des Grunewalds brachten Ursulas erste Freunde aus dem Kommunistischen Jugendverband, Gabo Lewin und Heinz Altmann, ihr das Schießen bei. Zunächst verfehlte sie ständig das Ziel, bis Gabo sie darauf hinwies, dass sie das falsche Auge geschlossen hatte. Wie sich herausstellte, war sie eine ausgezeichnete Schützin. Gabo gab ihr eine halbautomatische Luger und zeigte ihr, wie man die Waffe auseinandernahm und reinigte. Sie versteckte die Pistole in ihrer Villa am Schlachtensee hinter einem Balken auf dem Dachboden, verborgen in einem zerrissenen Kissen. Wenn die Revolution käme, würde sie bereit sein.

Ursula beteiligte sich an den antifaschistischen Demonstrationen und an den Vorbereitungen zum Jahrestag der Russischen Revolution. In den Mittagspausen saß sie Unter den Linden, dem von Bäumen gesäumten Boulevard im Zentrum Berlins, und las die kommunistische Tageszeitung Die Rote Fahne. Oft suchte sie die Taxifahrer und Obstverkäufer der Arbeiterklasse auf, von denen viele Kommunisten waren, und diskutierte mit ihnen leidenschaftlich über Politik.

Eines Nachmittags schloss sich Ursula einer Gruppe junger Linker an, die sowohl der SPD und als auch der KPD angehörten, um an einem See außerhalb von Berlin schwimmen und sonnenbaden zu gehen. Später erinnerte sie sich an diesen Moment. »Ich dreh mich um. Da steht ein Mensch, Mitte zwanzig, gut gewachsen, einen weichen Schlapphut auf, ein kluges, fast schönes Gesicht. Er sieht mich an. […] Die Augen werden weit, das braune Dunkel – er ist Jude.« Der Mann fragte, ob er sich zu ihr setzen und mit ihr plaudern dürfe. »Geht nicht«, erwiderte sie. »Ich muß zu einem Abendkurs der MASCH [Marxistischen Arbeiterschu26le].« Er bleibt hartnäckig und fragt, ob sie sich ein andermal wiedersehen könnten. »Könnte man überlegen«, sagte Ursula und eilte davon. Ein paar Tage später wartete der junge Mann mit den braunen Augen vor dem Gebäude, in der ihr marxistischer Abendkurs stattfand.

Rudolf Hamburger war Architekturstudent an der Technischen Hochschule Berlin. Rudi war vier Jahre älter als Ursula und, wie sich herausstellte, ein entfernter Verwandter – seine Mutter und Berta Kuczynski waren Cousinen zweiten Grades – und kam aus einem ähnlichen Umfeld. Hamburger war in Landeshut in Niederschlesien geboren worden, wo sein Vater Max Textilfabriken besaß, die Armeeuniformen herstellten. Als zweiter von drei Söhnen wuchs Rudi in einer politisch und religiös liberalen Umgebung auf. Max Hamburger baute für seine 850 Arbeiter eine Mustersiedlung. Die Familie war politisch fortschrittlich, aber alles andere als revolutionär. Rudi war bereits ein leidenschaftlicher Verfechter der architektonischen Moderne und der Bauhaus-Bewegung. Zu seinen Kommilitonen, schrieb er, gehörten »ein Kroate, ein österreichischer Aristokrat, ein Japaner, der Innenräume in delikat abgestimmten Pastellfarben entwarf, ein Anarchist, […], ein Jude, der vom Innenminister einen arischen Namen erwirkte und sich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche trauen liess, eine Ungarin, die viel zu viel von ihrem Genie hielt, ein Wiener, der nur Theater entwarf und seine Hoffnung auf eine ihm bekannte Schauspielerin des Deutschen Theaters setzte.« Ein weiterer Studiengenosse war Albert Speer, »Hitlers Architekt« und zukünftiger Reichsminister für Bewaffnung und Munition.

