Ben - der Fremdenlegionär - Andy Claus - E-Book

Ben - der Fremdenlegionär E-Book

Andy Claus

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Beschreibung

Der Roman erzählt die Geschichte des Briten Ben Steel, der sich für ein Leben in der Französischen Fremdenlegion entschieden hat. Mit siebzehn verlässt er London und steckt seine ganze Kraft und Begeisterung zuerst in die harte Ausbildung und dann in Einsätze in aller Welt. Je länger dabei ist, desto stärker verkehren sich Enthusiasmus und Idealismus ins Gegenteil, er brennt aus. An diesem Punkt beginnt der Roman. Als Ben seine Kameraden im Kongolesischen Regenwald in einen Hinterhalt führt, stürzt ihn das in ein emotionales Dilemma, in dessen Folge er schließlich die Legion verlässt. Er steht vor dem Nichts, nur einen Antrieb gibt es für ihn. Es muss einen Sinn haben, dass er das Massaker im Regenwald als Einziger überlebt hat. Als Streetworker versucht er Jugendlichen zu helfen, lebt allein dafür und ansonsten isoliert. Dann lernt er Eric kennen (Eric - Aus dem Leben eines Miststücks, Himmelstürmer Verlag) Von Anfang an gestaltet sich ihre Beziehung schwierig, sie haben über ihre Liebe hinaus eine komplett gegensätzliche Weltanschauung. Ben mit den Erfahrungen von Leid und Elend und dem daraus resultierenden, starken Drang, anderen zu helfen, versucht Eric von seinen Werten zu überzeugen. Eric hingegen, der gerade eine tiefe, seelischen Krise und ständige Geldnot überwunden hat, möchte es sich gut gehen lassen. Immer wieder geraten sie in Streit, der schließlich eskaliert und Ben dazu bringt, alles hinzuwerfen. Er geht zurück zur Fremdenlegion. Ob ihre Liebe trotzdem noch eine Chance hat?

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Andy Claus

Ben - der Fremdenlegionär

 

 

Himmelstürmer Verlag

 

eBookMedia.biz

Copyright © Himmelstürmer Verlag

eBook ISBN:

978-3-940818-86-7 ePub

978-3-940818-87-4 PDF

978-3-940818-89-8 PRC

Hergestellt mit IGP:FLIP von Infogrid Pacific Pte. Ltd.

   

   

   

   

Gewidmet Uwe & David

   

   

Die Zeit verwandelt uns nicht, sie entfaltet nur unseren tatsächlichen Charakter

Max Frisch

Inhalt

Teil 11234567891011Teil 2123456789Teil 3123456789101112131415161718Teil 4123456789

Teil 1

1

Kongo 2003

Die Nacht war undurchdringlich, jetzt, kurz vor Sonnenaufgang, schien es am dunkelsten zu sein. Der Wald lauerte wie ein großes, lebendiges Tier auf Ben, beobachtete ihn aus tausend Augen, während er seinerseits ebenfalls auf Wache stand. Gedämpfte Geräusche erreichten sein Ohr, sie vermittelten ihm so etwas wie Normalität. Das Glucksen des Mangrovensumpfes unter ihm, zurückhaltende Vogelstimmen, das nervige Sirren der ewig hungrigen Moskitos und dieser unterschwellig vibrierende Klang des Regenwaldes, an den sich das Ohr schnell gewöhnte. Die Tiere waren eine natürliche Alarmanlage, sobald sich etwas oder jemand näherte, würde er es durch sie erfahren. Trotzdem verließ er sich nicht darauf, sondern blieb wachsam, die Ohren ersetzten dabei sein durch die tropische Nacht außer Kraft gesetztes Sichtfeld.

Ben spürte die Feuchtigkeit des Mangrovensumpfes, den Schlamm, der sich an ihm festsaugte, sobald er seinen Standort wechseln wollte und so saß er, das Famas Sturmgewehr auf den Knien festhaltend, meist auf einer Mangrovenwurzel und bewachte den Schlaf seiner zehn Kameraden, die fest eingeschnürt in ihre Schlafsäcke und mit Moskitoschutz vor dem Gesicht unweit von ihm lagen. Sie mussten die beiden Boote weiter unten zurücklassen, die Motoren hätten sie verraten und selbst, wenn sie die Paddel benutzten, auf dem Fluss wären sie ein zu leichtes Ziel gewesen. An Bord der gut getarnten Pirogen befand sich alles, was sie entbehren konnten, weil es sie nur aufgehalten hätte, so zum Beispiel die Zelte und der größte Teil des Kochgeschirrs. Inzwischen waren sie bereits einen halben Tag lang zu Fuß unterwegs gewesen und gestern Abend auf das Rebellenlager gestoßen, das tief im Regenwald der kongolesischen Tiefebene versteckt lag.

Langsam wich die Nacht dem Morgengrauen, hier im Kongobecken schickte die Sonne einen eng begrenzten, orangefarbenen Nebel voraus, so dass es aussah, als brenne der Planet auf ansonsten gleichmäßig topasblauem Himmel. Vielleicht würde es ja ausnahmsweise mal nicht regnen. Ben wusste jedoch, das konnte sich jetzt in der Regenzeit von einer Minute auf die andere ändern, aber das war nicht weiter schlimm, denn an Nässe waren sie gewöhnt, sie drang bei solchen Einsätzen von überall auf sie ein. Warme Feuchtigkeit, die sie einatmeten, die sich auf ihrer Haut mit dem Schweiß paarte, das brackige Wasser, das durch ihre Kleidung drängte, Schlamm, der seit Tagen ihre Körper unter der Uniform überzog, in sämtliche Körperöffnungen und jede Pore drang, ohne die Möglichkeit, sich reinigen zu können.

Heute würden sie das Lager der Rebellen auskundschaften, sie hatten sich nach der Entdeckung am Vorabend für die Nacht hierher zurückgezogen. Das Unternehmen sah aus wie viele der vergangenen Operationen, es schien nichts Besonderes daran zu sein, aber Ben machte sich Sorgen. Er als Unteroffizier führte die Gruppe auf dieser Mission an und anders als bei früheren Einsätzen zweifelte er im Augenblick daran, dass sie es schaffen konnten, die vier französischen Botschaftsangehörigen, welche vor fast zwei Monaten von aufständischen Milizen aus Kinshasa entführt wurden, allein zu befreien. Er wusste, schon diese Zweifel durfte es gar nicht geben, in der Legion dachte man niemals an ein eventuelles Versagen. Es kam nur auf eine gute Planung und die fehlerlose Durchführung an, bereits vage Bedenken konnten den Ablauf empfindlich stören. Diesmal jedoch gab es seiner Meinung nach zu viele Faktoren, von denen sie nichts wussten. So zum Beispiel, um wen genau es sich handelte, der Bürgerkrieg gebar Krieger wie Kaninchen ihre Jungen. Sie hatten keine Ahnung davon, wie groß das Milizennest da vorne war, welche Bewaffnung die Aufständischen hatten und das Wichtigste - ob die Entführten tatsächlich in diesem Lager festgehalten wurden. Verhandlungen über ein Freikaufen kamen dieses Mal nicht in Frage, es war eine überstürzte, politische Entscheidung gewesen, die Botschaftsangehörigen zu befreien, und sie war zu plötzlich gekommen, um sich akzeptabel vorzubereiten. Aber das war nicht das erste Mal, er würde den Mangel an Informationen vor dem Angriff so gut wie möglich eingrenzen.

Ebenfalls nicht zum ersten Mal dachte Ben darüber nach, wie lange er das noch machen wollte. Er war mit 21 Jahren aus Islington, einem Stadtbezirk im Norden von London, weggegangen und sein Weg führte ihn gleich danach ins südfranzösische Aubagne, einem Vorort von Marseille, wo er sich bei der Légion Étrangère, der Fremdenlegion, bewarb und die Prüfungen bestand. Das war 1994 gewesen, seither hat er den Grunddienst von fünf Jahren absolviert und zweimal um zwei Jahre verlängert. Die Einzelkämpfer-Ausbildung in Régina, dem Trainingscamp der Fremdenlegion im Dschungel von Französisch- Guyana, der ehemaligen, französischen Strafkolonie, war härter als jede seiner abenteuerlichsten Vorstellungen davon, aber er ging auch durch diese grüne Hölle an der Grenze zu Brasilien und sie veränderte nachhaltig seine Sicht der Dinge. Er schaffte es relativ bald, zur Elite zu gehören, wurde Teil des Fallschirmjäger-Regiments und war in Calvi auf der französischen Mittelmeerinsel Korsika stationiert. Von dort aus lebte er sein Leben als Angreifer oder Befreier und lernte viele Teile der Welt kennen. Allerdings blieb das Blut immer rot und der Dreck schmeckte überall gleich bitter, so unterschieden sich die Schauplätze irgendwann kaum noch voneinander.

Nach sieben Jahren wurde er Carporal und hatte als einer der wenigen Ausländer Aussicht auf eine Offizierslaufbahn. Seither leitete er Spezialeinsätze innerhalb der Friedensmissionen in Bosnien, dem Kosovo und Afghanistan und hatte einiges gesehen und erlebt, das inzwischen seinen Kampfgeist torpedierte. Immer mehr verlor er über zerfetzten Körpern, Unrecht und Willkür den Glauben daran, helfend eingreifen zu können. Jeder Einsatz blieb ein Tropfen auf einen heißen Stein und es würde immer so weitergehen.

