Tödliche Verführung - Andy Claus - E-Book

Tödliche Verführung E-Book

Andy Claus

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Beschreibung

Die Ermittlungen in einer sadistischen Mordserie an hübschen, jungen Männern bringen Hauptkommissar Simon Berger, den Leiter der Kölner Soko 'Kreuzigung', in die Nähe der Freikirche von Drago Bartory, Sektenchef und Mitglied in einem Geheimorden mit weltweitem Machtanspruch. Zur gleichen Zeit verlegt der eigensinnige Stricher Benny Stern seinen Wirkungskreis von Hamburg nach Köln und gerät in die Fänge der Sekte.Ausgerechnet Sandro da Romano, Bartorys Lebensgefährte, verliebt sich in Benny und Schwierigkeiten sind vorprogrammiert.Unglaubliche Machtspiele, erbitterte Eifersucht und eine große Liebe finden im Schatten des mysteriösen Killers statt, bis jeder einzelne der Beteiligten unmerklich direkt in seine unmittelbare Nähe und damit in Lebensgefahr gerät. Die Handlung beginnt in Köln, setzt sich in einem alten Kloster in den Bergen Ungarns fort und der Showdown führt den Leser mitten in einen Hurrikan auf die Insel Mustique in der Karibik.Dabei bleibt der Serienkiller selbst geheimnisvoll und nicht fassbar. Wenn sich seine Identität endlich enthüllt, ist die Überraschung garantiert.Tödliche Verführung ist ein spannender Gay-Psychothriller mit vielen überraschenden Wendungen. Nach 'Ulrich von Eichendorf' setzt Andy Claus ihre kriminalistischen Ambitionen fort und hat mit diesem Roman einen spannenden Erotik-Thriller mit schwulen Helden geschrieben.

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Andy Claus

Infos zu Andy Claus sind zu finden unter

www.andy-claus.de

Weitere Romane:

Masken aus Glas / Coming Out / ISBN 3934825141

Herbstgewitter / Lovestory / ISBN 3934825206

Sascha - Das Ende der Unschuld / Milieustudie / ISBN 3934825265

Ulrich von Eichendorf / Erotischer Krimi / ISBN 3934825346

Die Qual der Bestie / Mysterythriller / ISBN 3938607041

Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH

Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

E-mail: [email protected] www.himmelstuermer.de

Photo byAdam Raphael, http://www.adamraphael.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg

www.olafwelling.de

Originalausgabe, September 2005

Digitale Ausgabe März 2013

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

 ISBN print 3-934825-48-2

ISBN epub 978-3-86361-304-4

ISBN print

Verhängnis

Der Grat zwischen Sein und Begehren,

zwischen Sanftmut und rücksichtsloser Gier ist schmal.

Hast du erst einmal das Tor in die Dimensionen

deiner animalischen Triebe aufgestoßen,

wirst du dein enthemmtes Selbst akzeptieren

und auf der Suche nach der absoluten Lust

jeden moralischen Grundsatz aufgeben.

Hinter allen gesprengten Grenzen

werden sich neue Grenzen auftun,

die es zu opfern, zu überwinden gilt.

Und jedes Mal wird es leichter werden.

Die Faszination der schrankenlosen Ekstase

treibt dich ins Dunkel deines eigenen Geistes,

für jede Tat wirst du neue Vorwände,

neue Rechtfertigungen finden.

Der Dämon in dir wird mächtiger werden,

bis du dich ihm ergibst und bereit bist,

auch den letzten Schritt zu gehen ...

... den Schritt in eine flammende Besessenheit,

die in ihrer sadistischen Wollust töten will.

Begegnungen

Eins

„Was?!”, brüllte Simon in sein Handy. Dann bemerkte er am Rauschen im Hörer, dass er den Anruf weggedrückt hatte, statt ihn anzunehmen. Er warf das Telefon quer durch sein Wohnzimmer auf die Couch, von der es abprallte, um auf den weißen Fliesen zu landen. Dort fiel der Akku heraus und rutschte unter den Tisch.

„Verdammte Scheiße ...“

Er sammelte die Einzelteile auf und fügte sie wieder zusammen. Dort, wo er saß, bildete sich ein nasser Fleck auf der schwarzen Ledercouch, das Läuten des Telefons hatte ihn unter der Dusche weggeholt. Nachdem er den Pin eingegeben hatte, meldete das Handy eine Kurzmitteilung und verwies ihn auf die Mailbox. Er hörte die Nachricht ab, während er zurück Richtung Bad schlitterte. Es hatte einen Leichenfund gegeben, seine Kollegin Alexandra Kaiser hatte ihm die Eckdaten aufs Band gesprochen. Es schien der vierte Fall in einer Serie zu sein, die vor knapp drei Monaten begonnen hatte. Er war Leiter der für diese Fälle gegründeten Sonderkommission „Kreuzigung“. Also wieder nichts mit Feierabend.

Simon Berger schaute in den Spiegel. Im Moment umgaben schwarze Schatten seine tiefbraunen, immer ein wenig melancholisch schauenden Augen, er wirkte hohlwangig und trug einen Dreitagebart. Letzteres allerdings nicht aus Überzeugung, sondern weil er einfach nicht dazu kam, sich zu rasieren. Die grausamen Mordfälle, die ganz Köln und Umgebung in Atem hielten, ließen ihm nicht einmal Zeit, regelmäßig zu essen. Er war 35 und hatte in seinem Job bereits eine Menge Erfahrungen mit der menschlichen Brutalität machen müssen, aber diesmal ließen die Fälle seine innere Uhr ständig weiterlaufen. In den wenigen Stunden, in denen er schlafen konnte, träumte er von den Opfern.

„Alex? Was gibt’s?“ Noch während er in seine Jeans schlüpfte, presste er mit der Schulter den Hörer ans Ohr und rief seine Kollegin zurück. Er wurde in Richtung Bonn beordert und wusste aus dem stichwortartigen Bericht, dass das, was ihn erwartete, nicht dazu beitragen würde, sein emotionales Befinden zu verbessern. Er hatte Angst. Angst, den Mörder nicht bald stoppen zu können und wusste dabei, dass eine solche Einstellung weder professionell noch den Ermittlungen zuträglich war. Aber er kam nicht dagegen an.

Er schnappte sich ein trockenes Stück Brot, klemmte es sich zwischen die Zähne und füllte seine Taschen mit allem, was er brauchte, während er eigentlich schon auf dem Weg zur Tür war.

Seine etwas zu langen, zerzaust wirkenden schwarzen Haare klebten feucht in seiner Stirn, er schüttelte den Kopf und die Strähnen flogen wie kleine Schlangen nach hinten. Seine Finger ersetzten den Kamm, während er in seinen blauen Opel Astra stieg. Er machte sich auf den Weg zum Blauen See in der Nähe des Schlösschens „Kommende“ in Ramersdorf. Der See inklusive Umgebung war ein Treffpunkt für Liebespaare, auch Schwule gingen dort und am benachbarten Dornheckensee der Jagd auf Gleichgesinnte nach und nannten dies Cruising. Simon würde am Fundort die Kollegen aus Bonn treffen, welche sich sofort an die Soko Kreuzigung gewendet hatten.

Er parkte nach Alex’ Beschreibung an der Fußgängerbrücke und machte sich auf den Weg. Die Umgebung war großräumig abgesperrt. Er folgte dem ausgetretenen Waldweg, musste über umgeknickte, kahle Bäume steigen und stolperte über Felsgestein, das an manchen Stellen aus dem harten Boden ragte.

Er musste nicht lange nach Alex suchen, sie kam ihm entgegen und wirkte ziemlich blass.

„Wo?“, fragte Simon knapp.

Sie wies in Richtung der steil aufragenden Wand aus Basaltgestein. In der Abendsonne wirkten manche Stellen wie in Blut getaucht, was Simon in diesem Zusammenhang wie ein Omen vorkam.