Ursula fühlte sich zu Hamburger hingezogen und lud ihn spontan zu einem kommunistischen Treffen ein. Sie verstanden sich gut. Sie lud ihn zu einem weiteren ein. »Endlich mal wieder Zeit, bei Rudi zu sein«, schrieb sie in ihr Tagebuch. »Jetzt ist Zeit, Tee zu kochen. Er hilft mir dabei. Das Schaf merkt gar nicht, warum ich mit Absicht das Gas nicht ganz toll auf groß gedreht habe und 27stellt es selbst nun auf Hochdruck.« Sie kaufte sich einen neuen Mantel und machte sich dann Vorwürfe wegen der Verschwendung, während andere vor Hunger starben. Sie habe »Sehnsucht nach Rudi«, schrieb sie. »Und dann packt mich die Wut, dass mir so einer den Kopf verdrehen kann. Und dass ich ihn so sehr brauche. Und dann schlafe ich doch unter Heulen ein.« Eines Abends, als sie von einem Konzert nach Hause gingen, blieb Rudi unter einer Straßenlaterne stehen. »Er stand im Schein des Lichtes. Sein dickes Haar fiel noch immer in derselben überraschenden Art in alle Richtungen, seine dunklen Augen verloren, auch wenn er lachte oder nachdachte, nicht ihren wehmütigen, verschleierten Ausdruck.« Das war der Moment, in dem sie sich verliebte. »Kann eine Sekunde, ein Satz, der Ausdruck in den Augen eines Menschen plötzlich alles bisher Gefühlte in etwas Neues – Großes verändern?«, fragte sie sich. Rudi begleitete sie nach Hause. »Zum Gute-Nacht-Sagen küßt er mich dann«, schrieb sie. »Ich war traurig, weil meine Lippen so trocken waren.«

Rudi Hamburger war fast der ideale feste Freund: Nett, witzig, sanft und jüdisch. Beide Elternpaare gaben ihren Segen. Wenn sie zu ernst wurde, neckte er sie sanft. Und wenn er von seinen Ambitionen erzählte, davon, ein großer Architekt zu werden, leuchteten seine großen braunen Augen. Er war großzügig. »Drei Karos Milchschokolade werden verzehrt. [Rudi] hat mir eine Tafel geschenkt«, erzählte sie ihrem Bruder. Süßigkeiten waren rar, und es war ihr wichtig zu betonen, dass dies keine bourgeoise Maßlosigkeit war. »Nicht etwa gekauft! So'n Blödsinn machen wir nicht. Aber wenn er so was geschenkt gekriegt hat, hebt er es mir immer auf.«

Rudi deutete an, sie könnten heiraten. Ursula hielt sich zurück.

Denn es gab auch ein Problem mit Rudolf Hamburger: Er war kein Kommunist. Sie teilten zwar ein jüdisches Erbe, kulturelle Interessen und Schokolade, aber Ursulas Liebhaber war kein Genosse, und nichts wies darauf hin, dass sich daran etwas ändern könnte.

28Hamburgers politische Ansichten waren liberal und fortschrittlich, aber er zog eine klare Grenze zum Kommunismus. Ihre Auseinandersetzungen folgten einem festen Muster.

»Wenn er überhaupt am Sozialismus zweifelt, bin ich einigermaßen erregt und antworte«, schrieb sie ihrem Bruder. »Es ist ja so schwer zu diskutieren, weil er nur gefühlsmäßige Ansichten hat ohne das geringste wissenschaftliche Fundament in Bezug auf den Kommunismus.«

Rudi listete seine Vorbehalte gegen den Kommunismus auf: »Die Übertreibungen in der Presse, der primitive Ton mancher Artikel, die langweiligen Reden mit ihren Schlagworten, die Überheblichkeit anderen Ansichten gegenüber, das ungeschickte Verhalten zu den Intellektuellen, die ihr dadurch isoliert, anstatt sie für den Kommunismus zu gewinnen, die Beschimpfung des Gegners, anstatt ihn logisch zu widerlegen.«

Ursula tat dies als »typisch kleinbürgerliche Haltung« ab. Aber sie musste gestehen: »Ein Fünkchen Wahrheit lag in dem, was er sagte.« Das machte sie noch böser.

Der Streit endete meist damit, dass Rudi einen Witz machte.

