Uwe Görke - Mein Leben mit HIV - Andy Claus - E-Book

Uwe Görke - Mein Leben mit HIV E-Book

Andy Claus

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Beschreibung

Das Buch gibt Einblick in das Leben des selbst seit fast fünfzehn Jahren HIV-positiven Aidsaktivisten Uwe Görke. Es erzählt die Geschichte eines Betroffenen, will Mut machen und informieren. Für jeden ist der Tag der Diagnose sehr persönlich. Egal, was er gehört hat und zu wissen glaubt, in diesem Moment wird plötzlich alles anders. Nicht jeder ist dann bereit, offensiv damit umzugehen, die Öffentlichkeit zu suchen. Keine andere Diagnose wird so von Selbstvorwürfen, Zweifeln und Anklagen begleitet. Bin ich selbst schuld? Hab ich es vielleicht sogar verdient? Das darf niemand erfahren! Das zieht oft den Rückzug nach sich, die Trennung von Freunden und Familie, aber auch Alkohol- und Drogenexzesse, nur um zu vergessen - ganz nach dem Motto, jetzt ist eh schon alles egal. Es ist dieser Punkt, an dem Uwe Görke seit acht Jahren zum Ansprechpartner wird, denn er erreicht die Menschen dort, wo sie sich in dieser schwierigen Zeit vielleicht verkriechen - daheim am PC. Die Schwellenangst fällt weg, sie reden offen über ihre Situation und ihre Ängste. Und oft können sie Uwes Botschaft annehmen - dass das Leben, wenn auch anders, weitergehen wird. Er selbst und sein Virus 'Tim' sind der überzeugendste Beweis dafür.In diesem Buch erzählt Uwe Görke von sich, seinen Freunden, den Menschen, die ihn ein Stück weit begleiteten und Prominenten, denen er im Lauf der Zeit begegnete. Er verschweigt auch die Rückschläge nicht, nach denen er sich stets wieder aufraffen konnte. Das Buch soll Ratgeber sein, aber auch eine Würdigung der Arbeit eines privaten AIDS-Aktivisten, die aus unverständlichen Gründen leider viel zu oft zu kurz kommt.Andy Claus über das Buch:Als Uwe Görke das erste Mal wegen der Umsetzung seiner Biografie an mich herantrat, war ich noch nicht in der Lage, ein solches Projekt zu bewältigen. Inzwischen habe ich als Autorin von Gay-Romanen mit teilweise biographischen Elementen genügend Erfahrung gesammelt - behaupte ich an dieser Stelle einfach mal frech, noch bevor ich das erste Wort aufs virtuelle Papier gesetzt habe. Es wird schwierig werden, alle Facetten seines Lebens einzufangen und ich habe einen mächtigen Respekt vor dieser Arbeit. Da Sie das Buch jedoch genau jetzt in der Hand halten, wird es dessen ungeachtet funktioniert haben. Ich hoffe sehr, die folgenden Seiten können Ihnen einen interessanten Einblick in das Leben und die Arbeit des HIV-positiven Aidsaktivisten Uwe Görke mit all seinen Erfolgserlebnissen und Schattenseiten vermitteln.

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Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

E-mail: [email protected]

www.himmelstuermer.de

Foto: Imagecorner

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

Originalausgabe, Juli 2008

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Einige alte Fotos liegen leider nur in schlechter Qualität vor.

ISBN print: 978-3-940818-003

ISBN E-pub: 978-3-86361-223-8

UWE GÖRKE

Mein Leben mit HIV

Biografie

Autor:

Wenn du kritisiert wirst,

musst du irgendetwas richtig machen.

Denn man greift nur denjenigen an,

der den Ball hat.

Ich widme dieses Buch

Andy Claus über das Buch:

Als Uwe Görke vor zirka 5 Jahren das erste Mal wegen der Umsetzung seiner Biografie an mich herantrat, war ich noch nicht in der Lage, ein solches Projekt zu bewältigen. Inzwischen habe ich als Autorin von Gay-Romanen mit teilweise biographischen Elementen genügend Erfahrung gesammelt - behaupte ich an dieser Stelle einfach mal frech, noch bevor ich das erste Wort aufs virtuelle Papier gesetzt habe. Es wird schwierig werden, alle Facetten dieses Lebens einzufangen und ich habe einen mächtigen Respekt vor dieser Arbeit. Da Sie das Buch jedoch genau jetzt in Händen halten, wird es dessen ungeachtet funktioniert haben. Ich hoffe sehr, die folgenden Seiten können Ihnen einen interessanten Einblick in das Leben und die Arbeit des HIV-positiven Aidsaktivisten Uwe Görke mit all seinen Erfolgserlebnissen und Schattenseiten vermitteln.