Er war erst neunundzwanzig, galt jedoch als sehr umsichtig und erfahren, seine Kameraden fürchteten und achteten ihn und jeder von ihnen vertraute ihm blind. Ben hatte bisher noch keinen einzigen Mann verloren, aber auch wenn jemand seiner Gruppe verletzt wurde, kreidete er sich das an, auch deswegen hatte sich in letzter Zeit eine Wandlung in ihm vollzogen. Oft zweifelte er den Sinn befohlener Aktionen an, während er früher nicht darüber nachdachte, sondern einfach nur funktionierte. Er war kritischer geworden und das machte ihm Sorgen. Wann würde die nötige Vorsicht einer riskanten Angst weichen? Wann würde er Feinde sehen, die nicht da waren und überreagieren oder Gefahren umgehen wollen? Die Legionärsparanoia war nichts Ungewöhnliches nach so vielen Jahren, aber sie hatte immer falsche Entscheidungen im Schlepptau und die forderten Opfer. Er hatte sich vorgenommen, beim kleinsten Anzeichen auszusteigen, noch ehe er jemanden in Gefahr bringen konnte. Manchmal jedoch zweifelte er daran, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, denn inzwischen war die Legion seine Heimat und er konnte sich ein Leben außerhalb kaum vorstellen. Er fing damals wie alle mit dem Erlernen von fünfhundert französischen Vokabeln an, um eine Grundverständigung zu sichern. Inzwischen sprach er die Sprache perfekt, hatte seinen französischen Pass, einen neuen Namen und je nachdem, wie die Sache ausging, Anspruch auf einen Platz im Altersheim oder dem Ehrenfriedhof der Legion, etwas anderes war nie geplant. Trotzdem hatten sich in den letzten Jahren Zweifel eingeschlichen, er fühlte sich oft ausgebrannt. Bald stand wieder die Entscheidung über Verlängerung oder Austritt an und er war sich zum ersten Mal nicht sicher, was er tun würde.

Jetzt veranlasste ihn der Grund, warum er ursprünglich zur Legion gegangen war, nur noch zu einem ironischen Grinsen. Als er siebzehn war, hatte ein ganz eigener, besonderer Kampf begonnen, gleich nachdem er sicher war, schwul zu sein. Das war nichts, was er akzeptieren konnte und so entwickelte sich in den vier Jahren, bis er 21 wurde, der hoffnungsvolle Trugschluss, bei der Fremdenlegion würde der Drill ihn zu einem perfekten Mann machen, was immer er sich darunter auch vorstellte. Er glaubte tatsächlich, die harte Schule, durch die er gehen musste, konnte ihn auch sexuell auf den für ihn richtigen Weg bringen. Mittlerweile wusste er, dass dem nicht so war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Anderssein zu akzeptieren und er tat das, indem er seiner Sexualität den kleinstmöglichen Raum einräumte. Niemand der Kameraden wäre auch nur entfernt auf die Idee gekommen, dass er schwul war. Bis auf käufliche, im Geheimen stattfindende Kontakte außerhalb der Legion, wo in heruntergekommenen Kneipen der Pastis 2 Euro und ein wenig Entspannung und Erleichterung 30 Euro die Stunde kosteten, schob er sein Schwulsein zur Seite. Dies allerdings konnte auch nicht verhindern, dass Kameraden zu Freunden wurden und er sich bereits zweimal wirklich verliebt hatte. Das zu unterdrücken fiel ihm weitaus schwerer, aber er schaffte es, indem er sich auf seine Aufgaben konzentrierte.

Unterdessen fanden die ersten, warmen Sonnenstrahlen ihren Weg durch das dichte Dach der Mangrovenbäume, die Luft begann schon wieder, sich aufzuheizen, bald würde das Atmen schwerfallen. Der Regenwald erwachte, die Vogelstimmen wurden lauter, er hörte die ersten Rufe der Bonobo-Affen. Er konnte seine in ihren grünen Kokon verpackten Kameraden endlich wieder sehen, dicht beieinander schliefen sie noch. Ihre Köpfe ruhten auf den Rucksäcken, die alles enthielten, was sie zum Überleben brauchten. Sie verließen sich auf ihn und das konnten sie blind.

Ben rutschte von der Wurzel hinein in das knietiefe, schmutzige Wasser voller Leben, streckte seine klammen Glieder und machte ein paar Bewegungen, um auf Betriebstemperatur zu kommen. Ein leises Plätschern begleitete ihn, während er einige Schritte ging. Aus der Richtung, in welcher das Lager lag, waren Schüsse zu hören - auch die Rebellen begannen einen neuen Tag. Sie schienen sich sicher zu fühlen.

Er stapfte an die Stelle, wo sein Rucksack lag und zog seine Wasserflasche heraus. Er trank und warf sich etwas von dem kostbaren, sauberen Nass ins Gesicht, benetzte seinen Nacken und die höchstens fünf Millimeter langen, dunklen Haare. Sein scharfer Gesichtsschnitt mit der Adlernase und dem vorspringenden Kinn sprach von einer Unnachgiebigkeit, die alle für sein Naturell hielten. Aknenarben in der Haut verstärkten den Eindruck des Haudegens, er ließ sie von einem Dreitagebart überwuchern, so dass es nicht weiter schwierig war, auch stärkere, menschliche Gefühle tief in seinem Inneren zu verstecken. Der Blick in seine eisgrauen, immer ein wenig verkniffen wirkenden Augen, ließ niemanden auf die Idee kommen, in Ben nach etwas anderem zu suchen als nach dem Legionär, für den nur der Kampf und seine Kameraden wichtig waren. Jemand hatte einmal gesagt, er sei das lebende Vorbild für die Superhelden amerikanischer Comics und Ben fand, manchmal war es von Vorteil, sich das menschliche Schubladendenken inklusive aller Klischees zu Nutze zu machen.

„Kurwa ...“, er hörte die ersten Worte an diesem Tag und grinste. Es gab keinen Anschiss oder Fluch in der Legion, der nicht mit dieser Bezeichnung begann, die im Polnischen Nutte bedeutete. Zwei seiner Kameraden waren gleichzeitig erwacht und gerade dabei, sich aus der Umklammerung der Schlafsäcke zu befreien.

„Was Neues?“

Die ersten Informationen wurden ausgetauscht und ziemlich schnell waren alle wach. Brummig, aber in Windeseile wurde Ordnung gemacht, dann kochten sie Wasser und gossen es auf das Kaffeepulver, tranken und aßen Brot aus eingeschweißten Verpackungen und wussten aus Erfahrung, das war einer der besseren Tage einer Mission, fast schon luxuriös. Oft genug mussten sie sich ihr Essen selbst fangen, auf den Einsätzen fern ab jeglicher Zivilisation konnte es auch schon mal aus Schlangen, Spinnen und allem, was das Wasser zu bieten hatte, bestehen. Es war nicht leicht, Fische mit der Machete zu jagen, aber immerhin machbar und manchmal, je nachdem wie hold ihnen das Glück war, erlegten sie auch ein Wildschwein.

Ben hatte im zweiten Teil der Nacht, als er Wache schob, genug Muße gehabt, das weitere Vorgehen zu planen. Er hatte freie Hand, was nichts weiter hieß, als dass die Auftraggeber selbst nicht die geringste Ahnung hatten, was zu tun war und er die volle Verantwortung trug. Aber das war nicht wirklich etwas Neues.

In Zweiergruppen würden sie das Rebellencamp von allen Seiten auskundschaften, Ben selbst hatte Raúl, einen feingliedrig wirkenden, aber unglaublich zähen und flinken Burschen an seiner Seite. Es war der sechste Einsatz, den sie zusammen durchzogen, sie waren inzwischen ein perfekt eingespieltes Team und Freunde. Julien, mit 22 das jüngste Mitglied der Gruppe, musste bei der Ausrüstung zurückbleiben und über Tag Reusen aus Schilfrohr flechten, die er dann am Flachufer der Mangroven auslegen sollte, um das Abendessen zu fangen. Das passte ihm gar nicht, was jedoch nichts an der Entscheidung änderte. Elf war nun einmal nicht durch zwei teilbar, Ben konnte niemanden allein losschicken und drei Legionäre in einem Spähtrupp wurden zu leicht entdeckt. Am späten Nachmittag wollten sie sich wieder hier treffen, damit aus den Einzelbeobachtungen ein Bild werden konnte und vielleicht schafften sie es, die Geiseln bereits am nächsten Morgen dort herauszuholen.