„Oben gibt es zwei Höhlen. Die eine ist schwer zugänglich und leer, in der anderen hat ein Liebespaar den Jungen gefunden. Er ist bereits länger tot, zwei bis drei Tage, soviel konnte der Gerichtsmediziner schon sagen. Er ist nackt, hat wieder die Kreuzigungsmerkmale an Händen und Füssen und den Stich in die Seite, ist vollkommen ausgeblutet und gestorben ist er mit Sicherheit nicht hier.“

Simon nickte, Informationen austauschen konnte er immer noch. Er ließ Alex bis zur Höhle vorausgehen und zog sich dort den weißen Anzug aus dünnem Plastik nebst Schuhschutz an. Schließlich wollte er keine neuen Spuren an den Tatort bringen. Dann ging er an ihr vorbei ins Innere. Der Geruch des Todes schlug ihm entgegen. Er hatte ihn schon oft gerochen, aber gewöhnen würde er sich an diese säuerlich beißende Fäulnis nie, die ihm jedes Mal wieder die Atemwege zu verkleben schien. Menschen rochen anders als Tierkadaver, ein Umstand, dessen er sich gerade wieder bewusst wurde.

Er schaute sich im ersten Raum der Höhle um. Das Team sicherte mit Pinzetten Dinge, die in sterile Tüten gesteckt wurden. Schuhabdrücke wurden ausgegossen und der Fotograf lichtete die Umgebung aus verschiedenen Perspektiven ab. Kleine, schwarze Täfelchen mit weißen Zahlen darauf standen überall verteilt.

Über ihm war mit weißer Farbe das Wort LOVE an die Wand geschrieben worden. Liebeshöhle hieß diese Grotte bei den Ortansässigen, ein Name, der den allgemeinen Verwendungszweck bereits implizierte. Je weiter Simon ging, desto gebückter war seine Haltung, die Durchbrüche in der Felswand wurden kleiner.

Scheinwerfer leuchteten die Szene aus, die jetzt vor ihm auftauchte. Der Gerichtsmediziner, der neben dem Toten hockte, wich zurück, als Simon sich näherte und er konnte erkennen, dass der Junge höchstens sechzehn sein konnte. Er lag auf dem Rücken, hatte keine bestimmte Position, seine Gliedmaßen wurden nicht angeordnet. Es sah aus, als sei er wie die anderen nur abgeladen worden, um sich seiner zu entledigen. Der schmale, sehr weiße Körper des Jungen wies Risse und Striemen auf, seine blicklosen, dunklen Augen waren mit einer Schicht Sand bedeckt, während sich in den Augenwinkeln diese gelblich weiße Masse bewegte. Fliegenlarven. Fliegen machten sich bereits in den ersten Stunden an einen toten Körper, Simon nahm an, dass der Gerichtsmediziner an ihrer Entwicklung die Zeit abgeschätzt hatte, die der Junge tot sein musste. Anderweitige pathologische Untersuchungen waren schon wegen der Enge des Raumes hier nicht möglich.

Simon ging in die Knie. Der Scheinwerfer leuchtete brutal jede Verletzung aus und er erkannte auch bei diesem Toten die vielen, kleinen Löcher in der Stirn und über Hand- und Fußgelenken. Untersuchungen der Abstriche aus diesen Wunden hatten bei den anderen Opfern metallische Ablagerungen ergeben. Deshalb nahm man an, sie stammten von Stacheldraht. In den blutverschmierten, schwarzen Haaren hatten sich Schmutz und Äste verfangen, welche wohl vom Transport hierher stammten. Es schien, als würde es auch diesmal keine wirklich verwertbaren Spuren geben.

„Zwei Tage, die Larven stehen kurz vor dem schlüpfen!“, informierte der Pathologe und Simon drehte sich im hocken zu ihm um.

„Todesursache?“

„Ich vermute, ausbluten wie bei den anderen. Genau weiß ich es, wenn ich ihn auf dem Tisch hatte.“

Simon erhob sich und ging zu Alex, die etwas weiter hinten geblieben war.

„Weiß man schon, wer der Junge ist?“

„Nein, hier gibt es nichts außer dem Körper. Wir müssen die Vermisstenlisten durchgehen und hoffen, dass wir ihn dort finden.“

Aber der Junge blieb vorläufig namenlos wie die anderen drei Opfer. Scheinbar vermisste auch ihn niemand.

Zwei

Benny Stern war siebzehn. Vor zwei Jahren lief er von zu Hause weg. Er hielt es in dem kleinen Ort in Süddeutschland nicht mehr aus. Sein Weg hatte ihn in verschiedene deutsche Großstädte geführt. Den Lebensunterhalt verdiente er mit Dienstleistungen an älteren Männern. Von Daheim fortgegangen war er, weil man dort sein Schwulsein unterdrücken wollte und lernte dann gleich die schlechteste Seite des schwulen Lebens kennen. Aber er war immerhin unabhängig und bisher nicht drogensüchtig, eine Tatsache, auf die er sehr stolz war.

 Es fiel ihm leicht, den schnellen Euro zu machen. Er sah gut und noch ziemlich jung aus. Seine braunen Haare waren zerzaust und hingen ihm bis zur Spitze seiner schmalen, aber großen Nase. Die hellbraunen Augen und sein Mund schienen immer zu lächeln, dabei war es egal, wie mies es ihm ging. Das war ein Kapital, das er zu nutzen wusste.

Sein einziger Freund und Vertrauter war Gay, ein Schäferhundmischling. Er war bei seiner Geburt dabei gewesen, gleich zwei Wochen, nachdem sein Leben auf der Straße begonnen hatte. Damals war er in Hamburg gewesen und hatte sich dort einer Gruppe von obdachlosen Jugendlichen angeschlossen, die ihm auch den angeblich einfachen Weg des Geldverdienens nahegebracht hatten. Ein Mädel besaß eine Hündin und als diese warf, war er geblieben und hatte sich gleich auf den ersten Blick in Gay verliebt. Er war schwarz und langhaarig, mit einer hellbraunen Schnauze und ebensolchen Ohren. Seither waren sie keinen einzigen Tag getrennt gewesen, der Hund blieb sein einziger, ständiger Weggefährte, der mit ihm die gute und auch schlechte Zeit verbrachte. Oft genug hatte das Tier Benny verteidigt, wenn es zu Tätlichkeiten kam. Im Winter froren sie zusammen, immer wieder hatte nur die Wärme des Hundes verhindert, dass Benny sich Erfrierungen holte. Sie teilten Essen und Schlafplatz, ein Grund, warum Benny selten in öffentlichen Einrichtungen für Obdachlose schlief. Er hätte sich für diese Zeit von seinem Hund trennen müssen. Ein Umstand, der ihn sich für Nässe, Kälte und Unbequemlichkeit entscheiden ließ.

Aber jetzt war Mai, der Sommer stand bevor. Und diesen, so war seine Entscheidung gewesen, würde er in Köln verbringen. Soeben war er mit dem Zug aus Bremen angekommen, wo er den Winter verbracht hatte. Seiner Schlauheit schrieb er es zu, als blinder Passagier nicht erwischt worden zu sein. Er hatte für die Streckenabschnitte verschiedene Züge genommen, um so weder dem Kontrolleur noch dem Schaffner in die Quere zu kommen. Und es hatte wieder funktioniert.

