Stalker - Du gehörst mir! - Andy Claus - E-Book

Stalker - Du gehörst mir! E-Book

Andy Claus

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Beschreibung

Seit Jahren sind Lukas (29) und sein Freund Michael (36) nun schon ein Paar, aber jetzt will Lukas ausbrechen. Immer öfter kommt es zum Streit, bis Michael schließlich handgreiflich wird. Lukas flüchtet aus dem gemeinsamen Haus, findet Zuflucht bei Billy, einem Freund aus Kindertagen. Aber damit ist es noch nicht vorbei, denn Michael kann sich mit der Trennung nicht abfinden und wird zu seinem Schatten. Sein Leben dreht sich nur noch darum, Lukas zur Heimkehr zu bewegen und dabei werden seine Tricks immer systematischer. Er gibt sich vernünftig, diplomatisch, reumütig oder verzweifelt, schließlich schreckt er auch vor Einschüchterung nicht mehr zurück, als Lukas auf nichts davon eingeht. Von da an muss Lukas überall mit seinem Auftauchen rechnen, immer auf der Hut sein. Aber er bleibt trotzdem bei seiner Entscheidung, für ihn ist die Beziehung vorbei. Als Lukas schließlich Ralph kennenlernt und sich in ihn verliebt, verliert Michael jeglichen Halt, jede Vernunft. Er kann es nicht ertragen, seinen Freund mit einem anderen zu sehen, denn die Trennung war für ihn nie real. Es kommt zum letzten, schicksalhaften Akt, er passt Lukas vor seiner Arbeitsstelle ab und verschleppt ihn. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, es beginnt ein Psychospiel, das beide bis zum bitteren Ende spielen müssen. Wie weit wird Michael gehen?

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Andy Claus

STALKER - Du gehörst mir!

Roman

 

Himmelstürmer Verlag

 

eBookMedia.biz

Copyright © Himmelstürmer Verlag

eBook ISBN ePub: 978-3-942441-84-1

Hergestellt mit IGP:FLIP von Infogrid Pacific Pte. Ltd.

   

Originalausgabe, Frühjahr 2009

Coverfoto: Foto by Inez Website: http://inez.kunstturm.com

Covermodel: Danny Rahnefeld

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Infos zu Andy Claus sind zu finden unter:

www.andy-claus.de

   

   

   

   

   

Für Uwe

Inhalt

TitelseiteCopyrightWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8 Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62

Prolog

Als Lukas wieder zu sich kam, herrschte um ihn herum tiefste Dunkelheit. Einen Moment lang versuchte er seine Gedanken zu ordnen und sich darüber klarzuwerden, wo er war. Aber er konnte sich an nichts erinnern. Es roch muffig und irgendwie nach Desinfektionsmittel und auch der Geschmack in seinem Mund war chemisch. Als er seine Zunge über die trockenen Lippen gleiten ließ, spürte er, dass diese aufgesprungen waren. Seine Atemzüge brannten in der Nase und seine Augen tränten, als sei tödliches Gas in der Luft. Übergangslos packte ihn die Angst. Wo zum Teufel war er, wie und zu welchem Zweck kam er hierher? Obwohl es in seinen Schläfen bei jeder Bewegung schmerzhaft pochte, versuchte er, sich aufzurichten. Es wurde nur ein panisches Zappeln daraus, denn seine Hände lagen gefesselt auf seinem Bauch. Seine Schultern, die Hüften und Fußgelenke waren mit Gurten oder etwas ähnlichem stramm auf eine Unterlage geschnallt. Das Gestell, auf dem er lag, schien aus Stahl zu sein, zumindest hämmerte und quietschte es metallisch über den Untergrund, wenn er sich bewegte. Immerhin war diese Unterlage nicht hart, was er spürte, als er nach seinem ersten Befreiungsversuch erschöpft den Kopf zurück sinken ließ und dem Gefühl nach auf einem Kissen landete. Er begann sich zu räuspern, seine Schleimhäute waren ausgetrocknet und geschwollen, erst nach und nach konnte er Speichel bilden, der säuerlich schmeckte und sich nur zäh in seinem Mund verteilte. Aber jetzt konnte er sich bemerkbar machen. Erst rief er verständliche Worte, dann begann er einfach nur zu brüllen, wobei jeder einzelne Ton in seinem Schädel dröhnte. Die Laute wurden dumpf von Wänden zurückgeworfen, die ziemlich nah zu sein schienen. Plötzlich fühlte er sich lebendig begraben, so musste es sein, wenn man in einem Sarg unter der Erde lag! Lukas wurde die Atemluft knapp, er keuchte wie ein Erstickender und gleichzeitig zerrte er ein weiteres Mal wild an seinen Fesseln, ohne auch nur eine davon lösen zu können. Obwohl er fror, brach ihm über seinen verzweifelten Versuchen, sich zu befreien, der Schweiß aus, er brannte noch zusätzlich in seinen Augen und klebte das Hemd kalt an seinen Körper. Dann jedoch spürte er Übelkeit in sich aufsteigen, die ihn schon kurze Zeit später dazu brachte, wieder still zu liegen und seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Da war sie wieder, diese unnatürliche Stille. Er konnte immer noch nichts sehen, an eine solch vollkommene Finsternis konnten seine Augen sich nicht gewöhnen. Wie in einem Vakuum lag er da, lauschte und riss die tränenden Augen auf. War er blind geworden? Auf dem Weg zur Taubheit? Schon der geringste Beweis, dass seine Sinne noch funktionierten, hätte ihm gereicht. Dass er zumindest die von ihm selbst produzierten Geräusche hören konnte, brachte ihm jedoch keine Erleichterung. Nur langsam konnte er sich dazu zwingen, ruhiger zu werden. Es war eine oberflächliche Ruhe, aber immerhin löste sich der paradoxe Druck der Atmosphäre ein wenig, die viel zu dicht zu sein schien. Allmählich verebbte sein hektisches Schnaufen und er verfiel wieder in dumpfes Brüten. Wie war er hierhergekommen? Warum konnte er sich nicht erinnern?

Zuerst glaubte er sich geirrt zu haben, aber als das Geräusch sich wiederholte, fuhr er erschrocken zusammen. Es war ein schabender Ton, ganz in der Nähe, begleitet von einem Klopfen, das sich anhörte, als würde jemand gegen eine alte Badewanne aus Emaille schlagen. Lukas spürte, dass sich jedes Härchen auf seinem Körper aufstellte.

„He, ist da jemand? Hallo?", rief er atemlos in die vollkommene Schwärze hinein. Es folgte ein Geräusch, als ob Stoff auf Stoff rieb. Es gab keinen Zweifel, er war nicht allein in seinem Gefängnis. Lukas begann zu zittern, lauschte fieberhaft. Nach und nach begann sein Körper zu beben, eine unbezähmbare Steigerung des Zitterns. Ständig wiederholte er seine bangen Fragen, seine Worte waren inzwischen nur mehr ein Hauch, hinter dem seine Angst die Gestalt einer heimtückischen Bestie annahm.

Wer oder was wartete dort direkt vor ihm in der Dunkelheit?

Kapitel 1

Neun Monate zuvor

„Wo bleibt er denn schon wieder?"