Noch einmal wies Ben darauf hin, wie wichtig es war, unentdeckt zu bleiben und jeder Konfrontation auszuweichen, denn flog ein Team auf, waren auch die anderen in Gefahr und die Milizen würden nicht lange fackeln. Natürlich war ihm klar, dass die Männer das selbst wussten, aber er hielt es für besser, es abschließend erneut zu bekräftigen. Sie trennten sich noch am Platz, Ben und Raúl hielten sich direkt am Wasser und marschierten los. Der seichte See nicht versickertes Regenwasser, der sich weiter unten mit dem Kongofluss vereinigte, war warm und beige vom Schlamm, Schlingpflanzen und Wurzeln waren natürliche Fallen, die ein schnelles Voranschreiten verhinderten, aber zumindest hielt kein Gebüsch sie auf. Ihre ständigen Begleiter, die Moskitos, hielten reiches Mal, aber die Männer verließen sich auf ihre Malariatabletten, eine andere Wahl hatten sie nicht.

Nach einer Stunde sagten ihnen Kompass und Karte, dass sie die Richtung ändern mussten, um seitlich an das Camp heranzukommen, der Weg war nun abhängig vom Zuschlagen mit der Machete, um überhaupt weiterzukommen. Manchmal mussten sie durch Wassergräben kriechen, das Sturmgewehr mühsam aus dem Wasser haltend, robbten sie Meter für Meter unermüdlich weiter. Ihre mit Tarnfarbe und Dreck beschmierten Gesichter unter den Helmen lebten nur durch die Augen, die eigentümlich klar und sauber glänzten.

Ben hörte das verhaltene Keuchen seines Kameraden hinter sich. Jeder Atemzug fiel in dieser feuchten Schwüle schwer, erst recht, weil sie sich mit der Ausrüstung so leise wie möglich fortbewegen mussten. Trotzdem konnten sie die Warnschreie der unsichtbaren Tiere, das Zirpen, Kreischen und Rufen nicht verhindern, die Wächter des Waldes hatten keine Ahnung von guten oder schlechten Absichten, sie reagierten auf jeden Eindringling.

Nach zwei Stunden hatten sie das Rebellenlager direkt vor sich, jedenfalls zeichneten sie das unter Zuhilfenahme des Kompasses am Vorabend so in die Karte ein und der unterschwellige Lärm zeugte von der Richtigkeit. Sie hörten Dieselmotoren, Stimmen und sogar Fetzen von zeternder Musik. Der Boden wurde trockener, das Areal vor ihnen lag etwas erhöht und schließlich kamen sie direkt an eine von Menschenhand in die Vegetation gerodete Lichtung. Etwa zehn Meter vor ihnen ragte ein Palisadenzaun auf, der etwa mannshoch in die Höhe wuchs. Die dazu verwendeten Baumstämme waren knotig und schief, ihr oberes Ende angespitzt, das Holz kaum verwittert. Lange konnte es dieses Lager demnach noch nicht geben. Von ihrer Deckung aus konnten die beiden Männer zwei Wachtürme sehen, jedenfalls war das der Sinn der Gestelle, die aussahen wie zweimeterfünfzig hohe Barhocker, zu deren Sitzfläche eine krumme Leiter aus armdicken Ästen hinaufführte. Die Türme waren besetzt, auf jedem saß ein bis an die Zähne bewaffneter, dunkelhäutiger Mann im Kampfanzug. Einer der beiden hatte den Ursprung der scheppernden Musik bei sich, ein altes, verbeultes Radio stand neben ihm auf der Plattform und er beschäftigte sich ständig mit der verbogenen Antenne.

Ben und Raul zogen sich wieder in den Wald zurück und schlugen sich parallel zum Zaun weiter durch das Dickicht, wobei lärmende Motoren von innerhalb des Camps ihre Geräusche überdeckten. Die meisten Tiere hatten sich von diesem durch Menschen besetzten Ort zurückgezogen, zurzeit bestand also kaum die Gefahr einer Entdeckung durch sie.

Sie fanden heraus, dass der Palisadenzaun nicht das ganze Camp umschloss, sondern nur einseitig in einer Länge von ungefähr zwanzig Metern. Wahrscheinlich waren die Rebellen mit dem Bau noch nicht fertig, denn es lagen noch unverarbeitete Holzstöße herum. Sie sahen drei Palmhütten und einen Unterstand, in dessen Schutz zwei rostige Dieselgeneratoren vor sich hin lärmten. Schwarze, fingerdicke Leitungen durchzogen das Lager von den Generatoren aus, provisorisch hingen sie an den Hütten oder lagen auf dem Boden herum bis hin zu den vier starken, recht neu aussehenden Scheinwerfern, die an den vier Ecken des Lagers an Pflöcken aufgestellt wurden. Mitten auf dem Platz zwischen den Hütten befand sich ein etwa 3 x 2 Meter großer Bambuskäfig, der allerdings leer war, die Tür stand offen. Das war ein Fingerzeig, bewies jedoch nicht, dass sich die französischen Geiseln hier irgendwo befinden mussten, die Männer konnten auch Wilderer sein. Dagegen sprach allerdings am massivsten, dass es insgesamt drei Wachtürme gab und die Posten darauf mitgerechnet, zählte Ben 16 Männer mit Handfeuerwaffen und Handgranatenbeuteln am Gürtel, Patronengurten über der Schulter und einige Schnellfeuergewehre lehnten griffbereit an der Wand der rechten Hütte. Es sah nicht so aus, als rechneten die Rebellen derart vorbereitet nur mit dem Angriff einer Horde Bonobos.

Stunden waren über die Auskundschaftung vergangen, irgendwann wurde es Zeit, zurückzugehen. Ben und Raúl waren das vorletzte Team, das ankam, allein Anatolij und Jewhen, zwei Ukrainer aus dem gleichen, kleinen Dorf irgendwo am Schwarzen Meer, alte Hasen, die Wert auf ihre eigenen Namen und die russische Staatsbürgerschaft legten, waren noch nicht wieder eingetroffen.

Mit den Informationen der anderen und der genauen Lageschreibung vervollständigte Ben die Skizze des Rebellencamps. Es gab insgesamt fünf Palmhütten, eine Art Vorratslager für Dosen und Flaschen, eine Munitionsbaracke und westlich des Lagers einen kleinen Hubschrauberlandeplatz. Eine der Hütten wurde von zwei Männern ständig bewacht, es waren also mindestens 18, Ben rechnete jedoch vorsichtshalber mit mehr. Die bewachte Hütte wies außerdem deutlich auf Gefangene hin.

Sie aßen die gefangenen Fische und Flusskrebse, und endlich trafen auch Anatolij und Jewhen ein. Sie hatten keine neuen Informationen zum Camp, wären jedoch beinahe entdeckt worden und mussten deshalb abwarten, bis wieder Ruhe einkehrte, bevor sie sich auf den Rückweg machen konnten.

Sie besprachen, dass sie im Morgengrauen des nächsten Tages angreifen würden, sie mussten so viele Männer wie möglich einzeln und still ausschalten. Das hieß, sie würden sich schon gegen 4 Uhr auf den Weg machen müssen. Doch es kam anders.

Lautes Rufen riss die Legionäre gegen zwei Uhr in der Nacht aus dem Schlaf. Als Ben die Augen öffnete, wurde er genau wie die anderen von mehreren, starken Stablampen geblendet. Die Lichter hüpften auf und ab, begleitet von Gebrüll, das nur den Grund hatte, sie einzuschüchtern. Die dunkelhäutigen Männer im Hintergrund trugen Kampfanzüge und Ben kombinierte sofort, was geschehen war. Anatolij und Jewhen waren nicht beinahe entdeckt worden, sie wurden entdeckt. Man hatte sie abziehen lassen, war ihnen jedoch gefolgt. Die Erkenntnis dessen nützte ihm jetzt jedoch gar nichts.

Wo war Raúl? Er hatte die erste Wache in dieser Nacht übernommen. Bens Gedanken waren glasklar, die Routine gab ihm die Möglichkeit, ihre Chancen auszuwerten und etwas sagte ihm, dass Letztere gleich Null waren. Er versuchte, zu erkennen, wie viele Männer da hinter dem Vorhang aus Licht standen und gleichzeitig, sich aus dem Schlafsack zu befreien, als auch schon die ersten Schüsse fielen. Einer der Rebellen war vorgetreten und schoss auf die wehrlos in den Schlafsäcken liegenden Legionäre, bewegte das Schnellfeuergewehr dabei in einer Linie weiter, durchschoss so Körper, Köpfe und andere Körperteile. Das Ergebnis der vielen Kugeln blieb neun Mal gleich, die Männer im Schlafsack wurden kurz durchgeschüttelt und fielen dann zurück auf den Boden, wo sie regungslos liegen blieben. Auch Ben spürte die Einschüsse als harte Schläge, wenn auch keinen direkten Schmerz, erbrach Blut und verlor gleich anschließend das Bewusstsein.

2

Düsseldorf 2006

Schweißgebadet und mit einem Aufschrei fuhr Ben aus dem Traum hoch, der ihn, wie die anderen seiner Art, das Grauen und die Hilflosigkeit immer wieder durchleben ließ. Er brauchte einen Moment, um sich orientieren zu können und langsam runterzukommen, sein Adrenalinspiegel war hoch und alle seine Sinne reagierten überempfindlich. Im ersten Moment war er nicht einmal in der Lage, den Schalter der Nachttischlampe zu bedienen, in der Dunkelheit blieb die Bedrohung des Traums jedoch real. Irgendwann schaffte er es, nach der Lampe zu greifen, es wurde hell und sein nächster Griff ging zu den Zigaretten. Seine Hände zitterten, als er sich ein Stäbchen anzündete. Er verließ das Bett, nahm Orangensaft aus dem Kühlschrank, führte die Flasche noch immer bebend zum Mund und leerte sie beinahe bis zur Hälfte in einem Zug. Noch vor gar nicht langer Zeit war es Whisky gewesen, den er kippte, um vergessen zu können, aber zwischenzeitlich war er zumindest davon weg.