Jetzt musste er sich einen Schlafplatz und Leute, mit denen er die Zeit verbringen konnte, suchen. Ganz von selbst fand er die Ecken am Bahnhof, wo sich Obdachlose, Stricher und Gelegenheitshuren trafen. Er fand eine Clique und wie immer redete er nur das Nötigste, auch wenn er sich ihnen anschloss. Er beobachtete die anderen, um sich ein Bild machen zu können, wie sie waren und wen er mochte. Es passierte nie, dass er dabei jemanden traf, dem er wirklich vertraute. Erst ein einziges Mal hatte er einen echten Freund gefunden, Jens ... den Jungen, in den er sich verliebt hatte. Ein halbes Jahr waren sie zusammen geblieben. Aber Jens war süchtig und das Heroin brachte ihn letztlich um. Morgens hatte Benny ihn an der Wand sitzend in ihrer gemeinsamen Absteige, einem abbruchreifen Haus ohne Fenster und Türen in einem Randbezirk von München, gefunden. Der Gurt des Goldenen Schusses war noch gelöst um seinen Arm geschlungen. Er würde Jens’ Totenmaske niemals vergessen, der Tod hatte ihm keinen Frieden gebracht. Die entsetzten Gesichtszüge und verkrampften Finger ließen darauf schließen, dass das Letzte, was er in seinem Kopf gesehen hatte, die grausamen Bilder eines Horrortrips gewesen waren.

Aber das war Vergangenheit. Benny hatte damit abgeschlossen und allein die Lehre daraus gezogen, niemanden so nah an sich herankommen zu lassen, dass es schmerzte, wenn er ihn verlor. Denn Verlust war das, mit dem er täglich umzugehen hatte, nichts in seinem Leben hatte Bestand. Außer Gay, der sich gerade von einem jungen Mädchen mit Chips füttern ließ.

„Habt ihr die Typen gesehen, die auf der Domplatte rumrennen und von Christus quatschen?“, fragte jetzt einer der Jungs.

„Ja, hab ich. Müll! Die haben einen an der Waffel. Wer glaubt denn heute noch an so was? Wenn Christus für uns zu sprechen wäre, hätten wir was zu beißen, ohne den Arsch dafür hinhalten zu müssen und ein Sofa statt Steinen“, antwortete ein anderer. Er nahm einen tiefen Zug aus der Wodkaflasche, die er danach in der Runde weiterreichte. Benny lehnte ab.

„Wo kommst du eigentlich her? Ich hab dich noch nie hier gesehen! Mein Name ist übrigens Nicki“, fragte jemand Benny und dieser gab dem farbigen Erforscher seiner Lebensumstände wortkarg Auskunft.

„Willst du bleiben?“, fragte ein Mädchen, das höchstens vierzehn sein konnte. Sie hatte eine schlafende weiße Ratte auf der Schulter sitzen.

„Mal sehen. Wo pennt ihr?“

Benny erfuhr, dass es zur Zeit keinen gemeinsamen oder festen Schlafplatz gab. Nachts saß man so lange es ging im Bahnhof oder auf der Domplatte zusammen. Wenn die Polizei die Plätze räumte, ging man gemeinsam runter zum Rhein. Manche schliefen dort, andere machten sich irgendwann in der Nacht auf den Weg, um etwas besseres zu finden. Einige gingen auch mit Freiern heim. Das war etwas, das Benny niemals auch nur in Erwägung zog. Zu diesem Schluss kam er nach einer mehr als negativen Erfahrung, die ihm drei Wochen Handlungsunfähigkeit und einen falsch zusammengewachsenen Unterarmknochen beschert hatte. Er konnte nicht in eine Klinik gehen, man hätte ihn wieder heim gebracht. Und wo hätte Gay diese Zeit über bleiben sollen? Deswegen musste damals allein die Natur ihm zur Genesung verhelfen, eine Erfahrung, die ihm im nachhinein offenbarte, dass er stark war. Stärker als andere Kids, die das Dasein auf der Straße nicht überlebten. Unerfahrene, liebesbedürftige Kinder, die versuchten, sich das Leben durch Drogen und Suff erträglicher zu machen. Immer auf der Suche nach etwas, das sie selbst nicht in Worte fassen konnten, egal wie abgebrüht sie taten. Benny würde sich nicht abhängig machen lassen. Weder von Drogen noch von Menschen, das schwor er sich jeden Tag aufs neue.

„Sollen wir auf die Platte gehen und die Typen verarschen? Die schreien doch danach mit ihrem blöden Gerede!“

Der Vorschlag fand allgemeinen Anklang und die ersten standen auf.

„Was ist? Kommst du mit?“

Benny hatte nicht wirklich Lust dazu, aber er schloss sich den anderen trotzdem an. Sie verließen den Bahnhof. Er war zum ersten Mal in Köln und schaute zum Dom hoch, während sie die breite Treppe hinauf gingen. Ein monumentales Bauwerk, geschaffen und gepflegt über sechshundert Jahre. Sechshundert Jahre, in denen die Menschen rundherum litten und verhungerten. Jahrhunderte, in denen Geld und Fürsorge in Mauern aus Stein floss, statt Leben zu retten. Das Mahnmal für einen Gott, der seine Kinder vergessen hatte. Kirchen würden ihn nicht dazu bringen, sich ihnen wieder zuzuwenden.

Benny stritt nicht ab, dass es einen Gott gab. Aber er wusste, dass er auch ihm nicht vertrauen durfte. Deshalb war er auch nicht besonders scharf darauf, diese Typen zu treffen, nicht einmal um sie zu verarschen. Sie näherten sich dem Mann und einem Mädchen, beide nicht älter als zwanzig, die mit Flugblättern in der Hand umhergingen und besonders jüngere Personen ansprachen. Sie drückten sich in ihrer Nähe herum, bis diese schließlich aufmerksam wurden. Aber sie kamen nicht.

„Die wissen, was ihnen blüht. Wir sind zu viele, da rechnen sie sich keine Chance aus. Einer von uns muss vorgehen, damit sie denken, sie haben ein leichtes Spiel. Die anderen können ja dann dazustoßen. Was ist, machst du uns ein Einstandsgeschenk? Geh hin und lass dir einen vom Pferd erzählen. Wir kommen dann später und retten dich!“

Es war Nickis Vorschlag. Benny wollte ablehnen, aber um den Anschluss nicht zu verlieren, stimmte er zu. Sie trennten sich und mit Gay an seiner Seite ging er auf eine Bank zu, während die anderen die Platte wieder verließen, unten aber vor dem Bahnhofseingang blieben. Er setzte sich und nestelte an dem roten Halstuch herum, das sein Hund trug. Dann nahm er die zerdrückte Packung Drum aus der Hosentasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Gerade als er die Seite anleckte, wurde er angesprochen. Es war das Mädchen, das sich an ihn wandte.

„Ist das dein Hund? Der ist ja süß!“, stellte sie fest, während sie sich neben Gay hockte und ihn streichelte. Wow, was für ein intelligenter Anmachspruch! Sammelten sie so ihre Mitglieder? Benny grinste innerlich, erinnerte sich dann aber wieder daran, dass er ein Gespräch zustande kommen lassen musste.

„Ja! Er heißt Gay.“

Der junge Mann, ein slawischer Typ mit scharf geschnittenem Gesicht setzte sich neben ihn auf die Bank. Aus der Nähe betrachtet schien er doch um einiges älter zu sein als das Mädchen, Benny schätzte ihn auf fast dreißig.

„Wo sind deine Freunde?“ Sie richtete sich auf und schaute Benny direkt in die Augen.

„Ach die!“ Er suchte fieberhaft nach einer Erklärung. „Die hatten noch was vor. Ich warte hier auf sie.“

„Wohnst du in Köln?“

„Nein, ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen. Mal sehen, ob ich bleibe.“

„Kannst du das denn frei entscheiden? Du siehst noch ziemlich jung aus, hast du denn keine Eltern?“

Die scheinbar naive Fragerei begann, Benny wirklich zu nerven.

„Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen. Was dagegen?!“

„Nein, ich meine ja nur!“ Sie wandte sich wieder dem Hund zu.