Unruhig lief Michael in der Küche seines großen Einfamilienhauses im Kölner Süden herum. Er wartete auf seinen Freund Lukas, der sich inzwischen um anderthalb Stunden verspätet hatte. Da dies in letzter Zeit öfter passierte, übersprang Michael die Phase der Sorge und war gleich sauer. Er konnte nicht verstehen, wieso Lukas wie aus heiterem Himmel immer unzuverlässiger wurde. Und warum glaubte er, dass er, Michael, sich das gefallen ließ? Nur, weil er neunundzwanzig und damit sieben Jahre jünger war, hieß das nicht, dass er sich aufführen konnte wie die Axt im Wald! Zornig saugte Michael an seiner Zigarette, stieß den Rauch aus und warf die Kippe ins Spülbecken. Er musste Lukas endlich einmal unmissverständlich klarmachen, dass er sich nicht alles erlauben konnte, so wie es aussah, war ihm das bisher nicht wirklich gelungen.

Anfangs hatte sein Freund sich noch gerechtfertigt, erklärte, wie die Verspätung zustande gekommen war. Aber jedes Mal, wenn er unpünktlich heimkam und Michael ihn zur Rede stellte, reagierte er ein wenig mürrischer, bis er beim letzten Mal überhaupt nicht mehr auf die Vorwürfe geantwortet hatte, sondern sofort wieder das Haus verließ und die ganze, nachfolgende Nacht nicht mehr zurückkam. Als dieser Vorfall jetzt zurück in Michaels Erinnerung kam, verwandelte sich die Wut sofort in eine leidenschaftliche Besorgnis, dass diese Reibereien vielleicht doch substanzieller Natur waren - erste Anzeichen dafür, dass etwas Entscheidendes in ihrer Beziehung nicht mehr stimmte. Jedes Mal, wenn Lukas Michael allein ließ, wurden diese Gedanken greifbarer. Lukas entfernte sich von ihm und mit der Erkenntnis, dass der Jüngere ihm vielleicht entglitt, kam die Verzweiflung. Das konnte nicht ... das durfte nicht sein!

Michael lief ins Wohnzimmer und starrte geistesabwesend aus dem Panoramafenster in den großen Garten. Es regnete wieder einmal, der Sommer war eine Katastrophe. Die mit Wolken verhangene, kühle Wirklichkeit dort draußen ergänzte seine Gefühlswelt, ließ aus seinen Ahnungen eine Form der Realität werden, die es so eigentlich noch gar nicht gab und genau das war es, an das er sich jetzt klammerte. Unwillig schüttelte er den Kopf, als könne er die elenden Befürchtungen damit vertreiben. Lukas wollte ihn nicht verlassen, es gab sicher eine Erklärung für seine Unpünktlichkeit in letzter Zeit. Er hoffte darauf und beschloss, seinem Freund zu glauben, egal was er erzählte. Er würde ihm diesmal ganz einfach keine Vorwürfe machen, wenn er heimkam - denn das war der eigentliche Grund, warum sie sich entfremdeten und was ihn früher oder später vertreiben musste. Es kam nur auf ihn, Michael, und sein Handeln an, die Sache nicht eskalieren zu lassen. Er musste seine Wut kontrollieren!

Er öffnete die Terrassentür und trat einen Schritt hinaus. Sofort spürte er die kühlen Regentropfen auf seiner Haut, sie fingen sich in seinen Wimpern, den Haaren und seiner Kleidung. Irgendwo in den Bäumen zwitscherten Vögel hingebungsvoll gegen die Tristheit an, ein vergeblicher Versuch, den Sommer herbeizurufen. Michael schaute über die Baumwipfel in das trostlose Grau eines unerfreulichen Julihimmels, eigentlich wäre die Zeit des Sonnenuntergangs. Aber einen solchen beobachten zu können war im Moment genauso unwahrscheinlich wie der wünschenswerte Gedanke, dass Lukas' Rückzug keine tiefere Bedeutung hatte. Die wilde Entschlossenheit, mit der Michael trotzdem versuchte, sich die Entwicklung schönzureden und seine Wut wegzudrücken, kostete ihn Kraft. Aber als er später wieder ins Haus ging, war er sicher, ruhig bleiben zu können, wenn Lukas heimkam.

Um sich aufzuwärmen, ging er duschen, hoffte, wenn er aus dem Bad kam, sei Lukas zu Hause. Aber dem war nicht so. Michael nahm sein Handy, drückte zum wiederholten Male die Kurzwahltaste, Lukas hob jedoch auch diesmal nicht ab. Er spürte die unberechenbaren Schemen seines Zorns bereits wieder, sie legten sich wie eine Würgeschlange um sein Gemüt. Verdammt, warum ließ Lukas es auch immer soweit kommen? Wusste er denn nicht, dass er sich ins eigene Fleisch schnitt, wenn er so mit ihm umging? Wer konnte schon friedlich bleiben, wenn er nicht wusste, ob der Mensch, den er liebte, noch zu ihm stand? Vielleicht wälzte er sich ja genau in diesem Augenblick mit einem anderen im Bett herum, lachte über die Vorstellung, wie sein Freund zu Hause wartete. Die Vorstellung dieses Szenarios ließ Michael „Verdammtes Dreckstück!" brüllen und gegen die Rückseite des Sessels treten, hinter dem er gerade stand. Wenn er endlich mal ehrlich zu sich selbst war und nicht immer versuchen würde, Lukas zu verteidigen, konnte hinter dessen Verhalten eigentlich nur ein anderer Mann stecken. Oder sogar eine ganze Latte anderer Kerle, ein Kind von Traurigkeit war Lukas schließlich noch nie. Als sie sich kennen lernten, war er jedes Wochenende wild vögelnd in der Szene unterwegs gewesen. Der Gedanke daran ließ Michaels Blutdruck explodieren, er spürte seinen Herzschlag im Hals und ihm wurde heiß. Der Kerl brauchte einen Denkzettel, damit er begriff, dass man nicht auf den Gefühlen seiner Mitmenschen und erst recht nicht auf denen seines Lebenspartners herumtrampelte.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden, die Schatten hatten sich ins Haus getastet und schienen es mit negativer Energie aufzuladen. Energie, gegen die Michael sich wehren musste, deshalb schaltete er das Licht nicht ein. Er musste sich seiner Wut stellen, es war ein legitimer Zorn, den er nicht übertünchen durfte und so saß er in der Dunkelheit auf einem Stuhl und überlegte sich, wie er es schaffen konnte, Lukas wachzurütteln und sein Verhalten auf Dauer zu ändern. Es war klar, dass das nicht ohne Streit abgehen konnte, aber wahrscheinlich waren solche Szenen das Einzige, was Lukas aufrütteln konnte.

Je mehr Zeit verstrich, desto unsicherer wurde er dann allerdings wieder. Was, wenn Lukas in dieser Nacht gar nicht heimkam? Wenn er überhaupt nicht mehr zurückkam, weil er keine Lust hatte, sich Michaels Wut zu stellen? Schließlich konnte er sich ihr durchaus entziehen, je nachdem, wie sehr seine Gefühle bereits erkaltet waren, fiel es ihm vielleicht nicht einmal sonderlich schwer. Verband sie wirklich noch genug miteinander, dass so etwas nicht passieren konnte? Plötzlich wieder voller Angst rief sich Michael die schönen Momente ihrer Beziehung ins Gedächtnis. Den leidenschaftlich zärtlichen Beginn, die Träume, welche sie miteinander hatten. Ihnen gehörte damals die Zukunft, alles schien zu passen. Wann war das anders geworden? Michael erinnerte sich an erste Streits, kaum zwei Monate, nachdem Lukas zu ihm gezogen war. Damals hatte er plötzlich Wesenszüge an seinem Freund bemerkt, die nicht in das Bild passten, das er sich von ihm machte. Als sie zusammen kamen, war aus dem begehrten Szenegänger ein treuer Mann geworden, der sich für niemanden außer Michael interessierte. Die Entwicklung hatte diesen ungemein aufgewertet, auch vor sich selbst. Doch dann, als sie sich jeden Tag sahen und angefangen hatten, ihr Leben miteinander zu teilen, begann Lukas, frühere Freundschaften aufleben zu lassen, etwas, das Michael als persönlichen Angriff auf sich und ihre Partnerschaft empfand. Damals konnte er seinen Freund in hitzigen Debatten von seiner Sichtweise überzeugen, jedenfalls hatte er das bis heute geglaubt. Er überschrie Lukas' Argumente, unterstellte ihm negative Charaktereigenschaften, griff ihn an und redete so lange auf ihn ein, bis dieser einlenkte und versprach, sich zu ändern. Deshalb zog Lukas sich auch wieder aus seinem Freundeskreis und der Kölner Szene zurück und sie verbrachten ihre Freizeit über anderthalb Jahre ausschließlich gemeinsam und ohne weiteren Anhang. Michael hatte geglaubt, seinen Freund wirklich überzeugt zu haben, bis er vor einigen Wochen zum ersten Mal zu spät aus seinem Büro bei einer großen Kölner Versicherungsgesellschaft kam. Es war nur eine Stunde gewesen und er hatte das mit einem Stau erklärt, aber Michael wurde vom ersten Augenblick an misstrauisch. Zu recht, wie er jetzt zu wissen glaubte.

