Albtraumprinzen - Andy Claus - E-Book

Albtraumprinzen E-Book

Andy Claus

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Beschreibung

Ist die Furcht vor arglistigen Dämonen rational? Kann ein personifiziertes Schicksal uns ins Verderben führen? Was machst du, wenn Spukgestalten dich verfolgen?Eine Klärung dieser und ähnlicher Fragen findest du in diesem Kurzgeschichtenband aus der Feder von Andy Claus. Begegne auf den folgenden Seiten dem Vatermörder, den die Hölle bei lebendigem Leib verschlingt oder einem Schriftsteller, der sich schreibend die vergnüglichsten Wünsche erfüllen kann und trotzdem noch nie so verzweifelt war. Triff den Mann, der erst durch mehrere Leben gehen muss, bis er begreift, wie er seinen ewigen Frieden finden kann und viele andere, deren alltägliche Existenz sich unvermittelt in eine Achterbahnfahrt des Unbegreiflichen verwandelt.Die teilweise amüsanten, teils aber auch tiefgründigen Geschichten handeln wie gewöhnlich von schwulen Männern. Lass dich in ihnen unter die Oberfläche des Erklärbaren entführen und folge Andy Claus hinab in die geheimnisvollen Abgründe dessen, was normalerweise unsichtbar bleibt. Erlebe die merkwürdigen Verstrickungen inmitten gewöhnlicher Tage im Leben der Helden - oder sind es doch nur bizarre Illusionen?

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Andy Claus

Albtraumprinzen

Mystery-Gaystories

Von Andy Claus erschienen unter anderem noch:

Stalker – Du gehörst mir ISBN 978-3-940818-15-7

Ben – der Fremdenlegionär ISBN 978-3-934825-90-1

Eric – Aus dem Leben eines Miststücks ISBN 978-3-934825-82-6

und mehr

Alle Bücher auch als E-books

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected], Frühjahr 2013

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: Van Holt http://www.vanholt-photography.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Printed in Dänemark

ISBN print 978-3-86361-287-0 ISBN epub978-3-86361-288-7

ISBN pdf: 978-3-86361-289-4

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Samstag, 30 April 2012

„Wo sind die Würstchen für die Hotdogs?“

„Im Sprinter! Aber die brauchen wir jetzt sowieso noch nicht!“

Max und Daniel, die beiden Chefs des Mysteryclubs Albtraumprinzen, räumten schon seit über einer Stunde den Transporter aus. Es waren die letzten Vorbereitungen für das große Treffen, das heute hier auf der Burgruine Waldfels stattfinden sollte. Die Mitglieder des Clubs hatten entweder selbst etwas Paranormales erlebt oder nach offenbar wahren, unerklärlichen Begebenheiten gesucht und sie so gut wie möglich auf ihre Echtheit hin überprüft. Sie konnten auch eine frei erfundene Mysterystory vortragen, durften dies aber nicht verschweigen. Der Club traf sich zu diesem Zweck heute zum ersten Mal. Bis es soweit war, mussten Daniel und Max allerdings noch eine Menge erledigen.

Als Veranstaltungsort hatten sie diese Burgruine aus dem 14. Jahrhundert gewählt, weil solch ein altes Gemäuer bestens zu ihrem Interessengebiet passte. Waldfels lag auf einem Hügel im Hinterland des Siebengebirges und war von dichtem Wald umgeben. Es führte nur ein Weg hinauf und der war eng und vom Regen bis auf das Vulkangestein ausgewaschen. Oben gab es unter der Ruine ebenerdig eine ausgedehnte Halle mit holprigem Boden aus Kopfsteinpflaster, über welchem Sand verstreut wurde. Ein großer, offener Torbogen und glaslose Fensteröffnungen sorgten für die Belüftung. Bevor die Franzosen Waldfels 1796 zerstörten, hatte die Burg sich, gebaut aus massiven Natursteinquadern, über dieser ehemaligen Handwerks- und Markthalle erhoben. Heute ragten nur noch einige Mauern, Fragmente des Umgrenzungswalls und ein Teil des Bergfrieds in den Himmel.

Aus dieser Halle heraus ging es tiefer in die Burg, die nachträglich eingesetzte, stählerne Tür war jedoch von Amts wegen verschlossen worden. Ungefähr mittig der Markthalle stand heutzutage ein großer Feuerkorb, den etwaige Besucher frei nutzen konnten. Max hatte diesen Ort im Internet gefunden und sich an die zuständige Stadtverwaltung gewandt. Dort meldete er das Clubtreffen an, klärte Versicherungsfragen und erreichte eine Erlaubnis zur Übernachtung.

Soeben hatten sie den Stromgenerator vor der Halle platziert und die Leitung gelegt, das Brennholz hineingeschleppt und den langen Tisch für die Wärmepfannen mit Deckel aufgestellt, in denen später das Essen aufbewahrt werden würde. Dies alles sollte eigentlich über die Mitgliedsbeiträge bezahlt werden, aber das Geld reichte nicht, deswegen hatte Max aus eigener Tasche nachfinanziert. Ihre Mitgliederzahl musste steigen, wenn sich der Club selber tragen sollte, aber vorerst waren sie nur sechzehn. Die Zugehörigkeit zu den Alptraumprinzen war allerdings auch nicht einfach zu erlangen, denn als Voraussetzung galt in erster Linie, dass Max den Bewerber persönlich akzeptierte. Und seine Ansprüche waren hoch. Er wollte nur schwule Teilnehmer und die sollten ihm dann nach Möglichkeit auch noch sympathisch sein. Das Interesse für Parapsychologie musste echt sein, der Bewerber sollte sich schon länger ernsthaft damit beschäftigt haben und außerdem wurden rege Mitarbeit und ein monatlicher Mitgliedsbeitrag von dreißig Euro gefordert.

„Wo sollen denn die Stühle hin?“, fragte Daniel, er hatte die bequemen Polsterstühle aus Holz gerade aus dem Transporter geräumt, wo sie den meisten Platz eingenommen hatten.