»Lass uns nicht streiten. Eine Weltrevolution ist kein Grund, sich gegenseitig anzuschreien.«

Rudi trat der Roten Hilfe bei, einer Hilfsorganisation mit starken Verbindungen zu den Kommunisten. Er las etwas Lenin und Engels und erklärte sich zum »Sympathisanten«, weigerte sich jedoch strikt, der KPD beizutreten oder an Ursulas Aktivitäten teilzunehmen. Auf seine ruhige Art war Hamburger bemerkenswert stur, und kein noch so gutes Zureden konnte ihn zum Beitritt bewegen. »Es gibt Dinge, die mich an der Partei stören«, sagte er. »Vielleicht entwickle ich allmählich dazu, wenn du mir Zeit läßt.«

Nach einer besonders erbitterten Diskussion schrieb Ursula: »Wenn er denkt, die Arbeiter sind nicht fähig, das Geringste aufzubauen, also wenn er überhaupt am Sozialismus zweifelt, bin ich einigermaßen erregt. […] Für ihn ist es ja auch nur, als ob wir über 29ein Buch oder ein Bild verschiedene Ansichten hätten, während es bei mir um die wichtigsten Probleme, um die Lebensanschauung geht. In solchen Augenblicken ist er mir fremd.« Doch so leicht gab Ursula nicht auf. Sie machte eine Liste kommunistischer Zitate und überreichte sie Rudi, ein recht merkwürdiger Liebesbeweis. »Für mich ist sein Eintritt in die Partei, falls wir zusammenbleiben, nur eine Zeitfrage«, schrieb sie Jürgen »ausgedehnt auf zwei Jahre sicher noch.«

Im April 1927 kündigte Ursula bei Prager und der verhassten Zwiebel und nahm eine Stelle als Assistentin im Archiv des jüdischen Ullstein Verlags an, eines der größten Zeitungs- und Buchverlage Deutschlands. Eine ihrer ersten »Amtshandlungen« war es, über die unzureichenden Arbeitsbedingungen an ihrem neuen Arbeitsplatz einen Artikel für Die Rote Fahne zu schreiben, »die dann in 1200 Exemplaren hier gratis vor den Eingängen verteilt wurde und ziemlich eingeschlagen hat«. In jedem Fall schlug das auch bei der Geschäftsleitung ein.

Nach weniger als einem Jahr bei Ullstein wurde Ursula entlassen. Sie war eine Unruhestifterin, und in einer Zeit des politischen Umbruchs und des wachsenden Antisemitismus wollte der Verlag keinen Ärger.

»Ich glaube, es war Hermann Ullstein, der mir in einem Gespräch nahelegte, ›auszuscheiden, da in einem demokratischen Betrieb keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten für einen Kommunisten vorhanden sind‹.«

Mit einem lückenhaften Lebenslauf, wenig Berufserfahrung und bei immer noch steigender Arbeitslosigkeit war Ursula nicht in der Lage, eine andere Stelle zu finden. Sie lehnte es ab, von ihren Eltern Almosen anzunehmen. Sie wollte eine Herausforderung, etwas Unbekanntes und etwas Raum zum Denken und Schreiben. Sie brauchte ein Abenteuer auf einer anderen Bühne. Sie entschied sich für Amerika.

Der große Lenin hatte geschrieben: »Zuerst werden wir Osteu30ropa erobern, dann die Massen Asiens. Wir werden die letzte Bastion des Kapitalismus, die Vereinigten Staaten von Amerika, einkesseln. Wir werden nicht kämpfen müssen. Sie werden uns wie eine reife Frucht in die Hände fallen.« Amerika war bereit für die Revolution. Außerdem lebte Jürgen noch dort, und sie wollte ihn wiedersehen. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde in die USA gehen und zurückkehren, wenn Rudi sein Architekturstudium abgeschlossen hatte. Oder vielleicht auch nicht. Es war ein waghalsiger Entschluss, und für eine unverheiratete Frau von einundzwanzig Jahren, die noch nie im Ausland war, ein bemerkenswert mutiger. Sie ignorierte die Bitten der Mutter und lehnte die finanzielle Unterstützung des Vaters ab und ging im September 1929 an Bord eines Ozeandampfers mit Ziel Philadelphia. Rudi winkte ihr zum Abschied und fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde.

Amerika am Vorabend der Weltwirtschaftskrise war ein Ort voller Vitalität und bitterer Armut, voller Chancen und Verfall, voller Hoffnung und drohendem wirtschaftlichen Unheil. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Ursula unabhängig. Sie fand eine Stelle als Deutschlehrerin für die Kinder einer Quäkerfamilie und dann als Zimmermädchen im Hotel Pennsylvania. Ihr ohnehin gutes Englisch verbesserte sich rasch. Einen Monat später stieg sie in den Zug nach New York und steuerte die Lower East Side von Manhattan an.