Die Dunkelheit um ihn herum hatte begonnen, wie mit scharfen, kleinen Zähnen an ihm zu nagen. Sie verstärkte den Druck und die Hilflosigkeit, die er empfand und plötzlich wollte er nicht mehr dagegen ankämpfen. Hastig stand er auf und bediente den Lichtschalter im Wohnzimmer, lief dann durch das ganze Haus, bis alles nahezu festlich erleuchtet war. Zwei Seelen, die eine vernünftig und nachgiebig, die andere fanatisch und unerbittlich, stritten sich in seiner Brust, während er weiter wartete.

Kapitel 2

„An deiner Stelle würde ich gar nicht mehr zu ihm gehen. Er ist ein Arsch, sieh das doch endlich ein!"

Lukas trank an seinem Bier, bevor er Billy antwortete.

„Er ist kein Arsch, er weiß manchmal nur nicht, wohin mit seinen Selbstzweifeln."

„Wie auch immer, er ist unberechenbar. Ich meine, du hast doch nicht umsonst Angst, heimzugehen!"

„Ich habe keine Angst, er würde mir niemals etwas tun."

„Und was ist mit tief fliegenden Gegenständen und kaputten Spiegeln?.

„Damit hat er mich noch niemals verletzt, höchstens sich selbst. Das ist so eine Art Blitzableiter!"

„Dann können wir ja nur hoffen, es sind immer genug Sachen in der Nähe, die er verwüsten kann, damit er nicht eines schönen Tages doch dich kaputt macht!"

„Das wird er ganz sicher nicht. Es sind eben nur seine ewigen Vorwürfe, ich hab einfach keinen Bock mehr auf das ewige Gezeter, nur weil ich mal Lust habe, mit dir ein Bier zu trinken. Da ist doch nichts dabei. Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf, ich bin einfach zu jung, um die Abende vor dem Fernseher zu verbringen."

„Dann bring ihn doch einfach mit, wenn du denkst, das hilft!"

„Nein, das macht alles nur noch schlimmer, ich hab's versucht. Er dreht schon ab, wenn ich jemandem einfach nur guten Tag sage. Das kommt von seinen schlechten Erfahrungen, in den zwei Beziehungen vor mir ist er betrogen worden. Er merkt nicht, dass seine verdammte Eifersucht alles kaputt macht, dabei liebe ich ihn doch!.

„Ach wie süß! Die große, alles verzeihende Liebe ... Mensch, du bist neunundzwanzig, keine neunzehn mehr, du müsstest erkennen, dass man einen Menschen nicht ändern kann, nur weil man ihn liebt!"

„Man verliebt sich aber erst gar nicht in Menschen, die es nicht wert sind, oder?"

„Hast du eine Ahnung!" Billy grinste hintergründig.

Die beiden waren gleich alt, sie wuchsen zusammen in der Kölner Vorstadt auf und hatten damals die ersten, noch unschuldigen sexuellen Erfahrungen miteinander gemacht. Später merkten sie bald, dass sie, wenn auch beide schwul, nicht zueinander passten. Lukas stand auf dunkelhaarige Bären - große, stabil gebaute, behaarte Männer, möglichst mit einem Vollbart, bei denen er sich sicher fühlen konnte. Auch Michael war groß, bullig und mit dunkler, gepflegter Körperbehaarung, auch wenn er seinen Bart nie wirklich über drei Tage hinauskommen ließ. Billy jedenfalls hatte keine Chance bei Lukas, er war klein, blond, zierlich und sein Bartwuchs erschöpfte sich darin, an einigen Punkten zu sprießen, an anderen blieben kahle Stellen, sodass ein Bart nach Mottenfrass ausgesehen hätte. Aber auf die Idee wäre er sowieso nicht gekommen, er enthaarte seinen ohnehin wenig bewachsenen Körper regelmäßig von allem, was da spross. Nur auf dem Kopf erlaubte er sich eine kurze Bürste, die ihn auch heute noch wie ein Kind aussehen ließ, das sich zum Militär verirrt hatte. So war von Lukas' Seite eine tiefe Freundschaft entstanden, die Billy erwiderte. Aber von dessen Seite kam noch ein innigeres Gefühl dazu, er empfand für den gut aussehenden Lukas mehr als Freundschaft, was er jedoch wohlweislich für sich behielt. Schon immer hatte er seine Lover nach dessen Vorbild ausgesucht, irgendeine Übereinstimmung mussten sie mit seinem Freund haben - entweder die markanten Gesichtszüge oder die unverkennbare Nase mit Ähnlichkeit zu einem Adlerschnabel, vielleicht auch die traumhaft grünen Augen, der stetig verwuschelte, dunkelbraune Haarschopf oder zumindest die beinahe einmeterachtzig große, schlanke Gestalt. Alle Vorzüge in einem fand er nur bei Lukas selbst und es war schwer für ihn, als er seinen Freund vor knapp zwei Jahren so überraschend aus den Augen verlor. Dass sie sich jetzt zufällig wieder getroffen hatten, als es Lukas nicht gut ging, empfand Billy als Wink des Schicksals. Es war auf der einen Seite zwar der blanke Eigennutz, dass er Lukas von Michael wegbringen wollte, andererseits war er tatsächlich davon überzeugt, dass dieser seinem Freund irgendwann echten Schaden zufügen würde. Lukas schätzte Michael falsch ein, sah ihn immer noch durch die rosarote Brille und das musste sich unbedingt ändern.

Heute war Freitag, sie standen nebeneinander an der Theke ihrer früheren Stammkneipe, die Lukas jetzt wieder öfter besuchte. Irgendwann hatte er begriffen, dass er mehr Freiheit brauchte und begonnen, sich diese zu nehmen. Im Zuge dessen war er Billy zufällig wieder begegnet. Das Ganze wurde zum Selbstläufer, Lukas' Ausbruchsversuche endeten ganz automatisch immer bei Billy, wo er sich seinen Frust von der Seele redete. Es tat ihm gut, allerdings bezahlte er das damit, dass er die Zeit, die er sich stahl, nicht genießen konnte. Schließlich wusste er genau, was ihn erwartete, wenn er dann wieder nach Hause kam. Trotzdem konnte er nicht damit aufhören, es war wie ein innerer Zwang, eine gewisse Distanz zwischen sich und Michael zu bringen. Er hatte das Gefühl, als könne er in dessen Nähe nicht mehr atmen, als sei er durch unsichtbare Ketten dazu gezwungen, jede Bewegung seines Freundes zu begleiten, aber niemals eigene machen zu können.