„Um den Feuerkorb herum, gegen Abend wird es noch kühl.“

„Dann müssen wir vor uns auf unserem Schoß essen? Wäre es nicht besser, am Tisch …“

„Der ist nur für Speisen und Getränke! Essen kann jeder zwischendurch, wenn er Hunger hat. Dafür haben wir Geschirr aus Porzellan und keine Pappteller, die einknicken. Außerdem kommen wir nicht zusammen, um zu essen, sondern um unsere Geschichten zu erzählen.“

Daniel nickte gleichmütig, er kannte Max’ Sturheit und setzte sich nur bei für ihn wirklich wichtigen Dingen mit ihm auseinander. Ansonsten überließ er seinem Freund die dominante Rolle in ihrer Beziehung, was nicht zuletzt auch ein Stück Bequemlichkeit war. Ohne weitere Verzögerung trugen sie die Stühle hinein und stellten sie im Kreis um den Feuerkorb auf. Dahinter platzierten sie zehn hohe Fackelständer. Ab 16 Uhr würden die ersten Mitglieder an der Burgruine sein, bis dahin mussten sie fertig sein.

Erst gegen 18 Uhr waren alle Mitglieder eingetroffen. Sie hatten, wie vorher abgeklärt, ihre Autos unten im Ort abgestellt und sich die engen Serpentinen mit dem Taxi hochbringen lassen oder kamen zu Fuß. Hier oben gab es sowieso nicht genügend Platz zum parken. Inzwischen war auch der Letzte mit seinem Schlafsack angekommen, nach ersten Erkundungen fanden sich alle bei den Stühlen ein, die um den Feuerkorb standen. Die meisten setzten sich schon hin, manche blieben auch noch stehen und schauten sich um. Erste Kontakte wurden geknüpft und Namen ausgetauscht, bis Max um Ruhe bat. Er wurde neugierig gemustert.

„Mein Name ist Max, ich bin einer der beiden Gründer des Clubs und heute sozusagen der Eventmanager. Wie ihr schon gesehen habt, stehen Essen und Getränke dort hinten bereit, jeder kann sich nach Herzenslust bedienen. Natürlich nicht, solange eine Geschichte läuft, wir machen Pausen dafür. Alkohol gibt’s leider nicht, es ist abzusehen, dass der später Unruhe bringen würde, das tut er immer. Während jemand von euch seine Story erzählt, wird nach Möglichkeit nicht geredet. Wenn alle fertig sind, ist Zeit für Diskussionen eingeplant.“

„Was soll das denn? Ich dachte, wir haben Spaß zusammen! Ich komm doch nicht die ganze Strecke von Nürnberg, um mich hier wie in der Schule rumkommandieren zu lassen“, meldete sich Kilian zu Wort. Es schloss sich ein Meinungsaustausch über das Für und Wider ungestörter Vorträge an. Dieser endete mit einem Monolog von Max.

„… und es liegt mir eben viel daran, dass wir unser Thema ernst nehmen. Parapsychologie ist kein Spiel. Ich bin bereit, unseren Club größtenteils zu finanzieren, wenn ihr das auch so seht!“,beendete er seine Erklärung.

„Geld gegen Gehorsam! Bekommen wir auch Uniformen?“, antwortete Angelo hitzig.

„Das ist doch für uns alle gut. Oder willst du nicht, dass man dir wirklich zuhört? Also ich hab bei den Recherchen viel Zeit eingebunden, gearbeitet und mir Mühe gegeben. Ich will, dass das auch ankommt!“, widersprach Florian.

Kilian schüttelte den Kopf. „Okay Leute, ihr habt nen Schaden! Eine ernsthafte Konferenz für Geister und Gespenster, ich lach mich weg!“

Max erhob sich.

„Gut Kilian, das war’s dann für dich!“

„Was soll das heißen?“

„Du kannst jetzt gehen. Deinen Clubbeitrag überweise ich dir vollständig zurück. Daniel, fahr ihn runter in den Ort!“

Es folgte ein kurzer, heftiger Disput, aber Max blieb hart und Kilian musste gehen. Angelo schloss sich ihm freiwillig an.

„Darf ich davon ausgehen, dass alle, die jetzt noch hier sind, hinter unserer Sache stehen?“

Allgemeines Nicken, kurze Zustimmungen, aber auch Kritik an Max’ Vorgehensweise folgten. Als Daniel zurückkam, war jedoch wieder Ruhe eingekehrt. Die Gruppe aß, jeder hatte eine Flasche seines Getränkes neben dem Stuhl stehen.

„Okay Jungs, dann haben wir die Spreu vom Weizen getrennt. Meine Fehleinschätzung tut mir leid, solche Szenen sind normalerweise überflüssig. Aber das Internet bietet eben nur begrenzte Möglichkeiten, andere Menschen wirklich einschätzen zu können. Fangen wir jetzt also damit an, wofür wir uns in der traditionellen Walpurgisnacht hier getroffen haben … Ich würde vorschlagen, wir beginnen im Uhrzeigersinn, zuerst mein Sitznachbar und ich übernehme den letzten Part. Meine Geschichte wird eine Überraschung für euch alle, auch für meinen Lebenspartner Daniel hier!“

Er legte kurz den Arm um Daniels Schulter, dann setzte er sich hin und schaute er den links neben ihm sitzenden Marcel aufmunternd an.

„Ich?“

„Ja klar, einer muss schließlich anfangen!“

„Na gut! Also ich habe es nicht selbst erlebt, aber die Geschichte ist trotzdem wahr!“

Marcels Story: Nachtvogel

Mike verließ seine Wohnung, hielt es allein dort nicht mehr aus. Er lief zu seinem Auto, wollte raus aus den Straßenschluchten der Großstadt, hin zu dem Platz vor den Toren Kölns, an dem er schon als Junge gespielt hatte. Heute war eine dieser warmen Sommernächte, in denen auch lang gelebte, vertraute Einsamkeit noch Wunden aufreißen konnte. Die laue Luft schmeichelte, die Natur duftete verlockend und berauschte die Sinne. Das Alleinsein jedoch blieb und die Wände hatten begonnen, Mike zu erdrücken.