Die Stille seines Apartments ging ihm gewaltig auf die Nerven, deswegen schaltete er nur für eine Klangkulisse den Fernseher an und ging zum Fenster, öffnete es und genoss den kühlen Nachtwind, der seinen Schweiß trocknete und ihn abkühlte.

Immer wieder, meist dann, wenn er glaubte, jetzt hätte er endlich seinen neuen Weg gefunden, überfielen ihn diese Träume und es war, als sei die Katastrophe gerade erst geschehen. Die Bilder standen glasklar vor seinem geistigen Auge, der Schmerz und die Schuldgefühle waren echt und überlagerten alles, was er inzwischen an seinem Leben geändert hatte. Auch jetzt hatte er das Gefühl, raus zu müssen, einfach laufen und die Erinnerung abflauen lassen, die Gegenwart an die Oberfläche holen. Er schloss das Fenster und zog sich an, machte sich dann auf den Weg in die nächtliche Stadt, wo er ohne Rast und Ruhe ziellos herumlief. Er sah nichts und niemanden, interessierte sich weder für die Straßennamen, noch wich er anderen Passanten aus. Stur wie ein Roboter lief er weiter und hing nur seinen Gedanken nach.

   

Nach den Schüssen hatten die Rebellen ihre Opfer einfach liegen lassen. Der Sumpf und die Tiere würden die Spuren ihrer Bluttat mit der Zeit ausradieren. Und sollten die Toten doch vorher gefunden werden, dann würden die Mörder nicht mehr da sein, sondern ihr Lager inklusive der Geiseln woanders hin verlegt haben.

Ben erwachte neben den Leichen seiner neun Kameraden. Es war heller Tag und er hörte die Fliegen bereits, bevor er den Kopf drehte und in das zerstörte Gesicht von Julien schaute. Auch über ihn selbst machten sie sich her. Sein Körper brannte und schmerzte, nacheinander versuchte er, Finger und Zehen zu bewegen, was nur teilweise gelang. Trotzdem begann er sofort mit den Versuchen, den Schlafsack zu öffnen, seine Arme waren jedoch lahm und die Finger kalt und taub, so dass es eine Weile dauerte, bis er sich befreien konnte. Als er es endlich geschafft hatte, erkannte er die Einschüsse an seinem Körper, die er vorher nur fühlte und auch die Menge Blut, die er verlor und das den Schlafsack durchweicht hatte. Sein rechter Unterarm war einmal durchschossen, vier Kugeln steckten von der Hüfte aufwärts bis hin zum Rippenbogen in seinem Bauch. Es dauerte für ihn fast unendlich lang, bis er es geschafft hatte aufzustehen, weil seine Beine aufgrund des Blutverlustes ständig nachgaben und er nur den linken Arm benutzen konnte, von den Schmerzen ganz zu schweigen. Durst – er hatte höllischen Durst und schaute nach seiner Wasserflasche. Als er sie fand, war sie von Kugeln durchsiebt und leer, es blieb ihm nichts anderes übrig, als bei seinen toten Kameraden zu suchen. Schließlich konnte er trinken und spürte gleich anschließend einen grauenhaften Schmerz in seinen Eingeweiden. Er brüllte auf, ohne darüber nachdenken zu können, dass die Rebellen vielleicht noch in der Nähe waren, knickte ein und ging wieder zu Boden. Kurz glaubte er, wieder ohnmächtig zu werden, aber er blieb bei Bewusstsein und wartete hechelnd darauf, dass der Schmerz auf das vorherige, schon kaum erträgliche Maß nachließ. Wieder dauerte es lange, bis er erneut senkrecht stand. Mit zitternden Beinen schleppte er sich noch einmal durch die Reihe seiner Kameraden, niemand lebte mehr und die Feststellung dessen war jedes Mal wieder hart. Noch immer war ihm nicht klar, wo Raúl abgeblieben war, er beschloss, so schwer es ihm auch fiel, die Umgebung zu untersuchen. Aber er musste nur ein paar Schritte Richtung Wasser machen, als er seinen Freund auch schon sah. Raúl war zwischen die Mangrovenwurzeln gerutscht. Ben stolperte näher, dann erkannte er an seinem Hals, beinahe von einem Ohr zum anderen, eine klaffende Wunde, die Rebellen hatten also den Wächter in Einzelkämpfermanier ausgeschaltet. Nur am Rande fragte sich Ben, wie sie sich dem erfahrenen Raúl unbemerkt so weit nähern konnten, erst recht bei Nacht, wo die Tiere ein natürlicher Schutz gegen Schleichangriffe waren, aber dann schweiften seine Gedanken ab, wurden beziehungslos und wirr. Er konnte niemandem mehr helfen, eigentlich war es sinnlos und er hätte sich gerne einfach hingelegt, aber da war der Gedanke daran, dass er die Toten nicht einfach aufgeben durfte, er hatte eine Pflicht zu erfüllen. Diese trieb ihn an, Schritt für Schritt schleppte er sich durchs Wasser Richtung der Boote. Er machte sich keine Gedanken darum, dass sie einen normalen Halbtagesmarsch entfernt lagen und dass die Aussichten, es zu schaffen, minimal bis utopisch waren. Egal, wie oft er zusammenbrach, egal, wie oft ihn seine Sinne verließen, sobald es möglich war, kämpfte er sich weiter. Es war, als habe sich ein Teil seines Gehirnes abgespalten und dieser Teil ließ ihn nicht ruhen, trieb ihn voran, bis er Rettung fand oder tot liegen blieb. Selbsterhaltungstrieb und Pflichtgefühl hatten die Kontrolle übernommen.

Dass er den Ort, wo sie die Boote zurückließen, erkannte, lag nur daran, dass er genau dort zusammenbrach, halb im Wasser liegend sah er schräg über sich das Holz einer der Pirogen, als sein Blick sich klärte. Er machte sich über diesen mehr als glücklichen Umstand keine Gedanken, sondern setzte seine allerletzten Reserven dazu ein, eins der Boote ins Wasser zu ziehen und sich dann mit letzter Kraft über den Rand zu rollen. Es war dieser Augenblick, als der Schmerz in seinem Leib aufs Neue explodierte und ihn das Bewusstsein verließ, diesmal kam er lange nicht wieder zu sich. Die Piroge trieb führungslos über den Fluss und wurde irgendwann von regierungstreuen Milizen entdeckt, die sich ebenfalls auf der Suche nach den französischen Geiseln befanden, sich dabei jedoch auf das gegenüberliegende Ufer konzentrierten. Sie brachten ihn in ihr Lager, wo man ihn notversorgte, dann wurde er mit einem Helikopter nach Kinshasa geflogen.

Wie durch ein Wunder verletzten drei der Kugeln kein lebenswichtiges Organ, die vierte jedoch steckte im Magen. Durch das Wasser und den Schlamm war es außerdem zu Infektionen gekommen, der Arm war am schlimmsten betroffen und beinahe hätte er seine rechte Hand verloren. Die kongolesischen Ärzte hatten ihr Bestes gegeben, das Körperteil und letztendlich ihn zu retten. Mehrere Operationen ließen das schließlich gelingen.

Von alldem hatte Ben nichts mitbekommen, sein Leben hing an einem seidenen Faden. Die ersten Wochen lag er im Koma und als er aufwachte, waren seine Schmerzen so stark, dass sich ein künstliches Koma anschloss. Nach weiteren Wochen holte die Legion ihn nach Frankreich, wo eine bessere, medizinische Versorgung gewährleistet war. In der Marseiller Klinik ließ man ihn dann auch erwachen.

Zuerst konnte er sich an nichts erinnern, seine Fragen wurden nicht beantwortet. Aber der Schutz des Vergessens blieb nicht, bruchstückhaft fielen ihm immer mehr Einzelheiten wieder ein und schließlich war die Erinnerung komplett und mit ihr sein Schuldbewusstsein. Er erfuhr, dass er, als sie ihn im Boot fanden, im Fieber geredet hatte. In erster Linie ging es ihm dabei um die Bergung seiner toten Kameraden. Immer wieder hatte er versucht, aufzustehen, um sie dort hinzuführen. Aber er sprach auch von der zurückgelassenen Ausrüstung und dem Camp, betete immer wieder die genauen Koordinaten herunter. Aus seinen unzusammenhängenden Sätzen konnte die regierungstreue Miliz die Information sieben, wo das Lager der Rebellen lag und was geschehen war. Deshalb wurde es möglich, zeitnah dort aufzutauchen, noch ehe man das Camp auflösen konnte. Die französischen Geiseln wurden unverletzt befreit, die meisten der Rebellen starben im Kugelhagel ihrer eigenen Landsleute.