Das Henry Street Settlement, gegründet von der progressiven Reformerin und Krankenschwester Lillian Wald, bot den mittellosen Einwanderern der Stadt medizinische Versorgung, Bildung und Kultur. Einwanderer konnten dort mietfrei wohnen, wenn sie im Gegenzug einige Stunden pro Woche Sozialarbeit leisteten. Wald war die treibende Kraft der Siedlung, eine Kämpferin für die Rechte von Frauen und Minderheiten, für das Wahlrecht und die Integration der Rassen, eine Feministin, die ihrer Zeit weit voraus war, und für den jüngsten Neuankömmling in der Henry Street Settlement eine Offenbarung und Inspiration. Ursula ver31ließ ihr erstes und einziges Treffen mit Wald zutiefst beeindruckt von der Persönlichkeit und der Philosophie der Amerikanerin: »Bei der Aufgabe, das menschliche Glück zu organisieren, müssen Männer und Frauen aktiv zusammenarbeiten; sie kann nicht auf eine Hälfte der Welt abgewälzt werden«, erklärte Wald. Ursula zog ein und bekam eine Stelle im Prosnit Bookshop in Upper Manhattan.

Ursula blieb fast ein Jahr lang in den Staaten. Die Erfahrung prägte sie zutiefst und markierte den Beginn einer Hassliebe zum kapitalistischen Westen, die für den Rest ihres Lebens Bestand haben sollte. Die politischen und wirtschaftlichen Extreme Amerikas am Ende der Goldenen Zwanziger waren mit denen der Weimarer Republik vergleichbar. New York hatte London mit mehr als zehn Millionen Einwohnern als bevölkerungsreichste Stadt der Welt abgelöst, und die Stadt explodierte vor Energie, Kreativität und Reichtum, einer Besessenheit von neuen Technologien, Autos, Telefonen, Radio und Jazz. Doch unter der glitzernden Oberfläche braute sich eine Katastrophe zusammen, als große und kleine Investoren ihr Geld immer weiter in einen überhitzen Aktienmarkt steckten, in dem Glauben, dass der Boom nie platzen würde.

Anders als bei der Zwiebel, war man bei Prosnit froh, einen Bücherwurm als Mitarbeiterin zu haben. Ursula kannte sich mit marxistisch-leninistischer Literatur bestens aus, von der sie lange Passagen zitieren konnte, was sie eher zu häufig auch tat. Viele von Prosnits Kunden waren amerikanische Kommunisten, und die Regale boten neue linke Horizonte in Form von Werken der proletarischen Literaturbewegung: Bücher, geschrieben von Autoren und Autorinnen aus der Arbeiterklasse für eine klassenbewusste Leserschaft. Ursula wurde von der intellektuellen Kraft der amerikanischen Linken mitgerissen. Vor allem ein neues Buch sprach ihr aus dem Herzen. Im April 1929 erschien Eine Frau allein von der radikalen amerikanischen Schriftstellerin Agnes 32Smedley. Der Roman, eine nur leicht verschleierte Autobiografie, erzählt die Geschichte von Marie Rogers, einer jungen Frau aus ärmlichen Verhältnissen, die sich mit Beziehungen schwertut und sich für den internationalen Sozialismus und die Unabhängigkeit Indiens einsetzt. »Ich habe kein Land«, erklärt Smedleys Protagonistin. »Meine Landsleute sind die Männer und Frauen, die für die Freiheit kämpfen. […] Ich gehöre zu denen, die aus anderen Gründen sterben – von Armut erschöpft, Opfer des Reichtums und der Macht, Kämpfer in einer großen Sache.« Eine Frau allein wurde aus dem Stand ein Bestseller, und Smedley wurde als »die Mutter der radikalen Frauenliteratur« gefeiert. Für Ursula war das Buch ein Ruf zu den Waffen: Eine Frau, die sich vehement für die Unterdrückten einsetzt, radikale Veränderungen einfordert und bereit ist, für eine Sache zu sterben, die romantisch, glamourös und riskant klang.