Verkrampft saß er hinter dem Steuer seines alten Audi, entwickelte so etwas wie einen Tunnelblick, der sich erst wieder löste, als er auf der leeren Landstraße Richtung Steinbruch fuhr. Er öffnete das Fenster, atmete tief durch und fühlte sich etwas besser. Es war schon etwas anderes, hier allein zu sein als in der Großstadt, wo es von Menschen wimmelte. Er hatte sich größtenteils damit abgefunden, dass es für ihn keinen Lebenspartner zu geben schien, aber dann kamen Nächte wie diese und er zweifelte wieder daran, es auf Dauer wirklich aushalten zu können. Niemand konnte nur für seine Arbeit leben, aber er war nun mal nicht der Typ dafür, abends auszugehen oder Chatbekanntschaften zu treffen. Natürlich hatte er es versucht, aber der Erfolg blieb aus. Manchmal war es seine Schüchternheit, die ihm die Tour vermasselte und manchmal auch der Umstand, dass er nichts zu bieten hatte, was heute in der schwulen Szene zu Ansehen verhalf. Er war Fotolaborant, arbeitete Akkord im Schichtdienst und konnte sich keine der so beliebten Statussymbole leisten. Weder trug er eine flippige Frisur noch Designerklamotten oder edlen Schmuck, seine Wohnung lag in einem Arbeiterviertel, war klein und preiswert eingerichtet, er kannte sich nicht mit exotischen Urlaubszielen aus und was sein altes Auto betraf – das ging schon mal gar nicht. Weil er all das nicht vorweisen konnte, war er mit seinen zweiunddreißig Jahren außerdem inzwischen eindeutig zu alt, als dass sein sehnsüchtiger Wunsch nach einem langjährigen Partner einfach so in Erfüllung gehen konnte. Da half es auch nicht, dass er attraktiv war. Natürlich, sein Aussehen mit der schlanken Statur, seiner blonden Mähne und den unergründlichen, grünen Augen reichte für die beliebten One-Night-Stands. Aber die wollte er nicht mehr, es tat zu weh, wenn er sich dann doch wieder einmal Hoffnungen machte, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte.

Mike bog auf eine kleine, schlecht asphaltierte Straße ein. Sie mündete in einiger Entfernung zwischen Bäumen, die ihn jetzt in der Nacht wie eine unergründliche, schwarze Wand empfingen. Er fuhr darauf zu und seine Scheinwerfer entrissen der Finsternis jedes Geheimnis. Eine Weile ragte der Wald rechts und links von ihm auf, dann war er durch und vor ihm lag eine ausgedehnte Ebene, nur mit Gras, Büschen und kleineren Bäumen bewachsen. Er stellte das Auto am Straßenrand ab, schaltete das Standlicht an, griff sich das eingerollte Badehandtuch und lief einen Feldweg entlang, bis er am ehemaligen Steinbruch angekommen war. Seit Jahrzehnten schon war an dieser Stelle ein See, die ruhige Oberfläche schimmerte im silbrigen Licht des Mondes und strahlte Ruhe, aber auch eine dunkle Tücke aus. Allerdings nicht für Mike, das war von Kindheit an sein Ort, er lag unzugänglich und versteckt, weit ab von den beiden einladenden Liegewiesen. Er kannte die Untiefen und Strömungen, wusste, an welcher Stelle er risikolos ins Wasser gehen konnte.

Mike zog sich aus und ließ seine Kleidung achtlos liegen. Er rannte zum Ufer und tauchte überstürzt ein, kam japsend wieder an die Oberfläche und spürte das erste Mal an diesem Tag so etwas wie Wohlbehagen. Das kühle Nass vertrieb einen Teil seiner trüben Gedanken und er schwamm und tobte sich aus, um sich dann nackt auf das Handtuch zu legen und der Musik dieser Nacht zu lauschen. Das sanfte Rauschen des Windes über der Ebene mischte sich mit Zirpen und leisem Plätschern, Mike wurde allmählich müde. Die Vorstellung, jetzt nach Hause zu fahren, behagte ihm gar nicht, deshalb ließ er zu, immer schläfriger zu werden. Wo war das Problem, er konnte schlafen, bis die Nacht zu kühl werden würde und dann immer noch zurück in sein Laufrad. Die Gedanken flogen zusammenhanglos durch seinen Kopf, verblassten dann und seine Atemzüge glitten in die Regelmäßigkeit des Schlafes.

Dann jedoch vernahm er ein Geräusch, das so gar nicht in die laue Friedlichkeit dieser Nacht passte. Es klang wie ein Schuss, obwohl ihm sofort klar war, dass nur die Stille den Ton so überlaut machte. Noch etwas konfus und mit alarmiert klopfendem Herzen setzte Mike sich auf und schaute sich um. Wieder der Laut, diesmal etwas schwächer und er konnte es als Knacken eines Astes identifizieren. Es folgte ein Rascheln, dann so etwas wie vorsichtige Schritte auf morschen Ästen. Jemand war hier!

Mike wurde sich seiner Schutzlosigkeit bewusst. Noch nie hatte dieser Platz etwas Bedrohliches für ihn gehabt, deshalb dauerte es einen Moment, bis er aufsprang und nach seiner Hose grabschte. DieGeräusche kamen von links, er starrte während des Anziehens unentwegt in diese Richtung, konnte jedoch zwischen dem im Mondschatten liegenden Uferbewuchs nichts erkennen. Erst als er versuchte, in seine Boots zu schlüpfen, erkannte er in ungefähr zehn Meter Entfernung die bewegungslose Silhouette einer Person. Sie wirkte eindimensional, wieein Scherenschnitt gegen das Licht des Mondes und Mike erschrak bis in die Fingerspitzen. Er schnappte sich Handtuch und Schuhe und lief los Richtung Auto. Strauchelnd und keuchend versuchte er, den Abstand zwischen sich und dem Schemen zu vergrößern, aber immer, wenn er einen Blick zurück warf, schien sein Verfolger näher, ohne dass er ihn laufen sah. Der Weg zurück zu seinem Auto kam ihm doppelt so lang vor wie der vom Auto zum See und als er in einiger Entfernung endlich die Rücklichter sah, schien es fast zu spät. Der Schatten war kaum noch drei Meter hinter ihm, in einer jetzt beklemmenden Lautlosigkeit hatte er sich immer schneller genähert. Mike trat auf einen spitzen Stein, schrie auf, warf Boots und Handtuch im hohen Bogen von sich, während er das Gleichgewicht vollends verlor. Er schlug hin und versuchte, auf dem unebenen Boden gleich weiter zu robben und dabei wieder in die Senkrechte zu kommen. Stolpernd gelang es ihm und dann hatte er den Audi erreicht. Als er den Schlüssel ins Schloss schob, stand der Schatten genau gegenüber an der Beifahrertür, immer noch schwarz und ohne jede Kontur. Mike warf sich auf den Fahrersitz und schlug den Sperrknopf herunter. Mit hämmerndem Herzen und die Luft anhaltend erstarrte er anschließend, sein Blick fiel durch die Windschutzscheibe auf den ausgeleuchteten Fahrweg vor dem Auto. Er wagte nicht, sich umzusehen, den schwarzen Schatten zu suchen. Er befürchtete, dass sein Verfolger den Wagen umkreiste, eine Möglichkeit suchte, an ihn heranzukommen. Und dann vernahm Mike dieses durchdringende Kratzen auf dem Metall und ihm stellten sich die Haare auf. Wer war das …waswar das?