Aber wieso überhaupt ein Buch über das Phänomen Görke, diesem Menschen, den man entweder hasst oder liebt und bei dem es keine Zwischentöne zu geben scheint? Einem Schreihals und scheinbaren Profilneurotiker, der sofort zur Hintertür wieder reinkommt, wenn man ihn vorne raus wirft? Die Antwort ist nahezu lächerlich einfach. Weil er ein Ziel hat und dieses Ziel ist alles andere als egoistisch, denn er will helfen. Das könnte er nicht, wenn er sich beleidigt in ein Zimmerchen zurückzieht, sobald ihn ein Nasenstüber flach legt. Klappern gehört zum Handwerk und Uwe Görke klappert ohrenbetäubend, denn nur so kann er die Aufmerksamkeit für ein Thema erringen, das inzwischen leider wieder in den Hintergrund gerutscht ist, ganz so, als sei aus dem Damokles-Schwert HIV, das uns alle betrifft, plötzlich ein Mistelzweig geworden.

Uwe ist für all jene da, die mit ihrer Verzweiflung über die Diagnose in die Emigration gegangen sind, diejenigen, die einen persönlichen Ansprechpartner brauchen und erst einmal einfach nicht die Kraft haben, sich in die gut geölte, aber kalte Maschinerie aus Öffentlichkeit und Verwaltung zu begeben. Er versteht sich als Ergänzung zum Angebot der Hilfe für Betroffene, was so leider nicht immer wahrgenommen wird. Dabei würde es niemandem schaden, Uwes Arbeit als Bereicherung anzunehmen, statt sie zu ignorieren. Ich finde es ziemlich daneben, jemandem mit Arroganz zu begegnen, der sich auf privater Ebene engagiert und nicht müde wird, den Weg zu gehen, den er für richtig hält – den Weg der Hilfe für infizierte oder erkrankte Menschen ohne Lobby. Das Ziel der Hilfe sollte über persönliche Animositäten und Geltungsbedürfnisse siegen. Denn … engagiert man sich in dieser Weise, weil es Laune macht, für Menschen da zu sein, die sich in der bittersten Phase ihres Lebens befinden? Sicher nicht! Es braucht Kraft, positivpositivzu sein und das an jene zu vermitteln, die sich manchmal bereits aufgegeben haben. Die Diagnose ist nicht das Ende, das weiß Uwe zu vermitteln. Nur engste Freunde sehen ihn nach seinen Niederlagen, wenn wieder einmal eine Hoffnung zersplittert ist, der Kampf um ein Leben verloren wurde. Er macht trotz unzähliger Blessuren unbeirrbar dort weiter, wo andere kapitulieren, beißt sich fest und versucht es wieder, wo der Großteil anderer Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen aufgeben würde. Weder Diffamierung noch Einschüchterung, nicht die kalte Schulter gewisser Institutionen noch üble Nachrede konnten ihn daran hindern, weiterzumachen - weiterzumachen damit, AIDS ein Gesicht zu geben. Und so bleibt er für viele Menschen authentisch, vielleicht ein Freund, auf jeden Fall ein Betroffener. DiesesBuch soll helfen, Uwe Görke selbst hinter seiner Arbeit sichtbar zu machen.

Ich schreibe das Buch ehrenamtlich, habe selbst keinen finanziellen Vorteil und möchte damit meine Solidarität ausdrücken und ebenfalls ein wenig helfen. Verstehen Sie es als eine überdimensionale, rote Schleife an meinem Revers.

Andy Claus im Januar 2008

Kapitel I.

Kindheit und Jugend

- 1964  -

--- Der Start ---

Uwe Görkes Leben begann am 06.08.1964 in einem Iserlohner Krankenhaus. Schon zu diesem Zeitpunkt waren Weichen gestellt, die sein späteres Leben fest im Griff haben würden. Als folgerichtiger Vorbote dafür stand sein Vater in Handschellen neben dem Bett der Mutter, irgendwie hatte er es erreichen können, seine Frau und den neugeborenen Sohn sehen zu dürfen, bevor er wegen des gerade geschehenen Autounfalls unter Alkoholeinfluss, bei dem sein Freund ums Leben kam, in den Knast ging. Es sollte nicht sein letzter Aufenthalt hinter Gittern bleiben.

Uwe wurde an die Schonzeit nach der Geburt anschließend sofort in eine Existenz geworfen, in der er um seinen Platz kämpfen musste. Dem, was man Vorsehung nennt, gefiel es, ihn nicht in eine wohl behütete iege zu legen, sondern setzte ihn von Anfang an auf einen Schleudersitz.