Ein paar Wochen nach ihrer Ankunft in New York trat Ursula der American Communist Party bei. In jenem Frühjahr nahm sie an einem sozialistischen Feriencamp am Hudson River teil, wo sie Michael Gold kennenlernte, einen Bekannten ihrer Eltern und damals die bekannteste radikale Stimme Amerikas. Gold war das Pseudonym von Itzok Isaak Granich. Der Sohn jüdisch-rumänischer Einwanderer, der an der Lower East Side in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, war ein überzeugter Kommunist, Gründungsherausgeber der marxistischen Zeitschrift The New Masses und ein scharfer Polemiker. Gold liebte es, sich zu streiten. Als er Ernest Hemingway als »Renegat« bezeichnete, schickte Hemingway die knappe Antwort: »Sagt Mike Gold, Ernest Hemingway sagt: Fick dich.« Ursula erklärte Golds Roman Juden ohne Geld zu einem »meiner Lieblingsbücher«.

Von New York gleichermaßen fasziniert und abgestoßen, vermisste Ursula ihr Zuhause, ihre Genossen und ihre Familie. Vor allem aber vermisste sie Rudi.

Im Herbst 1929 kehrte sie nach Deutschland zurück. Einige 33Wochen später brach die amerikanische Börse zusammen, stürzte Millionen in die Armut und läutete die Weltwirtschaftskrise ein.

Erst als sie Rudi am Kai auf sie warten sah, wurde Ursula klar, wie sehr sie ihn liebte. Ihre Zweifel an Rudis politischer Einstellung hatten während ihres Amerikaaufenthalts nachgelassen. Er würde schon irgendwann das Licht sehen. Ursula Kuczynski und Rudolf Hamburger heirateten im Oktober in einer schlichten Feier im engsten Familien- und Freundeskreis.

Das frisch verheiratete Paar war glücklich, arbeitslos, pleite und, in Ursulas Fall, sehr damit beschäftigt, einen Aufstand anzuzetteln. Aus Prinzip lehnten sie es ab, von den Eltern Geld anzunehmen, und zogen in eine winzige Einzimmerwohnung ohne Heizung und warmes Wasser. Sie wirbelte durch Berlin, schrieb Artikel für Die Rote Fahne, inszenierte Agitprop-Theaterstücke und organisierte radikale Buchausstellungen. Die Parteiführung beauftragte sie, eine marxistische Arbeiterleihbücherei aufzubauen, in der sich Mitglieder erbauliche linke Literatur ausleihen konnten. Mit der Hilfe von Erich Henschke, einem orthodoxen Juden aus Danzig, der als Totengräber arbeitete, zog sie mit einem Handkarren durch Berlin und sammelte kommunistische Bücher von radikalen Verlagen und sympathisierenden Genossen. Als eine Zeitung ein Foto von Ursula mit ihrem Bücherkarren veröffentlichte, waren ihre Eltern entsetzt. »Ich durfte den Karren durch die Stadt ziehen, ich durfte mich nur nicht dabei fotografieren lassen.« Henschke war ein kommunistischer Schläger, der lieber Braunhemden vermöbelt hätte als Bücher zu sammeln, die er nicht lesen wollte. Am Ende hatten sie rund 2 ‌000 Bücher zusammen, die sie in einem ehemaligen Taubenkeller im jüdischen Arbeiterviertel in improvisierte Regale räumten. Rudi malte ein Schild mit großen roten Buchstaben: »Marxistische Arbeiterleihbibliothek. Ausleihe 10 Pfennig pro Buch.« Der erste Kunde war ein älterer Fabrikarbeiter. »Haben Sie etwas ganz Einfaches über den Sozialismus für meine Frau, ohne Fremdwörter drin?« Die 34Geschäfte liefen schleppend, was nicht zuletzt an dem schwachen, aber penetranten Geruch von Taubenkot lag.

Ursula betreute gerade den Buchverkauf einer großen Ausstellung, die die Partei am Potsdamer Platz veranstaltete, als ein eleganter dunkelhäutiger Ausländer begann, in den Titeln zu stöbern. Sie empfahl ihm Eine Frau allein. Ein wenig traurig erklärte der Mann, er habe es bereits gelesen, denn er sei mit Agnes Smedley verheiratet gewesen. Ursula war sprachlos: Es war der indische Revolutionär Virendranath Chattopadhyaya.