Schließlich schob sich der Schemen am rechten Kotflügel in Mikes Gesichtsfeld. Obwohl er den Kopf nicht drehte, konnte er im Augenwinkel erkennen, dass dieses fremde Etwas sich nach vorne bewegte. Alles, was er jetzt schaffte war, einfach die Augen zu schließen. Seine Neugier reichte nicht aus, die Angst zu verdrängen. Er zitterte, atmete stockend und presste seine Hände zu Fäusten, bis die Fingernägel kleine Halbmonde in den Handballen hinterließen. Dann hörte er eine leise Stimme.

Zuerst begriff er den Sinn der Worte nicht und blieb einfach wie zuvor sitzen. Schließlich jedoch verstand er, dass ihn jemand um Hilfe bat. Zögernd öffnete er die Augen und sein Blick fiel auf einen jungen, nackten Mann direkt vor seiner Kühlerhaube. Er hielt sich beide Hände vor seine Blöße und hatte einen halb komischen, halb verzweifelten Gesichtsausdruck. Mikes Kinnlade fiel herunter, er glaubte nicht, was er da sah, deshalb fiel ihm nichts Besseres ein, als das Fernlicht einzuschalten. Der junge Fremde drehte sich weg und machte dann einige Schritte neben das Auto. Dort war er immer noch gut als Person zu erkennen und kurz stellte sich Mike wieder die Frage, wieso er im Schatten von vorhin nicht diesen Jungen hatte identifizieren können. Vielleicht verwischten die taillenlangen, blauschwarzen Haare die Konturen? Mike entschied, dass ihm hier und jetzt wohl doch keine Gefahr drohte und stieg aus. Dennoch wachsam ging er auf den anderen zu, bis er direkt vor ihm stand. Der Schwarzhaarige war mindestens einen Kopf kleiner und sehr feingliedrig. Als er Mike sein schmales Gesicht zuwandte, erahnte dieser im Streulicht des Scheinwerfers die Jugend seines Gegenübers und verlor sich auf der Stelle in dessen tiefschwarzen, melancholischen Augen. Er fühlte sich in der Nähe des nackten Fremden wie elektrisiert, was sich jedoch erstaunlicherweise nicht auf seine Lenden bezog. Ein unbekanntes, merkwürdiges Gefühl hatte sich seiner bemächtigt, sein Herz klopfte wie wild und seine Handflächen waren feucht geworden. Ganz gegen seine Gewohnheiten versuchte er seine Nervosität mit einem Redeflash zu überspielen. Kurz entwickelte sich ein Gespräch zwischen ihnen, in dessen Verlauf Mike vom Missgeschick des anderen erfuhr. Jemand hatte ihm seine Sachen gestohlen, während er im See schwamm, so banal war die Erklärung für all das.

Mikes Angebot, ihn nach Hause zu fahren, lehnte er ab. Dafür erfuhr er einige Dinge über den anderen, der stellte sich als Corvo vor und erklärte gleich anschließend, dass er hier in der Umgebung kein Zuhause habe, nicht mal in Deutschland beziehungsweise Europa wohne. Er reise seit über zwei Jahren durch die Welt und habe zurzeit kein Geld für ein Pensionszimmer, da er noch keinen Aushilfsjob finden konnte. Er ließ jedoch durchblicken, er wolle eine Weile in Köln bleiben, so wie er es immer tat, wenn es ihm irgendwo gefiel. Es war ein ganz natürlicher Vorgang, dass Mike ihm die Übernachtung auf seiner Couch anbot, aber Corvo lehnte auch das ab. Nachdem der Jüngere die karierte Decke von der Rückbank bekommen hatte, gab es dann eigentlich nichts mehr zu besprechen.

Mike jedoch spürte deutlich, dass er etwas machen musste. Die seltsame Faszination, die von Corvo ausging, ließ sich nicht so einfach abschütteln. Und wenn er den anderen schon in eine Decke gehüllt hier lassen sollte, wollte er ihn wenigstens wiedersehen. Jedoch bot sich leider keine Gelegenheit für irgendwelche Verabredungen, der Jüngere war schon wieder auf dem Weg zum See hinunter. Mike folgte ihm ein Stück, suchte währenddessen beinahe verzweifelt nach Worten, um ihn aufzuhalten. Aber sein Kopf war wie leer gefegt und so musste er zusehen, dass Corvo wie eine Illusion in der Dunkelheit verschwand.

Halbherzig schaute Mike nach seinen Sachen, die im hohen Gras lagen, sammelte sie ein und setzte sich widerwillig in den Audi. Er schob den Zündschlüssel ins Schloss und zog ihn dann mit einem ärgerlichen Ruck wieder heraus. Er wollte einfach nicht weg. Wenig später befand er sich wieder auf dem Weg zum See, ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben. Als er am Wasser stand und sich einige Zeit erfolglos umgeschaut hatte, rief er Corvos Namen. Die Antwort erfolgte direkt hinter ihm, wo letzterer wie aus dem Boden gewachsen aufgetaucht war. Mike fuhr herum, sein Herz setzte einen Schlag lang aus, aber der Schreck verwandelte sich sogleich in Erleichterung.