Er war froh gewesen, als er Billy vor ein paar Wochen unerwartet traf. Ihn vermisste er am meisten, während er sich an Michaels Vorgabe hielt, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Zwar wollte er zuerst nicht mit der Sprache heraus und über seine Probleme reden, sondern tat lieber so, als sei alles in bester Ordnung und er glücklich, aber sie kannten sich zu lange und zu gut. Billy bemerkte, dass etwas nicht stimmte.

„Ich weiß, du wirst nie den Richtigen finden, der muss          wahrscheinlich erst noch gebacken werden! Du musst lernen, Kompromisse zu machen, ohne kann keine Beziehung funktionieren", antwortete Lukas.

„Eigentlich ist mein zweiter Vorname Kompromiss, aber woher solltest du das wissen? Du bist ja viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt, um etwas davon mitzukriegen, was bei mir abgeht!", antwortete Billy und dachte kurz darüber nach, wie viele Abstriche er gemacht hatte, um etwas Festes zu finden. Was konnte er dafür, dass kein Mann auch nur entfernt wie Lukas war?

Lukas dachte nur kurz über diesen Vorwurf nach. Dafür, dass er den Kontakt auf Michaels Wunsch hin abbrach, hatte er sich bereits entschuldigt und ansonsten war er sich keiner Schuld bewusst.

„Ich muss dann auch gleich gehen! Hoffentlich hebt er nicht wieder völlig ab", antwortete er, statt auf das einzugehen, was Billy hatte anklingen lassen.

Er zog sein Handy heraus, schaltete es an und sah, wie oft Michael probiert hatte, ihn zu erreichen.

„Oh, meine Güte! Es sind 57 Anrufe!"

„In nicht einmal dreieinhalb Stunden? Und du behauptest, der Kerl hat keinen schweren Ausnahmefehler im System?"

„Du willst das nicht verstehen, oder? Er wurde schon zweimal verarscht, damals, als er noch in Hamburg wohnte. Ist doch klar, dass er Angst hat!"

„Wer lamentiert denn immer, dass er Michaels hysterische Anwandlungen nicht mehr aushalten kann? Ich vielleicht?"

„Nein ich, das weiß ich. Und ich bin dir sehr dankbar, dass du mir zuhörst!"

„Gut, davon kann ich mir dann gleich einen Strauß rote Rosen kaufen gehen!"

„Ehrlich, ich weiß das zu schätzen. Du hilfst mir sehr, wenn ich dir das alles erzählen kann!"

„Und was nützt das, wenn du nichts dran ändern willst? Das ist doch Bockmist, vom drüber reden ist noch nie etwas besser geworden."

„Ich muss los!"

„Dir deine Packung für heute abholen? Na ja, Reisende soll man ja bekanntlich nicht aufhalten!"

Lukas erhob sich vom Barhocker und zahlte, Billy schaute ihm schweigend dabei zu. Er würde noch bleiben und sich die Kante geben, das brauchte er heute. Als Lukas zur Tür ging, rief er ihm aber noch nach: „Wenn was ist, meld dich!"

Lukas nickte lächelnd und Billy las daraus, dass sicher nichts sein würde.

„Du mich auch!", knurrte er, drehte sich wieder um und bestellte ein neues Bier.

Lukas ging zu seinem Wagen. Er wusste, eigentlich hatte er zu viel getrunken, aber er fühlte sich komplett nüchtern und dachte nicht weiter darüber nach. Mit einem flauen Gefühl im Magen setzte er sich hinter das Steuer und fuhr los Richtung Rodenkirchen. Er hoffte, diesmal ginge Michaels zu erwartender Ausbruch gemäßigter ab, aber schon die vielen Anrufe ließen anderes vermuten. Er würde heute noch einmal versuchen, Michael alles zu erklären, vielleicht begriff er endlich, worum es ihm ging.

Kapitel 3

Lukas war nun schon über dreieinhalb Stunden zu spät. Michael befand sich nun in einer Phase der Selbstvorwürfe und Angst, war zu irgendeinem Zeitpunkt plötzlich sicher gewesen, er würde Lukas nie mehr wieder sehen. Er steigerte sich immer mehr in diese Befürchtung hinein, die Wut war inzwischen komplett einer für ihn realen Verzweiflung gewichen. Daraufhin hatte er sich in die Küche gestellt und mit viel Aufwand ein Menü gekocht, ganz so, als könnten die Aromen von Steak, Folienkartoffel, Sour creme und Rucula seinen Freund herbeirufen. Das Steak war inzwischen nicht mehr zu genießen, es wurde von englisch über medium zur Schuhsohle. Trotzdem hatte Michael den Tisch gedeckt, eine Kerze angezündet und aufgetan. Dann setzte er sich auf seinen Platz und beobachtete das Essen beim kalt werden. Er hatte sich schon mehrmals geschworen, dass er kein Wort des Vorwurfs verlauten lassen würde, wenn Lukas noch einmal zurückkam. Er wollte alles für diese letzte Chance einsetzen und war sicher, das schaffen zu können.

Dann endlich, gegen 22 Uhr, hörte er das ersehnte Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss drehte, Lukas war endlich gekommen. Natürlich, wo hätte er auch anders hingehen sollen? Michael hatte bei all seiner Angst ganz vergessen, dass sein Freund auf ihn angewiesen war und die Erinnerung daran verwässerte seinen Vorsatz, nachsichtig zu reagieren, ein wenig. Er blieb sitzen und wartete, immer noch überzeugt davon, diesmal großzügig über Lukas' Verfehlung hinwegsehen zu können. Voraussetzung hierfür war aber jetzt dessen Einsicht, einen Fehler gemacht zu haben. Wenigstens darauf wollte Michael nicht verzichten, jetzt, wo seine Angst sich ein wenig verflüchtigt hatte und sein Selbstbewusstsein langsam zurückkam.

Endlich durchquerte Lukas das Wohnzimmer, trat in die Tür zum Esszimmer und schaute Michael an, der seinerseits starr geradeaus guckte, als hätte er ihn nicht bemerkt.

„Es tut mir leid, ich war noch in der Altstadt, hab ein Bier getrunken!"

Langsam wanderte Michaels Blick zu Lukas, saugte sich in dessen Augen fest.

„Du brauchst vier Stunden für ein Bier?"

Lukas trat in den Raum und ging auf den Tisch zu.

„Okay, es waren mehrere ... macht das einen Unterschied?"

„Einen Unterschied von einigen Stunden, denke ich", Michael stand auf. „Tja, das Essen kann man ja wohl vergessen!"

„Es tut mir wirklich leid!"

„Warum?"

Michael spürte die altbekannte Wut in sich aufsteigen und wiederholte etwas lauter:

„Warum tut es dir leid? Na los, sag schon!"

„Es tut mir leid, dass du dir die ganze Arbeit umsonst gemacht hast. Ich hätte anrufen sollen!"

„So, hättest du?! Wieso denn auf einmal? Machst du doch nie und schließlich kommst du in letzter Zeit dauernd später, ohne mir zu erklären, warum..

„Bitte Micha, fang nicht schon wieder an. Natürlich habe ich schon versucht, dir zu erklären, dass ich etwas Zeit für mich brauche, wir können nicht jede freie Minute zusammen sein!"

„Gib doch wenigstens zu, wenn du mich satt hast!"

„Hab ich nicht, ich will immer noch mit dir zusammen sein. Nur manchmal ... manchmal brauche ich eine kleine Auszeit. Nur ein paar Bier irgendwo ..."