Schon im Alter von zwei Jahren wurde er als Sohn fristlos gekündigt und in eine fremde Verantwortlichkeit entlassen, da der Umgang mit ihm aufgrund einiger schnell aufeinander folgender Kinderkrankheiten wohl zu strapaziös geworden war – so lautete jedenfalls die glattzüngige Erklärung der Mutter.

Ein Kinderheim bei Iserlohn war von diesem Zeitpunkt an seine neue Heimat. Eher zufällig stolperte das Jugendamt zu dieser Zeit in verschiedenen Heimen des Sauerlands über den Namen Görke. Sie recherchierten und stellten fest, dass es insgesamt fünf Görke-Kinder gab und die Namensgleichheit kein Zufall war.

Zusammen wurden sie in dasselbe Kinderheim gebracht, wo sie sich zum ersten Mal als Geschwister kennen lernen konnten.

Die drei Jungen und zwei Mädchen wuchsen also doch noch gemeinsam auf.

Kinderheim in Menden

Der Plan der Mutter, dass möglichst einer vom anderen nichts wissen sollte, war fehlgeschlagen. Erst später erfuhren sie, dass es noch eine dritte Schwester gegeben hatte, sie war bereits im Alter von einem Jahr in der Obhut der Mutter gestorben.

Es gibt ein Schlüsselerlebnis, das Uwe bis heute mit sich herumträgt und dem er selbst die Mitschuld an seinem vordergründigen Geltungsdrang zuschreibt. Viele der Kinderim Heim waren zur Adoption freigegeben, sie wurden in Gruppen unterteilt und benannt, das erleichterte die Organisation. Uwes Gruppe hieß ‚Schiefes Eckchen’, die Adoptionsverfahren für die zwanzig Kinder waren abgeschlossen, nur die Kleinen selbst wussten noch von nichts. Sie mussten sich in einer Reihe aufstellen, während die Eltern in spe nach und nach eintrafen, um das Kind ihrer Wahl abzuholen und mit nach Hause zu nehmen.  Eins nach dem anderen ging weg, zum Schluss stand nur noch der vierjährige Uwe dort, für ihn hatte sich niemand finden lassen. Ich für meinen Teil sehe diese Szene grobkörnig und in schwarz-weiß, es ist der Moment, in dem eigentlich Heinz Rühmann auf der Bildfläche erscheinen müsste, der sich des Knaben annimmt und die Welt in herzerwärmende Gerechtigkeit und Fairness taucht.

Der kleine, arg gebeutelte Junge würde dann gegen jede Wahrscheinlichkeit doch noch zu einer neuen, liebenden Familie und einem guten Leben kommen. Aber leider ... kein Ufa Film, kein Happy End. Uwe blieb im Heim und lernte, sich auf seine Weise zu behaupten.

Trotzdem war natürlich nicht alles schlecht im Heim, im Gegenteil.

Man gab sich natürlich Mühe, Uwe dort sein Zuhause zu ersetzen, auch wenn es mit der Kinderpsychologie in den Sechzigern noch nicht so weit her war. Noch heute besitzt er das Weihnachtsgeschenk aus dem Jahr 1968, da war er vier Jahre alt. Der Hund Struppi ist heute der Kuschelhund von Moyo.

Struppi

Uwe spielte in seiner Kindheit oft den Clown und akzeptierte irgendwann den Platz, den das Leben ihm zugewiesen hatte.

Er galt unter den Brüdern immer als das Weichei, er war nicht wie sie gewaltbereit und musste aufgrund dessen einiges einstecken.

1970

Unter anderem versuchte sein großer Bruder Ralf ihn mit einem Holzscheit zu erschlagen. Uwe überlebte und noch heute zeugt eine Narbe an seinem Kopf von diesem Angriff. Aber da musste er durch – und er kam durch, nicht zuletzt durch die enge Bindung zu seinen Schwestern Gaby und Silke. Bevor er allerdings als Erwachsener eigene Wege gehen konnte, musste er noch mit ansehen, wie das gewachsene Band zwischen den Geschwistern, die im Mendener Heim zusammengefunden hatten, wieder zerrissen wurde.

Er war sechzehn, als seine 15jährige Schwester Gaby verschwand. Ihr gemeinsamer Bruder Ralf organisierte einen Suchtrupp, dem auch Uwe angehörte. Sie fanden das Mädchen in einem Wald keine 250 Meter vom Heim entfernt – tot und notdürftig verscharrt. Erst nach der Beerdigung enthüllte sich das ganze Ausmaß des Dramas, denn Gaby hatte Tagebuch geführt. Sie war ihrem Bruder Ralf auf die Schliche gekommen, der, zu diesem Zeitpunkt siebzehn, bereits einige Mädchen vergewaltigt hatte. Wie ermittelt wurde, wollte das Mädchen ihn zur Rede stellen.