„Was verteilt ihr denn da?“ Benny wies auf die Flugblätter und der Mann neben ihm reichte ihm eines.Freikirche der Erkenntnisstand in großen Lettern darüber. Als nächstes kam das Bild eines Mannes, der in vollkommen schwarzer Kleidung mit durchgedrücktem Rücken und ausgebreiteten Armen vor einer Menschenansammlung stand. Das Ganze war eine Einladung zu einem Symposium, das im Tagungsraum eines Kölner Hotels stattfinden sollte.

„Wer ist das denn?“, fragte Benny, obwohl er die Bildunterschrift -Drago Bartory- gelesen hatte.

„Das ist unser Bajnok, unser Meister. Der Mann, der für alles sorgt, was wir brauchen!“, antwortete der Mann und fuhr fort: „Ich bin übrigens Gabór und das ist Susanne! Und wie heißt du?“

„Benny, ich heiße Benny!“  

Warum kamen denn die anderen nicht?

„Hallo Benny!“ Gabór reichte ihm die Hand zur Begrüßung und obwohl Benny unnötigen Körperkontakt ansonsten mied, griff er danach.

„Was heißt Meister? Ist er euer Schuhmacher oder der Klempner?“

Gabór lächelte.

„Unser Bajnok ist Priester. Prediger, wenn du so willst. Er sorgt für uns.“

„Das sagtest du schon!“

Gabór ließ sich nicht beirren und fuhr fort:

„Bei ihm haben wir ein Zuhause gefunden. Viele, sehr viele in der ganzen Welt bekennen sich zu ihm. Er ist ein Erleuchteter.“

„Ach ja?! Wie viel Watt?“

Benny fand das alles ziemlich albern und sein Blick ging wieder zur Treppe. Die anderen waren immer noch nicht zu sehen. Verdammt!

„Mach dich bitte nicht über uns lustig. Was hast du denn in deinem Leben dagegenzusetzen?“

„Gesunden Menschenverstand? Die Freiheit, sich keine Vorschriften machen zu lassen?“

„Du weißt nicht, wovon du sprichst. Was bedeutet denn Freiheit, wenn jeder Tag ein einsamer Kampf ums Überleben ist? Ich war genau wie du, aber unser Bajnok hat mich gelehrt, dass es Gemeinschaft gibt. Eine Familie verschiedenen Blutes, die füreinander einsteht. Jeder von uns denkt auch an das Wohl der anderen, nicht nur an sich selbst!“

„Blödsinn! Wer will sich schon nach anderen richten?“

„Nur so kann man überleben.“

„Ich überlebe, ohne dass mir jemand sagt, was ich zu tun habe.“

Benny zog Gay zu sich heran, küsste das weiche Fell auf dessen Stirn und fuhr fort:

„Er und ich, wir brauchen niemanden!“

Endlich sah Benny die anderen an der Treppe auftauchen und auf sich zukommen. Aber er war nicht der Einzige. Gabór erhob sich.

„Behalt das Blatt, lies es dir durch. Wenn du magst, kannst du morgen noch mal herkommen. Wir werden wieder hier sein.“ Dann ließen sie ihn allein.

„Ach Mensch, konntest du die nicht festhalten? Was haben sie denn gesagt?“

Benny gab einen kurzen Bericht ab.

„Schade!“ Sie schauten über den Platz und beobachteten, dass die beiden Bajnok Jünger sich entfernten und schließlich vom Vorplatz des Doms verschwanden. Benny warf keinen weiteren Blick auf den Zettel. Er zerknüllte ihn und machte einen Zielwurf auf den Papierkorb. Für ihn war das Thema abgehakt.

Den Abend verbrachte er mit den anderen am Rhein. Obwohl tagsüber die Sonne geschienen hatte, wurde es gegen 23 Uhr ziemlich kühl und die ersten verabschiedeten sich. Es tat sich für Benny, wie erwartet, keine Gelegenheit auf, irgendwo unterzukommen. Deswegen rollte er seinen BW Schlafsack aus, den er sich im letzten Sommer auf irgendeinem Campingplatz organisiert hatte. Er suchte sich einen Platz im Gebüsch, nicht zu nah am Ufer, weil er keinen Bock auf Rattenbesuch hatte. Aber eben auch weit genug weg von den Wegen, damit er von eventuellen Polizeistreifen nicht entdeckt und der Gegend verwiesen werden konnte. Seine Erfahrung zeigte ihm bald einen geeigneten Platz. Er teilte die letzten beiden Schokoriegel mit Gay, der sich anschließend der Länge nach direkt neben dem Schlafsack ausstreckte.

„Morgen muss ich arbeiten. Am besten ziemlich früh, dann können wir etwas zu essen kaufen. Halt uns die Daumen, dass morgens schon geile Kerle auf der Suche sind!“

Er streichelte Gay nochmal und ließ sich das Gesicht lecken, dann zog er den Reißverschluss zu und war innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.

Drei

„Geh hinaus und überdenke deine Definition von Kameradschaft.“

Die junge Frau wollte etwas erwidern, aber ein strenger Blick aus den etwas schräg gestellten, eisgrauen Augen ließ sie den Mund wieder schließen und den Blick senken. Sie verließ den Raum. Drago Bartory nahm den Telefonhörer, wählte eine Nummer und beorderte mit knappen, befehlsgewohnten Worten jemanden zu sich. Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er anschließend auf. Er erhob sich aus dem geschnitzten Eichenstuhl hinter dem gewaltigen Schreibtisch und ging zum Fenster. Er war vollkommen schwarz gekleidet, die Stoffe seiner Hose und des schlichten Rollkragenpullis waren edel und teuer und unterstrichen seine durchtrainierte Figur. Sein schulterlanges, silbermeliertes Haar trug er zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Seine hochgewachsene Silhouette hob sich gegen das Licht ab, besonders seine herben Gesichtszüge zeichneten sich scharf gegen die untergehende Sonne ab. Seine Nase wirkte wie ein Adlerschnabel, wohlgeformt, aber schmal und kantig. Das energische Kinn sprach von Unnachgiebigkeit, der Zug um seinen Mund wirkte hart und gebieterisch. Im krassen Gegensatz zu den herrischen Gesichtszügen stand der Mund. Er war voll und weich und gab dem Gesicht etwas anziehendes.

Er sah sich im Raum um. Das Zimmer war mit schweren Möbeln bestückt, die ausschließlich aus Eichenholz bestanden. Die Einrichtung wirkte trotzdem spartanisch und rein funktional, es gab weder Sessel noch eine Couch, sondern nur Stühle, einen Tisch, einen Schrank und ein Bücherregal. Der Experte konnte erkennen, dass die Einrichtung wie auch das geschmackvolle Ambiente ein teures war, aber die Mitglieder der Freikirche der Erkenntnis, kurz F.D.E., waren meist jung und unerfahren. In dem großen Haus in einem Randbezirk von Köln gab es für sie keinen Luxus und es hätte ihre Treue beeinflusst und unnötige Fragen aufgeworfen, wenn er ihnen diesen augenfällig vorgelebt hätte.

Drago setzte sich an den Tisch und öffnete eine Akte. Es gab Unruhe in der Familie, einige Mitglieder begannen, diverse Dinge zu hinterfragen. So etwas konnte er nicht zulassen. Er kannte das, in schöner  Regelmäßigkeit wiederholte es sich, dass einige seiner Jünger renitent wurden. Damit würde er fertig werden, das war bisher immer so gewesen. Es musste jedoch schnell geschehen, denn gerade jetzt, wo die Rückkehr ins Mutterhaus nach Ungarn bevorstand, konnte er keine Querelen gebrauchen.

Es klopfte und er brummte ein fast ärgerliches „Herein!“

Zoltán betrat das Zimmer und blieb vor dem Tisch stehen, bis Drago ihn aufforderte, sich zu setzen. Obwohl Zoltán sein engster Vertrauter und von Anfang an dabei war, hatte auch er sich an gewisse Regeln zu halten.