Trotzdem konnte es Ben nicht beruhigen, dass er zur Rettung der Geiseln beigetragen hatte. Er fühlte sich verantwortlich, das wurde ihm mit jedem Tag klarer - er hätte die Gefahr erkennen müssen! In der ersten Zeit haderte er deswegen mit seinem Schicksal, welches ihn als Einzigen überleben ließ und dass er bei dem Angriff nicht gestorben war, sah er als Strafe an. Das ging so weit, dass er mit niemandem mehr sprach und nur noch auf eine Gelegenheit wartete, wie er sein verhasstes Dasein selbst beenden konnte.

Die Möglichkeit dazu bekam er an einem Samstagmorgen. Unbemerkt gelangte er auf das Dach der Klinik. Es war ein Flachdach und er konnte ungehindert bis zum Rand gehen. Er schaute hinunter, die neun Stockwerke würden ausreichen, um sein Dasein zu beenden. Mit einer Art Tunnelblick fixierte die Stelle auf dem Beton vor dem Eingang, wo er vermutlich aufschlagen würde. Ein Schritt nur und seine Qualen wären beendet. Der Entschluss stand fest, er hatte entschieden und begann, sich zu sammeln, um ihn umzusetzen. Dann sah er die Menschen, die dort unten unterwegs waren und plötzlich wurde er sich klar darüber, dass es möglich war, einen von ihnen zu töten, ihn mitzunehmen in sein Reich des Vergessens, obwohl er dort nicht hin wollte und auch nicht hingehörte. Er hatte jedoch schon genug Menschen auf dem Gewissen, das durfte nicht passieren. Er musste sich eine Stelle suchen, wo unten nicht die Gefahr bestand, einen der Passanten zu treffen und ging das Dach ab. Rings um das Gebäude waren Rasen und Blumenbeete angeordnet, er schätzte, dass die Höhe trotzdem ausreichte und hatte schnell eine andere Stelle gefunden. Nun jedoch hatte er seinen Entschluss bereits einmal durchbrochen und er versuchte, die Stimmung von vorhin zurückzuholen. Stattdessen kamen ihm Zweifel. Hatte es vielleicht einen Sinn, dass gerade er überlebte? Er glaubte nicht an Zufälle, seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass alles, was geschah, irgendwann zu einem lange vorherbestimmten Ziel führte und dieses Ziel war mit Sicherheit nicht sein Tod, sonst wäre er bereits im Kongo gestorben. Hatte er eine Aufgabe zu erfüllen, die ihm einen Teil seiner Schuld nehmen konnte? Und schleichend begann er, den beabsichtigten Selbstmord mit ganz anderen Augen zu sehen. Er würde nur feige vor einer Bestimmung davonrennen, die er zwar jetzt noch nicht kannte, der er sich aber stellen musste. Nichts und niemand konnte noch etwas am Schicksal seiner Kameraden ändern, auch sein eigener Tod nicht. Deshalb würde er einen neuen Weg finden müssen, um seine Schuld an anderen Menschen wieder gut zu machen und dadurch vielleicht irgendwann seinen Frieden finden.

Als er an diesem Tag zurück in sein Krankenzimmer kam, hatte sich seine Einstellung entscheidend geändert. Er würde die Legion verlassen und sich einen Platz suchen, von dem aus er Menschen helfen konnte. Nie wieder Waffen, nie wieder blutiger Kampf. Auch wenn er noch keine Ahnung hatte, wohin ihn das verschlagen würde, dachte er wieder etwas positiver und konzentrierte sich darauf. Plötzlich ging seine Genesung schneller vonstatten, sein Körper reagierte auf den neuen Lebensmut und er arbeitete schon im Krankenhaus motiviert an einem Plan, den er nach seiner Entlassung und dem Austritt aus der Legion in die Tat umsetzen konnte

Es bereitete ihm nicht wie vermutet Schwierigkeiten, den Abschied zu nehmen und Frankreich zu verlassen. Er wollte unter gar keinen Umständen bleiben, weil ihn hier alles an die Legion und sein Versagen erinnerte. Niemand sonst machte ihm Vorwürfe, er war der Einzige, der die Geschehnisse so sah. Aber nur auf das, was in seinem eigenen Kopf vorging, kam es schließlich an, deshalb würde er gehen. In seine Heimat England zog ihn nichts, es war schon lange nicht mehr sein Zuhause und die Familie, die er dort zurückgelassen hatte, war ihm fremd geworden. Natürlich, er hätte seine Eltern und Geschwister gern einmal wieder gesehen, manchmal vermisste er das kleine Reihenhaus in Islington und seine Bewohner, schließlich waren sie nicht im Bösen auseinandergegangen. Aber der Gedanke daran hatte etwas Unwirkliches, so als denke er an ein altes Bild, auf dem Zeit und Leben stehen geblieben waren, schon lange bevor er fortging. Während der neun Jahre in der Fremdenlegion riss der Kontakt komplett ab, das war wie ein Naturgesetz. Er wurde zu jemand anderem, die Legion war seine Familie gewesen und somit stand er nun ganz allein da. Darin jedoch sah er das kleinste Problem, es war ihm sogar lieber, sich an niemanden anpassen zu müssen.

Noch aus dem Krankenhaus erledigte er die Formalitäten, die zweite Verlängerung seines Dienstes lief in sechs Wochen aus, danach war er frei und so lange war er auch krankgeschrieben. Er würde nicht zurückgehen, nicht einmal, um seine persönlichen Sachen zu holen. Er ließ sie sich ein paar Tage vor seiner Abreise nach Düsseldorf bringen. Er hatte sich für Deutschland entschieden, weil er durch Kameraden die Sprache bereits zum Teil sprechen konnte.

   

Reifen kreischten, Bremsen quietschten und wie erwachend sah Ben sich um. Ohne nach links oder rechts zu schauen, hatte er die Straße betreten, um sie zu überqueren, es fehlte nicht viel und er wäre angefahren worden. Er achtete nicht auf den schimpfenden, nächtlichen Fahrer, sondern setzte seinen Weg unbeeindruckt fort. Er war von seinem Apartment am Fürstenwall an den Düsseldorf Arcaden vorbei durch die halbe Stadt gelaufen und hatte dann irgendwann die Richtung geändert, befand sich nun auf dem Weg zum Volksgarten. Nachdem er den Hennekamp nicht durch eigene Aufmerksamkeit heil überquert hatte, lief er quer über die Wiesen des Parks bis zum See, wo er sich das erste Mal etwas Ruhe gönnte, bis zum Wasser ging und sich dort hinsetzte. Er steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und ließ sie unangezündet dort hängen, während er kleine Dreckklumpen ins Wasser warf.

Bevor er vor etwas mehr als anderthalb Jahren Frankreich für immer verließ, fuhr er nach Aubagne und gedachte am Ehrendenkmal der Fremdenlegion seiner toten Kameraden. Es fiel ihm schwer, dort hinzugehen und noch schwerer, Abschied zu nehmen. Aber noch am gleichen Tag erwartete ihn ein Hotelzimmer in Düsseldorf, von dort aus konnte er sein neues Leben organisieren. Geldsorgen würden zumindest erst einmal nicht dazu gehören, neun Jahre Legion, ohne dass er für sich persönlich etwas gebraucht hatte, hatten seinen Kontostand wachsen lassen.

Gleich am ersten Morgen in Düsseldorf meldete er sich auf der Abendschule zu einem einmonatigen Deutschkursus für Fortgeschrittene an. Nachmittags ging er in ein Internetcafé und durchforstete die Weiten des Netzes nach konkreten Möglichkeiten eines sozialen Jobs. Dabei wusste er nur, er wollte etwas für andere Menschen tun, auf welchem Gebiet war ihm noch nicht klar. Am Abend war er etwas schlauer, ging jedoch gleich am nächsten Tag noch einmal hin. Der Berufswunsch Streetworker verdichtete sich, je mehr Informationen er darüber bekam. Für diese Arbeit, bei der er weitgehend frei handeln konnte, ohne dass die Hilfe irgendwann zur Routine wurde, benötigte er allerdings ein abgeschlossenes Studium und das fehlte ihm. Aber es gab auch hier Möglichkeiten. Zuerst forderte er die Unterlagen für einen Fernlehrgang für begleitende, praktische Psychologie an, mit dem er lernen wollte. Das Wichtigste war jedoch das Fernstudium für den Heilpraktiker Psychotherapie Abschluss, für das er sich schließlich ziemlich rasch entschied. Dieser Kursus dauerte 15 Monate und er konnte mit der amtsärztlichen Prüfung nach dem Heilpraktikergesetz abschließen, wenn alles gut lief. Und daran zweifelte er nicht. Danach hatte er mehrere Möglichkeiten, er konnte eine eigene Praxis eröffnen, im Gesundheitswesen oder in sozialen Bereichen arbeiten. Er leitete alles in die Wege.