„Bier kannst du auch hier trinken, wenn du das so nötig hast!"

 „Es geht nicht ums Bier, Micha."

„Um was denn? Rück doch endlich mit der Sprache heraus! Wer fickt dich? Zu wem schleichst du immer wieder wie eine läufige Hündin? Na sag schon, wer besorgt es dir?"

Michaels Gesicht wurde langsam rot, eine Ader schwoll auf seiner Stirn, seine Augen nahmen einen unzugänglichen, kalten Ausdruck an, während in seinem Kopf ein Sturm tobte. Warum hatte er sich eigentlich selbst die Schuld gegeben? Wieso hatte er es zugelassen, dass die Angst vor dem Verlassenwerden ihn zu einem demütigen Idioten machte? Wer war er eigentlich? Lukas' Hanswurst? Er schnellte hoch und hieb dabei mit beiden Händen auf den Tisch. Lukas fuhr erschrocken zusammen und trat im Reflex einen Schritt vom Tisch zurück.

„Verdammt, ich gehe nicht fremd und das weißt du!", hob er dann auch die Stimme.

„Nix weiß ich, gar nix ... verstehst du?"

Michael griff mit beiden Händen nach der Tischkante und riss sie hoch, klirrend rutschte alles auf den Boden und der Tisch landete auf seiner Platte, wie ein verdorrtes Insekt streckte er die dünnen Beine in die Luft. Lukas war zurückgesprungen, er spürte wieder das erschrockene Hämmern seines Herzens und dieses Beben, das seine Gliedmaßen zittern ließ. Er fürchtete sich zu neunundneunzig Prozent nicht vor seinem Freund, aber da war immer noch das eine Prozent der Unsicherheit. Dazu kam, dass Michael in solchen Momenten von Mal zu Mal unberechenbarer schien, auch wenn er seine Wut bisher noch nie an etwas anderem als an toten Gegenständen ausgelassen hatte.

„Du bist doch bescheuert! Dann hau ich eben wieder ab!", übertönte Lukas Michaels Schimpfen.

„Du bleibst hier!", polterte der und erstarrte in der Bewegung. Es war, als rechne er aus, wie viele Schritte Lukas zum Verlassen des Hauses benötigte und ob er schneller sein konnte.

„Dann sag mir, warum ich hier bleiben soll! Um mir anzuschauen, wie du ausflippst? Das hab ich inzwischen oft genug gesehen. Wenn wir reden können, bleibe ich."

„Es gibt nichts zu reden, wenn du nicht endlich wieder pünktlich sein willst!"

„Dann gute Nacht!"

Lukas drehte sich um und wollte hinaus, aber Michael spurtete an ihm vorbei, war vor ihm an der Haustür und blockierte diese mit seinem Körper.

„Du bleibst hier!"

„Lass mich raus!"

„Ich sagte, du bleibst!"

Lukas zog sein Handy aus der Tasche.

„Soll ich die Polizei rufen? Dann musst du mich gehen lassen!.

Es war das erste Mal, dass eine solche Drohung im Raum stand und auch der Moment, als Michael den Großteil seiner mühsamen Kontrolle verlor. Er stürzte auf Lukas zu, entriss ihm das Handy und schmetterte es an die Wand. In Einzelteilen fiel es zu Boden. Er sah es mit Genugtuung und wandte sich Lukas zu. Im nächsten Moment war er bei ihm und drückte ihn mit dem Unterarm über der Kehle an die Wand. Dann kam er ganz nah heran, beinahe berührten sich ihre Nasen.

„Du wirst niemanden rufen, du wirst dich unseren Problemen stellen. Verstanden?", sagte er gefährlich leise. So gut es ging nickte Lukas, seine Hände tasteten wild herum, er versuchte, den Arm von seinem Hals wegzuziehen. Kräftemäßig hatte er keine Chance, aber Michael schaute in seine schreckgeweiteten, überraschten, schmerzerfüllten Augen. Es war der Moment, als er die Situation plötzlich als Außenstehender erkannte, er erschrak über sich selbst. Er liebte diesen Mann und er tat ihm gerade weh! Wie ein Blitzlicht zuckte diese Erkenntnis durch das Meer aus Wut, goss das Öl des Rückzugs auf die Wogen. Über sich selbst erschrocken, verringerte er den Druck, dann ließ er ganz los und trat einen Schritt zurück. Er atmete heftig, versuchte, die dominierenden Gefühle zurückzudrängen. Er starrte dabei wie abwesend vor sich auf den Boden, seine Arme hingen schlaff am Körper hinab, seine Hände ballten und streckten sich im Wechsel.

Lukas massierte derweil seinen Hals, seine Hände bebten noch vom Schock des Übergriffs. Als er gerade eben in Michaels Augen gesehen hatte, war er ihm plötzlich völlig fremd gewesen. Er dachte an Billys Worte, sah sich tatsächlich der Sicherheit beraubt, Michael und seine Reaktionen einschätzen zu können. Das machte ihm zum ersten Mal wirklich Angst. Atemlos überlegte er, seine Gedanken jagten sich. Auch wenn Michael im Moment über sich selbst erschrocken wirkte und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen - was würde beim nächsten falschen Wort passieren? Lukas wollte Zeit schinden.

„Lass uns reden, ja?", schlug er deshalb im normalem Tonfall noch einmal vor. Dabei ging er Richtung Wohnzimmer. Michael folgte ihm und im nächsten Moment saßen sie sich auf der Couch zunächst schweigend gegenüber. Lukas suchte vergeblich nach versöhnlichen und damit beruhigenden Worten, während Michael schon gar nicht mehr beruhigt werden musste. Seine Stimmung war wieder vollständig umgeschlagen, in ihm existierten nur noch Scham und Reue und das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen oder seinen Ausbruch zumindest zu relativieren.

„Es tut mir leid! Aber du weißt hoffentlich, dass das deine eigene Schuld war! Verflucht, wieso bringst du mich so weit?"

Lukas verbannte alle Logik einschließlich der Worte aus seinem Kopf, die einen Vorwurf in sich trugen.

„Ich weiß und ich verstehe, warum du wütend bist. Du glaubst immer noch, ich lüge dich an, aber das stimmt wirklich nicht. Ich hab keinen anderen. Vielleicht solltest du dir die Kneipe mal anschauen, es ist nicht mal eine Szenekneipe."

„Keine Szenekneipe?"

„Nein!"

Jetzt log Lukas wirklich, aber er hatte nur sein Ziel vor Augen, Michaels Gemüt abzukühlen. Außerdem wollte er das Gefühl zurück, seinen Freund und dessen Reaktionen berechnen zu können. Es schien zu funktionieren, es hörte sich ziemlich geknickt an, als Michael nun sagte:

„Ich ... es tut mir so leid , was ich da eben gemacht habe. Ich weiß nicht, was ... verdammt, ich bin ein solcher Idiot! Aber ich will eigentlich nur verstehen, wieso du plötzlich deine Zeit ohne mich verbringen musst, um glücklich zu sein. Wenn du mir erklären kannst, dass das nichts mit mir zu tun hat, werde ich nichts mehr dagegen sagen. Bisher ... wenn du nicht bei mir bist, kommen diese Zweifel und fressen mich auf!"

Lukas stand auf, ging zu Michael hinüber, setzte sich neben ihn und nahm seine Hand, die an eine Löwenpranke erinnerte. Es war dieser Moment, in dem er sich vornahm, in nächster Zeit auf seine Stunden mit Billy zu verzichten, zumindest so lange, bis er Michael das Ganze auf eine Weise erklärt hatte, die dieser akzeptieren konnte.