Corvo stand eng in die Decke gewickelt da und Mike umarmte ihn spontan. Dann trat er von seiner eigenen Reaktion peinlich berührt einen Schritt zurück und nestelte an seiner Gürtelschnalle herum. Aber Corvo streckte ihm die Hand entgegen, zog ihn wieder zu sich und sie setzten sich nebeneinander ins Ufergras. Er musste nur wenige Worte sagen, um bei Mike eine Lawine von widersprüchlichen Gefühlen loszutreten. Da war diese noch völlig unbegründete, tiefe Sympathie und ein großer Vorschuss an Vertrauen für den anderen und gleichzeitig der maßlose Pessimismus wegen seines Lebens, seine alltäglichen Probleme im Job und mit anderen Menschen. Mike genoss Corvos Aufmerksamkeit und die Möglichkeit, im Gespräch aufzuatmen. Er öffnete sich ihm wie selbstverständlich, schneller als je einem anderen Menschen zuvor und es war, als würde das, was ihn bedrückte, bedeutungslos, noch während er es aussprach. Dabei realisierte er nicht, dass der andere absolut nichts über sich erzählte.

Die Nacht verging wie im Flug, sie war intim, ohne dass etwas Körperliches zwischen ihnen geschehen war. Kurz bevor der Morgen graute, lag Mike auf dem Rücken und war eingeschlafen. Corvo hatte den Kopf auf seinem Bauch gebettet und hielt ihn mit einem Arm umfangen. Er lag ruhig, auch wenn er wach war. Nur einen kurzen Moment verharrte er so, dann zog er sich vorsichtig zurück und stand auf. Er lächelte auf den Schlafenden hinunter, um sich dann Richtung Wald zurückzuziehen.

Der Tag brach an, inzwischen war es kühl geworden, auch wenn der goldene Schein am Horizont einen weiteren, schönen Tag ankündigte. Nebel lag über See und Wiese und hinterließ auch auf Mike Spuren von Feuchtigkeit. Er öffnete die Augen und schaute in den stahlblauen Himmel. In sein Gesichtsfeld ragten die saftig grünen Blätter eines kleinen Baumes und die erste akustische Wahrnehmung war das sachte Plätschern des Wassers. Corvo! Mike setzte sich auf, sprang dann auf die Füße und sah sich um. Er war allein. Dabei hatte er so gehofft, den anderen doch noch überreden zu können, mit in seine Wohnung zu kommen, wollte dort den Sonntag gemeinsam verbringen. Aber alles Rufen und Suchen blieb vergebens und irgendwann gab Mike auf. Bedrückt trottete er zu seinem Wagen.

Sein Zuhause schien ihm an diesem Morgen noch leerer als sonst. Er war müde, aber er setzte sich mit einem Kaffee in die Küche und dachte an Corvo. Er vermisste ihn und ihm war einfach nur zum heulen zumute. Dabei vergaß er ganz einfach die eigenartigen Umstände ihrer ersten Begegnung und auch die merkwürdige Situation der vergangenen Nacht. Er wusste nur eins, er wollte Corvo wiedersehen und die einzige Möglichkeit schien zu sein, abends wieder zum See zu fahren. Nachdem er diesen Entschluss gefasst hatte, wurde er ruhiger und ging schließlich ins Bett, wo er bis zum Abend schlief.

Gegen zweiundzwanzig Uhr kam er zurück zum See. Niemand war dort und mit jeder Minute, die verging, wurde Mike hoffnungsloser. Er setzte sich trotzdem ins Gras und wartete. Eine Stunde tropfte wie eiskalter Honig dahin, dann hielt er die Tatenlosigkeit nicht mehr aus. Er entledigte er sich seiner Klamotten und lief in den See, wo er sich wie am Tag zuvor in der Dunkelheit abreagierte.

Als er dann erschöpft Richtung Ufer schwamm, glaubte er zuerst an eine optische Täuschung, als er einen gegen das Mondlicht schwarzen Umriss am Wasser stehen sah. Dann jedoch machte er Einzelheiten aus, die schmale Silhouette gehüllt in … eine Decke. Er beeilte sich, stolperte an Land, rannte die restlichen Schritte, stand dann mit hängenden Armen vor Corvo und wusste nicht weiter. Es war Corvo, der ihn in den Arm nahm. Er öffnete dafür die Decke und zog sie hinter Mikes Rücken wieder zusammen, so dass ihre beiden nackten Körper sich innerhalb der rot karierten Wärme berührten. Mike lief ein Schauer über die Haut, während er zuerst nicht wusste, wohin mit seinen Händen. Das änderte sich, als er Corvos Streicheln spürte. Sie küssten sich leidenschaftlich, drückten sich aneinander und trieben schließlich auf einer enormen Welle der Erregung davon. Der Sex war überwältigend, selbst als sie direkt danach auf der Decke lagen, zitterten Mike noch die Knie. Er fühlte sich matt, aber auch auf eine euphorische Art befriedigt. Sie hielten ständigen Körperkontakt, sodass ihre Leidenschaft keine Chance hatte, sich völlig zu verabschieden. Wenig später im Wasser ging es dann auch schon weiter. In dieser Nacht wurde im Gegensatz zur vorherigen kaum geredet, sie ließen ihre Körper sprechen und die verstanden sich ausgesprochen gut.

Kurz vor Sonnenaufgang war es dann wieder Corvo, der sich zurückzog. Mike hatte die Möglichkeit völlig verdrängt und als Corvo Anstalten machte, ihn allein zu lassen, war das wie der Sturz in ein tiefes, schwarzes Loch. Er konnte nicht verstehen, wieso der andere ihn nach allem erneut allein lassen wollte und versuchte, ihn mit unzähligen Worten zu überzeugen, mit ihm heimzukommen. Es nützte nichts, Corvo blieb hart und verbot Mike, ihm zu folgen. Dann hatte er es dann plötzlich sehr eilig. Er lief los Richtung Wald und beantwortete nicht einmal mehr die Frage, ob sie sich in der nächsten Nacht wiedersahen.