Gleich als nächstes kaufte er noch am gleichen Tag, es war der zweite in Düsseldorf, eine Zeitung und schaute nach Wohnungen, schrieb sich einige raus und strich alle wieder durch, wo er nicht noch am gleichen Abend hingehen konnte, um sie sich anzuschauen. Drei blieben zur Auswahl, aber er entschied sich gleich für das erste Apartment am Fürstenwall, das ihn wegen seiner vollständigen Möblierung inklusive Telefon und DSL-Anschluss am wenigsten Zeit kosten würde. Er unterschrieb noch am selben Abend den Mietvertrag und ging für eine letzte Nacht ins Hotel zurück.

Den kompletten, folgenden Tag verbrachte er mit Einkäufen, die wichtigsten Sachen wie Geschirr und Nahrung, Bettzeug und Handtücher wählte er nach dem billigsten Preis aus, das Laptop, welches die Voraussetzung für sein Studium auf dem Onlinecampus war, nach dem momentan besten Standard in der Technik. Nur bei der Kleidung hatte er ein echtes Problem. Er hatte vor gehabt, alles Militärisches aus seinem Dunstkreis zu verbannen, aber wenn er sich in Zivilklamotten sah, fühlte er sich fremd und unwohl. Trotzdem kaufte er Jeans und normale Shirts, die dann jedoch erst einmal ungetragen im Schrank verschwanden. In der ersten Zeit zog er die gewohnte Kleidung an, das hieß, er trug seine Sachen aus der Legion, die schon reichlich mitgenommen aussahen. Sein Umsteigen in die zivile Welt verschob er stets auf den nächsten Tag, bis der Moment gekommen war, als er sich zwang, in Jeans, weißem Shirt, einfacher Jacke und Nikes in die Stadt zu gehen. Dort steuerte er einen Juwelierladen an und ließ sich, wie zum Zeichen des Antimilitarismus, einen kleinen Brillianten ins Ohr schießen. Das blitzende Ding wirkte neben seinem harten Gesichtsausdruck ein wenig fehl am Platze, in etwa wie ein Löwenzahn, der sich seinen Weg durch die Risse einer Betonwüste sucht. Aber für Ben war es der zweite Schritt in die richtige Richtung. Er kam aus dem Laden und sah sich im Schaufester von oben bis unten an. Ein ganz normaler Mann! Auf diese Erkenntnis hin ging er in sein Apartment und zog sich schleunigst um. Er kam von Camo-Tarn und natogrün einfach nicht weg, deshalb kapitulierte er und tätigte seinen nächsten Klamotteneinkauf in einem Militärladen an der Kö.

Sein wild entschlossener Aktionismus der ersten Zeit in Düsseldorf hatte Methode, er ließ sich keine Zeit, die schwarzen Gedanken an seine nahe Vergangenheit zuzulassen. Erst als nach und nach alles erledigt war und sich ein gewisser Alltagstrott einpendelte, änderte sich das. Er konnte nicht vierundzwanzig Stunden am Tag lernen oder schlafen, deswegen blieb ihm zuviel Zeit für seine Erinnerungen und Selbstvorwürfe. So begann schleichend der Prozess, dass er nach dem Lernen Whisky trank, erst ein Glas, um müde zu werden, dann zwei. Schließlich ging er keinen Abend mehr nüchtern ins Bett.

   

Ben lauschte dem leisen Plätschern des Sees, dann zündete er sich endlich die Zigarette in seinem Mundwinkel an. Er folgte der Glut mit dem Blick, schwenkte die Zigarette versonnen hin und her. Bald würde der Morgen dämmern und er musste zur Arbeit, es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg zurück machte. Schwerfällig stand er auf, warf einen letzten Blick auf das dunkle Wasser, als wolle er sich verabschieden und ging los. Aber auch auf dem Rückweg verließen seine Erinnerungen ihn nicht.

   

Es war eigentlich ein Wunder, dass er damals trotz der Entwicklung alles schaffte, was er sich vorgenommen hatte. Den Sprachkurs beendete er, während sein Alkoholkonsum sich noch in Grenzen hielt, dafür musste er aus dem Haus und hatte sich noch unter Kontrolle, weil er nicht als Säufer auffallen wollte. Später dann wurde es ihm egal, manchmal war er bereits betrunken, wenn er morgens einkaufen ging. Während er anfangs noch manchmal in die kleine Eckkneipe in der Nähe seines Apartments ging, änderte sich auch das im Laufe des virtuellen Studiums, er hatte kein Interesse mehr an realen Kontakten. Es genügte ihm, mit seinen Kommilitonen im Netz zu plaudern, sich hinterher die Kante zu geben und schlafen zu gehen. Sehr belastend war allerdings sein schon chronischer, sexueller Notstand. Immer, wenn er versuchte, sich selbst zu erleichtern, kam das Bild des toten Raúl zurück und er sah ihn, wie er mit zerfetzter Kehle zwischen den Mangroven lag. Seine Erinnerung daran war glasklar, grausam detailgetreu und wirkte sich wie eine kalte Dusche aus. Sein Kamerad und Freund hatte ihn körperlich sehr angezogen, auch wenn er ihm das niemals offenbart hatte. Seine heimlichen Phantasien bei der Selbstbefriedigung drehten sich in den letzten Jahren in der Legion immer um Raúl und das wurde jetzt zum Fluch. Wenn er seine Versuche nicht wie meistens gleich wieder einstellte und doch zwangsläufig zum Höhepunkt kam, war dieser fast jedes Mal schmerzhaft, sein Kopf wollte verhindern, was der Körper sich nicht nehmen ließ.

   

Er kam in seinem Apartment an, als es bereits hell war, machte sich Kaffee und ging duschen, während dieser durchlief.

Heute stand der Besuch in einer WG aus Straßenkids an. Als er sich bewarb, war sie gerade gegründet worden, quasi als Modellversuch und inzwischen hatten in den sechs Zimmern einer ehemaligen Arztpraxis elf Jungs und Mädchen ein Dach über dem Kopf. Anfangs betreute er sie mit einer Kollegin zusammen, aus Personalmangel und weil er offensichtlich gut mit den Kids klar kam, war er schon seit fast zwei Monaten allein verantwortlich. Sein Kampf gegen Drogen und Alkohol und für die Eingliederung der Jugendlichen war ein ständiges Auf und Ab von Erfolg und Misserfolg. Manchmal war es frustrierend, wenn sie immer wieder abrutschten und er erkennen musste, dass ihre angebliche Einsicht nur aus Lippenbekenntnissen bestand, rationale Lügen für ein paar Vorteile. Er hatte inzwischen unterscheiden gelernt, war jedoch trotzdem noch nicht immun dagegen, auf inhaltslose Versprechungen reinzufallen. Sein Status bei den Jugendlichen war hoch, er galt als unnachgiebig, aber gerecht und vor allem konnte man mit ihm reden, wenn man mal wieder bis zum Hals in selbstgebauter Scheiße steckte. Das Einzige, was zu überwinden war, bevor Ben zu helfen versuchte, war die Enttäuschung,die deutlich in sein Gesicht geschrieben stand. Das fürchteten   die meisten mehr als die möglichen, anderen Konsequenzen,    die sie vielleicht zu erwarten hatten. Dass Ben bei der Fremdenlegion gedient hatte, wusste niemand von ihnen und er wollte auch nicht, dass sie es erfuhren, diesen Hintergrund brauchte er nicht, um sich Respekt zu verschaffen. Die Kids respektierten ihn auch so, auch wenn sie oft über ihn und seine Hartnäckigkeit schimpften. Er war ein Raubein mit dem Hang zu Militärklamotten und Herz und der Umgang mit ihm alles andere als leicht, das akzeptierten alle.

Alle bis auf Dennis, einen sechzehnjährigen, schwer alkoholabhängigen Kleinkriminellen, der erst seit einer Woche in der WG wohnte. Ben war sich darüber klar gewesen, dass er   mit ihm Stress ins Haus holte, erst einmal durch Dennis selbst  und auch, weil die WG eigentlich schon voll besetzt war. Aber er wollte den Jungen nach seiner zweiten, schweren Alkoholvergiftung nicht einfach wegschließen lassen. Die meisten hatten Dennis bereits aufgegeben, das Jugendamt wusste inzwischen aus Erfahrung, dass er von überall abhaute, von Zuhause sowieso und es hatte auch keinen Sinn, ihn in ein Heim bringen zu lassen, deshalb sollte er diesmal gleich nach der  Klinik in die geschlossene Suchtpsychiatrie. Die meisten Sozialarbeiter kannten den Jungen, seit er elf war und winkten schon lange ab, wenn es darum ging, ihm zu helfen. Es war  bereits alles versucht worden.

Von daher wusste Ben, worauf er sich einließ und dass es bestenfalls eine geringe, wahrscheinlich aber gar keine Chance gab, ihn aus seinem Teufelkreis herauszuholen, aber er wollte trotzdem sein Möglichstes tun und nahm ihn mehr oder weniger auf eigene Gefahr in die WG auf. Seine Vorgesetzten segneten das nach einem langen Überzeugungsgespräch ab, weil Ben außergewöhnlich gut mit den Kids klarkam und einiges erreicht hatte. Er bekam drei Monate Zeit, dann hatte die Psychiatrie endgültig das Wort.