„Wir müssen wieder einmal ein Kolloquium einberufen!“, kam Drago übergangslos zur Sache. „Es gibt einen Verleumder in unserer Mitte. Commis Jörg hetzt die anderen gegen uns auf. Normalerweise kein Problem, aber ausgerechnet jetzt vor der Abreise brauche ich umfassendes Einvernehmen.“

„Ich habe Commis Jörg gerade eben noch wild gestikulierend in einer Gruppe stehen sehen. Als ich mich näherte, schwieg er und sie zerstreuten sich. Weißt du schon, was er will?“

„Commis Birgit weiß mehr, aber sie wollte nicht mit der Sprache heraus. Ich denke, die beiden verstoßen gegen die Keuschheit, der Anfang allen Übels.“

„Sie verstoßen also gegen den Eid? Grund genug für ein Kolloquium. Damit stampfen wir sowieso alles ein, was Commis Jörg gesät hat.“

„Das denke ich auch. Treffe bitte alle Vorbereitungen für morgen Abend! Und schicke Gabór und Commis Susanne zu mir!“

Drago vertiefte sich scheinbar in die Akte und blätterte um. Das war das Zeichen für Zoltán, dass er entlassen war. Er stand auf und verließ den Raum. Drago schloss den Ordner und sein Blick heftete sich gedankenverloren an das Bücherregal. Wahrscheinlich sollte er diesmal eine außergewöhnliche Strafe durchführen, der einfache Rutenlauf würde nicht ausreichen. Er hatte die Zügel wohl zu lange schleifen lassen. Es musste schnell wieder Ruhe einkehren. Die Abreise nach Ungarn sollte in einer Woche sein. Wieder klopfte es, Susanne und Gabór traten ein. Er forderte nur Gabór zum sitzen auf, Susanne blieb am anderen Ende des Tisches stehen. Aber auch Drago stand auf und begann, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf und ab zu gehen.

„Und? Habt ihr etwas erreicht?“, wandte er sich dann an Gabór.

„Die Kids waren größtenteils in Horden unterwegs, es war schwierig, jemanden allein anzutreffen.“

„Das heißt also, ihr habt nichts erreicht?“

„Nein, nein ...“, beeilte Gabór sich zu versichern. „Ein Junge ist uns aufgefallen und wir sind auch ins Gespräch gekommen. Ich hoffe, er kommt morgen wieder.“

„Du hoffst?“

„Ich denke, er kommt morgen wieder. Er würde zu uns passen.“

„Hat er Interesse an der F.D.E. gezeigt?“

„Na ja, nicht direkt. Aber er war neugierig!“

„Es sieht aus, als brauchtet ihr eine weitere Schulung. Eure Ergebnisse lassen zu wünschen übrig. Wieso denkst du, er kommt wieder, wenn ihn die Kirche nicht interessiert? Und aufgrund welcher Erkenntnisse glaubst du, dass er zu uns passt?“

„Er ist sehr jung. Zu jung, um nicht von zu Hause weggelaufen zu sein. Wie es aussieht, ist er neu in Köln und hat noch keine Freunde. Sein Begleiter ist ein Hund und allein der ist ihm wichtig. Er ist intelligent und sehr hübsch!“

Drago horchte auf.

„Wenn die Intelligenten überzeugt sind, sind sie flammende Streiter! Ein Hund sagst du?“

Vier

Benny wachte gegen acht Uhr auf. Ihn fröstelte, sobald er den Reißverschluss des Schlafsackes geöffnet hatte. Die Sonne schien zwar, aber sie hatte jetzt im Mai noch keine Kraft. Er stand auf und lief umher, um richtig wach zu werden. Ein Kaffee wäre es jetzt gewesen. Aber er hatte keinen, was ihn daran erinnerte, dass er Geld verdienen musste, um über den Tag zu kommen. Gay tummelte sich in Ufernähe, biss übermütig ins Gras und bellte.

Benny packte seine Sachen zusammen, spielte anschließend ein wenig mit dem Hund. Dann gingen sie die kurze Strecke zurück zum Bahnhof. Er hoffte, die anderen dort wiederzutreffen und wurde nicht enttäuscht.

„Kann man hier auch morgens schon was verdienen?“, fragte er ohne Einleitung.

„Du meinst hier am Bahnhof? Es ist Donnerstag, mitten in der Woche. Wenn man Glück hat, kommen ein paar Kerle in der Frühstücks- oder Mittagspause. Aber du bist nicht der Einzige, der Kohle braucht und du bist neu!“

Es war Nicki, der ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass er als Konkurrenz nicht erwünscht war.

„Ich kann mich ja etwas abseits aufhalten und nur die Typen nehmen, die ihr nicht wollt!“ Benny wusste selbst, dass ihm das keiner abnehmen würde.

„Ja klar doch! Die Kerle haben Adleraugen, Frischfleisch erkennen die überall. Und bei deinem Aussehen werden sie auf dich fliegen“, antwortete Nicki dann auch und sah dabei aus, als ekle er sich vor etwas. Benny wusste, wenn er eine Zeitlang hier in Köln bleiben wollte, durfte er jetzt am Anfang nicht schon querschlagen. Sie mussten ihn akzeptieren, bevor er seinen Willen durchsetzen konnte. Oh Mann, wie er es hasste, Rücksicht auf Leute zu nehmen, die ihm eigentlich am Arsch vorbei gingen. Aber er nickte.

„Gibt es denn einen anderen Ort?“

„Es gibt da den Hühnerfritz am Altermarkt. Der macht um zehn Uhr auf. Dann ist da noch das Karussell direkt nebenan.“

„Okay, dann geh ich dort hin. Kann mir jemand den Weg zeigen?“

Um viertel nach zehn war Benny der erste Gast in der bistroähnlichen, winzigen Spelunke. Das konnte ja heiter werden!

„Was willst du trinken?“, fragte der leicht dickliche, in die Jahre gekommene Kerl hinterm Tresen.

„Einen Kaffee hätte ich gern. Aber ich hab noch keine Kohle!“

Benny betonte das „noch“.

Der Wirt nickte und bereitete trotzdem zwei Tassen Kaffee vor, nahm sich einen Barhocker und setzte sich Benny gegenüber.

„Da, geht aufs Haus.“

„Danke. Hast du vielleicht auch ein bisschen Wasser für meinen Hund?“

Auch diesem Wunsch kam der Wirt nach.

„Bist du neu in Köln? Ich hab dich noch nie hier gesehen. Und so wie du aussiehst, wärst du mir sicher aufgefallen.“

Benny ließ sich ergeben auf ein Gespräch ein, das ihn nicht interessierte. Natürlich bemerkte er, dass der Wirt ihn anbaggerte, aber er überging dessen plumpe Versuche, ihm Komplimente zu machen. Es wurde Mittag, bevor weitere Gäste kamen. Benny wurde beäugt und ließ erkennen, dass er zur Verfügung stand. Es war das alte Spiel, das er inzwischen perfekt beherrschte. Er gab sich interessiert, redete anzüglich daher und hatte dann den ersten Kunden. Gleich auf der Toilette wurde das Geschäft abgewickelt. Er holte dem leicht schmierig aussehenden Mann einen runter und mittendrin fiel ihm Gabór ein. Was hatte er ihm gegenüber behauptet? Er sei frei und müsse sich nicht nach anderen richten? Gerade spürte er die Hand des Freiers unter seinem T-Shirt und dass er begann, ziemlich heftig an seinen Nippeln zu ziehen. Schöne Freiheit.

Es war ein leichter Kunde, Benny musste nicht mal die Hose fallen lassen und kassierte anschließend die ersten 20 Euro. Schon der nächste verlangte mehr. Und wieder dachte Benny an Gabór, während er sich mit beiden Händen an der Wand hinter einer Toilette abstützte und die heftigen Stöße des Mannes spürte. Krampfhaft dachte er an das Geld. Was sollte das? Er hatte doch einen Weg gefunden, dies alles von sich abzuspalten!