Bild © JugendzeitschriftMädchen1981

Vielleicht sprach Gabi Ralf auf die Vergewaltigung der kleinsten, gerade elfjährigen Schwester an, vielleicht wollte er sie auch einfach nur allgemein zum Schweigen bringen, jedenfalls hielt Ralf Gaby den Mund zu, bis sie bewusstlos wurde. Er hielt sie für tot, schleifte sie in den Wald nur 250 Meter vom Kinderheim entfernt und verbuddelte sie dort. Das Mädchen erstickte qualvoll.Ralf Görke erhielt für die Tat eine zehnjährige Strafe, wobei an dieser Stelle ein kurzer Blick in die Zukunft erlaubt sei.

Er kam 1989 schon nach fünf Jahren wieder frei, fand und erdrosselte ein weiteres Opfer - ein Verbrechen, das ihm diesmal 15 Jahre einbrachte. 2004 wurde er nach nur sieben Jahren erneut zurück in die Freiheit entlassen. Diese nutzte er für weitere Vergewaltigungen und schließlich ermordete er am 09.12.2006 erneut eine Frau. Erst jetzt bekam er 15 Jahre mit daran anschließender Sicherheitsverwahrung. Aber zurück zu Uwe.

Nach diesem Schock blieb er unter starker, psychischer Belastung noch zwei Jahre im Mendener Heim. Dann wurde er volljährig und zog nach Hemer. Dort begann er eine dreijährige Lehre als Einzelhandelskaufmann, welche er erfolgreich abschloss.

1975

Zu dieser Zeit hatte er noch keine Ahnung davon, dass er schwul ist. Im Gegenteil, er war so etwas wie ein Frauenversteher, hatte viele Chancen, die er auch nutzte – nicht zuletzt, weil er glaubte, das sei die logische Folge seines Gleichklangs mit der Damenwelt. Als beziehungsfähig erwies er sich jedoch nicht. Rast – und ruhelos suchte er etwas, von dem er selbst noch nicht wirklich ahnte, was es war. Denn schließlich waren die kleinen Spielchen im Heim, gemeinsames Onanieren und die Neugier, ganz normal. Das machte jeder richtige Kerl! Oder nicht? Nun ja, jedenfalls absolvierte er, noch bevor er mehr über sich erfuhr, seine 15monatige Wehrdienstzeit in Hemer beim Panzerbataillon 202 (die Kaserne gibt es heute nicht mehr) ohne weitere Versuche in diese Richtung und verließ die Bundeswehr als Obergefreiter.

Dann begann ein völlig neuer Lebensabschnitt, seine Zeit als Hilfsarbeiter in einer Druckerei in Hagen/Westfalen. Er arbeitete sich in den folgenden zehn Jahren zum Textildrucker hoch. Das allerdings war bei weitem nicht das Wichtigste an neuen Erfahrungen in jenem Jahrzehnt.

Denn …

… Uwe war 24 und da es in seinem Leben nicht nur Schicksalsschläge, sondern auch Alltäglichkeiten gab, hatte er eines Tages einen banalen Friseurtermin. An sich nicht ungewöhnlich - aber Rainer, sein Friseur machte ein Highlight daraus.

Er überraschte Uwe mit einem erstaunlichen Kompliment.Du hast so stahlblaue Augen! Wow! Ich hätte Bock, dich zu küssen!Uwes Antwort, neugierig und frech wie immer -Mach doch!Und Rainer machte, bis Uwes Körper zu kribbeln begann und er gleich anschließend verschämt das Weite suchte. Doch Jäger Rainer hatte die Fährte aufgenommen. In der folgenden Zeit ließ er nichtlocker, nahm Uwe mit in die Dortmunder Szene, wo dieser unter anderem imKristalleine ganz andere Welt kennenlernte. Eine feiernde Glitterwelt, in welcher der schwule Bär Samba tanzte. Der Song ‘Yazz - The Only Way Is Up’ wurde zu seiner Coming-out Begleitung, noch heute verbindet er ihn mit dieser verrückten Zeit.

Aber was war mit Rainer, dem Jäger?