„Ich weiß das doch ... und es hat wirklich nichts mit dir zu tun. Aber wenn du dich gar nicht damit abfinden kannst, werde ich erstmal wieder auf meine Alleingänge verzichten, unsere Beziehung ist mir wichtiger!"

Lukas horchte seinen eigenen Worten nach wie denen eines Fremden. Aber es stimmte, egal wie widersinnig es auch sein mochte - er wollte alles tun, damit ihr Leben wieder ins Lot kam. Er wollte den freundlichen, liebevollen Michael zurück, ohne den er sich eine Zukunft nicht vorstellen konnte, was zählten da schon ein paar freie Stunden? Er war vielleicht wirklich zu egoistisch gewesen! Die Kneipenbesuche jedenfalls waren es nicht wert, dass Michael daran verzweifelte.

„Meinst du das ernst?"

„Natürlich! Ich liebe dich!"

„Ich liebe dich auch!.

Michaels tiefe Stimme bebte leicht.

„Du musst mir nur einen Gefallen tun!"

„Welchen?.

Irrte Lukas sich oder war die Stimme seines Freundes übergangslos wieder harscher und der gerade noch kummervolle Blick auf diese lauernde Weise misstrauisch?

„Wenn irgendwas ist, das du nicht einschätzen kannst, sprich mit mir darüber. Mach dir nicht deine eigenen, unrealistischen Gedanken, sondern lass mich erst erklären."

„Wenn du hier bist, ist das kein Problem. Aber ich hab dir doch schon erklärt, ich komme gegen all diese Zweifel nicht an, wenn ich allein bin!"

„Ich muss genau wie du arbeiten, ich kann nicht andauernd hier sein. Aber ich komme doch immer wieder zu dir nach Hause!"

„Sogar dessen bin ich mir in solchen Momenten nicht sicher!"

„Dann wird es Zeit, dass du deine Zweifel abschaffst!"

„Das sagt sich so leicht ... aber ich werde mir Mühe geben!"

„Mehr will ich ja auch gar nicht!"

Lukas umfing die voluminösen Schultern seines Freundes und schob mit der anderen Hand sein Kinn hoch, wie er das bei einem weinenden Kind gemacht hätte. Der Bär von Mann ließ es geschehen, wie eine Marionette überließ er Lukas die Schnüre, an denen er hing. So lief das jedes Mal ab, wenn er einen seiner Wutausbrüche gehabt hatte, nur diesmal hatte das Ganze eine andere Wertigkeit, denn er war weiter gegangen als jemals vorher. Lukas schaute ihm in die jetzt bekümmerten, rehbraunen Augen, die in der Wut fast schwarz funkeln konnten. Er hatte das Gefühl, die Bestie gezähmt zu haben, glaubte sich ihm auf eine verrückte Weise überlegen und fuhr fort:

„Komm schon, es ist alles in Ordnung."

„Ist es nicht ... schmerzt dein Hals noch?"

„Ein wenig, aber es geht schon."

„Ich mach das wieder gut, ich versprechs!"

„Das musst du nicht. Komm, lass uns mal nachsehen, was die Küche noch hergibt, ich hab Hunger!"

„Ich mach das schon, bleib du sitzen, ja? Ich bring dir ein Bier und du schaust so lange Fernsehen!"

Hastig sprang Michael auf, froh, etwas tun zu können.

„Lass das mit dem Bier, ich gehe in der Zwischenzeit duschen!"

„Okay!"

Solange Lukas im Bad war, schob Michael zwei Fertiggerichte in die Mikrowelle, räumte das Esszimmer auf und machte in einer Rekordzeit sauber, die man einem 1,96 m großen Mann mit fünfundneunzig Kilo Gewicht nicht zugetraut hätte. Beinahe gleichzeitig wurden sie fertig.

„Setz dich, ich bring das Essen! Ist leider nichts Besonderes, ich muss erst einkaufen, hab leider nix Frisches da!"

„Das hab ich wohl verdient, schließlich hattest du ursprünglich was Gutes gekocht!"

Michael lächelte betrübt und deckte zum zweiten Mal heute den Tisch fürs Abendessen. Lukas beobachtete ihn und war sicher, dass sein Freund sich an ihm vergriffen hatte, war tatsächlich ein einmaliger Ausrutscher. Dass es ihm leid tat, war klar ersichtlich. Sicher, auch für die anderen Wutausbrüche hatte er sich später entschuldigt. Sogar dafür, dass er wegen eines Chats bei Gayromeo Lukas' Laptop aus dem Fenster warf oder als er dessen hautenge Levi's Jeans verbrannt und damit gleich auch den Wohnzimmerteppich abgefackelt hatte. Aber heute war Michael beschämter, er wusste genau, dass er sogar für seine Verhältnisse um einiges zu weit gegangen war.

Sie aßen größtenteils schweigend, es war, als suchten sie beide nach Worten, die alles ungeschehen machten konnten. Dann räumten sie in schöner Alltäglichkeit zusammen die Spülmaschine ein und setzten sich vor den Fernseher. Lukas kuschelte sich in Michaels Arm, als sei nichts gewesen, sein Kopf lag auf dessen Brust, mit dem Arm umfing er seinen Bauch. Er spürte den gleichmäßigen Atem und die streichelnden Hände, fühlte sich wie beinahe immer in ihrer Beziehung geborgen. Es war wohl die richtige Entscheidung, im Moment nicht auf seine kleinen Freiheiten zu bestehen, denn schließlich, so bedeutsam sie für Lukas in letzter Zeit auch geworden waren, Michael war das Wichtigste in seinem Leben. Ohne ihn verlor alles seinen Sinn. Okay, er hatte das beunruhigende Manko, bisweilen cholerisch zu sein, aber um das zu umgehen, musste Lukas nur dafür sorgen, dass er seine Eifersucht nicht weckte. An dieser Stelle schrillte in seinem Kopf kurz eine Alarmglocke, denn er begriff durchaus, was das bedeutete. Er musste sich nach den Wünschen seines Freundes richten und seine eigenen unterdrücken und wenn er tatsächlich mal anderer Meinung war, durfte er diese nicht äußern, um Michael nicht wütend zu machen.

Aber Lukas beruhigte sich selbst damit, dass es tatsächlich nur die Eifersucht war, die seinen Freund explodieren ließ und dagegen konnte er was tun. Er hatte schließlich keinerlei Ambitionen, ihn zu betrügen. Er sagte sich, die Zeit musste es einfach mit sich bringen, dass Michael gleichmütiger wurde. Wenn er ihm seine Treue und Ehrlichkeit endlich bewiesen hatte, gab es sicher Gelegenheiten, etwas zu ändern. Nur jetzt musste er sich erst einmal zurücknehmen, damit ihre Beziehung wieder auf das Level zurückfand, das ihm die Sicherheit gab, die er zum Leben brauchte. Es ging dabei nicht um finanzielle Sicherheit, Michael war Pächter einer Tankstelle, also nichts, womit er reich werden konnte. Sie lebten zusammen in dem großen Haus am Waldrand, das Michael von seiner Mutter erbte und allein nicht unterhalten konnte. Sie kamen beide zu gleichen Teilen für ihr Leben auf. Es ging Lukas um das Gefühl, das er in Michaels Nähe hatte, die Tatkraft und Beständigkeit, welche von seinem Freund ausging - das war für ihn die Sicherheit, die er brauchte.