Für marxistische Literatur zu werben, machte Spaß und war ideologisch löblich, aber vollkommen unrentabel. Rudi hatte inzwischen seinen Abschluss, war aber frustriert angesichts des geringen Arbeitsangebots für einen Architekten. Ein Genosse von Ursula beauftragte ihn mit der Innenausstattung der kommunistischen »Roten Buchhandlung« im Arbeiterviertel am Görlitzer Bahnhof. Er plante einen Erweiterungsbau für die Bibliothek seines Schwiegervaters und arbeitete an den Entwürfen für ein neues Hotel. Doch als die Weltwirtschaftskrise sich verschärfte, versiegten auch diese Einnahmequellen.

Hilfe kam dann aus der Ferne. Helmuth Woidt, ein Jugendfreund von Rudi, arbeitete in Shanghai als Angestellter bei Siemens. Anfang 1930 schickte Woidt ein Telegramm, in dem er Rudi auf eine Stellenanzeige in der Shanghaier Zeitung aufmerksam machte: Der britisch geführte Stadtrat von Shanghai suchte einen Architekten für den Bau von Regierungsgebäuden in der chinesischen Stadt. Rudi bewarb sich und erhielt sofort eine Antwort: Wenn er die Reise nach China selbst bezahle, könne er die Stelle haben. Woidt bot ihnen eine kostenlose Unterkunft im Dachgeschoss seines Hauses in Shanghai an.

Ursula war zunächst unsicher. Würde sie ihre Genossen im Stich lassen, wenn sie Deutschland erneut verließ? Andererseits war die Revolution eine weltweite Angelegenheit, und China klang unglaublich romantisch. Ursula informierte die Parteizentrale der 35KPD, dass sie nach Shanghai gehe und beabsichtige, dort der Kommunistischen Partei Chinas beizutreten, wie sie zuvor schon Mitglied in der amerikanischen Partei geworden war. »Der Kommunismus ist international, ich kann auch in China mitarbeiten«, erklärte sie recht naiv den Genossen.

Ursula ahnte nicht, in welchen politischen Flächenbrand sie hineinmarschieren würde. Es gab in Shanghai zwar eine Kommunistische Partei Chinas, aber sie war verboten, wurde verfolgt und war von der Vernichtung bedroht.

372 Die Hure des Orients

Ursula verließ Berlin in dem festen Glauben, dass die kommunistische Revolution in Deutschland nur eine Frage der Zeit war, genau genommen einer kurzen Zeit. Sie bedauerte, sie zu verpassen. Die NSDAP war bei der Reichspräsidentenwahl geschlagen worden, und Hitlers faschistische Schlägertypen schienen bereits eine groteske Belanglosigkeit zu sein, eine hässliche kleine zeitgeschichtliche Anomalie. Sie hätte sich über die Gestalt der Zukunft nicht sicherer sein oder mehr danebenliegen können. Innerhalb von drei Monaten waren die Nazis die zweitstärkste Partei Deutschlands, der Aufstieg Hitlers unaufhaltsam und die Zerschlagung des deutschen Kommunismus in vollem Gange.

An einem warmen Juliabend 1930 bestiegen Ursula und Rudi den Zug nach Moskau, mit Hinfahrscheinen. Sie hatten ausreichend Geld, um nach Shanghai zu kommen, aber nicht genug für die Rückfahrt. Ihre ganze Habe bestand aus zwei Koffern mit Kleidung, einigen Dauerwürsten, Brot, Suppenwürfeln, einem kleinen Trockenspiritusbrenner und einem Schachbrett. In Moskau stiegen sie in den Transsibirien-Express um und setzten ihre langsame Reise Richtung Osten fort. Ursula lag auf ihrer oberen Liege und schaute, wie die unendlichen Weiten Russlands am Fenster vorüberzogen, ein wogender Ozean aus Birkenwäldern, der sich bis zum Horizont erstreckte. Als der Zug einen ungeplanten Halt zwischen zwei Stationen einlegte, stiegen die Fahrgäste aus, um dankbar ihre Glieder zu strecken. »Eine Ziehharmonika erklang, es wurde getanzt. Wir schauten zu, Hände griffen nach uns, und wir tanzten mit.«

Auf einer Waldwiese, irgendwo im sowjetischen Sibirien, wir38belten Ursula und Rudi zur Musik einer russischen Ziehharmonika herum.