Der gab nicht auf, lud Uwe zu sich nach Hause ein, ausgerechnet im Schlafzimmer der Mutter kamen sie sich näher. Rainer hielt die Choreografie die ganze Zeit über fest in der Hand und Uwe ließ sich leiten. Jedenfalls bis zu dem Moment, als er sich umdrehte und in das Gesicht seines Vaters schaute. Auf dem Nachttisch stand ein gerahmtes Foto und als Nächstes erfuhr er, dass Rainers Mutter ein Verhältnis mit seinem alten Herrn hatte. Ausgerechnet! Es wäre ja auch eigenartig gewesen, wenn mal etwas ganz normal gelaufen wäre. Dieser Anblick von „Molle“, wie sein Vater auch genannt wurde, war jedenfalls nicht unbedingt das, nach dem ihm in dieser verfänglichen Situation der Sinn stand, er wirkte wie ein Eimer Eiswasser, ausgegossen über Gefühlswelt und Libido. Ein weiteres Mal war Flucht sein Abgang von der Bühne des Experiments mit einem Mann. Aber auch diesmal ließ Rainer sich nicht abschrecken und so kam es etwas später bei Uwe zu Hause endlich zum ungestörten, ersten Mal.

Es blieb Uwe bis heute unvergessen. Einerseits wegen der Romantik mit Rosen und Kerzenschein, andererseits, weil er spätestens von diesem Zeitpunkt an wusste, wo er hingehörte, denn noch nie hatte er Sex als etwas so Explosives und Leidenschaftliches erlebt. 1988 wurde zum Jahr seines endgültigen Coming-outs. Er pendelte zwischen den aalglatten Huschen, mit denen man geil abfeiern konnte und haarigen, kräftigen Burschen, die er geil fand, hin undher. Vieles zog ihn im Anschluss nach Köln. Er wohnte nie fest dort, sondern bei seinem guten Freund Stefan.

An dieser Stelle meinen Dank an Stefan, der mich jahrelang in sein Reich aufgenommen hat. Wir waren wirklich die besten Freundinnen*grins*.Ich war die „Frau“ Görke, er der Herr Finke und keine Techno-Party war vor uns sicher – im Yocoto, New Schwanstein, und anderen Läden. Ja, auch unter Gays gibt es echte Freundschaften, wo Sex mal nicht auf Platz 1 steht.

 Stefan musste sein Schwulsein jahrelang vor seiner Mutter und seinen Steifvater geheim halten. Damit niemand etwas merkte, legte er immer eine Weekend Zeitschrift unter die Matratze! Erst als die Bombe seines Coming-outs platzte, erfuhr er, dass seine Mutter schon immer etwas geahnt hatte (wie es oft der Fall ist).

Uwe war anfangs von Freitag bis Sonntag einer derjenigen, die sich in der bunten Welt desLuluwohl fühlten, wo die gut gekleideten, so genannten Popper zu Hause waren und er als ‚Thekenschlampe’ arbeitete. Außerdem war er oft imGloriaanzutreffen. Aber er war aufgrund seiner heimlichen Vorliebe für Leder und Bären auch bei den harten Kerlen der inzwischen geschlossenenHandsundQuo Vadisoder imStiefelknechtunterwegs.

Uwe im Lulu

Noch heute kennt er die Namen der Männer, die ihm während dieser Zeit begegneten - nach Rainer und Sascha kam Achim, danach Frank und schließlich Dylan, Marc und Dirk. Dabei verband ihn eine besonders intensive Beziehung mit Achim. Dieser lebte in Lüdenscheid und war Uwes große Liebe - zu einer Zeit, als an so etwas nicht zu denken war, wollte er ihn bereits heiraten.

Uwes Erinnerungen an seine EXen:

Achim und ich erlebten miteinander mal Horror pur, ich wohnte damals noch in Letmathe. Wir hatten immer super geilen Sex miteinander, voller Energie und Leidenschaft. So was hatte ich noch nie erlebt, nicht mal mit Rainer, der ja schon der Hammer war. Diese vertraute Wärme, ich konnte mich absolut fallen lassen - das war schon etwas Besonderes.

Aber dann, eines Tages passierte es. Wir trieben es auf dem Wohnzimmerteppich, dann auf dem Tisch, landeten schließlich auf der Couch und plötzlich war allesvoller Blut. Wir begriffen erst nicht, woher es kam, bis Achim an sich herunter schaute und erkannte, dass das Fädchen an seinem Penis gerissen war. Wir versuchten, die Blutung zu stoppen, aber am Anfang war alle Mühe umsonst, es hörte nicht auf. Erst nach ca. 15 Minuten hatten wir es dann mit Verbinden und Gegendruck geschafft. Wir waren beide geschockt.