Diesmal kassierte er 30 Euro und erledigte noch zwei weitere Geschäfte, ehe er das Hühnerfritz mit 90 Euro verließ. Für heute und morgen würde das reichen. Er kaufte ein. Einen großen Beutel Frolic für Gay und eine Dose Feuchtfutter fanden zuerst den Weg in den Einkaufswagen. Dann erst kümmerte er sich um Schokoriegel und Cola und ging anschließend an der nächsten Frittenbude eine Currywurst essen.

Gegen 17 Uhr kam er wieder am Bahnhof an. Aber er fand niemanden der Gruppe und schlenderte deshalb hoch auf die Domplatte. Auch hier keine Spur der anderen. Dafür sah er in einiger Entfernung Gabór, der mit dem Mädchen zusammen wieder Flyer verteilte. Erneut fielen ihm die Freier ein und er reagierte ärgerlich auf die widersprüchlichen Gefühle, die ihn plötzlich beutelten. Nein, er wollte nicht noch einmal mit diesen Leuten reden. Sie hatten die Gabe, seine Lebenseinstellung anzukratzen und die alten Empfindungen von Scham und Wertlosigkeit hochzukochen, das konnte er nicht brauchen. Deshalb machte er kehrt, um zu verschwinden. Aber er hatte die Rechnung ohne Gay gemacht, der zu den beiden hinrannte und sich schmusen ließ. Der Hund reagierte nicht auf Zuruf, deshalb hatte Benny keine Wahl. Er ging ihm hinterher.

„Hallo! Wie geht es dir?“, wurde er von Gabór empfangen.

Benny murmelte etwas unverständliches, ging neben Gay in die Hocke und zog den heftig kauenden Hund zu sich heran.

„Was frisst er denn da?“

„Ein Karamellbonbon. Willst du auch eins?“

Gabór hielt ihm eine Tüte hin und es war eher der Reflex, niemals etwas essbares abzulehnen, der Benny zugreifen ließ. Er erhob sich.

„Komm jetzt, du dummer Hund!“, forderte er Gay auf, aber dieser ließ sich schon wieder streicheln. „Hörst du nicht? Komm mit!“

Gay schaute ihn an und gehorchte endlich.

„Hey, warum willst du denn schon wieder weg?“, fragte jetzt Susanne.

„Gegenfrage: Warum sollte ich das nicht wollen?“

„Wir dachten, wir könnten uns ein bisschen mit dir unterhalten.“

„Über was denn? Über euren Bajnok etwa? Seid ihr so blöd oder wollt ihr nicht verstehen, dass mich dieser Mist nicht interessiert?!“

„Wir müssen nicht darüber sprechen. Du könntest uns auch von deinem Leben erzählen.“

„Und wofür sollte das gut sein? Lasst mich einfach in Ruhe, ja?! Komm Gay!“

Der Hund stieß ein kurzes Bellen aus und folgte Benny Richtung Treppe. Während er erst etwas zurückblieb, überholte er Benny schließlich und rannte voraus. Dabei sprang er wie morgens am Rhein ausgelassen herum und bellte.

„Hey alter Junge ... warum bist du denn so aufgeregt? Komm her zu mir.“

Aber Gay rannte weiter umher und war kurzzeitig sogar ziemlich weit weg. Benny sah, dass er plötzlich begann, erst mit dem einen, dann mit dem anderen Vorderlauf zu hinken. Er musste sich bei seinem ungestümen Herumtollen verletzt haben. Benny versuchte, ihn einzufangen, aber Gay türmte immer, kurz bevor er ihn erreicht hatte. Das ging so bis zu dem Moment, als die Verletzungen an den Vorderläufen den Hund zu Boden zwang. Er legte sich hin und leckte seine Pfoten.

„Was ist denn los? Was hast du denn?“

Benny schaute sich die Beine und Füße des Tieres an, konnte aber nichts entdecken. Inzwischen hatte Gay sich komplett auf die Seite gelegt und winselte leise. Panik stieg in Benny hoch. Er fühlte sich hilflos. Er weinte nicht oft, aber just in diesem Moment war ihm sehr danach.

„Was hat er denn?“

Es war Gabór, der sich unbemerkt genähert hatte.

„Ich weiß es nicht. Er hat sich beim herumtollen irgendwie verletzt und jetzt ... Gay, was ist denn bloß mit dir?“

Der Hund hatte die Augen geschlossen und seine Beine zitterten.

„Das sieht nicht gut aus!“

„Das weiß ich selbst!“, fauchte Benny.

„Nimm den Hund und komm mit. Unser Bajnok kann ihm sicher helfen.“

„Nein, ich werde ...“

„Willst du deine dummen Bedenken nicht wenigstens zurückstellen, um deinen Hund zu retten? Oder kannst du ihm helfen? Was ist, wenn er stirbt? Du hast nicht aufgepasst, er hat sich verletzt, jetzt verbau ihm mit deiner Sturheit wenigstens nicht die Chance, dass ihm geholfen wird! Nimm ihn und komm mit!“

Gabór griff sich Bennys Habseligkeiten und Benny tat, was er ihm sagte. Er nahm den großen Hund auf und versuchte, mit Gabór Schritt zu halten. Sie verließen die Domplatte auf der anderen Seite und liefen bis zum nächsten Parkplatz. Benny rann der Schweiß in Sturzbächen den Körper hinunter. Irgendwann sah er Susanne wartend neben einem Kombi stehen. Als sie näher kamen, fragte sie:

„Was ist passiert?“

„Drago muss sich den Hund anschauen. Er hat sich verletzt!“

„Gib ihn mir und steig ein!“, forderte Gabór Benny auf. Dieser stieg in den Fond und nahm den Hund dann wieder entgegen. Er bettete seinen Kopf auf dem Schoß.

Susanne startete den Kombi, bevor Gabór die Beifahrertür ganz geschlossen hatte. Soweit das im Verkehr der Innenstadt möglich war, fuhren sie zügig Richtung Stadtrand.

Gabór hatte sie mit dem Handy vorangekündigt und als sie am Tor vor der Umgrenzungsmauer standen, wurde dieses bereits geöffnet. Sie fuhren einen asphaltierten Weg bis zum Haus hinauf. Es war ein großer, nicht sehr hübscher Bau und Gabór erzählte, dass das Gebäude irgendwann einmal ein Kinderheim war. Benny hörte kaum hin. Sie fuhren um den Bau herum und Benny trug Gay durch die Hintertür hinein. Sie durchquerten eine große Küche, in der geschäftiges Treiben zur Vorbereitung des Abendessens herrschte. Es folgten lange Flure mit Türen rechts und links, dann eine Treppe. Benny konnte kaum Schritt halten, der Hund schien immer schwerer zu werden. Sie liefen in den dritten und letzten Stock und er konnte Gay in einem großen Raum endlich auf einem Tisch ablegen. Der Hund wirkte apathisch, seine Augen hatte er jetzt geöffnet, aber es war, als wäre alles Leben aus ihnen gewichen. Hin und wieder ließ er ein leises Jaulen hören.

Benny blieb allein zurück. Er fühlte sich verloren in dem großen Raum mit glänzendem, holzfarbenem Linoleumboden. Der größte Teil des Raumes war leer, nur dieser Tisch stand darin und etwa zwei Meter daneben auf einer Art Podest ein schwerer Eichenstuhl. In einigem Abstand vor diesem Podest lagen quer durch den Raum zwei Reihen flacher Kissen auf dem Boden. Etwas weiter hinten trennte ein schwerer Vorhang, der allerdings im Moment offen war, den Raum. Das Licht fiel nur gedämpft durch die Ritzen der Holzrollos, die innen vor den großen Fenstern angebracht waren.  