Kurz rang Mike mit sich, ihm doch zu folgen, dann entschied er sich dagegen. Wenn Corvo nicht gefunden werden wollte, war eine Verfolgung in der Dämmerung zwecklos. In Gedanken versunken trabte er zum Auto. Was sollte das alles? Wie bescheuert war das? Er hatte sich in einen Mann verliebt, der wie ein Geist aufgetaucht war, den er nur nachts treffen konnte und der in eine Decke gewickelt umher lief. So konnte er weder einkaufen noch sich Job und Wohnung suchen. Was aß er, wenn er am See blieb? Wo schlief er?

In den verbleibenden zwei Stunden bis Schichtbeginn duschte er und trank, immer noch nachdenklich, zwei Kannen starken Kaffee. Den nachfolgenden Tag über blieben ihm nicht viele Augenblicke zum grübeln, er hatte so müde, wie er war, genug damit zu tun, die Akkordanforderungen zu erfüllen. Direkt nach Feierabend fiel er ins Bett, stellte seinen Wecker auf dreiundzwanzig Uhr. Inzwischen waren die Geheimnisse um Corvo in den Hintergrund gerückt, dafür spürte Mike wieder diese brennende Sehnsucht, ihn zu sehen und nichts würde ihn davon abhalten können. Vielleicht löste sich heute ja auch alles auf, wer wusste das schon?

Er packte vorsorglich Handtücher und eine frische Decke ein, hatte dann keine Zeit mehr, um etwas zu essen, deshalb war sein erster Halt der Imbiss, den er öfter besuchte. Mit Bier und zwei Pizzen kam er schließlich kurz nach Mitternacht an ihrem Platz am See an. Diesmal war Corvo, immer noch in die Decke gehüllt, bereits dort und wartete auf ihn. So blieb das Essen erst einmal in der Plastiktüte, sie küssten sich, gaben sich anschließend ihrer Leidenschaft hin. Erst danach, als sie nackt und erhitzt nebeneinander lagen, sich zärtlich berührten, kamen all die Fragen wieder in Mikes Kopf. Und nun stellte er sie. Corvo jedoch wich auch diesmal aus, antwortete auf keine davon. Er wiederholte nur immer wieder, dass es erst einmal so bleiben müsse, dass Mike ihm unbedingt vertrauen solle, ansonsten sei alles aus. Er beschwor ihn, außerhalb ihrer nächtlichen Zeit nicht nach ihm zu suchen oder etwas ergründen zu wollen, sondern einfach nur abzuwarten. Die Zeit für Erklärungen würde kommen.

Mike traf noch in dieser Nacht seine Entscheidung. Wenn es nicht anders ging, würde er die Bedingungen akzeptieren, er gab Corvo sein Wort darauf. Was hatte er zu verlieren? Hauptsache war doch, dass sie zusammen sein konnten. Er würde keine Fragen mehr stellen und von seiner Seite aus tun, was machbar war, um die gemeinsame Zeit am See so komfortabel wie möglich zu gestalten.

Während der Sommer verging, richtete Mike sein ganzes Leben auf Corvo ein. Der Audi verwandelte sich in eine Art Wohnwagen, er hatte alles dabei, was sie eventuell brauchen könnten, versorgte Corvo mit Lebensmitteln und frischen Textilien. Als die Nächte kühler wurden und es öfter regnete, kaufte er wärmere Decken und brachte ein Zelt mit. Das war zwar verboten, aber sie stellten das olivgrüne Teil versteckt in Ufernähe auf. Dort konnte man es nur vom See aus entdecken und da war um diese Jahreszeit niemand mehr anzutreffen. Mike lebte nur noch für die Stunden von Mitternacht bis zum Morgengrauen, alles andere brachte er widerwillig hinter sich. Er hätte schon zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr gewusst, wie er ohne Corvo leben sollte, war glücklich und ausgeglichen, einfach zufrieden wie noch niemals vorher in seinem Leben. Ihm fiel immer wieder auf, dass Corvos Wissen und seine Einstellung zu den Dingen besonders waren. Er ließ sich von der klugen, positiven Art des anderen mitreißen und erfuhr so auch in seinem Alltag Erleichterungen, weil er besser mit Kollegen und anderen Menschen klar kam. Deshalb schaffte er es lange, die beharrlich in seinem Kopf lauernden, störenden Fragen wegzudrücken.

Das blieb so bis Anfang November, als das Wetter immer ungemütlicher wurde. Wie sollte das erst in den Winternächten werden? Mit jedem Tag meldeten sich Mikes Fragen drängender zurück. Er wollte nicht mehr einsehen, dass es einen triftigen Grund geben könnte, weshalb sie hier draußen bleiben mussten. Er glaubte nun eher daran, dass Corvo ein psychisches Problem hatte und so war er irgendwann sicher, auch eine Lösung zu haben. Er musste dem anderen nur zeigen, dass nichts Schlimmes passierte, wenn sie nach Sonnenaufgang noch zusammen waren. Alles andere würde sich dann von selbst ergeben.

Und so kam die Nacht, in der Neugier und Ungeduld endgültig stärker wurden als die Furcht, Corvo zu verlieren. Mike würde ihn austricksen und wenn sein Freund den Tag erlebte, war sein Wortbruch wahrscheinlich gar nicht mehr wichtig. Dann konnten sie endlich wie ein ganz normales Paar zusammen sein und wohnen.

Mike hatte sich über das Internet ein Betäubungsmittel organisiert, das er nachts heimlich in Corvos Getränk mischte. Als dieser die ersten Auswirkungen spürte, reagierte er panisch. Er sprang auf und riss bei seinem Versuch, das Zelt zu verlassen, beinahe alles ein. Draußen schrie er und der Ton war so durchdringend, fast unmenschlich schrill, dass Mike sich die Ohren zuhalten musste. Trotzdem folgte er Corvo, umfing ihn mit beiden Armen, hielt ihn ganz fest und versuchte, ihn mit Worten zu beruhigen. Aber er tobte weiter und wollte nur weg von ihm, bis seine Bewegungen langsamer und die Worte unverständlicher wurden.

Warum hast du das getan? Warum?