AIDS/HEP stand nicht zur Debatte, wir wollten einfach nur so schnell möglich zum Arzt. Ich brauchte ihn ins Krankenhaus, wo man Achim auch half. Aber dann kam es! Ich brachte alle Wäscheteile (Decken/Kissen) in die Reinigung, da sie voller Blut waren. Die Angestellte da war entsetzt, weil sie dachte, ich hätte jemanden um die Ecke gebracht. Leute, die fassungslosen Gesichter in der Reinigung hättet ihr sehen sollen! Sie nahmen nichts davon an und so warf ich alles in den Müll. Nee, is klar!?

Heute leben Achim und sein Lebenspartner in Frankreich und wir mailen ab und an miteinander. Im Herzen sind wir immer verbunden.

Das bin ich von meiner Seite übrigens auch mit Dylan. Wir schenken uns damals einen blauen Stein, den ich heute noch immer bei mir habe und es sind immerhin 15 Jahre vergangen. Dylan lebt in Hamburg und sein Freund in Köln. Dylan wollte keinen Kontakt mehr zu mir und hat mich auch in Gayromeo geblockt.

Marc lebt mit seinem Partner nun in Köln und hat eine eigene Firma. Wir sehen uns ab und an bei großen Veranstaltungen.

Alle diese Beziehungen zeigten Uwe, dass seine Entscheidung für die schwule Lebensweise die Richtige gewesen war.

Heute erinnert er sich aber auch daran, dass er sich nicht davon freisprechen kann, zu einer Zeit, als bareback einfach noch ungeschützter Sex genannt wurde, ebenfalls leichtsinnig gewesen zu sein. Wenn man sich begegnete, war keine Zeit für Diskussionen über Krankheiten, da wollte man seine Phantasien ausleben.

Und dann, noch 1988, kamFrau Görke. Sie war anfangs nicht mehr als ein Pseudonym in den Kleinanzeigen der HeterozeitungMarabofürs Ruhrgebiet, die es heute nicht mehr gibt. In jeder Ausgabe fand man über 10 Seiten Kleinanzeigen wie -Er sucht Ihn- und -Sie sucht Sie-. Uwe als Frau Görke mogelte sich da aus einer Laune heraus mit lustigen Sprüchen hinein, was unerwartet großen Anklang fand. Wieder schieden sich die Geister an Uwe, manche fragten sich, welcher Profilneurotiker dahinter steckte, andere warteten schon immer gespannt auf neue Kommentare. Was keiner wusste - Uwe hatte den Auftrag der Redaktion, die Gays aus der Reserve zu locken und richtig aufzudrehen, etwas, worüber er nicht unbedingt traurig war.

Wie Uwe-Görke-Kenner wissen, dreht er sehr gerne auf, um dann, wenn alle Aufmerksamkeit auf ihm ruht, die wichtigen Themen hinterher zu feuern. Eine Taktik, die meist aufgeht. So auch bei Frau Görke. Schon nach kurzer Zeit wurde die Nachfrage größer und bald musste Uwe seine ‚Frau-Görke-Kleinanzeigen’ beinahe in Artikel umwandeln. Dann war es soweit und er konnte die unverhoffte Popularität nutzen.

Was folgte war Frau Görke on Tour durchs Revier, Schwule suchen und besuchen und - obwohl selbst noch nicht infiziert -AIDS-Erkrankten im Sauerland zur Seite zu stehen, die es erst einmal zu finden galt. Es fiel Uwe nicht schwer, das Vertrauen vieler Erkrankter zu gewinnen und er enttäuschte es nie. Aber auch die Spaßseite kam nicht zu kurz.Die Gays waren begeistert und das gegnerische Lager wurde erst einmal überrannt. Es gründete sich sogar ein Frau-Görke-Fan-Club und schließlich kam es zur ersten, großen Frau Görke-Gay-Contact-Party in Bochum.

Über 1500 Gays aus Sauerland und Ruhrgebiet waren dort. Einige reisten aus Köln und Aachen, andere aus Münster oder Hannover an. Dass Frau Görke in aller Munde war, lag mit Sicherheit auch daran, dass die Gaymagazine auf den Zug aufsprangen.

     Werbeplakat

Zu den echtenSchandtatenerfanden sie auch noch irgendwelche Geschichten über ‚Frau Görke’. ObSchöngeist, First(beide eingestellt),Magnus, Adam, Du undich, Männer AktuelloderRosa Zone(heuteQueer), alle berichteten über Frau Görke und machten sie dadurch zum Kult. Die Frage, wer dahinter steckte, drängte schließlich immer mehr in den Vordergrund, bis der Tag kam, an demMaraboUwe Görke nebst seinem Pseudonym auf vier Seiten vorstellte. Das Geheimnis war gelüftet, Radio Stationen wie TV begeistert.