Heute musste er sich Dennis zur Brust nehmen, denn gestern Abend hatte Patrick, einer der Jungs aus der WG, angerufen und sich schimpfend beschwert. Dennis war volltrunken heimgekommen und hatte einen Aufstand veranstaltet, bei dem einiges der sowieso wenigen Habseligkeiten der WG zu Bruch gegangen war. Ben hatte nicht wirklich geglaubt, den Jungen durch die langen Gespräche der ersten Woche dazu zu bringen, Einsicht zu zeigen. Dass er allerdings gleich schon wieder so über die Stränge schlug, obwohl er wusste, welche Station ihn als nächstes erwartete, wenn Ben ihn aufgab, damit hatte er nicht gerechnet. In der letzten Woche jedenfalls hatte er keine Meldung darüber bekommen, dass Dennis sich betrunken hatte.

   

Damit waren Bens Gedanken beschäftigt, als er später in der Straßenbahn saß. Es führte ihn wieder zurück zu seinen Erinnerungen und er überlegte, wie er selbst vor fast anderthalb Jahren während seines Studiums vom Alkohol weggekommen war. Im vierten Monat dieser Zeit, im April 2004, kam es zu einem Vorfall, der ihn zur Vernunft brachte und es war allein die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen konnte neben seinem eisernen Willen, die ihn von heute auf morgen vom Alkohol wegbrachten.

   

Es war der 30.04.2004, an dem er mittags aufwachte und gleich in ein tiefes, schwarzes Loch der Niedergeschlagenheit fiel. Heute war die Traditionsfeier der Legion, in der man eines heldenhaften Kampfes gedachte. Es ging um das Jahr 1863, als die sechzig Männer des Hauptmannes Danjou in der großen Hazienda von Camerone den Angriffen von mehr als zweitausend Mexikanern standhielten und so die Durchfahrt von Siedlern ermöglichten. Sie retteten diese Menschen, aber nicht ihr eigenes Leben. Sie gaben dem Hauptmann, der schon um die Mittagszeit fiel, ihr Wort und seither war diese Schlacht zum Sinnbild des Kampfverhaltens eines Legionärs geworden, Pflichttreue und Ehrenwort niemals außer Acht zu lassen.

Jedes Jahr wurde der Tag feierlich begangen, die Schlacht lebte wieder auf. Das hatte in den letzten neun Jahren auch zu Ben gehört, wie er zur Legion gehörte. Und heute? Er verschuldete den Tod seiner Kameraden, hatte es nicht mehr verdient, teilzuhaben und war zu recht ausgeschlossen. Und was war aus ihm geworden? Ein saufender Bücherwurm, der nicht wirklich wusste, wie es weitergehen sollte. Er wollte jemanden helfen – tse, lächerlich. Er konnte nicht einmal sich selbst helfen! Er spürte das Verlangen, das er sonst stets unterdrückte und zum ersten Mal ließ der Gedanke sich nicht abschütteln. Er wollte zurück zur Legion, das einzige Handwerk ausüben, von dem er wirklich etwas verstand!

Noch im Bett rauchte er seine erste Zigarette und drückte den Ekel dabei stoisch weg. Er hatte keine Ahnung, wie er den Tag überwinden sollte, die folgenden Stunden kamen ihm wie ein riesiger, scharfkantiger Fels vor, den es nackt zu erklimmen galt. Schwerfällig erhob er sich und ging ins Bad, starrte im Spiegel in das unrasierte Gesicht, die Zigarette hing dabei noch in seinem Mundwinkel und er kniff gegen den Rauch seine tief liegenden, dunkel umschatteten Augen zusammen, während er das Wasser aufdrehte. Er sah älter aus als er war, irgendwie verbraucht. Das Leben in der Legion hatte ihn leer gesaugt und seine momentanen Gewohnheiten trugen auch nicht gerade dazu bei, dass er frischer wirkte. Mit seinen knapp dreißig Jahren wirkte er wie ein Trinker Mitte dreißig, der auf absteigendem Ast heftig ins Rutschen geraten war. Seit er in der Klinik erwachte, begleitete ihn ein Tick, der harte Zug um seine schmalen Lippen wurde manchmal von einem nervösen Zucken durchbrochen. Seine Aknenarben aus der Jugendzeit versteckte inzwischen sein Dreitagebart, den er allerdings nicht pflegte, nur unregelmäßig komplett abrasierte.

Er warf den Zigarettenstummel angewidert ins Klo und putzte sich die Zähne, was gegen den üblen Geschmack nicht sonderlich half. Als er unter der Dusche stand, hob er den Kopf mit offenem Mund und ließ das Wasser auf seine Zunge prasseln, spuckte immer wieder aus, aber auch das änderte nichts an der Ahnung von Whisky und Rauch in seinem Mund. Als er sich wusch, spürte er die Narben unter seinen Händen, vier Einschusswunden, die anders als sein Gemüt verheilt waren.

Nackt ging er nach dem Duschen in seine kleine Küche, welche sich hinter einer Theke direkt an den Wohn- und Schlafraum des Apartments anschloss, und machte Kaffee. Den reicherte er dann schon mit Whisky an, immer noch nackt und das Frösteln automatisch unterdrückend, setzte er sich auf einen der beiden Sessel und trank das bittere Gebräu. Lernen konnte er heute nicht, da machte er sich nichts vor. Er begriff, dass er niemanden hatte, spürte mit Macht die Isolation, seit er in Düsseldorf war und egal, in welche Richtung er dachte, er stieß immer an diese Grenze der Einsamkeit. Schließlich, nach der dritten Tasse Kaffee mit Whisky, kam er auf die Idee, sein Apartment aufzuräumen. Allerdings reichte der Vorsatz nur bis zum Bett, neben dem die Whiskyflasche der letzten Nacht stand. Er trank den Bodensatz und setzte sich dann lustlos auf die Bettkante. Ganz in Gedanken griff er zu seiner Nachttischschublade und zog sie auf. In einem Kästchen lagen sein Legionsabzeichen und die Dschungelkämpferspange, beinahe liebevoll betrachtete er beides und warf die Symbole, als er sich des fast zärtlichen Gefühls bewusst wurde, wütend quer durch den Raum. Es gab keinen Zweifel, er musste raus aus seinen vier Wänden, wenn er nicht komplett am Rad drehen wollte.

Er zog sich an und lief in die Innenstadt, ging in jede Kneipe, an der er vorbeikam und trank Whisky. So war er schon am späten Nachmittag sternhagelvoll. Trotzdem machte er weiter, irgendwann in der Nacht, er konnte sich später nicht erinnern, wo, kam es zum Streit mit einem Wirt, der ihm nichts mehr ausschenken wollte und Ben wusste nicht, ob er sich mit ihm nicht vielleicht sogar geschlagen hatte. Bruchstückhaft blieb nur in seinem Gedächtnis, dass er sich an einer Tankstelle eine Flasche Whisky kaufte und mit dem Taxi vor die Stadt zu einem alten Steinbruch fahren ließ, von dem er im Internet einmal gelesen hatte. Hier, in der nächtlich dunklen, dichten Vegetation rund um den tiefen Krater sprach er mit Raúl und seinen anderen toten Kameraden, verbrachte die Zeit damit, Teile des letzten Einsatzes noch einmal durchzuspielen, schrie rum, schlug aggressiv nach dem Gebüsch und kam dabei immer wieder ins Straucheln. Den letzten Schluck aus der Flasche trank er am Rand des Steinbruchs sitzend und warf sie dann hinunter. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sie aufschlagen hörte und das weckte jetzt im Rausch seinen Wunsch, dem er in der Klinik haarscharf widerstanden hatte. Er wollte das alles nicht mehr! Der Alkohol machte es ihm sehr leicht, diesmal nicht in Zweifel zu verfallen. Er würde springen! Er stand auf, rauchte auf unsicheren Beinen eine vermeintlich letzte Zigarette bis zum Filter und warf sie erst weg, als es zwischen Daumen und Zeigefinger heiß wurde. Dann nickte er für sich und machte einen Schritt nach vorn. Er ließ sich fallen, der schwarzen Nacht des dem Anschein nach bodenlosen Trichters entgegen.

Das Erwachen, als die Sonne hell am Himmel stand, war fürchterlich. Als er die Augen öffnete, schaute er auf dem Bauch liegend an spitzen Felsvorsprüngen vorbei geradewegs nach unten und dieses Unten war ausgesprochen weit weg. Vorsichtig drehte er sich auf den Rücken. Er hatte erstmal absolut keine Ahnung, wie er auf den schmalen Felsabsatz knappe zwei Meter unter dem Rand des Steinbruchs gekommen war, aber er ahnte es. Sauer spuckte er den Dreck aus, der irgendwie in seinen Mund geraten war und kämpfte sich hoch, wobei er merkte, dass er sich die Schulter verletzt hatte. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, aus dem Stein gewachsene Äste und die Wand selbst dazu zu nutzen, hochzuklettern. Obwohl ihm alles wehtat, lief er eine ziemliche Strecke zu Fuß, bevor er in einen Bus stieg, der ihn nach Düsseldorf hineinbrachte. Man starrte ihn merkwürdig an und als er an sich heruntersah, wusste er zumindest schon einmal zum Teil, warum. Sein natogrünes Shirt war an der Schulter blutig, seine Kampfhose zerrissen und die Stiefel verschrammt und dreckig. Erst zu Hause sah er das ganze Ausmaß, er hatte sich die linke Augenbraue aufgeschlagen, die kleine Wunde teilte diese nun in zwei Hälften und das Blut war ihm übers Gesicht gelaufen, bevor sich eine blutige Dreckkruste bildete.