Sein trostloses Fragen hörte erst auf, als er fast schlagartig das Bewusstsein verlor und in sich zusammensank. Mike fing ihn auf und ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Dort bettete er ihn auf einer Decke, legte ihm ein Kissen unter den Kopf und deckte ihn zu. Selbst ebenfalls in eine Decke gehüllt saß er dann neben ihm, fühlte immer wieder seinen Puls und horchte auf seinen Atem. Alles schien in Ordnung, jetzt hieß es, auf den Tag warten. Mikes Denken wechselte von schlechtem Gewissen über Selbstberuhigung bis hin zur Angst, dass die Dosis vielleicht doch zu hoch gewesen war. Wieder einmal schlich die Zeit dahin, aber dann war der ersehnte Morgen doch gekommen. Es wurde hell, während Corvo weiter schlief. Mikes Aufregung stieg mit jeder Minute, er legte sich seine Argumente zurecht und richtete sich darauf ein, Corvo zu beruhigen und am Weglaufen hindern zu müssen. Erst einmal musste er jedoch nichts tun. Es war schon lange hell, aber Corvo schlief immer noch, länger als berechnet und länger, als Mike das ruhig mit ansehen konnte. Schließlich versuchte er, Corvo zu wecken, was aber misslang. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiter zu warten, bis der andere von sich aus wieder zu sich kam.

Dann, Mittag war schon vorbei, schlug Corvo endlich die Augen auf und schaute in den Himmel. Er sah dabei so unnahbar aus, dass Mike vergaß, was er jetzt eigentlich alles sagen wollte. Corvo war nicht wie erwartet aufgewühlt, im Gegenteil, er wirkte auf eine endgültige Art gefasst. Sein Blick war traurig, während er sich langsam aufsetzte, dann aufstand. Mike blieben all die wohl überlegten Worte im Hals stecken, als sich der Blick der tiefschwarzen Augen gedankenverloren auf ihn senkte.

Warum konntest du nicht warten?

Nackt und aufrecht stand Corvo kurz da, wirkte begehrenswerter und makelloser als jemals zuvor. Ein letzter, schwermütiger Blick, dann machte er einige Schritte Richtung Ufer, sprang dort hinter den kleinen Bäumen ins Gebüsch und verschwand so aus Mikes Blickfeld. Das war der Augenblick, in dem letzterer aus seiner Erstarrung erwachte und sich aufrappelte. Er folgte Corvo zum Ufer, von wo aus er ihn eigentlich zwischen den hüfthohen Sträuchern hätte sehen müssen. Mike ging näher, schaute in Erwartung, Corvo dort hocken zu sehen, über das Gebüsch.

Aber da war niemand. Stattdessen flog aus dem Dickicht ein großer Rabe auf. Er stieg schnell höher, schwebte krächzend über den See davon. Und nun plötzlich verstand Mike. Weder Logik noch Vernunft konnten noch etwas an der Erkenntnis ändern, dass er Corvo für immer verloren hatte.

„Wow, das war traurig! Ist das echt passiert?“, fragte Gino bekümmert.

„Ich habe im Netz recherchiert, Mike gefunden und mit ihm gesprochen. Er lebt jetzt allein in einem kleinen Dorf in der Nähe des Sees und ist nach all den Jahren immer noch nicht drüber weg“, antwortete Marcel.

„Und es gibt keine Chance mehr, dass er Corvo wiedertrifft? Das war doch so romantisch zwischen ihnen“, fragte der sanfte Gino.

„Mike hat alles versucht, war immer wieder dort, wo er Corvo getroffen hat. Er ist heute sicher, er hat’s mit seiner Neugier endgültig versaut, die Metamorphose ist nicht mehr rückgängig zu machen. Abgesehen davon, dass Corvo verschwunden ist!“

„Und er kann nun wirklich nicht alle Krähen küssen, um seine große Liebe wiederzufinden!“, witzelte Jeromé.

„Es war ein Rabe!“, brummte Marcel.

„Dann eben ein Rabe … das mit dem Kuss würde sowieso nur bei Amphibien funktionieren“, grinste Jeromé und handelte sich damit einen strafenden Blick von Max ein.

Etwas später begann dann Raphael mit seiner Geschichte. Auch er schickte voraus, dass die Geschichte aufgrund seiner Nachforschungen so passiert sein könnte.

Raphaels Story: Altstadtdämon

Es war störend! Einfach störend, lästig und viel zu hell! Gregor öffnete ein Auge und erspähte den gebündelten Sonnenstrahl, der sich durch den Spalt der Stores in sein Schlafzimmer stahl. Das Auge schloss sich wieder und er drehte sich grummelnd zur Wand. Er wollte noch nicht wach sein, er musste auch nicht. Aber der Schlaf kam nicht zurück, es war, als würde der Lichtfinger ihm im Genick herum tippen.

„Lass mich schlafen!“, wehrte er sich und suchte Zuflucht unter dem Kissen. Er wollte dieses Morgen-Grauen noch nicht. Aber seine Nerven hatten bereits begonnen, seine Befindlichkeiten zu scannen. Eine süßlich-ranzige Geschmacksverirrung blühte auf der Zunge, ein pulsierendes Schlagzeug dröhnte hinter seinen Schläfen und dann gab es noch die Miniaturblitze, welche grell über die Innenseiten seiner Lider zuckten. Scheiß Alkohol. Aber immerhin handelte es sich um Champagner, der in Strömen geflossen war und nicht um billigen Pennerfusel – von daher quälte ihn jetzt zumindest ein Hangover deluxe und kein primitiver Schnapskater.

Widerwillig drehte er sich auf den Rücken. Was hatte eigentlich gewagt, ihn zu wecken? Der Anrufbeantworter blinkte. Na toll! All seine Freunde und Bekannten wussten doch, dass er tagsüber nicht zu erreichen war. Nachts fand sein Leben statt, nachts sorgte er für seinen Unterhalt und den Luxus, der sich langsam mehrte.