Das Interesse schnellte so hoch, dass dieBOXaus Köln Uwe fragte, ob er Lust auf eine eigene Seite und Rubrik in ihrer Zeitung hätte. Da er wie bereits erwähnt Bären und Leder schon immer sehr mochte, nahm er auch diese Herausforderung an und es entstand der sehr beliebte Görke Report mit Tratsch und News aus der Gaywelt (nachzulesen auf der Webseite - an dieser Stelle mein Dankan Gabi M., diemirbei der Rechtschreibung von 100 Ausgaben immer mit Rat zur Seite stand). Er fuhr quer durch NRW und berichtete über Schwule und ihre Interessen.

Sein Erfolg jedoch rief auch die Gegner wieder auf den Plan, der Applaus gebar Galligkeit, bis sich in Herne der erste Frau-Görke-Anti-Fan-Club gründete. DieRosa Zoneschrieb plötzlich in einer Überschrift:Was wäre Uwe Görke, wenn er weder schwul noch positiv wäre? Er wäre ein Nichts!’Den scharfen Gegenwind, den diese Schlagzeile jedoch immer noch entfachte, kompensierte die Redaktion damit, dass es eine Satire sei. Nichtsdestotrotz hatte man ein Interview mit Uwe geführt, ohne vorher kundzutun, dass man seine Antworten ins Lächerliche ziehen wollte. Heute sind es diese Redakteure, die Uwes Arbeit würdigen wollen und einen gewissen Respekt davor haben, dass er dem Druck standhielt.

Nachdem Uwe Jahre lang nach einem Autor gesucht hatte, der sein Buch umsetzt, war es ein schwul-lesbischerVerlag, der sich bereit erklärte, es herauszubringen, obwohl es noch kein Manuskript dafür gab. Sie leisteten sofort einiges an Vorarbeit, die eine baldige Veröffentlichung in Aussicht stellte. Ein Vertrag wurde abgeschlossen, die Werbetrommel gerührt, das ProduktUwe Görke – Mein Leben mit HIVsogar schon im Buchhandel eingestellt.

Leider hatte die äußerst schwierige Erstellung des Buches selbst, die Grundvoraussetzung also, keinen Platz bei all diesen Vorarbeiten, weswegen es wahrscheinlich auch schief gehen musste, obwohl alles andere minutiös und auch professionell geplant wurde.

Nach dem Beginn der Vorbereitungen 2006 wurde der Termin der Veröffentlichung deshalb auch immer wieder verschoben, was Uwe großen Ärger mit denen einbrachte, die es lesen wollten und ungeduldig auf den Erscheinungstermin lauerten. Seine Fangemeinde teilte sich in zwei Lager. Da waren die einen, die ihn aufgrund des Nichterscheinens nicht mehr ernst nahmen und die anderen, die geduldig weiter warteten und erkannten, dass er nicht wirklich etwas dafür konnte, was Verlagsseitig auch mehrfach bestätigt wurde.

Aber ich schweife schon wieder ab, wir befinden uns immer noch im Jahr 1988. Nachdem die negativen Strömungen sich mehrten, zog Uwe, alias Frau Görke, sich zurück, blieb im Hintergrund jedoch aktiv wie immer. Noch heute, fast 20 Jahre später, wird er auf die Kunst - und Kultfigur Frau Görke angesprochen.

- 1993 -

--- Das Testergebnis ---

Im Februar 1993, noch während seiner Frau-Görke-Zeit, erwies sich der Gang zum Urologen als schicksalhaft. Uwe war unterwegs zum Ostentor in Schwerte und ahnte noch nicht, was ihm gleich bevorstehen sollte. Er war allein, als er das Testergebnis abholte. Der Arzt erwies sich nicht als sonderlich feinfühlig, im Gegenteil, das, was sein Leben verändern würde, erreichte Uwe wie ein verächtlicher Tadel.

„Sie müssen dieser Randgruppe angehören!“,spuckte der Arzt ihm unter anderem entgegen.„Sie haben AIDS (…) und jetzt verlassen Sie meine Praxis!“Ein Mediziner also, der den Unterschied zwischen HIV-positiv und der ausgebrochenen Krankheit nicht kannte, sich aber sehr wohl über seine Vorurteile im Klaren war. Die Arroganz des Tugendhaften? Auch ein Arzt musste sich nicht mit jeder Krankheit auseinandersetzen, Hippokratischer Eid hin oder her. Er gab Uwe höchstens noch fünf Jahre und diesem fehlte zu diesem Zeitpunkt der Widerspruchsgeist. Er war neunundzwanzig Jahre alt und hatte soeben sein Urteil erhalten.