Benny verlor das Zeitgefühl, hatte den Eindruck, schon ewig hier zu warten. Er sprach ohne Unterbrechung zu Gay und die Angst, seinen Hund zu verlieren, schnürte ihm die Kehle zu. Dann endlich öffnete sich die Tür. Ein hochgewachsener, schwarz gekleideter Mann trat ein. Der Junge erkannte in ihm Drago Bartory, den Mann vom Flyer. Er war allein. Mit großen Schritten durchmaß er den Raum und blieb neben Benny stehen, ohne diesen eines Blickes zu würdigen.

Er strich sanft über Gays Kopf. Dann ging er zum Podest und drückte auf einen Knopf, sodass der Vorhang durch den Raum schwang und ihn teilte.

„Geh hinter den Vorhang!“, forderte er Benny auf. Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. Benny wollte jedoch bei seinem Hund bleiben und bewegte sich nicht.

„Geh weg!“

Der herrische und trotzdem melodische Klang der Stimme ließ dem Jungen keine Wahl. Er entfernte sich, ohne den Mann dabei aus den Augen zu lassen. Widerspruch kam ihm nicht in den Sinn.

Eine Weile stand er hinter dem Vorhang. Absolute Stille erfüllte den Raum. Was geschah mit Gay? Die Neugier begann Benny zu quälen. Was passierte dort hinter dem Vorhang? Was hatte ihn dazu gebracht, seinen Hund bei diesem Mann zu lassen? Er hatte ihn noch niemals jemandem anvertraut, nicht mal, wenn er gesund war.

Er machte einen Schritt auf den Vorhang zu. Konnte er es wagen, einen Blick zu riskieren? Noch war er unschlüssig, aber dann hörte er ein leises Jaulen. Er schlich zur Seite und warf einen Blick zwischen Wand und Vorhang hindurch auf die Szenerie, die ihn umgehend an seinem Verstand zweifeln ließ.

Drago Bartory stand mit dem Rücken zu ihm. Die Hände hielt er vor sich über den Hund, Benny konnte sie nicht sehen. Was er allerdings in der relativen Dunkelheit sah, war das gleißende Leuchten, das von den Händen des Mannes auszugehen schien und Gay einhüllte. Er hörte ein leises Murmeln, die Intensität des Lichtes wurde dämmeriger, dann wieder kraftvoller. Wie gebannt beobachtete Benny, dass sein Hund den Kopf hob. Eine ganze Weile geschah nur das, dann begann das Licht zu flimmern, wurde immer schwächer bis es ganz erlosch. Dragos Hände fielen kraftlos seitlich neben den Körper, sie waren leer.

Benny zog sich hastig zurück und versuchte zu ergründen, was er dort gerade gesehen hatte. Der Mann hatte nichts bei sich gehabt, als er vorhin den Raum betrat und am Tisch hatte es ebenfalls keinerlei Lichtvorrichtung gegeben.

„Komm herein!“, hörte er Dragos Aufforderung und folgte ihr. Als er durch den Spalt des Vorhanges trat, sah er, dass sein Hund auf dem Tisch saß. Als er näher kam, erkannte er, dass Gay mit dem Schwanz wedelte und ihm entgegen sah. Und als er den Tisch erreichte, leckte das Tier ihm erfreut die Hände und das Gesicht.

Fünf

Nach drei Stunden Schlaf traf Hauptkommissar Simon Berger im Polizeipräsidium ein. Allmählich war aus dem ungeliebten Dreitagebart ein Vollbart geworden, die Ringe um seine leicht geschwollenen Augen schienen noch dunkler. Es war nicht zu leugnen, die Mordfälle hatten ihn mehr mitgenommen, als das für einen Profi zulässig war. Am liebsten hätte er gar nicht mehr geschlafen und so lange weiter ermittelt, bis sie den Täter hatten.

Gegen zehn kam Alexandra Kaiser in sein Büro. Er saß noch an seinem Bericht und war froh über die Unterbrechung.

„Hier, ich hab dir aus der Kantine ein Brötchen mitgebracht.“

„Dank dir. Aber ich hab keinen Hunger. Haben wir schon Nachricht von der Gerichtsmedizin?“

Simon stand auf und ging hinaus auf den Flur, um sich den sechsten Kaffee am heutigen Morgen zu holen. Alex blieb an seiner Seite.

„Der Pathologe hat den Fall wie versprochen vorgezogen. Kreutzer hat die Leiche seit heute morgen auf dem Tisch. Besprechung in einer Stunde. Du musst aber vorher etwas essen. Kaffee soll zwar schön machen, aber zuviel kann auch das Gegenteil bewirken. Du siehst nicht wirklich gut aus.“

„Ich fühle mich auch nicht gut. Ich will diesen Kerl schnappen.“

„Das wollen wir alle, aber wenn du so weitermachst, erlebst du die Verhaftung nur durch Hörensagen, weil du in der Klinik liegst und am Tropf hängst.“

Simon grinste und nippte während des Gehens an seinem Kaffee ohne Milch und Zucker. Zurück im Büro setzte er sich auf die Kante seines Schreibtisches und schaute Alex an.

„Hat er denn schon etwas gesagt?“

„Nur dass sicher ist, das es das vierte Opfer der Kreuzigungsserie ist. Komm schon, iss was, bevor wir fahren müssen!“

Simon tat seiner Kollegin den Gefallen und biss lustlos in das Brötchen.

Wenig später machten sie sich auf den Weg quer durch die Stadt zum Gerichtsmedizinischen Institut.

Sie trafen den Chefpathologen und Leiter des Instituts Udo Kreutzer in Raum zwei, wo er das letzte Opfer noch immer auf dem Tisch hatte. Er sprach soeben etwas in ein über dem Tisch hängendes Mikrophon, das seine Diagnosen zum späteren Diktat auf Band festhielt.

Simon konnte nicht behaupten, dass er sich gerne hier aufhielt. Schon als er Kreutzer mit seiner blutbeschmierten Schürze inklusive den blutigen Handschuhen sah, spürte er einen dumpfen Druck im Magen. Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln erfüllte den Raum, ein Aroma, das den durchdringenden Gestank des Todes jedoch nicht komplett überdecken konnte. Je näher sie dem Seziertisch kamen, desto deutlicher nahm Simon die Ausdünstungen des Toten wahr. Nur kurz hatte er den geöffneten Leichnam gesehen, zum Gespräch stellte er sich mit dem Rücken zum Tisch.

„Ich bin soweit fertig. Die Verletzungen stimmen größtenteils mit denen der drei anderen Opfer überein“, begann Kreutzer das Gespräch.

„Todesursache ausbluten?“

„Ja. Seine Pulsadern wurden geöffnet. Er hat Risse, Einstiche und Schnitte am ganzen Körper, die wie bei den anderen mit hoher Wahrscheinlichkeit von Stacheldraht und einem weiteren scharfen Gegenstand herrühren. Die Wunden in der Kopfhaut sowie auf der Stirn entstanden meines Erachtens nach durch mehrfach gewickelten Stacheldraht.“

„Also hat man ihm wieder so eine Art Dornenkrone aufgesetzt?“, fragte Alex.