Daheim ging er duschen, danach setzte er sich in seine Badewanne, wo er noch einmal einschlief und erst wieder erwachte, als das Wasser kalt geworden war. Den Kaffee trank er diesmal pur und zog die Konsequenzen aus dem Vortag. Er würde nicht mehr trinken! Um diesen Entschluss vor sich selbst zu bekräftigen, leerte er die Flaschen, welche er noch auf Vorrat hatte, in die Spüle und hätte sich bei dem dabei aufsteigenden Geruch beinahe übergeben. Er zweifelte nicht daran, dass er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen und wieder funktionierte es nicht, wie im Kongo war Sterben für ihn zum jetzigen Zeitpunkt einfach noch nicht vorgesehen. Also würde er sich jetzt auf sein Studium konzentrieren, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte.

Es vergingen Wochen, in denen er immer wieder den Drang verspürte, zum Alkohol zu greifen. Er nahm keine Rücksicht darauf, unterdrückte den Wunsch manchmal nur ganz knapp und stand mehr als einmal kurz davor, wieder zu trinken. Aber er ließ es nicht zu und dabei half ihm der Drill der Legion doch sehr, wo er seine eigenen Grenzen immer wieder brechen, seine Wünsche einstampfen und seinen Körper bezwingen musste. Statt wieder zu trinken meldete er sich in einem Bodybuilding-Studio an, wo er oft bis an den Rand der Erschöpfung trainierte, wenn er glaubte, seinem Wunsch nach Whisky nichts mehr entgegensetzen zu können. Sein muskulöser Körper, der durch die Verletzungspause und den Wegfall des sportlichen Trainings bei der Legion ein wenig nachgelassen hatte, entfaltete sich schnell wieder. So ersetzte bald das Training seine Sucht, obwohl er die meiste Zeit immer noch mit Lernen verbrachte. Er saß oft genug von morgens an bis tief in die Nacht vor seinem Laptop, hielt sich dabei nur mit Kaffee wach und aß Müsliriegel. Gesund war sein Leben nicht, aber zumindest nüchtern und das genügte ihm. Nach den vorgesehenen fünfzehn Monaten schaffte er seinen Abschluss vor den Prüfern des Gesundheitsamtes und fand den Job, den er haben wollte, bei der Stadt Düsseldorf. Das war vor vier Monaten gewesen.

   

Ben stand auf und ging durch den Gang der schaukelnden Straßenbahn zur Tür, an der nächsten Station musste er aussteigen. Er war an diesem Morgen direkt zur Unterkunft der elf Kids gefahren und noch während er die ausgetretenen Holzstufen des Altbaus in den zweiten Stock hinaufging, überlegte er, wie er Dennis dazu bringen konnte, mit dem Trinken aufzuhören. Der Junge hatte nicht die Disziplin, die er, Ben, Dank seiner harten Ausbildung aufbringen konnte. Bei Dennis gehörte das Saufen zum normalen Tagesablauf und mit ihm kamen die Straftaten. Er war ständig in irgendwelche Schlägereien verwickelt und klaute wie ein Rabe alles, was er zum täglichen Leben benötigte, was ihm gefiel und dazu Autos, deren Tank er leer fuhr, ehe er sie irgendwo stehen ließ. Dreimal war es zu Unfällen gekommen, bei denen Dennis jedoch wie durch einen Schutzengel nie einen Kratzer abbekam.

Schon vor der Tür hörte Ben die hitzigen Diskussionen innerhalb der Wohnung, er schloss auf und stand inmitten von sechs Jugendlichen, die in der großen Diele miteinander redeten. Da keine Möbel dort standen, hallten ihre Stimmen nach und das Ganze wirkte wie ein heftiger Streit. Es ging um Dennis, der allerdings nicht dabei war. Sofort wurde Ben bestürmt und die Essenz aus allem war, dass Dennis raus aus der WG sollte. Ben sah auch warum, in der Küche lagen zerschmettertes Geschirr und ein zerbrochener Stuhl, eine Tür des Küchenschranks war herausgerissen worden und das Zerstörungswerk setzte sich im Gemeinschaftsraum fort, wo ein Kofferradio in dem alten Fernseher gelandet war, auf den die Kids so stolz gewesen waren. Ben hatte ihnen das gebrauchte Gerät aus eigener Tasche geschenkt, nachdem ein ganzer Monat ohne besondere Vorkommnisse vergangen war. Okay, das war nicht so geblieben, aber sie konnten trotzdem weiter fernsehen, was sich jetzt Dank Dennis geändert hatte.

„Wo ist er?“, fragte Ben und spürte den Zorn in sich.

„Der pennt! So besoffen, wie der war, steht er nicht vor Abend auf!“, antwortete Patrick, mit siebzehn das älteste WG- Mitglied. Er war nicht sehr groß, ein wenig dick, aber sehr durchsetzungsfreudig, was man ihm nicht auf den ersten Blick ansah. Nur wer ihn näher kannte, wusste, sein gutmütiges, rundliches Gesicht täuschte, wenn es drauf ankam, konnte er ziemlich kratzbürstig sein.

„Das wollen wir doch mal sehen!“

Ben stürmte in das Zimmer, das sich Dennis mit einem im Moment nicht anwesenden Jungen teilte. Er lag angezogen und halb zugedeckt auf dem Bett und schnarchte mit offenem Mund. Die Atmosphäre des Raums war alkoholgeschwängert und Ben riss erst einmal das Fenster auf. Er atmete tief durch und brachte dabei seine Wut unter Kontrolle, durch die er am liebsten losgebrüllt hätte. Er riss Dennis die Decke weg, auf der er zur Hälfte lag und rollte ihn dabei herum.

„Hey, was soll das?“, moserte der Junge verschlafen und blinzelte ins Tageslicht.

„Steh auf!“

„Du kannst mich mal!“, murmelte Dennis, drehte sich dabei um und zog sich die Decke bis über den Kopf. Ben hob die Augenbraue mit der kleinen Narbe und bemächtigte sich erneut der Decke, diesmal warf er sie jedoch neben das Bett.

„Lass mich in Ruhe, Mann. Verpiss dich endlich!“

Ben griff nach Dennis’ Jeansjacke, die ziemlich neu wirkte und die er mit Sicherheit wieder geklaut hatte und zog ihn hoch.

„Hey, lass los ... du sollst loslassen ... Fuck!“

Dennis zappelte im harten Griff, traute sich jedoch nicht, Ben anzugreifen, um loszukommen. Zu eindrucksvoll war dessen athletischer Körper, zu breit seine Schultern und zu deutlich wölbten sich die Muskeln auf Brust und Armen unter dem Shirt.

„Ich glaube, du brauchst eine Dusche, um zu dir zu kommen!“, brummte Ben und zog Dennis unter dessen Flüchen mit aus dem Zimmer Richtung Bad. In der Diele gab es Beifall von den anderen Kids, der sich in Johlen verwandelte, als er das Wasser aufdrehte. Er hob das Fliegengewicht Dennis in voller Montur in die Badewanne, über welcher sich die Dusche befand und drehte das kalte Wasser auf. Er verhinderte nur mit seinem Körper, mit dem er den Weg hinaus versperrte, dass der Junge ausbrach und achtete nicht darauf, dass bei dessen Gegenwehr der billige Duschvorhang Ring für Ring abriss. Nach anfänglichen Fluchtversuchen gab Dennis dann auch auf, ein letztes ‚Arschloch’ verließ seinen Mund, dann hockte er sich hin und tat, als störe ihn das Wasser nicht weiter. Seine immer ungekämmt wirkenden, blonden Haare klebten jetzt in seinem hübschen Gesicht mitden verschlagenen, von sehr langen, schwarzen Wimpern umgebenen giftgrünen Augen. Ben wusste, wie unschuldig diese Augen wirken konnten, wenn Dennis es darauf anlegte, dann waren sie groß und rund wie die einer Eule. Aber er hatte schnell begriffen, dass dies nur Taktik war, um das Beste für sich herauszuholen.

„Zieh dich aus und wirf die Klamotten raus. Dann wasch dich. Hinterher putzt du das Bad! Kannst du das allein oder soll ich dir helfen?“

Dennis antwortete nicht.

„Was ist?“

Dennis schaute bockig hoch, ihm direkt ins Gesicht, das war Antwort genug.

„Okay, dann bleibe ich. Ich hab Zeit!“

Noch immer prasselte das kalte Wasser auf Dennis nieder und seine Zähne klapperten hörbar, trotzdem bewegte er sich nicht von der Stelle. Seine Bemühungen, so zu tun, als störe ihn das alles nicht, waren fast schon niedlich.

„Du kannst das warme Wasser aufdrehen, wenn du aufhörst, zu bocken! Ich kann auch immer noch rausgehen ... deine Entscheidung!“