Er verließ die Praxis. Draußen rief er seinen Exfreund Frank in Köln an.Als Uwe ihn mit dem Ergebnis der Untersuchung konfrontierte,wurde es still in der Leitung. Dann musste Uwe erfahren, dass sein Ex fremdging, während sie zusammen waren und das, ohne sich zu schützen. Es würde schon gut gehen! Es war eine unverbindliche, aus gedankenloser Geilheit geborene Aktion am Aachener Weiher in Köln, die man unter normalen Umständen schnell wieder vergessen hatte. Und das tat Frank dann auch, er vergaß das Bareback Intermezzo inklusive seiner persönlichen Verpflichtung, Uwe davon in Kenntnis zu setzen.

Jetzt ergänzte diese Information die Hiobsbotschaft, Uwe fühlte sich verraten, allein gelassen und ohne Ausweg. Wem konnte er das sagen, wer konnte ihm beistehen? Er wusste ziemlich genau, dass er sichim August 1992 bei ungeschütztem Sex mit seinem Freund Frank infiziert hatte, da sie sich ansonsten immer schützten, aber diese Erkenntnis half ihm jetzt nicht. Wie würde es weitergehen? Er wollte niemandem zur Last fallen und bei allem, was er über die Krankheit wusste, erinnerte er sich jetzt nur an die Horror Berichte.

Völlig neben der Spur fuhr er zum Seilersee in Iserlohn. Ein Gedanke hatte sich in seinem Kopf manifestiert, nicht wirklich greifbar, aber trotzdem da – wie ein stetiger Tropfen, der sein Gemüt aushöhlte. Es gab Schlingpflanzen in diesem See, die einen Schwimmer in die Tiefe ziehen konnten …

Insel im Seilersee

Lange saß Uwe allein am Ufer, haderte mich sich und der Welt. Dann nahm er eins der Boote und ruderte zur Insel, die mitten im See lag. Es war nicht nur die gerade erhaltene Diagnose, die während dieser Zeit auf ihn einprasselte, alles schien plötzlich sinnlos.

Nach einer beschissenen Kindheit im Heim, dem familiären und gesellschaftlichen Druck als geouteter Schwuler und jetzt auch noch ‚die Geisel Gottes im Balg’, wie es mal jemand ausdrückte? Wo war der verdammte Sinn, unter diesen Vorzeichen weiterzumachen? Bisher war er vom Pech verfolgt, aber nun sah er nur noch das baldige Verrecken vor sich.

Er hatte Angst - Angst vor dem Tod, aber auch Angst vor dem Leben. Aber er fand nicht den Mut, aus der plötzlichen Ausweglosigkeit tatsächlich ins Nichts zu gehen, stattdessen ruderte er zurück zum sicheren Ufer.

Dort entschied er sich, rief seine Freundin Sabine an. Sie kam zum See und nach einigen, wenigen Worten weinten beide.

Mit diesen Tränen bekam der Bann der Resignation die ersten Risse.

Es folgte eine schwierige Zeit der langsamen Akzeptanz. Uwe traf sich in Köln mit Frank, gemeinsam holten sie dessen positives Testergebnis ab und er hatte daraufhin für Uwe sogar noch Vorwürfe parat.

Wer wusste schon, wer den anderen angesteckt hatte?

1993

Nun, Uwe wusste es, denn er war es nun einmal nicht gewesen, der außerhalb der Beziehung ungeschützten Sex hatte. Nur einmal hatte er sich seit dem letzten negativen Test dazu hinreißen lassen – mit Frank. Uwe begriff die Unsinnigkeit dieser Diskussion schon bald und schloss für sich damit ab. Frank starb schon 1994, er wurde in Köln beigesetzt.

Das Ganze war nichts, das man einmal verarbeitet und ist dann damit durch. Bis heute setzt sich Uwe mit seiner inneren Einstellung zum Tod auseinander, dem er bei der Arbeit und im Freundeskreis so oft begegnen musste und der auch ihn begleitet.

Seine Gedanken zu diesem Thema hielt im Dezember 2005 ein Interview mit Carolin Schaaf fest.

CS: Hast du Angst vor dem Tod?

UG: Ja, ich habe Angst vor dem Tod und vor dem, was aus mir wird. Ich setze mich ständig damit auseinander, aber das ist ein langsamer und schwieriger Prozess. Ich lebe die Tage seit meiner Infektion intensiver und versuche den Tod zu akzeptieren. Was ich nicht möchte, ist, mit Schmerzen zu sterben. Ich habe eine Patientenverfügung gemacht, wo alles geregelt ist. Wenn AIDS mich besiegt, will ich verbrannt werden, denn auch Tim soll vernichtet werden.