„Das ist die beste Erklärung, ja. Er hatte außerdem Splitter von geflammtem Eichenholz im Haar. Das Opfer wurde durch die Handwurzelknochen und den Mittelfuß an einen hölzernen Hintergrund genagelt. Ich tippe auf Zimmermannsnägel, da das Labor Ferrumspuren in den Wunden nachweisen konnte. Die Wunden lassen auf mindestens einen Viertelzoll Durchmesser schließen.“

„Er wurde also ebenfalls mit eisernen Nägeln gekreuzigt?“

„Ja. Auf der Haut im Gesicht und beim Abstrich der Nasenschleimhaut hat das Labor Spuren von Essigessenz analysiert. Der Magen ist stark erweitert, ich fand auch wieder große Mengen von Mineralwasser,    vor allem im Darm. Die Magenwand ist von außen perforiert worden, ich denke auch diesmal mit einem kurzen        Dolch von der linken Körperseite aus.“

„Er hat ihm also wieder zwangsweise Wasser eingeflößt und es durch einen Stich in den Magen abfließen lassen?“

„Genau so. Es müssen einige Liter gewesen sein, die Speiseröhre ist durch die Kohlensäure gereizt. Er hat ihm währenddessen die Genitalien abgeschnürt, es gab dort eine Menge geplatzte Äderchen.“

„Er hat ihn quasi abgefüllt und verhindert, dass er sich erleichtern konnte. Was zum Teufel geht im Kopf dieses Perversen vor?“

„Die Tat hat auf jeden Fall sexuelle Hintergründe, es fand auch diesmal eine anale Penetration statt. Allerdings konnte ich wieder keine DNA Probe entnehmen, entweder der Täter hat ein Kondom oder einen körperfremden Gegenstand benutzt. Es gibt aber auch noch eine Steigerung zu den anderen Fällen. Ich fand große Mengen von Salarium direkt in den Verletzungen. Der Täter muss Salz in die Wunden gestreut haben, um sein Opfer zusätzlich zu quälen.“

Simon spürte wieder diese heftige Wut in sich aufsteigen und bemerkte gleichzeitig die Hilflosigkeit, welche seit Anfang der Mordserie in seinem Inneren bohrte. Er wusste viel vom Wesen des Täters, aber auch diesmal hatte dieser keine verwertbaren Spuren  hinterlassen.

Auch die Suche nach den passenden Vermissten hatte bisher keine Ergebnisse gebracht. Simon kam darauf zu sprechen, als sie im Wagen saßen und zurück zum Präsidium fuhren.

„Ich verstehe nicht, wieso keiner der vier Jungen von irgendwem vermisst wird!“

„Das ist mir auch ein Rätsel. Es ist mehr als ungewöhnlich, wenn nicht mal Interpol etwas im Computer hat.“

„Es muss da eine Lösung geben, die nahe liegt. Aber irgendwie fühle ich mich wie vernagelt ... wohin geht jemand, um nicht als vermisst gemeldet zu werden, auch wenn die Familie denjenigen nicht mehr zu Gesicht bekommt?

Sechs

„Wenn du willst, kannst du mit uns zu Abend essen. Ansonsten bringt Gabór dich sofort wieder zurück in die Stadt“, sagte Drago und wirkte dabei wenig interessiert daran, wie Benny sich entscheiden würde.

„Was ... wie haben Sie das gemacht? Gay geht es wieder gut!“

„Ich schätze es überhaupt nicht, wenn man mich siezt. Mein Name ist Drago, du kannst mich Bajnok nennen. Ich habe dem Hund von meiner Kraft gegeben, weiter nichts.“

„Aber ... das Licht. Wie ist das möglich, wenn ...“

„Schweig! Das geht dich nichts an. Du gehörst nicht zu uns und kannst von Glück sagen, dass Gabór sich bei mir für dich verwendet hat. Ich kann meine Kräfte schließlich nicht der ganzen Welt zur Verfügung stellen.“

Drago ließ den Vorhang zurückschwingen.

„Außerdem hast du dich nicht an meinen Wunsch gehalten und mich beobachtet, obwohl der Vorhang geschlossen war. Ich dulde keinen Ungehorsam. Deshalb würde ich es vorziehen, wenn du deinen Hund nimmst und umgehend verschwindest!“

„Aber du hast mich zum Essen eingeladen ...?!“

„Wenn es sein muss. Aber es wird das einzige Mal bleiben, wir sind keine Armenküche. Nur die Mitglieder unserer Gemeinde haben das Recht, sich an meinen Speisen zu laben. Warte hier!“

Damit verließ Drago den Raum und ließ einen verwirrten Jungen zurück, der seinen Hund überglücklich in die Arme schloss.

Gabór ließ nicht lange auf sich warten.

„Möchtest du mit uns essen?“

„Wenn ich darf ... ich würde gerne und Drago hat gesagt ...“

„Du meinst, unser Bajnok hat gesagt ...“

„Ja, also Bajnok hat gesagt ...“

„UNSER Bajnok!“

Benny schaute den anderen leicht irritiert an, ging dann jedoch in abgewandelter Form darauf ein.

„Ist ja gut ... also EUER Bajnok hat mich eingeladen.“

„Okay. Dann komm jetzt mit. Wir essen in einer halben Stunde!“

Er führte Benny mit Gay in ein kleines Zimmer von zirka zwölf Quadratmeter.

„Warte hier, du wirst abgeholt. Du kannst deinen Hund dann hier lassen. Es ist mein Zimmer.“

Damit ließ Gabór Benny allein zurück und dieser schaute sich um. Ein Feldbett, daneben ein kleines rundes Kiefernholztischchen, an der gegenüberliegenden Wand ein schmaler Schreibtisch aus Holz und Metall und ein Blechschrank nebst einer Hängelampe aus Drahtgeflecht mit einem Schirm aus weißem Papier, das war die komplette Einrichtung.  

Nach ungefähr zwanzig Minuten öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und Benny sah sich einem jungen Mann gegenüber, dem er bisher noch nicht begegnet war. Er war sehr groß, hatte eine athletische Figur und trug einen Sportdress, der keinen seiner wohldefinierten Muskeln verbarg. Seine blonden Haare trug er schulterlang und zu einem Zopf zusammengefasst.

„Hi, ich bin Sandro. Ich soll dich zum Essen abholen. Wer ist das denn?“

Er sah Gay, ging auf ihn zu und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. Ganz gegen seine sonstige Art, sich von jedem streicheln und schmusen zu lassen, wich der Hund zurück. Als Sandro weiterhin näher kam, zog er die Lefzen hoch und begann zu knurren. Benny sah das Tier erstaunt an.

„Was soll denn das? Gay! Hör auf damit!“

Aber der Hund zog sich weiter zurück und sein Gebaren ließ deutlich erkennen, dass er eine Berührung von Sandro ausgesprochen übel nehmen würde. Dieser grinste.

„Schönes Tier. Hat wohl schlechte Laune, der Gute.“

„Ich weiß auch nicht, was er hat. Vielleicht ist er ja noch ein bisschen durcheinander, weil es ihm gerade eben noch so schlecht ging. Er ist sonst nicht so, ehrlich nicht!“

Benny hatte den Wunsch, das Verhalten seines Hundes zu entschuldigen. Er schaute direkt in die smaragdgrünen Augen seines Gegenübers. Es waren bemerkenswert schöne Augen in einem außergewöhnlich attraktiven, schmalen Gesicht, das fiel ihm genau in diesem Moment auf. Sandro war mit Sicherheit über einem Meter neunzig groß und obwohl Benny selbst mit einem Meter dreiundachtzig nicht zu den Kleinen gehörte, fühlte er sich winzig neben ihn.

„Das macht doch nichts. Ich kann ja auch nicht jeden auf Anhieb leiden, der mir die Hand geben will. Komm, wir müssen gehen. Unser Bajnok mag es nicht, wenn man zu spät zum essen kommt.“

„Was ist denn mit Gay? Gabór hat gesagt, er soll hier bleiben.“

„Richtig.“

Benny tätschelte seinem Hund den Kopf und verabschiedete sich mit leisen Worten. Gay fixierte währenddessen immer noch misstrauisch Sandro, der wartend neben der Tür stand.

Auf dem Weg durch die langen Flure war es Sandro, der ein Gespräch einleitete.

„Willst du hier bleiben? Ich meine, willst du unserer Gemeinde beitreten?“