In der Mandschurei nahmen sie die Ostchinesische Eisenbahn nach Changchun und stiegen dann in die Südmandschurische Eisenbahn um, worauf die lange Zugfahrt in den Süden nach Dalian folgte, wo sie an Bord eines Dampfschiffes gingen, um das letzte, knapp tausend Kilometer lange Stück über das Gelbe Meer bis nach Shanghai zurückzulegen.

Das Erste, was Ursula entgegenschlug, war der Geruch. Der reine, heiße Gestank der Armut, der vom Hafen Shanghais herübertrieb, war ein Miasma aus Schweiß, Abwässern und Knoblauch. Während der Weimarer Republik hatte sie reichlich menschliches Leid gesehen, aber nichts in diesem Ausmaß. »In schwimmenden Bottichen umzingelten Bettler unser Schiff; klagende Invaliden mit Arm- und Beinstümpfen, Kinder mit eiternden Wunden, manche blind, manche haarlos, mit verkrusteten Köpfen.« Geplagte, ausgemergelte Träger bildeten ein »Fließband aus Menschen« vom Schiff zum Ufer.

Auf dem Kai wartete Helmuth Woidt, gekleidet in einen blendend weißen Leinenanzug und Tropenhelm. Neben ihm stand seine Frau Marianne, mit einem riesigen Blumenstrauß im Arm. Eine kurze Rikschafahrt brachte sie zu einer großzügigen Villa in einer von Bäumen gesäumten Allee in der französischen Konzession, wo die meisten der ausländischen Geschäftsleute Shanghais residierten, weit weg vom Gestank und dem Trubel des Hafens. Ein chinesischer Diener in weißen Handschuhen servierte ihnen eisgekühlte Getränke. Sich verbeugende Dienstboten servierten Tabletts mit Speisen. Ihre staubigen Koffer wurden weggebracht, und kurz darauf fanden sich Ursula und Rudi in gestärkten Kimonos wieder und nippten Cocktails auf einer breiten Veranda, von der man über den gepflegten Garten blicken konnte. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sie sich von einer Welt in eine andere bewegt.

39Shanghai konnte 1930 durchaus von sich behaupten, die sozioökonomisch am stärksten gespaltene Stadt der Welt zu sein, ein Ort, an dem der Unterschied zwischen Arm und Reich weniger eine Lücke als eher eine gähnende Schlucht war. Zum Teil Kolonie, zum Teil chinesische Stadt, war es die Heimat von 50 ‌000 Ausländern, umgeben von fast drei Millionen Chinesen, von denen die meisten in erbärmlichen Zuständen lebten. Die internationale Gemeinschaft bestand aus Briten, Amerikanern, Franzosen, Deutschen, Portugiesen, Indern, Weißrussen, Japanern und anderen, manche von ihnen mittellose Geflüchtete, andere neureiche Plutokraten mit atemberaubendem Vermögen. Politische Unruhen und Hungersnot im chinesischen Hinterland plus die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise trieben immer neue Menschenwellen, auf der verzweifelten Suche nach Arbeit und Nahrung, in die Stadt. Man fand Rikschafahrer, die tot zwischen den Zugstangen hingen, während glänzende, neue, amerikanische Autos durch die Stadt glitten, die von uniformierten Chauffeuren gefahren wurden. Shanghai war die größte Stadt Chinas und das Wirtschaftszentrum Ostasiens. Unternehmen und Banken standen im Wettstreit, wer entlang des Bunds, der schicken Uferpromenade, ein immer noch größeres Gebäude baute. Doch hinter dem glitzernden Geschäftsviertel und den Ausländerenklaven lag ein anderes Shanghai – Ausbeuterbetriebe, Textilfabriken und Wohnhäuser voller Krankheiten und Verzweiflung, Orte, an denen politische Verbitterung Knospen trieb. Shanghai war die Heimat von Chinas einzigem industriellen Proletariat und der Geburtsort der KPCh. Amerika war noch nicht reif für den Kommunismus gewesen, stellte Ursula fest, aber China schon.