Als sie später ins Bett gingen, verzichteten sie erst einmal auf Sex, was sonst selten vorkam. Sie waren einander nahe, redeten über die Zukunft, wobei sie riskante Themen bewusst ausklammerten. Sie waren sich einig, dass jetzt allein das zählte, was sie verband, nicht das, was sie entzweite. Das brachte sie dem Sex wieder näher, denn obwohl sie bereits so lange zusammen waren, hatte sich die gegenseitige Anziehungskraft nicht abgenutzt. Manchmal brauchte es nur einen bestimmten Blick und sie fielen übereinander her, als hätten sie jahrelange Enthaltsamkeit nachzuholen. Das konnte sogar in der Öffentlichkeit vorkommen, wo sie sich dann meist ein verstecktes Plätzchen für einen Quickie suchten. Am heutigen Abend war das jedoch anders, nach den Vorkommnissen waren beide vorsichtiger als sonst. Als Lukas allerdings Michaels Ständer bemerkte, der sich gegen seinen Oberschenkel drückte, während er ihn im Arm hielt, griff er sofort danach. Michael zuckte zusammen und stöhnte auf. Er ließ sich auf den Rücken rollen und zog Lukas dabei über sich.

Doch so einfach machte der es ihm diesmal nicht, er setzte sich auf seine Oberschenkel, ließ die Erektion dabei nicht los, massierte    sie jedoch auch nicht. Michael begann zu schwitzen, die Geilheit breitete sich wie ein Flächenbrand aus, zog bis in seine Lenden         und löschte sein Denken komplett aus. Er versuchte, zumindest durch die Bewegung seines Unterleibs Reibung innerhalb von Lukas' Hand  zu erzeugen. Was er dabei erreichte, war allerdings zu minimal, um befriedigend zu sein.

„Nun mach schon, was soll das denn?", diktierte er atemlos, aber Lukas reagierte dahingehend nicht. Er war inzwischen zwar selbst erregt, rieb sich intensiv an Michaels Schenkeln, auf denen er immer noch rittlings saß, tat aber trotzdem nicht das, was der andere jetzt wollte. Er verstärkte lediglich den Druck an der Wurzel und genoss die Macht, die er in diesen Augenblicken hatte. Das blieb so, bis Michael sich aufbäumte und Lukas beinahe neben das Bett katapultierte. Dann übernahm er die Führung, wobei er Lukas trotzdem die aktive Rolle überließ. Es dauerte genau sechs Minuten, ehe sie schwer atmend nebeneinander lagen, dem Gefühl nach waren sie jedoch mindestens drei Stunden zugange gewesen.

Das folgende Wochenende war für beide, als seien sie frisch verliebt. Sie gingen essen, besuchten Tanzbrunnen und Rheinpark und machten eine Dampferfahrt nebst Weinprobe. Für Michael war dabei nur wichtig, dass sie unter vielen Leuten trotzdem allein blieben und danach hatte er diese Aktivitäten ausgewählt. Ausnahmsweise spielte sogar das Wetter mit, so dass sie Sonntagabend das Gefühl hatten, ihnen sei ein kleiner Urlaub gelungen.

Zum Ausklang saßen sie gegen zwanzig Uhr noch im Garten und tranken ein Glas Rotwein. Ihr Blick ging über die wilde Wiese, den Naturteich bis zu den Bäumen am Waldrand, die sich direkt anschlossen. Wuchtig, wie eine natürliche Wand, streckten sie sich in den Himmel, wo die Sonne an diesem Abend die Gelegenheit hatte, unverhüllt rotgolden von der täglichen Bühne abzutreten. Die Luft war warm, es duftete nach Sommer und für beide schien es, als seien mit dem bisherigen kühlen Regenwetter auch die Missklänge verschwunden.

Ihr Haus lag etwas abseits der restlichen Waldrandsiedlung, man erreichte es über einen kurzen, unbefestigten Weg und jemand, der nichts davon wusste, hätte es hinter all dem Grün leicht übersehen können. Schon deswegen gab es weder Lärm noch ungebetene Besucher und sie konnten ihre Freizeit in der Natur ungestört genießen.

Michael lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bis es aussah, als würde er jeden Moment hinten überkippen. Er streckte seine langen, behaarten Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Das war ein schönes Wochenende, mir geht's so gut, mir scheint die Sonne aus dem Arsch!", sagte er in Brustton der Überzeugung.

„Ich kann sie auf deinem Stuhl leuchten sehen!"

„Deswegen trage ich ja die Shorts mit Lochmuster!"

„Das ist kein Lochmuster, das Ding ist verschlissen!"

„Pssst, nicht weitersagen!"

Sie prosteten sich zu, dann setzte sich Michael ziemlich plötzlich gerade hin, sein Blick fixierte Lukas.

„Wie wird das nächste Woche werden? Hältst du dein Versprechen und kommst pünktlich?"

„Ja, das werde ich. Wir müssen da nicht mehr drüber sprechen, die Sache ist gegessen!"

„Aber ..."

„Nichts aber ... versau uns das Wochenende jetzt nicht. Ich hab nämlich noch einiges mit dir vor."

Lukas stand auf, kam zu Michael und ging zwischen seinen Beinen auf die Knie. Sofort begann er an seinem Hosenbund zu rupfen und sein Freund ließ sich nicht lange bitten. Im Vertrauen auf die Undurchdringlichkeit der grünen Umgrenzung fand die erste Runde gleich im Garten statt, für alles Weitere gingen sie ins Haus. Bis weit nach Mitternacht waren sie miteinander beschäftigt, powerten sich aus, als gäbe es kein Morgen. Nach einer letzten Dusche schliefen sie eng beieinander ein, ohne noch Lust zu verspüren, auch nur noch die Wetteraussichten miteinander zu besprechen.

Kapitel 4

Lukas hielt Wort. Nach dem Wochenende, welches ihm den letzten Zweifel genommen hatte, dass er das Richtige tat, beschloss er noch einmal ganz für sich, seine ersten Schritte in eine geringfügige Selbstbestimmung vorerst gänzlich einzustellen. Sein größtes Problem dabei war nun ausgerechnet Billy, er konnte sich lebhaft vorstellen, welche Diskussion es geben würde, wenn er diesem von seinem vorläufigen Entschluss erzählte. So verschob er ein Telefonat immer auf den nächsten Tag, unfair die Tatsache ausnutzend, dass Billy ihn seinerseits nicht anrufen konnte, weil er kein Handy mehr hatte.

So verging die Woche, ohne dass jemand die Chance bekam, neue Zweifel an Lukas' Einlenken in ihm zu wecken. Er schaffte es, sein schlechtes Gewissen wegen Billy beiseite zu schieben, was Michael ihm leicht machte, denn er umsorgte ihn wie einen VIP-Gast, wenn er abends nach Hause kam. Ihre Probleme lagen auf Eis und beide dachten nicht darüber nach, dass Eis die Eigenschaft hatte, zu schmelzen. Das war um so vieles bequemer als Schlussfolgerungen zu ziehen, die ihr Leben durcheinander brachten.

Der Freitag kam, wie jeden Tag der letzten Woche fuhr Lukas nach der Arbeit sofort nach Rodenkirchen. Er freute sich auf Michael und ein harmonisches Wochenende. Er ließ seinen dunkelblauen Opel Astra an der Straße stehen, weil es sein konnte, dass sie am Abend ins Kino fuhren. In diesem Fall wollte er den Wagen nicht wieder aus der Garage rechts des unbefestigten Weges holen müssen. Wenn Michaels weißer Mondeo schon drin stand, war es Millimeterarbeit, den zweiten Wagen dort unterzubringen, was er sich gern ersparte. Beschwingt ging er das letzte Stück zur Haustür, schaute dabei auf die Uhr und nickte lächelnd. Zehn Minuten früher als sonst, es war schon fast rekordverdächtig, wie schnell er durch den Feierabendverkehr der Kölner Innenstadt gefunden hatte.