Gregor schwang die Beine aus dem Bett und machte sich widerwillig auf den Weg Richtung Bad, dem Aspirin, Duschgel und Zahnpastalieferanten. Gähnend traf er zunächst genau die Mitte der Schüssel, ging dann zum Waschbecken und schaute in den Spiegel. Ach du Schreck, es würde wohl etwas dauern, bis er den vierundzwanzigjährigen, blendend aussehenden, körperlich fitten Kerl wieder aus dieser glanzlosen Hülse geschält hatte. Sogar sein einmaliges Unterarm-Tattoo, das Bildnis seines Exfreundes, in dessen Kopf inzwischen ein Schwert steckte, schien dicke Augen und hängende Mundwinkel zu haben. Aber das machte nichts, er wusste ja, seine Anziehungskraft schlummerte nur ein paar Körperpflegeeinheiten entfernt. Heute wollte er sowieso relaxen, keine Party, kein Treffen mit einem gut situierten Kavalier, kein stylen - einfach nur Ruhe haben, vor Fernseher und PC herumlungern und dazu ein wenig stressfreie Konservierungskosmetik. Wieder einmal ging ihm durch den Kopf, dass er den Job bis höchstens dreißig machen würde. Dann hatte er mit Sicherheit so viel Geld zusammen, dass er in die Modebranche wechseln und mit einem eigenen Label Karriere machen konnte.

Nach Dusche, Zähneputzen und drei Kopfschmerztabletten schlurfte er desinteressiert zum AB, der Störenfried war sein Busenfreund Patrick gewesen, der ihn zu einer Kneipentour durch die Kölner Altstadt einlud. Nur sie beide und die Clique, die sie von den verschiedenen Theken weg nach und nach einsammeln konnten.

Gregor schüttelte den Kopf, löschte die Nachricht und latschte in die Küche. Sein Magen trotzte allen Versuchen der Besänftigung, die Übelkeit schmeckte nach fossilem Brennstoff und verdorbenem Fleisch an Kräuterminze. Kaffee! Es klingelte an der Tür, dann hörte er Patricks Stimme, die ihn vor die Wahl stellte, zu öffnen oder keinen besten Freund mehr zu haben.

Gregor zog sich seine zerknautschte Jogginghose über, machte die Tür auf und warf sich dann ohne Willkommensgruß auf die Couch.

„Wenn du schon da bist, mach mal Kaffee!“

„Meine Güte, du siehst haargenau aus wie Brigitte Nielsen vor der letzten OP!“

Patrick schloss die Tür hinter sich und strebte gehorsam Richtung Küche.

„Du weißt, dass sich nach besonders intensiven Nächten mein Aggregatszustand ändert.“

„Genau, von durchtrainierten Muskeln zu Babybrei! Wo warst du denn letzte Nacht?“

„Im Römerkeller. Den hatte Herbert gemietet, seine Partys sind immer ziemlich anstrengend!“

„Und nicht jugendfrei!“

„Richtig!“

„Du solltest den Mist wirklich bald drangeben, irgendwann ist es zu spät für einen Absprung!“

„Du weißt doch, mit dreißig ist Schluss, dann hab ich genügend Schotter zusammen, um meine Firma zu gründen und meine eigene Mode zu entwerfen!“

„Das haben schon ganz andere gehofft.“

„Ich hoffe nicht, ich weiß es! Und nu Schluss mit deiner Besserwisserei, wer weiß schon, wo du mit dreißig gelandet bist, vielleicht schon im Fummeltrinenhimmel!“

Der Duft von Kaffee zog durch die Wohnung, dann saßen sie beieinander und Patrick erfuhr unverlangt mehr von der letzten Nacht. Irgendwann endete Gregor:

„Na ja, das alte Ferkel kriegte jedenfalls den Hals wieder nicht voll. Du kennst das ja, je unansehnlicher die Freier werden, desto geiler führen sie sich auf. Sogar, wenn sie seit Jahren keinen mehr hochkriegen und man denken könnte, sie geben endlich Ruhe. Lass uns von etwas anderem sprechen, sonst bekomme ich seinen hängenden Hintern gar nicht mehr aus dem Schädel!“

„Heute Abend vergisst du den Opa sowieso! Nur Knaben in der Disco!“

„Nee, lass mal. Heut mach ich nix.“

„Quatsch nicht, natürlich kommst du mit. Ich helfe dir, tageslichttauglich zu werden!“

Gregor schaute zum Fenster, draußen war die Abenddämmerung bereits fortgeschritten.

„Warum? Es ist dunkel.“

„Umso besser, das spart uns mindestens zwei Stunden Renovierungsarbeit!“

„Mensch, übertreib nicht so. Ich sehe sogar in diesem Zustand noch besser aus als die alten Säcke, die zufällig das Glück haben, sich mich leisten zu können!“

„Immer wieder erfrischend, dass du so gut mit deinem Minderwertigkeitskomplex klar kommst, Gregoria. Auf, auf! Schwing dieHufe und ab ins Bad.“

Patrick hatte wie meistens die besseren Argumente, deshalb war aus dem schlampigen Gregor schon eine Stunde später wieder der gepflegte, perfekt gestylte und äußerst kostspielige Callboy geworden. Allerdings blieb es auch weiter sein freier Abend, er würde nur mit seinen Freunden feiern. Den ersten Drink hatte er mittlerweile schon wieder zu sich genommen, zusammen mit einer eher sparsamen Line Koks motivierte ihn das vollends.

Die ersten Stunden in der Kölner Altstadt waren ruhig, wie immer am Wochenende füllten sich die Gaststätten auch an diesem Freitag erst Richtung Mitternacht. Bis dahin war die Gruppe der Freunde auf sieben angewachsen. Sieben auffallend attraktive junge Männer, die sich in ihren teuren Markenklamotten ein bisschen so aufführten, als gehöre die Welt nur ihnen. So waren sie schließlich in der Trenddisco angekommen, wo zwei muskelbepackte Türsteher genau auf den Input achteten und in der sie bis zum Morgengrauen bleiben wollten.

Gregor genoss es, sich nicht angrabschen lassen zu müssen, das Grüppchen tanzte, trank und flirtete und frotzelte untereinander. Sie bewegten sich wie auf einer Insel ohne Verbindung zum Festland. Im Moment waren sie mal wieder auf dem Weg zu einer der drei Theken, um neue Getränke zu bestellen. Dabei rempelte Gregor einen Mann an und murmelte ein affektiertes „sorry“, ehe er sich über die Theke zum Barkeeper lehnte und seine Bestellung machte. Dann vernahm er zwischen den dröhnenden Klängen von Linkin Park einige Worte, die er heute eigentlich nicht hören wollte.

„Du siehst verdammt gut aus, weißt du das eigentlich?!“