Im Kielwasser der Opiumkriege des neunzehnten Jahrhunderts hatten die Chinesen den fremden Mächten – den britischen, französischen und amerikanischen – extraterritoriale »Konzessionen« entlang des Jangtsekiang zugebilligt, Selbstverwaltungszonen mit eigenen Gesetzen. Nur achtzehn der zweiundfünfzig Quadratkilo40meter der Stadt standen unter der direkten Verwaltung der Chinesen. In der größten Enklave, dem International Settlement, einem Zusammenschluss der britischen und der amerikanischen Konzession, wohnte knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung, und als weitere Staaten den Verträgen mit China beitraten, schlossen sich ihre nationalen Vertreter der Verwaltung an. Deutschland hatte direkt nach dem Ersten Weltkrieg seine exterritorialen Rechte abgetreten, wodurch die 1 ‌500 deutschen Bewohner Shanghais unter das chinesische Recht fielen. Das International Settlement wurde vom Shanghai Municipal Council verwaltet, einer Körperschaft, die von den ausländischen Bewohnern gewählt, doch von den Briten dominiert wurde, die den Vorsitz in jedem Dezernat innehatten, bis auf das städtische Orchester, das, natürlich, von den Italienern geleitet wurde. Wenn man von einer Seite der Stadt auf die andere fuhr, benötigte man drei verschiedene Führerscheine. Die drei Polizeitruppen – die französische, chinesische und die Shanghai Municipal Police unter britischer Leitung – konkurrierten, überlappten sich und kämpften damit, eine aufkeimende Welle der Kriminalität in Schach zu halten.

Shanghai, das »Paris des Ostens«, war auch die »Hure des Orients«, wo man schicke Boutiquen direkt neben Opiumhöhlen, Kabaretts, uralten Tempeln, Kinos und Bordellen fand. Der in Großbritannien geborene Shanghaier Autor J. ‌G. Ballard erinnert sich an eine Stadt, »in der alles möglich war und man alles kaufen oder verkaufen konnte«. Gleichermaßen glamourös und zwielichtig, glänzend und verrottet, war Shanghai die Heimat eines internationalen Stroms an Bettlern, Millionären, Prostituierten, Wahrsagern, Spielern, Journalisten, Gangstern, Aristokraten, Warlords, Künstlern, Zuhältern, Bankiers, Schmugglern und Spionen.

Die deutsche Expat-Gemeinde in Shanghai hatte ihre eigene Kirche, Schule, ihr Krankenhaus und einen Club, den Concordia, ein leicht kitschiges, mit Türmen verziertes bayerisches Schloss 41am Bund, komplett mit Ballsaal und Kegelbahn. Hier trafen sich die Deutschen Shanghais, um Karten zu spielen, zu trinken, patriotische Lieder zu singen, zu tratschen, nostalgische Vaterlandsgefühle zu pflegen und sich über ihre chinesischen Dienstboten auszulassen. Über die kleine Ecke von Deutschland herrschte ein kleiner Potentat, der Generalkonsul Heinrich Freiherr Rüdt von Collenberg-Bödigheim, ein altgedienter Diplomat und enthusiastischer Nazi, der irgendwann als Hitlers Botschafter in Mexiko enden sollte.

Ihren ersten Abend in Shanghai verbrachten die Hamburgers im Club. Es folgte eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Einladungen: Tee mit Constantin Robert Eginhard Maximilian von Ungern-Sternberg, einem baltischem Adeligen und Nachfahren von Dschingis Khan, der mit knapper Not der bolschewistischen Revolution entkommen war (sein älterer Bruder Roman, ein grausamer weißrussischer Warlord, bekannt als »Blutiger Baron«, war in Sibirien eingefallen, bevor er gefangen genommen und von der Roten Armee erschossen wurde); Abendessen mit Hans Stübel, einem Ethnologie-Professor und Spezialisten für chinesische Tattoos; eine Swimmingpool-Party im Haus des Geschäftsmanns Max Kattwinkel; Cocktails mit Karl Seebohm, dem Vertreter der I. ‌G. Farben, der ein Glasauge hatte, ein großes Privateinkommen und 300 Grammofonplatten. Ein ständiger Clubgast war Johann Plaut, der wichtigste und aufgeblasenste Journalist der deutschen Gemeinde.