Vor sich hin pfeifend schloss er auf, warf Schlüssel und Tasche auf die Garderobenablage und rief:

„Ich bin da!"

Er schaute in die Küche, dann ins Esszimmer, wurde jedoch nicht fündig. Erst als er das Wohnzimmer durchquerte, sah er Michael, der mit dem Rücken zur großen Scheibe am Gartentisch saß. Er ging hinaus, beugte sich hinunter und umarmte seinen Freund.

„Hi!", sagte er und wartete, dass Michael den Kopf zum Begrüßungskuss drehte. Als er das nicht tat, küsste er ihn eher aus Verlegenheit auf die Wange. Dann fiel sein Blick auf ein Handy neben der halb geleerten Flasche Bier. Es war ihm unbekannt. Sofort stellten sich aufgrund von Michaels abweisenden Verhalten Beklemmungen ein, aber auch das fremde Telefon verunsicherte ihn, so wie ihn alles erstmal beunruhigte, was von der Routine abwich. Er setzte sich Michael gegenüber hin und erkannte in dessen Blick den altbekannten Ausdruck der mühsam unterdrückten Wut.

„Ist was passiert? Wessen Handy ist das?", fragte er nervös.

Michael starrte ihn schweigend an und Lukas wurde der Hals eng, er wagte kaum zu atmen.

„Was ist denn los?"

Sein Freund schob das Handy energisch über den Tisch.

„Ich hab dir heute ein neues Handy gekauft, schließlich war ich dir das schuldig. Als ich deine Simkarte einsetzte ... wer ist Billy?"

Lukas fuhr zusammen, obwohl es eigentlich keinen Grund für ein Schuldbewusstsein gab. Mit leicht zitternden Händen nahm er das Handy, schaute darauf, ohne es bewusst zu sehen. Verdammt, was wusste Michael? Nur ganz schwach war in ihm die Stimme, dass da nichts war, was er verheimlichen musste. Mit belegter Stimme antwortete er:

„Du kennst Billy doch aus unserer Anfangszeit. Das ist der kleine Blonde, wir waren Freunde seit dem Kindergarten und ich habe ihn zufällig wieder getroffen!"

Während er das sagte, begriff er mit Macht, dass Michael, der schließlich auch komplett ohne jeden Grund eifersüchtig sein konnte, das ganz sicher nicht beruhigen würde. Diesmal gab es da immerhin jemanden, den er konkret im Verdacht haben konnte.

„Ach? Zufall nennt man das also!" Michael hob die Stimme. „Das muss ja wie gerufen gekommen sein, endlich hattest du jemanden, bei dem du dich über mich so richtig auskotzen konntest!"

„Was? Nein, so war das nicht, ich ..."

Lukas ärgerte es maßlos, dass er aus der Verteidigungshaltung nicht raus kam. Er saß hier wie das personifizierte schlechte Gewissen, jedenfalls musste das für Michael so aussehen.

„Hör die Mailbox ab, dann weißt du, welche Lügen du dir gleich sparen kannst!"

Michael sprang auf und stieß dabei an den Tisch, die Bierflasche wackelte bedenklich. Es war unübersehbar, dass er innerlich kochte und normalerweise schon ausgeflippt wäre. Dass er um die Kontrolle seines Zorns kämpfte, zeigte Lukas, dass er an sich arbeitete, aber das machte die verfahrene Situation kein bisschen besser. Ohne ein weiteres Wort verschwand Michael im Haus und ließ seinen konsternierten Freund zurück, der sofort die Nummer der Mailbox wählte.

„Sie haben acht gespeicherte Nachrichten!", informierte ihn die körperlose Stimme und es war ihm durchaus klar, dass Michael bereits alles abgehört hatte. Das Eindringen in seine Privatsphäre war in diesem Moment jedoch zweitrangig, er kannte Billys loses Mundwerk, rechnete mit dem Schlimmsten und sollte recht behalten. Gleich in der ersten Aufzeichnung fragte Billy auf seine übliche, spöttische Weise, was denn los sei und ob Puh, der Bär, Mister Hysterisch oder Goliath Lukas vielleicht daran hindere, sich bei ihm zu melden. In diesem Ton ging es weiter, mal sarkastisch, mal eingeschnappt und als Tage vergangen waren, ohne dass Lukas zurückrief, zeigte sich Billy besorgt und formulierte das auch deutlich. Was ganz sicher aus den Anrufen hervorging, war, dass Lukas über Michael geredet und sich beschwert hatte.

„Na? Was hast du mir zu sagen?", polterte Michael. Er kam aus der Tür, als sei jemand hinter ihm her und blieb direkt neben Lukas stehen, der sich sitzend vor seinem Freund ziemlich klein vorkam. Von unten her schaute er ihm ins Gesicht.

„Ja und? Was ist nun?" fragte Michael noch einmal lautstark.

Lukas bebte innerlich, die dröhnende Stimme des Freundes hallte in seinem Magen wie in einem Dom wider. Er war selbst wütend, aber gleichzeitig wollte er nichts anderes, als Michael zu beruhigen. Es war eine eigenartige Mischung aus Anspannung, Verärgerung und dem dringenden Wunsch, die Situation möge sich in Wohlgefallen auflösen, die ihn erst einmal stumm machte. Fieberhaft arbeitete sein Verstand daran, die richtigen Worte zu finden, aber richtig und falsch war in diesen Momenten mehr als relativ. Gab er alles zu, und eine andere Möglichkeit hatte er kaum, würde es zum Eklat kommen. Stritt er ab, was eigentlich bewiesen war und erfand eine wilde Geschichte, wie es zu Billys Anrufen und seinem Wissen über ihre Beziehung gekommen war, genauso. Eher automatisch wählte Lukas die dritte Möglichkeit - er schwieg auch weiterhin und vermied es dabei, einen Blickkontakt mit seinem Freund herzustellen. Es war schon erstaunlich, inwieweit unterbewusste Prozesse, wie man sie aus dem Tierreich kannte, auch noch beim Menschen wirkten. Michael entfernte sich, um sich gegenüber am Tisch wieder hinzusetzen. Sein Blick blieb dabei allerdings die ganze Zeit auf Lukas gerichtet.

„Red endlich!"

Kurz fühlte sich Lukas so in die Enge gedrängt, dass sein eigener Ärger die Oberhand gewann.

„Was willst du hören? Durch deine Schnüffelei in meinem Privatdingen weißt du doch schon alles!"

„Ach? Haben wir plötzlich doch Geheimnisse voreinander?"

„Haben wir nicht!"

„Und wieso beschwerst du dich dann? Du kannst meine Telefonate, Briefe, Mails und jeden anderen Mist gerne verfolgen, ich habe keinen Grund, da was für mich zu behalten!"

„Ich auch nicht! Bitte, Micha ... du steigerst dich da wieder in etwas hinein und wenn es so weitergeht, wirst du wieder die Kontrolle verlieren. Du musst versuchen, dagegen zu steuern, sonst tut es dir hinterher wieder leid. Du hast es versprochen ...!"

Lukas glaubte, damit einen vorläufigen Ausweg beziehungsweise eine Ablenkung gefunden zu haben, aber wie sich gleich darauf herausstellte, war es die ganz falsche Entscheidung, seinem Freund das Gefühl zu geben, er sei so etwas wie unzurechnungsfähig. Michael hieb mit der Faust auf den Tisch.

„Das wird ja immer besser! Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich? Du machst mich schlecht, gehst fremd und willst meine Reaktion lenken, indem du mich für bekloppt erklärst? So einfach ist das aber nicht!"